Ich rede
von Träumern, Kindern eines müßigen Hirns,
von nichts als eitler Phantasie erzeugt,
die aus so dünnem Stoff als Luft besteht
und flücht'ger wechselt als der Wind, der bald
um die erfrorne Brust des Nordens buhlt
und schnell erzürnt, hinweg von dannen schnaubend,
die Stirn zum taubeträuften Süden kehrt. (Mercutio)
- William Shakespeare –
Prolog
Mein Name ist Lyssia. Ich bin fünfzehn Jahre alt und wohne in einem kleinen Dorf mitten im Wald. Meine Eltern sind einfache Leute, nicht sehr angesehen. Doch sie haben gute Freunde im Dorf, gelten bei allen als die nettesten Menschen auf der Welt.
Doch ich bin anders. Man sagt ich sei verrückt, eine Hexe, nicht von dieser Welt. Sie sagen, ich käme direkt aus der Hölle, der Teufel habe mich geschickt. Selbst meine Eltern reden nun schon kaum noch ein Wort mit mir. Denn ich kann sie hören …
Es war ein wunderschöner Sommertag. Die Sonne brannte heiß auf meiner blassen Haut und tauchte meine langen, lockigen Haare in ein tiefes Rot. Eine leichte Brise wehte an mir vorbei, kitzelte meine Haut. Ich hörte das Rascheln der Blätter hoch oben in den Baumkronen. Meine nackten Füße tanzten leichtfüßig durch das Meer aus Blumen, was sich vor mir erstreckte. Hier und da flog ein bunter Schmetterling an mir vorbei. Ich jagte ihm nach, versuchte ihn zu fangen, doch nie gelang es mir. Mein Lachen erklang durch den gesamten Wald, schallte immer wieder zurück. Ich ließ meine Finger über die starke Rinde der Bäume gleiten, über die hüfthohen Gräser. Ich versuchte den Duft des Sommers, so himmlisch und unvergleichlich, in mich aufzusaugen, um ihn nie zu vergessen. Um dieses Gefühl nie zu vergessen. Ein Gefühl des Glücks.
Es war mir nicht oft vergönnt, so frei über die große Lichtung zu tanzen, einfach das Leben zu genießen. An nichts denken zu müssen.
Niemand mochte mich, ich war das kleine, verrückte Mädchen, welches seltsame Wesen hörte.
>Sie ist eine Hexe! Der Teufel schickte sie, um uns alle ins Verderben zu treiben!<
Das musste ich mir jeden Tag anhören. Immer und immer wieder, obwohl ich es doch schon längst auswendig konnte. Ich war keine Hexe und ich kam auch nicht aus der Hölle. Nein. Ich war eigentlich wie jeder andere, mit einer Ausnahme. Ich hörte sie wirklich. Ich hörte die kleinen Wesen im Wald, welche alle für zu märchenhaft hielten, als an ihre Existenz zu glauben. Elfen.
Die Elfen des Waldes waren meine einzigen Freunde hier weit und breit. Sie waren überhaupt die einzigen, die auch nur ein Wort mit mir wechselten. Auch wenn ich sie nicht sehen konnte, hatte ich genau ein Bild vor Augen. Kleine, fliegende Menschen mit spitzen Ohren. Vielleicht handgroß. Doch das Schönste an ihnen mussten die Flügel sein. Ich hörte sie schlagen, wenn sie an mir vorbeiflogen. Sie mussten zauberhaft aussehen, mit vielen kleinen Verzierungen, vielleicht Blumen und Ranken. In allen möglichen Farben.
Die Elfen waren die glücklichsten Wesen die ich kannte. Bei ihnen gab es sowas wie Streit nicht. Sie kannten Gefühle wie Hass, Eifersucht und Gier nicht. Sie waren von Grund auf gut. Denn sie beschützten unser Dorf. Natürlich glaubte mir das niemand. Nicht einmal die Kinder. Ich hatte früher Freunde. Doch als ich sie mit sechs das erste Mal hörte und es meiner besten Freundin erzählte, wollte diese nichts mehr von mir wissen. Sie erzählte es dem ganzen Dorf und schon bald war ich die Außenseiterin. Jemand, der nicht dazu gehörte.
Die Elfen sagen mir, es ist schon immer so gewesen. Der-oder Diejenige, der die Gabe hatte, mit ihnen zu sprechen, wurde von seid her ausgeschlossen. Und jeder, welcher dieses Geschenk besaß, befand sich nun in ihren Reihen, mitten unter ihnen. Sie wurden zu dem, was sie sind. Zu einer Elfe.
Ich wusste nicht wie und warum. Aber sie sagten mir, das auch meine Zeit kommen würde. Ich musste nur lange genug warten … und vor allem durfte ich nicht aufgeben. So schwer es auch war, von allen ausgeschlossen zu sein, ich musste weiterhin an meinem Glauben und meiner Gabe festhalten. Unter allen Umständen.
Meine Füße trafen auf kalte, nasse Steine. Ich war fast da. Ich hörte das Plätschern des Wassers, der Bach durfte nicht mehr weit sein. Um mich herum surrten Libellen. Blaue, grüne, rote. Es war wunderschön hier. Ich sah die Lichtspiele der Sonne und des Wassers an den dunklen Rinden der Bäume. Es sah aus, als wäre der gesamte Wald verzaubert. In gewisser Weise war er dies ja auch. Und dann erreichte ich ihn. Mit einem Mal nahm ich wieder das mir so bekannte Flügelschlagen war. Ich hörte sie lachen, hörte wie sie meinen Namen riefen.
‚Lyssia ist da. Sie ist endlich wieder da!‘ Ich spürte, wie sie sich um mich versammelten. Sie flogen Kreise um meinen Kopf, zerzausten mein langes Haar. Sie machten immer solche Späße, und es gefiel mir. Sie hatten mich alle ins Herz geschlossen und ich sie. Ich hörte Luana‘s Stimme ganz deutlich heraus. Sie war sozusagen die Königin des Elfendorfes. Sie wählte das Kind mit der Gabe aus.
‚Lyssia, meine Liebe. Wie geht es dir?‘
„Danke, gut. Es tut mir leid, dass ich so lange nicht mehr hier war, doch ihr wisst ja. Ich muss im Dorf die härtesten Arbeiten erledigen.“ Ich erzwang ein Lächeln, doch noch immer spürte ich die Striemen an meinen Händen. Sie brannten wie Feuer.
‚Gib mir mal deine Hände, Liebes!‘ Ich streckte sie aus und hörte, wie die kleinen Wesen um mich scharf die Luft einsogen.
‚Was haben sie dich denn machen lassen, dass deine Hände so schlimm aussehen?‘
„Ich musste in den Wald Holz hacken und es dann ins Dorf bringen. Ich hab‘ mir die Hände an der rauen Rinde und dem Seil aufgerieben.“
‚Gleich ist es besser!‘ Sie hatte mich schon sehr oft geheilt. Es war eine Art Kribbeln, welches sich anfangs nur in meinen Fingerspitzen befand, sich dann aber auf der ganzen Hand verteilte. Urplötzlich war das Brennen verschwunden und meine Hände glatter als je zuvor.
„Danke Luana!“
‚Du musst mir doch nicht danken. Es ist das Mindeste was ich tun kann, nachdem ich dir diese Bürde aufgelastet habe.‘ Ich musste lächeln.
„Du weißt, dass ich es als Geschenk betrachte, nicht als Last.“
‚Ja. Natürlich. Doch es ist mir noch immer ein Rätseln. Niemand vor dir war so stark!‘ Ich spürte ihre kleinen Hände an meiner Wange. Sie waren kalt, jedoch nicht unangenehm. Es war wohltuend. Heilend von all dem Leid.
‚Lyssia. Lyssia. Ich habe dich so vermisst.‘ Ich hörte das mir so bekannte Flügelschlagen direkt neben meinem Ohr. Es war meine kleine Nalani. Sie wurde mir zugeteilt als meine Beschützerin. Sie sollte auf mich aufpassen. Jedes Kind mit der Gabe hatte eine Elfe, zu der es eine besondere Bindung aufbaute. Man könnte sagen es ist Seelenverwandtschaft. Sie weiß immer genau was ich denke und brauche. Manchmal kam sie sogar ins Dorf um mir zu helfen. Doch in letzter Zeit war dies zu gefährlich geworden. Unsere Oberhäupter beobachteten mich und hätten sie gesehen, das ich mit unsichtbaren Wesen sprach, wäre ich wahrscheinlich Minuten später auf dem Scheiterhaufen gelandet. Denn bisher hatte sie noch keine Beweise für die Hexe in mir. Das Teufelskind.
„Nalani! Du hast mir auch gefehlt, Kleine!“ Ich hörte ihr Kichern als sie wilde Kreise um ich herum drehte. Ich tanzte mir ihr am Ufer des Baches entlang, auch wenn ich sie gar nicht sehen konnte. Ich fühlte mich hier immer so frei. Inmitten meiner eigentlichen Familie.
Ein paar der früheren Kinder hatte ich auch schon kennengelernt. Arion war das Kind vor mir gewesen. Ich unterhielt mich sehr oft mit ihm, doch er hatte mir nie erzählt, wie all das endete. Wann ich endlich zur Elfe wurde. Er sagte immer wieder, der Tag würde kommen und er dürfe mir nicht sagen wann. Doch das letzte Mal meinte er, es wäre nicht mehr lang.
‚Lyssia? Wir müssen noch mit dir reden. Es ist sehr wichtig!‘
„Um was geht es denn, Nalani?“
‚Das darf ich nicht sagen, du erfährst es von Luana! Aber komm jetzt, wir müssen zu unserem Heimatbaum!‘ Sie umfasste einen meiner Finger und zog mich mit sich. Als wir endlich die riesige Weide erreichten, blieb ich wie immer kurz stehen, weil ich so fasziniert war. Auch wenn ich die Elfen nicht sehen konnte, sah ich doch ihr Dorf. Es waren lauter kleine Häuser, gebaut aus Ästen, Rinden und Blüten. Und alles erleuchtet in mystischen Licht. Die Sonne, welche sich nur vereinzelt einen Weg durch das dichte Blätterdach bahnen konnte, spiegelte sich im Wasser und malte wunderschöne Schatten auf den Grund des klaren Baches. Lichtspiele tanzen durch den gesamten Wald. Der Wind streichelte sacht die Blätter der Weide. Hier und da nahm er ein kleines Blatt mit sich. Nalani zog ungeduldig an meiner Hand.
‚Lyssia. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Du musst schon bald zurück!‘ Ihre klare, melodische Stimme riss mich aus meiner Trance.
„Ja. Natürlich!“ Ich sprang von Stein zu Stein, bis ich das andere Ufer des Baches erreicht hatte. Ich hörte, wie sich Stimmen leise unterhielten. Als ich direkt am Stamm des Baumes stand, verstummten alle.
‚Lyssia. Liebe Lyssia. Du weißt welcher Tag heute ist?‘ Ich überlegte krampfhaft.
„Nein. Ist heut irgendetwas Besonderes?“ Ich hörte wieder Flügelschlagen direkt an meinem Ohr.
‚Heut ist dein sechzehnter Geburtstag, kleine Lyssia.‘
„Nein. Mein Geburtstag ist erst morgen! Ihr müsst euch irren, Luana!“
‚Ich irre nicht. Du wurdest am vierzehnten Juni vor genau sechzehn Jahren geboren.‘ Ich schüttelte den Kopf.
„Aber es steht geschrieben, das meine Geburt am fünfzehnten war.“
‚Du wurdest belogen. Man hatte deinen Geburtstag gefälscht, da es eine Legende gibt. Ein Kind, welches in einer Neumondnacht geboren wird, am vierzehnten Juni, wird die Gabe des Teufels erhalten, mit den schrecklichen Wesen des Waldes zu reden. Du warst ein solches Kind, ein Kind unter vielen schon vor dir. Deine Eltern wollten dich schützen und setzten ein falsches Datum fest. Es war kurz vor Mitternacht, so fiel es niemanden auf.‘
„Also war alles eine Lüge? Es reiner Zufall, dass ich mit euch sprechen kann?“ Tränen stiegen in meine Augen.
„Ich dachte, ich wäre etwas Besonderes!“
‚Nein mein Kind, so weine doch nicht. Nicht der Geburtstag entscheidet über die Gabe, ich habe das letzte Wort. Als du mit sechs Jahren diesen Ort fandest, war ich überzeugt davon, du seist die Richtige. Denn nur der oder die Auserwählte trägt das Licht mit sich. Die Menschen sehen es nicht, doch für uns erstrahlst du in einem goldenen Lichtschein, welcher dich stetig umgibt. Er steht für deine reine Seele, und das ist es, was euch Kinder des Neumondes ausmacht. Die Unschuld.‘
Ich nickte und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht.
„Heut Nacht ist wieder Neumond.“
‚Ganz richtig, mein kluges Kind. Wir nennen diese Nacht auch gern >Nacht der ElfenKlatsch.
„Wag es dir nicht noch einmal so mit mir zu reden … deiner Mutter! Diese Wesen sind gefährlich, sie wurden vom Teufel gesannt um unser Dorf zu zerstören. Und du … DU freundest dich mit ihnen an?“
„Ja, Mutter. Ganz richtig. Hier im Dorf halten mich schließlich alle für verrückt. Die Elfen verstehen mich!“ Sie schüttelte ungläubig mit dem Kopf.
„Elfen! Das sind Kinder des Satan! Genau wie du eines bist!“ Tränen stiegen mir in die Augen. Sie hatte es noch nie so hart ausgedrückt.
„Das Vater der Teufel ist hab ich noch gar nicht gewusst!“ Klatsch!
Meine Wange brannte höllisch.
„Rede noch einmal so über deinen Vater…“
„Dann was? Schlägst du mich wieder? Und wieder?“ Nun kullerten die Tränen meine Wange hinunter. Ich konnte es nicht verstehen. Wie kann man sein Kind so hassen? Was hatte ich ihnen je getan?
„Geh in dein Zimmer! Ich will dich nicht mehr sehen müssen!“ Meine Mutter drehte sich um und ging zurück in die Küche. Ich rannte die Holztreppe hinauf und ließ mich in mein Bett fallen. Die Tränen strömten noch immer aus meinen Augen. Sie wollten nicht aufhören. Ich ließ meine Hand zu meiner Wange gleiten. Sie fühlte sich geschwollen an und sie tat weh. Luana würde es sicher heilen. Doch sie konnte das Leid nicht von mir nehmen. Das leid, welches ich schon seit Jahren mit mir trug. Gehasst von Freunden und der eigenen Familie, ein Dorf, was einen verabscheute. Ich hatte es nie leicht gehabt, doch ich hatte an sie geglaubt. Und das war das einzig Wichtige. Bald würde es sowieso vorbei sein. Dann wären alle glücklich. Meine Eltern. Meine Freunde. Das Dorf. ICH.
Als meine Mutter das Licht der Kerzen löschte und sich in ihr Schlafzimmer begab, schlüpfte ich in meine Schuhe und nahm den roten Mantel vom Haken. Meine Großmutter hatte ihn einst für mich gemacht, sie war die Einzige, welche an die Elfen glaubte. Sie hatte mich nie ausgeschlossen und immer zu mir gehalten. Doch sie war schon lange tot. Ich war schon lange allein.
Ich schlich die Treppe so leise wie nur möglich hinunter, ließ die Stufen aus, von denen ich wusste das sie knarrten und trat dann, Schritt für Schritt weiter in Richtung Tür. Bei jedem noch so winzigen Geräusch zuckte ich kurz zusammen und wartete. Wartete, dass meine Mutter aus ihrem Schlafzimmer gestürmt kommen würde. Doch nichts geschah. Als ich den Türknauf mit meiner Hand umfasste, konnte ich schon ihre Stimme hören. Langsam drehte ich ihn herum und verschwand nach draußen. Es war sehr frisch, doch der Mantel hielt mich warm.
‚Lyssia! Da bist du ja!‘ Ich vernahm ihr Flügelschlagen ganz in meiner Nähe.
„Und jetzt?“ Ich sprach die Worte so leise wie möglich aus.
‚Nimm meine Hand!‘ Bevor ich sie überhaupt suchen konnte, hatte sie meine schon gefunden. Sie murmelte für mich unverständliche Worte und plötzlich wurde ich erneut in die Luft gehoben. Ich flog, wie schon heut Nachmittag. Ich flog über die Dächer der Häuser des Dorfes, dann über den riesigen Wald. Und dann konnte ich auch die riesigen Weide sehen. Sie leuchtete wie nie zuvor. An allen Blättern waren kleine Lichter befestigt, welche den Baum strahlen ließen. Urplötzlich schwirrten hunderte von Flügelschlägen um mich herum. Es war eine Art Strudel welcher mich umgab. Alles funkelte und glitzerte in Farben, die ich nie zuvor sah. Meine Kleider lösten sich auf und plötzlich spürte ich weiche Seide an meinem Körper. Sie zauberten mir ein langes, wundervolles Kleid. Es war weiß, leuchtete jedoch golden. Ein Muster aus Blüten und Ranken kletterte an meinen Armen entlang. Ich konnte es nicht fassen, noch nie in meinem Leben hatte ich mich so gut gefühlt. Meine Füße trafen wieder auf die Erde des Waldes, die Elfen ließen mich aus dem Strudel frei.
Ich schaute an mir herunter. Das Kleid betonte meine schlanke Figur ausgesprochen gut, es sah einfach nur toll aus.
‚Lyssia. Gefällt es dir? ‘ Luana setzte sich auf meine Schulter.
„Ich weiß nicht was ich sagen soll, weiß nicht, wie ich mich dafür bedanken soll!“ Ich hörte Nalani‘s Kichern.
‚Wart’s nur ab. Es wird noch besser! ‘ Sie flog an mir vorbei und legte ihre Hände an meine Stirn. Es erschien ein kurzes Leuchten, dann war es auch schon wieder vorbei.
‚Geh‘ zum Bach und schau dein Spiegelbild an!‘ Bevor ich auch nur einen Schritt gehen konnte, zog meine kleine Beschützerin schon an meiner Hand. Ich musste Lachen, doch als ich mich in dem klaren Wasser betrachtete, stockte mir der Atem. Ich sah‘ aus wie eine Prinzessin. Zauberhaft. Alles an mir erstrahlte in einem Licht, was ich noch nie zuvor sah. Nalani hatte mir noch eine Art Diadem gezaubert. Es bestand aus mehreren goldenen Fäden, welche mein Haar durchzogen, und kleinen weißen Blüten. Es war wunderschön.
„Oh Nalani, danke!“
‚Gern geschehen! ‘ Wieder vernahm ich ihr Lachen.
„Doch wofür ist das alles?“ Ich drehte mich um und plötzlich konnte ich sie sehen. Lauter kleine fliegende Menschen, spitze Ohren, riesengroße Flügel in allen verschiedenen Farben. Sie waren so wie ich sie mir immer vorgestellt hatte … nein. Sie waren schöner.
Ich erkannte Luana sofort, sie war die majestätischste Elfe von allen. Sie hatte goldene Flügel, welche geradezu strahlten. Dazu trug sie ein tiefblaues Kleid.
‚Lyssia. Heute ist ein ganz besonderer Tag. Jedes Kind des Neumondes wird an seinem sechzehnten Geburtstag von all seinem Leid befreit und in unsere Reihen aufgenommen. ‘ Ich war sprachlos. Sollte es wirklich schon heute soweit sein?
‚Keine Angst. Es wird alles gut gehen. Niemand wird sich je an dich erinnern. ‘ Dies war ein Schock.
„Es wird so sein, als hätte es mich nie gegeben?“ Auch wenn mich sowieso alle verabscheuten, gefiel mir dieser Gedanke nicht.
‚Ja. Als wärst du nie geboren worden! ‘ Ich nickte, doch trotzdem spürte ich einen Kloß im Hals.
‚Bist du dafür bereit? ‘ Ich schaute mich um. Überall kleine fliegende Wesen, alles leuchtete, glitzerte, funkelte. Sie lächelten mich alle an. Und ich erwiderte ihr Lachen. Sie waren meine Familie, die Einzigsten, welche mich mochten und nicht meinen Tod wünschten. Was sollte ich denn noch in unserem Dorf? Weiter hoffen, dass mir niemand folgte? Dass sie mich nicht umbrachten? Nein. Ich wollte wieder ein Leben führen und das konnte ich nur hier. Indem ich eine von ihnen wurde.
„Ja. Ich bin bereit!“ Luana strahlte mich an und kam auf mich zugeflogen.
‚Es ist ganz einfach. Du musst keine Angst haben, nicht mal vor dem Tod! ‘
„Tod?“ Ich blieb wie angewurzelt stehen.
„Ich muss sterben?“ Luana senkte den Kopf.
‚Ja, meine kleine Blüte. Doch glaub‘ mir, es geht ganz schnell, du wirst überhaupt nichts spüren. Du wirst nicht einmal wissen, dass du stirbst. ‘ Sie lächelte mich aufmunternd an und ich glaubte ihr. Sie nahm meine Hand und führte mich zum Bach.
‚Du musst dich nun einfach in das kühle Wasser legen, es ist zwar nicht tief, doch wirst trotzdem vollkommen unter Wasser sein. ‘
„Ich werde also ertrinken!“ Nalani kam auf mich zugeflogen. Sie hatte kein Lächeln auf den Lippen.
‚Hab keine Angst, Lyssia. Ich bin ja bei dir. ‘ Ich nickte. Und tatsächlich. Die Tatsache, dass sie bei mir sein würde, half mir.
„Also gut!“ Ich lächelte meine kleine Elfe an. Sie sah bezaubernd aus. Genau so hatte ich sie mir immer vorgestellt. Leuchtend rotes Haar, kurz geschnitten und wild von ihrem Kopf abstehend. Sie trug ein kurzes, gelb-orangenes Kleid, ihre Flügel waren ebenfalls in einem sehr hellen Gelbton. Sie waren verziert mit großen, glitzernden Blüten. Sie trug wie ich ein Diadem aus Fäden im Haar.
„Es ist bald Mitternacht, wir müssen uns beeilen!“ Ich nickte und stieg dann in den eiskalten Bach. Langsam ließ ich mich auf die Knie sinken, das Kleid klebte an meinen Beinen.
„War das schon immer so? Musste jedes Kind sterben?“ Arion kam auf mich zugeflogen.
‚Es war schon immer so, Lyssia. Und es wird immer so sein. Doch glaub‘ mit, du spürst nichts. Nichts außer dem eiskalten Wasser.‘ Ich lächelte ihn an.
„Danke. Ich danke euch für alles!“ Die Elfen kamen ein letztes Mal auf mich zugeflogen, schwirrten um mich herum, zerzausten meine Haare. Es war noch viel schöner als je zuvor, denn endlich konnte ich sie sehen. Ich konnte den Wirbel um mich herum sehen. Leuchtende Farben, Farben, die ich noch nie mit meinem Auge erfasst hatte. Als wäre ich jahrelang blind für die Schönheit dieses Ortes gewesen. Es war atemberaubend.
Ich ließ mich ins kühle Wasser gleiten. Es stach überall an meinem Körper, wie hunderte kleiner Messerstiche. Doch es würde alles ändern - zum Guten.
‚Du kannst dich noch um entscheiden. Doch dann wirst du uns nie wieder hören und sehen können! ‘ Luana setzte sich auf meine Brust.
‚Doch vergessen wirst du uns nicht. ‘ Ich schüttelte den Kopf.
„Dies ist der Ort, wo ich hingehöre. Dies ist mein Zuhause!“ Sie lächelte mich an.
‚Dann schließe deine Augen, es wird nicht lange dauern. ‘ Ich sah mich ein letztes Mal um. Sah Nalani noch einmal an. Arion. All die anderen. Bald würde ich eine von ihnen sein.
Mein Kopf tauchte in das kalte Wasser, ich hielt die Luft an, versuchte unten zu bleiben. Mein gesamter Körper kribbelte, ich spürte einen warmen Lichtschein über mir. Doch er erreichte mich nicht, wärmte mich nicht.
Man sagte, in dem Moment, in dem man stirbt, zieht das ganze Leben noch einmal an einem vorbei. Jeder Moment.
Das war gelogen. Ich spürte nur das kalte Wasser, und die Luft, welche immer knapper wurde. Doch ich starb ja nicht endgültig, oder? Vielleicht war dies der Grund. Doch ich war froh, ich wollte mein Leben nicht noch ein einziges Mal sehen müssen. Man konnte es doch nicht mal Leben nennen. Ich war nie geliebt wurden, außer von den märchenhaften Wesen im Wald. Natürlich, es gab eine Zeit vor ihnen, doch an diese konnte ich mich kaum erinnern. Ich war zu klein gewesen. Doch es gab schöne Momente, Momente in denen ich spüren konnte, dass meine Eltern mich liebten. Von ganzem Herzen. Längst vergessene Momente.
Ich kniff die Augen zusammen, versuchte krampfhaft, noch einen Rest Sauerstoff aus meiner Lunge zu pressen. Da war kein Rest. Sie drohte zu bersten, instinktiv schluckte ich Wasser. Mein Hals brannte höllisch, doch ich durfte nicht auftauchen. Ich konnte nicht auftauchen. Es war, als würde mich ein unsichtbares Band, ein Stahlseil, an die kalten Steine des Bachs ketteten. Als wolle es verhindern, dass ich mich um entschied. Nicht sterben wollte. Wäre es nicht da gewesen, wäre ich wahrscheinlich aufgetaucht. Doch ich war froh, dass es existierte. Denn ich wollte nicht auftauchen, nicht weiterleben.
Mein ganzer Körper verkrampfte sich, meine Lunge zog sich schmerzhaft zusammen. Ich riss meine Augen auf, versuchte zu schreien, wodurch nur noch mehr Wasser in meinen Hals hinunterfloss. Und dann sah ich es. Das Licht, von dem alle sprachen. Das Licht am Ende des schwarzen Tunnels. Es wurde heller und heller. Golden belendete es mich. Doch ich wollte meine Augen nicht wieder schließen. Vielleicht wäre es dann verschwunden. Und plötzlich erfüllte mich eine innere Wärme, wie ich sie noch nie zuvor verspürt hatte. Mein Körper erhob sich von den Steinen am Grund des Bachs, durchbrach die Oberfläche. Ich wurde in die Luft gerissen, immer und immer höher. Ich sah einzelne Sterne funkeln, ich flog direkt zu ihnen. Ich spürte, wie die Wärme abnahm, das Licht schwächer wurde. Langsam wurde alles Schwarz.
Mein Körper wurde immer schwerer, ich spürte die letzten Herzschläge, die letzten Atemzüge. Spürte ein weiches Blätterdach unter mir. Und dann war da nur noch Finsternis. Die Wärme war vollkommen verschwunden. Das Licht war nicht mehr zusehen. Mein Herz tat seinen letzten Schlag.
---------------------------------------------------- Sechs Jahre später ------------------------------------------------------
Meine Flügel streiften ihre langen, blonden Locken. Ich hörte ihr Kichern.
„Hör auf. Das kitzelt!“ Ich zog Kreise um sie, zerzauste ihr Haar. Sie lachte, es durchschallte den ganzen Wald. Dieses klare, wundervolle Lachen.
Luana kam auf mich zugeflogen.
‚Sie ist es. Sie ist die Richtige! ‘ Sie lächelte mich an. Ich nickte. Ich hatte den goldenen Schimmer, welcher das kleine Mädchen umgab, gesehen.
‚Und du bist ihre Beschützerin. Hab ein Auge auf sie! ‘ Ich fiel ihr um den Hals.
‚Ich? Ich soll ihre Elfe werden? Oh Luana, danke. Du weißt nicht wie viel mir das bedeutet! ‘ Sie lachte mir in mein Ohr.
‚Doch. Ich weiß, wie wichtig dir das ist. Deshalb habe ich auch dich ausgewählt. ‘
„Hallo? Was meint ihr denn mit all dem? Was ist eine Elfe, und wieso MEINE Elfe?“ Ich flog zu meinem Kind des Neumondes und setzte mich auf ihre Schulter.
‚Du wirst alles verstehen, Gwendolyn, und ich werde dir dabei helfen. Du hast die Gabe, meine Kleine. Ein Geschenk, was schon viele vor dir hatten. Ich ebenfalls. Glaub mir, es ist das Beste, was dir passieren kann, auch wenn es Schwierigkeiten mit sich bringt. Es gibt nichts Schöneres, als mit den Wesen des Waldes reden zu können, mit den Elfen. Dem Volk, welches dein Dorf beschützt. Uns.‘ Ich strich mit meiner kalten Hand über ihre kleine Stubsnase. Sie lachte. Sie lachte, so wie ich damals. Und ich lachte mit ihr.
Ende
Epilog
Wow. Ihr habt mein Buch tatsächlich bis zum Ende gelesen. Dafür ersteinmal Danke! Ich hoffe, euch hat es gefallen und ihr hinterlasst mir ein Herz'chen und einen Kommentar (natürlich auch gerne mit negativer Kritik). Vielleicht ist ja sogar ein Pokal für den laufenden Wettberwerb drin :)
Bedanken möchte ich mich noch schnell bei der besten Schwester der Welt und meiner allerliebsten Lieblingscousine. Danke für's erste Lesen meiner Kurzgeschichte und die lieben Worte. Ich liebe euch. <3
Texte: Das Cover besteht aus zwei Bildern, welche unter folgenden Seiten zu finden sind:
C:\Users\Public\Pictures\Elfen.gif
C:\Users\Public\Pictures\Elfen 1.jpg
Tag der Veröffentlichung: 02.10.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für den wichtigsten Menschen auf der Welt in meinem Leben. Laura. Ich weiß nicht, warum ich dich verdient habe. Danke, danke für alles!