Ihre Karriere begann schon mit ihrer Geburt. Familie Liekenbäumer wurde schwanger, gebar Zwillinge und nannte sie Romeo und Julia. Von da an nahm das Schicksal seinen hemmungslosen Lauf. Mutter war in einer Zeit aufgewachsen, als die Eltern das Leben ihrer Kinder noch nicht in dem Maße inszeniert haben wie heute, um den lieben Kleinen rechtzeitig genug einen Platz zu reservieren auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Mittlerweile sind die eigene Karriere und Selbstfindung hinter dem „Projekt Kind“ weit zurück geblieben. Auch die Mutter der Zwillinge konnte sich diesem Zwang der Mütterkonkurrenz nicht entziehen. Früher stürzte man aufgeregt, mit zitternden Händen und Freudentränen in den Augen, zum Baby- kalender, um ein neues Kreuz, Häkchen oder Datum einzutragen, wenn das Kleine die erste Blumentopferde gegessen, sich das erste Mal den Kopf an seinem eigenen Spiegelbild angehauen oder endlich der Oma beim Aufwiedersehen statt einen Vogel das Winkewinke gezeigt hat. Verglichen die stolzen Eltern früher im Wartezimmer während der Vorsorgeuntersuchung oder auf dem Spielplatz das Wachstum der ersten Zähne, der ersten Locken und des ganzen Stöpsels, wird heute bereits während der Schwangerschaft die Entscheidung für die richtige Grundschule getroffen. Es gilt nichts mehr, wann das Kleine zum ersten Mal „Papa“ sagt oder ins Töpfchen macht. Der neuen Elterngeneration geht es darum, möglichst früh das erste Zertifikat für belegte Babykurse in “Musik und Bewegung nach Montessori“, „Selbstfindung unter Klangschalenvibrieren“ (demnächst auch schon für den Embryo im Mutterleib) oder „Little Yoga – zweisprachig“ zu erkursen. Frau Liekenbäumer mischte kräftig mit. Mit drei wurde Julia für die „Kindertheaterschule“ angemeldet und Romeo für den „Expeditions-Pass Matterhorn“. Die Mutter wollte ihren Kindern die Chancen, die sich heute boten, nicht vorenthalten. Sie hatte das Gefühl, für ihre Zwillinge nachholen zu müssen, was ihr selbst nicht vergönnt war. Vor lauter Organisieren, Manövrieren und Chauffieren bemerkte Frau Liekenbäumer erst nach vier Wochen, dass ihr Ehemann gar nicht mehr da, sondern ausgezogen war.
Das fiel nur deshalb nicht auf, weil zwar 89 Prozent aller Väter die Familie als "sehr wichtig" betrachten, in der Praxis aber am Ende doch 81 Prozent der Frauen den überwiegenden Anteil an der Erziehung, Bildung und Betreuung der Kinder übernehmen.
Romeos 81 Prozent erwiesen sich als ein wenig schwieriger. Bei seinem übergroßen Bewegungsdrang sah es Mutti nämlich als erforderlich an, den kleinen Rabauken vernünftigerweise auch an Stuhl und Wort zu binden – er sollte ja später einmal Richter, Rechts- oder Staatsanwalt werden. Opa bekam den Auftrag, dem Kleinen einen Richtertresen in Kleinformat zu bauen, der dann im Kinderzimmer aufgebaut wurde. Doch statt mit seinem kleinen Hämmerchen die geladenen Mini-Zeugen und -Schöffen streng, aber warmherzig zur Raison zu rufen, schlug der Kronprinz ihnen damit viel lieber auf den Kopf. Das anwaltliche Vorhaben gab die Erziehende und Bildende letztendlich auf, nachdem der Spross bei Austritt aus dem Kindergarten noch immer nicht die wichtigsten Begriffe des kleinen Latinums beherrschte.
Am meisten verstört war sie jedoch, als sie zum Kinderfasching den Jungen zum vierten Mal in Folge als Schmachtfetzen Romeo in der Kindereinrichtung abgab (natürlich nicht, bevor er die Balkonszene erneut auswendig interpretieren konnte), jedoch als Darth Maul wieder abholen musste. Eine befreundete Kindergärtnerin hatte Mitleid mit dem Jungen, den sie - in historisch nachempfundene Volants und Rüschen gehüllt - weinend und verängstigt im Turngeräteraum hinter den Medizinbällen liegen sah. Sie schminkte ihn kurzerhand zu seiner wahren Größe um.
Die Hoffnungen schwanden also, dass vielleicht doch noch etwas Großes aus dem Sohn werden könne. Schließlich war er schon sieben! Doch dann meldete ihn Frau Liekenbäumer beim MTV-Kinder-Streetdance an, nachdem die scheidende Kindergärtnerin, noch schnell um seine Fähigkeiten befragt, in ihrer Verlegenheit antwortete, er sei der Junge mit den schnellsten Füßen gewesen.
Bei Julia war der Werdegang etwas anders. Die Mutter gab das Blockflötespielen schon mit eineinhalb auf. Ihr Bruder nämlich bestand Nacht für Nacht darauf, in der Ritze des elterlichen Doppelbettes schlafen zu dürfen, weil er permanent von dem Geräusch geweckt wurde, das Julia verursachte, wenn sie im Halbschlaf regelmäßig die Löcher der Flöte größer biss. Beim erzwungenen Reitunterricht brüllte das gewiefte Kind jedes Mal, wenn sie mit ihrem Pferd alleine war, dem Tier lauthals ins Ohr, dass sie es nicht leiden könne, weil es so große Zähne habe. Zu ihrer Freude konnte das Tier sie von Beginn an auch nicht leiden. Die Mutter musste wohl oder übel alsbald die Begründung der Reitlehrerin für das Scheitern des Angebotes akzeptieren. Die Interpretation der Selbstwahrnehmung von außen fiele Kind und Tier in diesem Falle gleichermaßen schwer und die Abwehr gegen vereinnahmende Machtspiele sei unverkennbar.
Im Schauspielunterricht jedoch, den das Mädchen seit ihrem dritten Lebensjahr besucht, macht sie sich hervorragend. Die kleine Prinzessin entwickelt alsbald auch im Alltag ihre Divenallüren. Schon bald begann der Bruder, sie dafür zu hassen, dass Mutter bei ihr alles durchgehen ließ mit der Begründung, Künstler seien eben so. Mit sechzehn haute er von zu Hause ab, studierte Romanistik und ist heute erfolgreich für einen Hersteller für Balkonverkleidungen im Außendienst in Italien tätig.
Julia entwickelte sich fortan prächtig. Durch die großzügige Akzeptanz und Unterstützung ihrer Mutter hatte sie allen Freiraum, sich hundertprozentig ihren Rollen hinzugeben. Das war nicht immer leicht. Auch nicht für die Mutter. All die zerbrochenen Krüge, ständig diese Kreidekreise auf dem Fußboden. Und was musste nicht alles angeschafft werden: Vögel, Frösche, ja sogar Ratten, je nachdem, welches Stück gerade gelesen oder gespielt wurde. Nachdem die Kinder vom Bahnhof Zoo schon nach vier Tagen Aufenthalt die Wohnung wieder verlassen hatten, die sie auf ausdrückliche Einladung Julias bevölkerten, dort aber ein Chaos hinterließen, als wären gleich drei ICE´s durch gedonnert, beantragte Frau Liekenbäumer eine Kur. Dem Gipfel der von der Tochter ersponnenen Kongruenz zwischen Theater und wirklichem Leben konnte sie sich jedoch nicht mehr rechtzeitig entziehen. Die Ära Mutter-Kind stand knapp vor dem Aus, als Julia leidenschaftliche Partnerschaftsanzeigen für ihre Mutter aufgab und sogar dreimal ungefragt einen Kerl ins Haus schleppte, als sie „Ein idealer Partner“ von Oscar Wilde in Theatertheorie durchnahmen.
Frau Liekenbäumer war also nicht nur stolz, sondern tief im Inneren auch überaus erleichtert, als Julia mit achtzehn auf der Schauspielschule vom Fleck weg, genauer gesagt vom Vorsprechen weg, angenommen wurde. Sie zog in die große Stadt und fand eine WG gleichgesinnter Jungschauspieler.
Die Erziehungsberechtigte, die nun keine mehr war, lebte auf.
Jetzt ist Julia freischaffende Schauspielerin. Und sie hat großes Glück. Denn sie hat das gewisse Etwas. Sie entspricht in ihrer Erscheinungsform einem an den Theatern gefragten Ideal der weiblichen Darstellung. Ihr markantes, etwas ernsthaftes Gesicht, die schmalen Schultern, die das hervortretende Schlüsselbein säumen, und der schlanke, dennoch weiblich-wohlgeformte Oberkörper werden umhüllt von einer üppigen, schwarzgelockten Haarpracht, die auf dem Rücken bis unter die Schultern reicht. Sie ist eine durchaus reizende und überzeugende Erscheinung. Am Theater wird sie gern für die geheimnisvolle, die exzentrische, die kämpferische, am liebsten aber für die sinnlich-erotische Rolle besetzt. Wogegen andere Kolleginnen mit allen nur möglichen Knöpfen zugeknöpft sind und ihr mangelndes Talent durch Divaallüren und Primaballerinagehabe zu kaschieren versuchen, macht ihr naives, offenes und fröhliches Wesen so manche Peinlichkeit, die andererseits ihrer exzentrischen Art entspringt, wieder wett. Sie ist beliebt, besonders bei den Männern. Deshalb dauerte es auch nicht lange, und Julia hatte ihren Romeo, der in Wirklichkeit Kasimir heißt.
Schauspieler sind Schichtmenschen. In zweierlei Hinsicht. Schauspieler arbeiten bekanntlich in Spätschicht. Außerdem müssen sie in eine Rolle schlüpfen, in eine Hülle. Sie setzen sich also aus mindestens zwei Schichten zusammen.
Julia ist gerne Schichtmensch. Sie ist Schichtfrau aus Berufung und aus Überzeugung. Sie gehört zu dem Typ Schauspieler, der seine Rolle und Figur so sehr verinnerlicht, dass sie – einmal in einer Produktion drin – nicht mehr reproduzieren kann. Es fällt ihr von Mal zu Mal schwerer, aus ihrer äußeren Hülle wieder herauszutreten. Oder anders ausgedrückt, sie verkennt zunehmend den Unterschied zwischen Theaterstück und Realität.
Ja, sie war zu einem Medium geworden. Text, Raum und Requisiten, mit denen sie zu arbeiten hat, sind zu medialen Überträgern geworden. Sie fühlt geradezu ihre Fähigkeit, Botschaften von übernatürlichen Wesenheiten wie Thalia, Melpomene und Dyonisos zu empfangen. Ihr ist die Bestimmung zugeschrieben, mit der jenseitigen Welt, wie der Antike, dem Barock und der Zeit des epischen Theaters, sowie mit Verstorbenen, zum Beispiel mit Aristoteles, Shakespeare, Brecht und Heiner Müller, Verbindung aufzunehmen.
Julia begann allmählich zu glauben, was sie spielte. Ihr Resozialisierungsmechanismus war gestört. Proben und Aufführungen setzten sich nach Feierabend automatisch fort.
Als sie „Othello“ spielten, nahm sie jedem Schwarzen, der in einem Restaurant nach seinem Messer griff, das Besteck aus der Hand und schnitt ihm das Schnitzel selber klein.
Seit „Kennen Sie die Milchstraße“ von Karl Wittlinger nahm sie wöchentlich ein Milchbad und Kasimir musste die Tetrapack schleppen. Zu Hause und in der Kantine trank sie nur noch Milch, am liebsten heiß und mit Honig. Ständig lief sie mit einem Milchbart herum, den das weiße Getränk auf ihrer süßen Oberlippe hinterließ. Der schöne Bellmann verzehrte sich im Stillen danach, ihn ihr jedesmal abzulecken. Natürlich war er sich im Klaren darüber, dass er nicht durfte. Bellmann war zwar schön, aber im Grunde ein Milchgesicht. Außerdem war sie ja mit Kasimir liiert. Und so blieb ihm nur, abends, wenn er nicht einschlafen konnte und die Müdigkeit provozieren wollte, davon zu träumen, wie er der süßen Biene nach dem Milchbartabschlecken seine Zunge in deren verführerischen Honigmund und danach seinen Stempel in ihre süße Honigblüte steckte.
Vor zwei Jahren stand „Trommeln in der Nacht“ von Brecht auf dem Spielplan. Nachdem ihr Freund ihr hinreichend klar machte, dass es ihm lieber sei, nicht der ganze Kerl würde in der Nacht senkrecht im Bett stehen, sondern nur sein allerbestes Stück, und das doch auch lieber hervorgerufen durch einen lustvollen Hauch in sein Ohr und durch zärtliches Fingerspiel als durch einen plötzlichen Trommelwirbel, versuchte sie sich einsichtig in schamanischem Trommeln. Sie hatte gelesen, dass das bei den samischen Schamanen der Extase dient. Eine gewisse Grundstimulation verschaffte sie sich bereits durch den leichten Genuss von Alkohol, respektive Rotwein. Zur Erforschung der spirituellen Dimension sang und trank sie sich also in Trance, wanderte auf Knien um das Bett herum, trommelte, was das Zeug hielt, und beeindruckte die Geister. Kasimir nicht. Sie bot sich noch an, wie die Sami-Schamanen am Höhepunkt ihrer Zeremonie in glühende Kohlen zu greifen oder sich mit dem Messer zu ritzen, doch Kasimir hatte sich längst auf den Bauch geworfen und das Kissen auf die Ohren gehalten . Wütend ob so viel Undankbarkeit und Ignoranz verzog sie sich mit ihrem echt elchbespanntem Instrument in die Küche und trommelte dort weiter. Das rhythmische Klopfen ringsum an den Wänden, einschließlich der Decke, entpuppte sich alsbald nicht als nachbarschaftliche Begleitung zu ihrer kleinen Nachtmusik, wie sie zunächst freudig und noch halb in Trance annahm, sondern war der deutliche Vorläufer ihres endgültigen Rauswurfs zwei Wochen später.
Doch das war ihr egal. Das traf sich sogar gut. Als nächstes stand nämlich „Nachtasyl“ von Gorki auf dem Programm.
Bei Shakespeares „Viel Lärm um Nichts“ plapperte ihr Freund ihr plötzlich zu viel und zu laut und sie trennte sich kurzerhand von ihm.
Zeitlich überaus eingespannt war sie, als sie „Einer flog über das Kuckucksnest“ von Dale Wassermann spielten. Ständig rannte sie zum Seelenklempner. Anfangs, um sich zu vergewissern, ob auch wirklich noch alles mit ihr in Ordnung sei. Als der Doktor Julia, die er als Schauspielerin kannte und verehrte, das erste Mal im Sprechzimmer sah, war es Liebe auf den ersten Blick. „Mein schönes Fräulein, darf ichs wagen, die rote Couch ihr anzutragen“, näselte er mit verdrehten Augen und „Machen Sie sich bitte frei“. Nachdem sich beide davon überzeugt hatten, dass mit ihnen alles in Ordnung war, diskutierten sie über indianische Heil-Kräfte und Lobotomie, scherzten über ihren gemeinsamen Freund, Dr. Faust, und kamen zu dem Schluss, dass Julia ihre Freizeit mal eine Weile mit normalen Menschen verbringen sollte, also mit Nichtschauspielern. Das tat sie dann auch.
Aber es wurde alles nur schlimmer. Sie sah Gespenster, wenn sie „Die Gespenster“ von Ibsen gaben, und sie wäre beinahe von einem Bolzenschussgerät getötet worden, als sie sich in einem Akt des Mitgefühls und zur Verteidigung der Lebensrechte moralischer Minderheiten auf dem naheliegenden Schlachthof vor die hilflosen Tiere geworfen hatte. Auf dem Spielplan stand „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ von Bertolt Brecht.
Der befreundete Doktor, der der neue Mann an ihrer Seite geworden war, nahm sich ihrer an. Sie hatte ihn zur rechten Zeit kennen gelernt, denn als neue Inszenierungen wurden „Fegefeuer in Ingolstadt“ von Marieluise Fleißner und „Bauern sterben“ von Franz Xaver Kroetz diskutiert.
Julia fiel es gar nicht auf, dass sie fortan gar nicht mehr im Theaterhaus, sondern nur noch zu Hause spielte. Denn sie inszenierten gemeinsam die allerschönsten Schauspiele: „Der gefesselte Prometheus“, „Heinrich oder die Schmerzen der Phantasie“, „“Wallensteins Lager“, „Die arabische Nacht“, „Hautnah“, „Ja. Tu es. Jetzt“, „Kämpfe unter der Gürtellinie“, „Der Kissenmann“, „Mann ist Mann“, „Night step“, „Die Schule der Frauen“, „Der starke Stamm“, „Venus und Adonis“, „Weekend im Paradies“, „Der Weibsteufel“, „Wie es euch gefällt“, „Die Wilden“…
Texte: Sämtliche Rechte bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 14.03.2009
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