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Kapitel 2, Dienstag 16.12.09

Am nächsten Morgen wachte ich mit tiefen Ringen unter den vom Weinen aufgequollenen Augen auf, wie ich es schon so oft in den vergangenen Monaten getan hatte. Ausnahmsweise war ich pünktlich aufgestanden und hatte somit genug Zeit, die Ringe nach dem Duschen gründlich zu kaschieren.
Wie in Trance ass ich meine Frühstücksflocken mit Dylan und wollte gerade gehen, als mich Dylans kleine Hand packte und er mich aus seinen unschuldigen, rehbraunen Augen ansah. „Du vermisst Kate ganz doll, oder?“, fragte er besorgt. „Ja, das tue ich“, antwortete ich ihm und lächelte. Dylan war so herzzerreissend süss, wenn er sich um etwas sorgte. Ich drückte ihm einen Kuss auf die Stirn und ging zur Tür hinaus. Dad hatte, voraussichtig wie er nun einmal war, bereits die Schneeketten am Wagen montiert. Was würde ich nur ohne ihn machen! Ich stieg ein, startete den Alfa und fuhr in die Schule zu meinem Stammparkplatz. Dass sich Dean den geschnappt hatte, fiel mir erst wieder ein, als ich vor dem schwarzen Jaguar stand. Noch zu müde, um mich wirklich darüber aufzuregen, fuhr ich weiter zu meinem neuen Parkplatz gleich neben dem Lehrerzimmer und eilte dann zum Biologieunterricht. Komischerweise sass Dean nicht auf meinem Platz, sondern einen nebenan und kniff seine wundervollen Augen zusammen, als ich das Zimmer betrat. Gerade als ich auspacken wollte, fiel mir ein kleiner, rosafarbener Umschlag auf meinem Pult auf. Hatte ich etwa doch noch eine Einladung gekriegt?
Ich war so aufgeregt, dass ich zuerst gar nicht auf die krakelige Schrift achtete, doch nach genauerer Betrachtung fiel mir ein, woher ich sie kannte. Bitte nicht! Ich schickte weitaus mehr als ein oder zwei Stossgebete zum Himmel, während ich den Brief öffnete. Ich las ihn nicht so richtig, sondern überflog ihn einfach kurz und warf schliesslich einen Blick auf die Unterschrift. Nein! Das darf nicht wahr sein!, heulte ich in Gedanken auf, als ich die drei einfachen Buchstaben entzifferte. Ich hätte nie gedacht, dass drei Buchstaben so grausam zu mir sein konnten.
Ben. Schlimmer ging’s wirklich nicht. Ich bemerkt Deans neugierigen, auf den Brief gerichteten Blick erst, als ich wieder zu mir kam. „Hast du noch nie etwas von Postgeheimnis gehört? Die Briefe von andern Leuten zu lesen! Das ist was Persönliches!“, fauchte ich ihn an und steckte den Brief hastig in die Schultasche. Irgendwo, ganz tief in mir drin, verspürte ich den seltsamen Wunsch, dass der Brief von ihm gekommen wäre. Gekränkt antwortete er: „Verzeihung, aber du warst so geschockt, und da dachte ich…“ „Ach, was du nicht sagst, du kannst denken! Wenn das deine Art ist, zu denken, dann hör besser damit auf!“, riet ich ihm, und noch bevor die Worte meinen Mund verliessen, wünschte ich mir, ich wäre netter zu ihm gewesen. Irgendwie hatte ich in letzter Zeit das Gefühl, dass mein Kopf nicht richtig mit meinem Mundwerk verbunden war. Wieso war ich sonst so unfreundlich?
Darauf folgte wieder eine ganze Stunde Schweigen. Mist. Die ganze Stunde lang verspürte ich das Bedürfnis, meine Hand auf seine zu legen und mich bei ihm zu entschuldigen. Nach dem Unterricht sprang er förmlich auf und schoss davon, ohne mich eines Blickes zu würdigen, und ich sass wie versteinert da und fragte mich wieder einmal, was ich bloss falsch gemacht habe. Klar, ich war fies gewesen, aber hat der Typ etwa noch nie eine Abfuhr gekriegt?! Obwohl, bei diesen Augen standen die Chancen auf Absagen ziemlich miserabel…

Für die nächste Stunde stand Mathe auf dem Plan, worauf ich gerade absolut keine Lust hatte. Aber ich würde die Gelegenheit haben, mich neben Tamara zu setzen, und die war sehr verlockend. Vielleicht könnte ich sie sogar zum Sprechen bewegen! Also fasste ich mir Mut und schritt auf den leeren Platz direkt neben ihr zu, und sie… tat gar nichts.
Sie beachtete mich überhaupt nicht und beschwerte sich auch nicht, als ich mich setzte. Versuch Nummer Eins: „Hi Tamara.“ Keine Reaktion von ihr.
Versuch Nummer Zwei: „Ist es dir Recht, wenn ich heute hier sitze?“ Wieder keine Reaktion. Egal, ich würde das jetzt den ganzen Tag durchziehen, und irgendwann würde sie so genervt von mir sein, dass sie mir sagen würde, ich soll endlich still sein, oder sie würde auf immer und ewig schweigen, weil sie mit einer solchen Person wie mir nie wieder ein Wort wechseln wollte.
So plapperte ich frisch fröhlich über dieses und jenes, die ganze Mathelektion hindurch, auch in Geschichte, in Geografie, in Englisch… Bis der morgendliche Unterricht fertig war.
Normalerweise packte ich mir zu Hause etwas ein für den Mittag und ass auf dem Pausenhof oder im Aufenthaltsraum, Dad war der Ansicht, dass in Cafeterias sehr schlechte Hygiene herrschte, aber heute war mir das egal. Also setzte ich mich neben Tamara und wartete darauf, dass sie endlich etwas sagen würde. Als sie es dann doch nicht tat, seufzte ich und begann wieder zu reden.
„Irgendwie bist du nicht so gesprächig. Wie hältst du das bloss aus, den ganzen Tag so still zu sein? Und weißt du was? Ich finde dich sehr…, sympathisch. Ja, genau, sympathisch. Und...“ „Cassandra Hope! Warum hältst du nicht einfach mal zur Abwechslung den Mund?“, seufzte sie genervt und widmete sich wieder ihrem Essen.
Im ersten Moment war ich ganz perplex und verwirrt darüber, dass meine Taktik tatsächlich funktioniert hatte. Umso mehr freute ich mich dann darüber und machte Anstalten, weiter zu fahren, als Tamara mir über den Mund fuhr: „Und komm mir ja nicht auf die Tour. Weißt du, ich kann nämlich auch reden, auch wenn du das anscheinend nicht glaubst. Und noch was: Wenn ich heute noch ein einziges Wort von dir höre, lege ich ein offizielles Schweigegelübde ab, nur um dir nicht antworten zu müssen. Was interessiert es mich, was du für Musik hörst!“, sie hielt nur einen kleinen Moment inne, um Luft zu holen, „Aber immerhin hast du Geschmack. Wenn du nicht so ein Wasserfall wärst, könnte ich dich vielleicht sogar mögen, aber du redest mir eindeutig zu viel. Und jetzt halt die Klappe und lass mich in Frieden!“ Verblüfft registrierte ich, dass sie mir doch die ganze Zeit über zu gehört hatte. Für jemanden, der sonst nie ein Wort sagte, konnte sie ganz schön schnell sprechen. Mit diesen Worten erhob sie sich und setzte sich diskret an einen anderen Tisch.
Ich seufzte. Noch eine Person mehr auf der Ich-mag-Cassie-nicht-Liste. Also hielt ich mich den Rest des Tages fern von ihr.

Abends, als ich nach Hause kam, setzte ich mich betrübt an den Küchentisch. Dort hing ein kleiner Zettel, auf dem in Dads furchtbarer Handschrift stand, ich sollte Dylan bei Carry abholen und ihn nach dem Abendessen ins Bett schicken. Also stieg ich noch mal in meinen Wagen und fuhr zu Carry.
Ich verstand nicht, wieso Dad sie nicht mal zum Essen ausführen wollte. Es war nicht zu übersehen, dass die beiden sich mochten, aber irgendwie gestand es sich keiner der beiden ein. Aber ich war mir sicher, irgendwann würden sie doch noch zueinander finden.
Ich hatte kaum geklingelt, da sprang die Tür auf und Dylan schlang die kleinen Arme um mich. Carry kam lächelnd nach. Sanft löste ich seinen Klammergriff und beugte mich zu ihm runter. „Kannst du schon mal in den Wagen gehen? Dann kannst du mir ja gleich zeigen, wie gut du dich schon anschnallen kannst.“ „Ja, Cassie!“, sagte er und huschte davon. „Er scheint dich wirklich zu mögen“, sagte Carry, immer noch mit einem Lächeln auf den Lippen. Ich warf einen Blick zum Wagen, wo sich Dylan damit abmühte, sich die Gurte umzuschnallen. „Ja, ich glaube auch, dass er mich ziemlich mag“, sagte ich. „Bis morgen, Cassie!“ „Wiedersehen, Carry!“, rief ich ihr zu, als ich schon auf den Wagen zu lief. „Schau mal, Cassie! Ich habe es ganz allein geschafft!“, sagte Dylan mit vor Stolz geschwellter Brust. „Das hast du wirklich toll hingekriegt, und ich glaube fast“, sagte ich in verschwörerischem Ton, „dass du heute etwas länger aufbleiben darfst.“
„Au ja!“, jauchzte er und umarmte mich, so fest er konnte. Ich genoss das Gefühl, doch von jemandem verstanden und geliebt zu werden, auch wenn es nur mein kleiner Bruder war.
„Vermisst du Kate immer noch?“, fragte er plötzlich wieder ernst. „Ja, ich glaube schon. Es ist, als fehle ein Teil von mir“, seufzte ich, stieg ein und startete den Wagen. „Dann suche ich dir einen neuen Teil, der passt!“, verkündete Dylan und kuschelte sich zufrieden in seinen Sitz. „Ja, mach du das“, sagte ich zerstreut. „Mach du das.“
Dad war immer noch nicht zu Hause; und eingekauft hatte er auch noch immer nicht. Darum schmierte ich uns zwei Erdnussbrote und setzte mich zu Dylan an den Küchentisch. Dylan hatte unser kleines Gespräch von vorher anscheinend schon wieder vergessen und ass fröhlich sein Brot auf.
„Cassie, wann kochst du uns wieder mal Spaghetti? Ich habe schon fast vergessen, wie die schmecken“, sagte er mit sehnsüchtigem Blick auf die unbenutzten Pfannen und Töpfe, die sich sauber im Schrank stapelten. „Wenn Dad einmal einkaufen geht und welche kauft, mache ich dir so viele Spaghetti, wie du essen kannst“; versprach ich ihm und machte mich daran, eine Einkaufsliste für Dad zu kritzeln.
„Was meinst du, was könnten wir noch gebrauchen? Spinat?“, fragte ich Dylan ganz unschuldig. „Bähh, nein, kein Spinat! Lieber Reis und Pizza und Mehl und Eier und…“, er stockte, „Was braucht man noch, um Pfannkuchen zu backen?“, fragte er mit gerunzelter Stirn „Ja ja, ich habe schon verstanden! Kein Spinat!“, sagte ich und lachte.
„Möchtest du Fernsehen gehen?“ Er nickte eifrig und verschwand im Wohnzimmer, worauf ich gleich den Fernseher hörte. Ich räumte den Tisch ab und ging auch ins Wohnzimmer; allerdings nicht, um Teletubbies zu schauen, sondern um die Rennmäuse zu füttern.
Nach der Sendung schickte ich Dylan ins Bad und wollte ihn gerade ins Bett bringen, als er leise sagte: „Cassie, ich habe Angst.“
„Wovor denn?“, fragte ich überrascht. „Davor, dich zu verlieren.“, antwortete er.
„Aber Dylan, ich gehe doch nicht weg! Ich würde dich niemals verlassen. Du bist mein Bruder!“, sagte ich entsetzt. „Ja, schon, aber seit Kate“, eine Nadel im Herzen mehr, „weg ist, bist du so anders. Nicht, dass ich dich nicht mehr mag“, beeilte er sich zu sagen, „aber du bist eben doch anders als früher.“
„Ich weiss ja Dylan, ich weiss es ja“, murmelte ich und drückte ihn ganz fest. „Aber eben, wie ich es dir schon vorher gesagt habe, seit Kate weg ist, fühlt es sich an, als ob ein Teil meines Herzens verschwunden wäre. Und das tut ganz schön weh, und ich vermisse sie schrecklich.“
„Dann werde ich diesen Teil gleich morgen früh wieder suchen gehen!“, schlug er eifrig vor. „Oder wir könnten dir einen anderen Teil suchen, der genauso toll ist wie Kate!“
„Dylan, das ist eine tolle Idee, aber nichts und niemand kann Kate ersetzen. Auch wenn du noch so sehr nach dem fehlenden Teil in meinem Herzen suchst, es wird nie mehr ganz sein wie früher. Und es macht mich auch irgendwie traurig, dass ich nichts mehr von ihr höre, seit sie weg ist. Es ist, als ob sie nie existiert hätte und ich sie nie gekannt hätte. All das kann ganz verletzen.“
Statt eine Antwort zu geben kuschelte er sich noch dichter an mich, als wolle er mich vor allem beschützen. Ich gab zu, dass Kate nicht mehr da war, machte mir ganz schön zu schaffen, aber wenn es Dylan gewesen wäre, wäre es tausendmal schlimmer gewesen und mein Herz wäre weniger als ein armseliger Haufen Asche gewesen. Ich kümmerte mich um ihn, seit Mom nicht mehr da war, und ich war seit dem für ihn Schwester, Mutter und beste Freundin zugleich geworden. Klar, wenn er älter würde, wäre ich vielleicht nicht mehr seine beste Freundin, aber trotzdem… Im Moment bedeutete er mir alles.
„Kann ich heute bei dir schlafen?“, fragte er mit einem Blick aus seinen grossen, rehbraunen Augen, der mich immer weich werden liess. „Aber klar.“ Ich stand auf und nahm ihn an der Hand. Plötzlich war ich auch müde, und so putzte ich mir nur noch rasch die Zähne und legte mich mit Dylan im Arm schlafen.

Wie gerne hätte er nun mit dem kleinen Jungen getauscht! Irgendwie mochte er ihn und seine niedliche Art, wie er Cassie tröstete. Wenn sie sich mit ihm in einem Zimmer aufhielt, begannen ihre Augen zu strahlen, wie er es sonst nie beobachtete. Und urplötzlich verspürte er den Wunsch, dass auch er ein Lächeln in ihre Augen zaubern konnte und sie zum Lachen brachte. Er wollte den verlorenen Teil in ihrem Herzen ersetzen, sie vergessen machen, dass diese Kate überhaupt existiert hatte.
Er verstand selbst nicht, was mit ihm da passierte, aber auf jeden Fall war er nah dran, seine guten Vorsätze von wegen Kostprobe und einsiedlerisches Leben über Bord zu werfen. Er fasste einen Entschluss: Morgen würde er ihr noch folgen und dann aus ihrem Leben verschwinden, genauso schnell wie er gekommen war. Auch wenn er gerade festgestellt hatte, dass Cassie keineswegs so oberflächlich war.
So wie er das sah, hatte sie auch ohne ihn schon genug Probleme am Hals. Er wäre nur eine zusätzliche Last und Gefahr für sie.
Gerade als ihm der Gedanke kam, durchzuckte ihn ein Schmerz, so tief und stark wie bei Renata, als er sie verlor, und fragte sich, warum. Er schüttelte sich und machte sich auf den Heimweg, wo er beschloss, morgen zu verschwinden und nie mehr in Minnington aufzukreuzen.


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Impressum

Tag der Veröffentlichung: 31.01.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Migih, ohne Dich und Oli gäbe es dieses Buch nicht.

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