Die Zeit, die ihr blieb, rückte unerbittlich dem Ende entgegen.
Es stand ihr zu, nur noch für sich selbst da sein zu wollen. Das Leben ist kurz. Und hektisch genug.
In dieser aufgeregten Zeit hatte sie mehr gegeben als genommen.
Ihr Lebenswerk war vollbracht. Sie hatte sich entfaltet nach ihrem Wunsch und war mit ihrem Leben gänzlich zufrieden. Jetzt war ihre Zeit gekommen. Sie fühlte sich schön wie nie.
Er saß mit Liebeskummer und Cognac am Seeufer. Beides schien er zu genießen.
Am Morgen war er zum Angeln hierher gekommen und hatte dann beschlossen, den ganzen Tag hier zu verbringen. Würdevoll saß er da. Trotz seines melancholischen Gemütszustandes strahlte er etwas Beseeltes aus, eine weise Ruhe, vielleicht vor einem letzten Sturm.
Der Sonnenuntergang nahte.
Aufbruchsstimmung.
Alle schwärmten bereits weiter, heimwärts, an diesem Maiabend, als sie in seine Nähe kam. Sie war die Letzte dort am See und sie beeilte sich nicht.
Welcher Eingebung sie folgte, zu bleiben, wusste sie nicht.
War es der Duft, der sie anzog? Seiner? Der des Weingeistes? Sie war seltsam berührt. Von einem Moment. Von einer Ahnung. Es war die Vorhersehung einer Berührung. Rief der Wassergeist sie wieder? Ein Gespür von Vollendung erfüllte sie.
Es war wie ein Sog, ein Atemzug. Sie wusste nicht, was es war. Es war da und es ging alles sehr schnell.
In die Einsamkeit war er geflohen. Im Schutz der Schwarzpappelblätter wollte er diese beeindruckende Inszenierung der Natur verfolgen, um dann, wenn gänzlich Ruhe eingekehrt war, zuzuschauen, wie Himmel und See ihr Purpurrot friedlich der Schwärze der Nacht übergeben. Ihn faszinierten diese großartigen, immer wiederkehrenden, scheinbar sinnlosen Spektakel der Natur. Niedergang und Auferstehung, Agonie und Genese, Ende und Beginn. Er nährte Seele und Zuversicht mit diesen Bildern.
Sie gab sich einer Ahnung hin, sekundenlang. Mehr blieb ihr nicht. Sie ließ sich fallen. Wie eine Schneeflocke, übriggeblieben vom großen Sturm, vorbei an seinen von windsilbernen Blitzen durchzogenen, algengrünen Augen. Sie schwebte und sank und sank. Sie tanzte im Taumeln und das Bewusstsein, dass dies das letzte war, was sie in ihrem Leben tat, ließ sie reicher, größer und schillernder werden als je zuvor. Dieses Gefühl nahm sie mit und übergab es ahnungslos der Nachwelt.
Er saß am Ufer, die Unterarme auf die angezogenen Knie gestützt, das Glas in beiden Händen. Er genoss den Cognac, die Ruhe, das Farbenspiel und das fast unmerkliche Plätschern des Sees. Sein Blick war geradeaus gerichtet, als im Dunkelrot der Nacht ein schwarzer Punkt auftauchte und, vom Himmel tanzend, geradezu in seinen Cognacschwenker zu fallen drohte.
Im sanften, warmen Licht seiner Armbanduhr fischte er eine Eintagsfliege, die den Weiterflug des Schwarmes wohl verpasst hatte, gerade noch aus dem Glas, ehe sie zu ertrinken drohte, und schnippte sie auf die Oberfläche des Wassers.
Tag der Veröffentlichung: 11.02.2010
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