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Hallo, mein Name ist Shaya, und ich bin ein Schmetterlingskind.
Wisst ihr, was diese Bezeichnung bedeutet? Wahrscheinlich nicht, wie könntet ihr auch.
Schmetterling...Ein viel zu schöner Name für etwas so Trauriges wie mich. Für jemanden, der eigentlich nie existiert hat.
Ich habe einen Entschluss gehabt, wisst ihr. Es ist ein mutiger Entschluss, auch wenn ich nicht besonders mutig bin.
Ich werde euch meine Geschichte erzählen. Aber eigentlich ist es keine ganze Geschichte, sondern nur der Anfang. Denn dies ist eine Geschichte, die nie beendet wurde.
Meine Geschichte begann, wie jede Geschichte, im Bauch meiner Mutter. Ich erinnere mich an die Wärme, an die Sicherheit, und daran, wie meine Mutter mir Kinderbücher vorgelesen hat, obwohl ich noch nicht einmal auf der Welt war. Mein Vater sagte ihr das auch immer, doch sie hörte nie auf damit. Dafür bin ich ihr dankbar.
Mein Leben war kurz, schnell und verschwommen und bestand größtenteils aus Routine. Am Morgen wachte meine Mutter auf und es gab Frühstück, das mich stärkte und Kaffee, der das Blut in meinen Äderchen schneller fließen ließ.
Danach die schnelle Autofahrt zu ihrer Arbeit. Wenn meine Mutter arbeitete, war ihre Stimme immer kühl und professionell, aber ihr Herz klopfte schnell, und ich wusste, dass sie aufgeregt war, auch wenn sie es gut verbarg.
Nach der Arbeit kam meine Mutter müde und kraftlos nach Hause, aß mit meinem Vater Abendbrot (für das Mittagessen hatte sie keine Zeit gehabt) und las ein paar Seiten in einem Buch (ich spürte dann ihr Interesse und ihre aufmerksamen Gedanken), bevor sie schlafen ging. Wenn sie schlief, spürte ich ihren ruhigen Atem. Ich dämmerte vor mich hin und träumte ihre Träume mit.
So lief es jeden Tag, und so lief es jede Nacht.
Nur einmal ging meine Mutter zum Arzt, das war ganz am Anfang, als ich kaum noch ein Zellhaufen war.
Als sie erfuhr, dass ich ein Mädchen war, beschloss sie kurzerhand, mich Shaya zu nennen.
Shaya...Ein schöner,exotischer Name. Ich freue mich, dass ich ihn habe, denn sonst habe ich ja nichts.
Aber ich will nicht abschweifen, sondern meine Geschichte zu Ende erzählen.
Ich merke, dass ich noch nichts über meinen Vater erzählt habe. Wenn ich mich richtig an die Gespräche zwischen meinen Eltern erinnere, war mein Vater Rechtsanwalt. Und ich glaube auch, meine Eltern waren wohlhabende Leute, denn hier hat man mir erzählt, dass Rechtsanwälte gut verdienen. Und ich habe meine Eltern nie über Geldprobleme reden hören. Aber am Ende hat ihnen das ganze Geld doch nichts genützt.
Wisst ihr, in meiner Geschichte gibt es kein Happy End. Meine Geschichte hat, wie gesagt, nicht einmal ein richtiges Ende- sondern vielmehr einen Abbruch.
Mein Leben brach am 13 Juni (ich glaube, es war ein Freitag...) um 21:34 Uhr ab. Mein Leben brach ab, als meine Mutter starke Schmerzen im Unterleib bekam. Mein Leben brach ab, als der Arzt sich irrte und ihr mitteilte, ich hätte keine Chance zum Überleben. Mein Leben brach ab, als meine Mutter die Betäubungsspritze verpasst bekam und ich "operativ entfernt" wurde, wie sie es bezeichneten.
Mein Leben brach ab. Wie schade. Dabei hatte der Arzt doch nicht recht. Ich HATTE eine Chance aufs Überleben.
Und nun schwebe ich hier, mitten im Jenseits. Hier bin ich: Shaya, der Schmetterling, das Kind, das abgetrieben wurde, obwohl es hätte leben können. Hier bin ich und erzähle euch das Ende einer Geschichte, die nie hätte ende müssen..
Meine Mutter erfuhr nie etwas davon, dass ich hätte leben können. Sie war einfach nur verzweifelt.
So verzweifelt, dass sie vor lauter Verzweiflung den Verstand verlor, dem blanken Wahnsinn verfiel. Ich weiß nicht, was sie getan hätte, hätte sie es erfahren. Aber nun macht das ja keinen Unterschied mehr. Erhängt hat sie sich sowieso.
Der Arzt jedoch bemerkte seinen Fehler. Er war auch verzweifelt. Er war entsetzt. Und er fing an zu weinen.
Es war seltsam, einen Mann weinen zu sehen, noch dazu einen Arzt...Doch dann entschuldigte er sich wortreich bei mir, und ich verzieh ihm.
Dann schluckte er das ganze Röhrchen Schlaftabletten und sank in den ewigen Schlummer.
Den Schlummer der Geister...

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Tag der Veröffentlichung: 07.10.2010

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