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Die Riemen ihres Rucksacks schnitten tief in ihre Schultern, als Sarah die verwahrloste Straße entlangging. Rechts von ihr fiel das Gelände steil herab, verwandelte sich in eine mörderische Klippe, unter der das Meer rauschte.
Der Bürgersteig unter ihren Füßen war an vielen Stellen geborsten, denn niemand hatte sich die Mühe gemacht, den Weg neu zu pflastern.
Obwohl Sarah solide Wanderschuhe trug, machte der Weg ihr ziemlich zu schaffen. Ebenso wie der zentnerschwere Rucksack, der bei jedem Schritt gegen ihren Rücken drückte.
Schon vor vielen Wochen hatte sie bereut, den Rucksack so vollgepackt zu haben. Natürlich hatte sie den Proviant im Laufe der letzten zwei Wochen größtenteils verbraucht, doch doch der restliche Inhalt wog immer noch schwer.
Die Sonne versengte Sarahs Nacken und brannte auf den Asphalt nieder. An den Stellen, an denen die Straße aufgebrochen war, reckten sich Pflanzen ins Licht und saugten begierig die Sonnenstrahlen auf.
Ich frage mich, wie sie hier ohne Wasser überleben

, dachte Sarah.
Sie selbst hatte seit einigen Stunden nichts mehr getrunken, denn ihr Wasservorrat war an diesem Morgen zu Ende gegangen.
Gleich, wenn sie die Zentralstadt dieses Zirkels erreichte, würde sie Wasser und neue Essensvorräte kaufen. Ihr Magen knurrte beim Gedanken an knusprige Brötchen, würziges Fleisch und süße Dörrpflaumen. Doch es gab da noch ein Problem. Eine Sorge, die schon seit einigen Tagen an ihr nagte.
Nachdem sie in der Stadt neuen Proviant gekauft hatte, würde ihr Geldbeutel leer sein. Vollkommen leer.
Was sollte sie dann tun?
Andere könnten einfach arbeiten gehen

, dachte Sarah verärgert. Aber mich würde ja keiner nehmen. Kein einziger.


Sie kickte einen losen Brocken Asphalt vor sich her.
Als ob ich ein Krüppel wäre.


Ihre Gedanken wanderten zurück zu der letzten Stadt, in der sie gewesen war. Es hatte dort eine Parade gegeben, bei der sich die Stadtbewohner verkleideten und ihre Fähigkeiten mit Kunststücken zur Schau stellten.
Sie sah wieder die Feuertrickster vor sich, in prächtigen rot-goldenen Gewändern, umwirbelt von Feuerfontänen und Ascheflocken.
Ihre herausfordernden Blicke, als sie sie angesehen hatten und darauf warteten, dass sie auch etwas tat, dass sie sich ihnen anschloss, dass sie etwas vorführte...
Sarah schüttelte den Kopf und blickte nach vorne. Die Luft flimmerte ölig, wie in der Wüste. Der Hochsommer in den Südlichen Zirkeln war unerträglich, aber Sarah kannte nichts anderes als die ewige Hitze des Südens. Manchmal versuchte sie, sich die beißende Kälte vorzustellen, die Schneestürme und Blizzards, die andernorts herrschten. Aber alles, was über die Kühle von Seewasser hinausging, konnte sie sich nicht ausmalen.
Sarah schob entschlossen das Kinn vor und sah nach vorne.
Da war die Stadt. Sie lag immer noch in der Ferne, doch mit jedem Schritt wurden ihre Umrisse größer.
Wenn ich erst einmal angekommen bin

, dachte Sarah.
Dann steht einer Reise in den Norden nichts mehr im Weg.


Natürlich wusste Sarah, dass die Sache schwierig werden würde. Ihr Geld würde nie für mehr als eine kleine, schäbige Wohnung reichen, denn sie würde nie mehr als einen schlecht bezahlten Job bekommen. Wenn

sie denn überhaupt einen bekam.
Und warum? Weil sie anders war.
Sarah griff nach hinten und lockerte die Riemen ihres Rucksacks.
Nun, es gab nichts, was sich nicht machen ließ.
Und wenn man kein Geld hat, dann gewinnt man eben Verbündete, die welches haben

, dachte Sarah und lächelte zufrieden in sich hinein.

Es war ein weiterer Tag ohne Geld gewesen. Chanetto war nicht enttäuscht, denn er hatte gar nichts anderes erwartet.
Die Bürger dieser Stadt schienen entweder besonders moralisch oder besonders dumm zu sein, denn kaum einer wollte seine Dienste in Anspruch nehmen. Ein erfolgloser Hausbesuch folgte dem andern, und jedes Mal musste sich Chanetto frustriert, gedemütigt und ohne eine Münze in der Tasche verziehen- und zum nächsten Haus gehen.
Die Stunden vergingen, und er wurde abwechselnd als Abschaum, Intrigant und Teufelsbrut beschimpft. Mit der Zeit begann sein Magen immer heftiger zu knurren und sich zusammenzuziehen.
Mit hängenden Schultern schleppte er sich zur Breiten Brücke. Den ganzen Tag fuhren dort Lastkarren hin und her, beladen mit Lebensmitteln, Kostbarkeiten und Stoffen, seltener mit Büchern und Tieren in Käfigen. Ja, manchmal sah man hier sogar ein Auto, eines der Gefährte, die die Menschen gerne benutzt hatten, als das Erdöl noch nicht so knapp war.
Nund beschränkten sich die Menschen darauf, in ihren Kolonien zu leben, mehr schlecht als recht zusammenzuhalten und die seltsamsten Technologien zu ersinnen.
Am Rand ebenjener Brücke blieb Chanetto stehen und setzte sich nach kurzem Überlegen auf das Kopfsteinpflaster, den Rücken gegen das eiserne, verschlungene Geländer gedrückt.
Wenn ich nur eine Flasche Wasser bei mir hätte

, dachte Chanetto sehnsüchtig. Fast fühlte er das kühle Nass seine Kehle hinabrinnen.
Aber nichts da, ohne Geld kein Wasser. Und aus dem Stadtgraben konnte er schlecht trinken, denn der wurde aus dem Meer gespeist, also war sein Wasser salzig, brackig und voller Meeresgetier.
Er hatte gehört, dass im Stadtgraben sogar Quallen schwammen, die mit einem Stich töten konnten. Und von Salzwasser wurden die Leute angeblich irre.
Chanetto versuchte, zu schlucken. Es war, als hätte er Kieselsteine in der Kehle. Plötzlich bekam er einen Hustenanfall, der seinen ganzen Oberkörper schüttelte.
Die Welt verschwamm vor seinen Augen, doch auch so wusste er, dass sich die Leute rasch von ihm abwandten, aus Angst, er hätte eine ansteckende Krankheit.
Womit sie gar nicht so falsch lagen.
Als er wieder atmen konnte und den Tränenfilm aus seinen Augen wegblinzelte, erblickte er...
Beine. Ein Paar Beine.
Chanetto zwinkerte. Es waren gebräunte Beine, aber das musste nichts bedeuten, denn hier im Süden hatte fast jeder gebräunte Beine.
Die Beine waren vollkommen glatt, kein einziges Härchen verunzierte sie.
Wie unnatürlich. Was sollte das?
Chanetto ließ seinen Blick nach oben wandern, und errötete.
Über ihm stand ein Mädchen, vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt, das Gesicht umweht von braunen Strähnen. Aus sehr großen, sehr dunklen Augen sah das Mädchen auf ihn herab.
Augen, die tief waren wie eine Schlucht. Augen, in die man fallen konnte...nein, wollte...
"Geht es Ihnen gut, Mister?"
Die Frage riss Chanetto aus seiner Trance.
"Ja, mir...geht es gut", hörte er sich selbst sagen. Seine Lippen verzogen sich wie von allein zu einem Lächeln. Einem begeisterten Lächeln.
Chanettos Lippen hatten schon sehr lange

nicht mehr gelächelt.
Das Mädchen schien immer noch beunruhigt.
"Sie haben da einen schrecklichen Husten am Hals, Mister", sagte es und bemerkte anscheinend nicht den Wortwitz in seinem Satz.
"Der ist gar nicht so schlimm", sagte Chanetto.
Wie eine Marionette, deren Fäden hochgerissen wurden, stand er auf und klopfte sich die Hose ab.
Mit einem Mal wünschte er, er hätte sich heute etwas Besseres angezogen.
"Ich habe nur...lange nichts mehr getrunken, wissen Sie", sagte er, um das Mädchen von seiner ärmlichen Kleidung abzulenken.
"Oh."
Mit einem Mal lächelte das Mädchen.
"Geht mir genauso. Leider. Bin lange gereist. Komme aus dem Kesselzirkel. Sie wissen schon, der, der in diesem tiefen Tal liegt. Man kommt kaum mehr aus dem Gebiet raus."
Das Mädchen lachte.
"Und Sie sind bestimmt ein, ähm, Einheimischer, stimmt's, Mister?"
Chanetto nickte, erstaunt darüber, wie schnell das Mädchen ein Gespräch mit ihm angefangen hatte.
"Na, das trifft sich gut! Könnten Sie mich vielleicht ein bisschen herumführen? Natürlich nur, wenn Sie woll..."
Das Mädchen verstummte.
Was ist denn jetzt los?

,fragte sich Chanetto.
"Ist, ähm...alles in Ordnung?", erkundigte er sich.
Das Mädchen antwortete nicht. Es starrte auf seine Stirn.
Oh verdammt, schoss es ihm durch den Kopf.
Sie sah auf seine Stirn! Seine Stirn!
Warum habe ich das Zeichen nicht mit Haaren bedeckt?, dachte er kläglich und sank in sich zusammen.
Das war's. Ende der Konversation. Sie hatte das Zeichen gesehen, den schwarzen Strudel. Das Zeichen, das ihn offiziell als Schuft auswies, als Gauner, den man einfach so verprügeln und bespucken konnte, ohne sich vor einer Strafe fürchten zu müssen.
"Oh", machte das Mädchen.
Chanetto sah auf. Oh? Das war's? Das war ihr Kommentar? Kein "Hilfe!" oder "Sie Ekel!"?
Nichts?
"Was?", fragte er vorsichtig.
Das Mädchen blickte ihn aus großen Augen an.
Und dann geschah das Unfassbare: Es grinste.
"Gott, ich hätte nie erwartet, jemanden wie Sie hier anzutreffen!", rief es begeistert aus.
"Äh...wie bitte?"
"Na, Sie sind doch ein Finsternistrickster! Stimmt's oder hab ich recht?"
Chanetto zuckte zusammen.
"Bitte, nicht so laut..."
"Warum!? Sie gehören einer erhabenen Klasse an, und einer seltenen noch dazu! Ich meine, Feuertrickster trifft man ja überall, aber einen aus den Clans der Finsternis!?"
"Ähm, davon gibts hier viele", gestand Chanetto.
Die Augen des Mädchens wurden noch größer und begannen zu funkeln wie zwei Kometen.
"VIELE!? Warum zum Teufel haben Sie das nicht gleich gesagt? Gott, Sie müssen sie mir zeigen, Sie müssen Sie mir zeigen!"
"Aber..."
"Kein aber, Sie führen mich jetzt zu Ihren Kollegen!"
Mit diesen Worten griff das Mädchen nach seiner Hand und zog ihn mit sich. Es war überraschend stark.
"Aber ich kenne doch noch nicht einmal Ihren Namen!", protestierte Chanetto verzweifelt.
"Sarah", sagte das Mädchen. "Sarah Akirah. So, jetzt kennen Sie ihn, Mister...äh...wie heißen Sie

eigentlich?"
Chanetto seufzte ergeben.
"Chanetto Pierce."
"Ah, na das ist ja mal ein interessanter Name. Selten?"
"Was?"
"Ob der Name selten ist."
Chanetto konnte nicht anders, er musste die Augen verdrehen. Die Situation war einfach zu komisch.
"Ja, ist er", antwortete er. "Aber was denken Sie eigentlich, wo Sie hingehen? Sie kennen den Weg zum Finsternis-Viertel doch gar nicht."
Das Mädchen blieb stehen, und Chanetto stieß fast gegen seinen Rücken.
"Da haben Sie verdammt recht. Aber Sie werden es mir doch sicher zeigen, oder?"
Das Mädchen hielt seine Hand ins Sonnenlicht. In ihr glitzerten verlockend fünf goldene Münzen.

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Tag der Veröffentlichung: 28.12.2010

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