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„…werden Sie Ihre Entwürfe noch einmal ganz klar überdenken müssen. Ich erwarte die neue Mappe am Montag um neun Uhr auf meinem Schreibtisch. Danke.“
Regungslos stand Carla vor ihrem Vorgesetzten. Sie brachte kein Wort heraus. Unverständnis schnürte ihr die Kehle zu. Sie rührte sich nicht. Die Fassungslosigkeit rann wie Blei durch ihren Körper und lähmte ihre Beine.
„Danke, Carla!“, wiederholte Dr. Schäfer in scharfem Ton.
In ihrem Büro fand sie sich wieder. Wie sie dahin gekommen war, wusste sie nicht.
Wieso? Warum war sie plötzlich mit ihrem Vorschlag durchgefallen? Sie war sich absolut sicher, ihre bisher grandioseste Idee abgeliefert zu haben. Sie hatte recherchiert wie eine Blöde. Sie hatte gezeichnet und geschrieben, bis sie nicht mehr konnte.
Ihre Erstarrung wandelte sich in Verbitterung und dann in Wut.


Dabei war sie heute Morgen voller Elan im Bürogebäude angekommen. Sie war happy, denn sie war sich sicher. Sie war begeistert von ihrem Machwerk. Ihre Hausaufgaben hatte sie bis in die Nacht hinein gemacht. Ihr Büro gehörte zu den weinigen, die bis in die ersten Morgenstunden des neuen, ihres großen Tages beleuchtet waren. Sie hatte einen Moment daran gedacht, die restlichen Stunden der Nacht im Büro zu verbringen. Dann hielt sie es aber doch für besser, Lösung und Entspannung in ihrem bequemen, heimeligen Bett zu suchen und gerade diesen Tag mit ihren gewohnten Ritualen zu beginnen, die ihr Vertrauen und Sicherheit gaben.


Wie immer, als Carla zur gewohnten Zeit durch die Schwingtür des Bürokomplexes trat und die Fahrstühle erreichte, war „ihr“ Fahrstuhl für sie da. Es war der mittlere von den dreien auf der linken Seite. Als sie vor drei Jahren hier ihren Dienst antrat und zum ersten Mal in diesem Korridor stand, wählte sie instinktiv den zu ihrem Lieblingsfahrstuhl, der als letzter auf der Etage ankam. Sie war damals, nach dem Studium, als sie diese Stelle bekam, so aufgeputscht, dass sie viel zu früh zu ihrem ersten Dienstantritt erschien. Sie war so dermaßen aufgeregt, dass sie ihre Fahrt erst wählte, als all die anderen Personen mit ihren Dont-Like-Monday- Gesichtern schon auf dem Weg zu ihrem täglichen, schweren Weg nach oben waren. Sie wollte allein im Aufzug sein. Der Lift war hell und freundlich. Etwas ungelenk stieg sie ein, suchte Sicherheit in der hinteren, rechten Ecke, stellte ihre Tasche ab und klammerte sich am Handlauf fest. Die Türen schlossen sich geräuschlos. Einen kleinen Moment geschah gar nichts. Es war, als nahm sich der Kasten Zeit, um mit ihr Bekanntschaft zu schließen. Unwillkürlich musste sie lächeln und ihr Fahrstuhl schickte seines mit seinen Spiegeln an sie zurück. Ihre Hände entkrampften sich und instinktiv strich sie sanft über das Metall des Haltegriffs. Es fühlte sich warm und wohlig an. Dann begann, fast unmerklich, die Fahrt. Sie hatte noch keinen Knopf gedrückt. Und dennoch erschien auf der Anzeige die richtige Ziffer. Plötzlich fühlte sie sich leicht und unbefangen. Mit einem Mal war ihre ganze Verspanntheit, waren Nervosität und Angst vollständig verschwunden. Und weil sie sich so überschwänglich freute, meinte sie, auch der Fahrstuhl freue sich.
Sie fühlte sich so wohl in diesem kleinen Raum, willkommen, aufgehoben, sodass sie, weil sie immer noch genügend Zeit hatte, mit ihm noch einmal bis hinunter in die Tiefgarage fuhr und wieder hinauf. Keiner hielt sie auf, um hinzu zu steigen. Und wieder erschien auf der Ziffernanzeige ihre richtige Etagenzahl. Sie wunderte sich nicht sonderlich darüber.
So begann ihr erster Arbeitstag.


Und so stand auch heute ihr Fahrstuhl mit seinem Lächeln für sie bereit. Mittlerweile störte es sie nicht mehr, wenn auch andere Personen mit einstiegen, wenn sie dann auch nicht mit ihm reden konnte, was sie sich im Laufe der Zeit sehr schnell angewöhnt hatte. Das ging heute nur bis zur fünften Etage. Bis dorthin erinnerte sie ihn noch einmal, dass nachher, Punkt zehn Uhr, ihre große Stunde kommen würde und sie vergewisserte sich bei ihm, ob sie auch gut aussehe für ihren wichtigen Auftritt. Auf Etage fünf war ein Halt verlangt. Ein Mann mittleren Alters trat ein, den sie nicht kannte. Er drückte den Button mit Nummer fünfzehn, das war eine Etage über der ihren. Dann ging er mit einem breiten, herablassenden Grinsen und langsamen Schritten direkt auf sie zu. Der Lift bot zweiundzwanzig Personen Platz und dieser schmierige Typ stellte sich genau neben sie, sein Arm berührte den ihren, als er sich am Geländer festhielt. Sie sagte nur „Guten Morgen“, entschuldigte sich und stellte sich auf die linke Seite. Der Mann musterte sie von oben bis unten und schnalzte genüsslich mit der Zunge. Etage acht. Er stellte seine Tasche ab und ging wieder langsam auf sie zu. Und bevor er sie erreichte, wand sie sich aus seinem Kreis und hastete in die entgegengesetzte Richtung. Er bekam nur noch die Stange zu fassen. Als er sie berührte, schrie er auf und sprang zurück. Entsetzen spiegelte sich in seinem Gesicht. Er schaute auf seine Hand, die an Röte zunahm und auf der sich langsam Blasen bildeten. Langsam, ganz langsam setzte er sich auf den Boden, öffnete mit der Linken sein Jackett und den oberen Knopf seines Hemdes, lockerte seinen Schlips und schnappte nach Luft. Der Typ blickte zu ihr auf, in seinen Augen spiegelten sich zu gleichen Teilen Flehen und Wut. Carla beachtete ihn schon eine Weile nicht mehr. Etage vierzehn. Mit einem Summen auf den Lippen stieg sie aus. Als der Fahrstuhl wieder anfuhr, schaute sie sich noch einmal um. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.


Der dunkelblau-bordeauxfarbene Teppich schluckte das Klicken ihrer Absätze, als sie zu ihrem Bürozimmer schritt. Um diese Zeit duftete es schon überall nach frisch gebrühtem Kaffe. Wie jeden Morgen, zog sie genau an der Stelle des Flures, wo Paul Klees „Goldener Fisch“ rechts an der Wand hing, ihren Mantel aus und griff ein paar Schritte weiter, vor dem „Zerbrochenen Schlüssel“, in die Tasche, um ihren Schlüssel heraus zu holen. Und wie jeden Morgen, rannte die Tabbert an ihr vorbei, um ihren ersten Kaffe wieder los zu werden. Carla legte sich gerade vor dem „Fetzen Gemeinschaft“ ihren Zimmerschlüssel in der Hand zurecht, als die junge Lana von gegenüber rückwärts mit einer Kaffeetasse aus ihrem Büro schoss, mit ihr zusammenstieß, sich auch noch umdrehte und die braune, heiße Brühe über Carlas weißem Rock und ihren grauen Schuhen ergoss. Entsetzen. Carla öffnete ihre Bürotür, zog, ohne sich um Lana zu kümmern, Rock und Schuhe aus, ließ warmes Wasser im Handwaschbecken ein, mischte Seife dazu und weichte ihren Rock ein. Die Schuhe waren schnell abgewischt und das Unglück hinterließ glücklicherweise keine Spuren. Lana hüpfte wie ein Huhn hin und her, bis Carla sie endlich davon überzeugte, ihrer Hilfe nicht zu bedürfen und unter dem leisen Murmeln so etwas wie einer Entschuldigung zog die Kleine ab.
Carla war doppelt verärgert. Sie hoffte nicht nur, der Kaffeefleck würde auf Nimmerwiedersehn verschwinden. Sie stand auch noch unter Zeitdruck. Sie musste dringend noch einmal in den Kopierraum mit dem Großdrucker, um eine Zeichnung abzulichten. Da kam ihr die Idee, dass Lana ihr doch noch helfen könne. Sie wählte deren Nummer und bat sie zu sich. Lana nahm nicht gerade ehrfürchtig Carlas Auftrag an, für sie den Plotter aufzusuchen und die Ausgabe zu drucken. Nach einer ersten Ausrede gelang es Carla jedoch, das bekanntermaßen in ihrer Art arbeitsscheue und phlegmatische junge Ding doch noch zu überzeugen. Sie würde ja auch selbst gehen, machte Carla ihr klar, wenn sie Lanas Rock anziehen könne. Doch der war ihr mindestens drei Nummern zu groß. Also nahm Lana mürrisch die Zeichnung und verschwand. Dass Lana am Ende doch nichts tat, um den Schaden an Carla wieder gut zu machen, sondern stattdessen ihre Zimmerkollegin damit beauftragt hatte, wurde Carla erst viel später klar.
Der Ausdruck, den sie eine halbe Stunde später bekam, taugte nichts. Und Carla unternahm auch nicht den Versuch, Lana noch einmal zu schicken.
Carla begann ihre Arbeit und nahm sich vor, selbst zu gehen, wenn ihre Kleidung wieder so weit in Ordnung war. Sie kam in ihrem Tun nicht gut voran. Das bisher Geschehene nahm sie heute, da viel von ihrer Konstitution abhing, ziemlich mit.
Den Rock hatte sie zwischenzeitlich am Fenster auf einen Bügel gehängt. Es war ihr egal, was man sich im Bürokomplex gegenüber für Gedanken darüber machte. Von den Flecken war bald nichts mehr zu sehen. Nur die Knitter vom Auswringen bekam sie nicht heraus, obwohl sie nach dem Trocknen eine Stunde lang Bügeleisen spielte, indem sie sich das Kleidungsstück kurzerhand unter ihren Hintern schob und dort sitzen blieb. Vielleicht sollte sie auch hier Lana bitten, kam es ihr scherzhaft in den Sinn, denn die war um einiges schwerer als sie.

Die Zeit wurde knapp. Sie musste, ob sie wollte oder nicht, nun doch ihre ersten Gehversuche mit zerknittertem Rock machen und endlich den Großkopierraum aufsuchen. Der nächste befand sich drei Stockwerke höher in der Chefetage, bei den Sekretärinnen. Sie packte ihren Stick in ihre Mappe. Bis zu den Fahrstühlen begegnete ihr niemand. Wie immer, kam der ihre gerade an, als hätte er nur auf sie gewartet. Wenigstens er ließ sie nicht im Stich. In seinem Inneren fühlte sie sich wieder entspannt. Jedoch schloss sich die Tür nicht gleich. Was war los? Gerade, als sie die Vierzehn drücken wollte, ging der Lift, der sich ihrem gegenüber befand, nur für einen kurzen Moment auf. War das nicht Dr. Schäfer? Mit der Neuen? In unzweifelhafter Haltung? Was sollte das bedeuten? Und wieso ging deren Fahrstuhltür auf, obwohl sie sich in Fahrt befand? Ihr Gemütszustand hatte unter der Anspannung wohl schon sehr gelitten.
Auf Ebene siebzehn angekommen, ging sie zügig Richtung Plotter. Im Kopierraum befanden sich außer ihr erfreulicherweise nur noch zwei Herren. Ein Kollege bediente gerade den Drucker und war schon bei der letzten Seite, wie er versicherte. Der vor ihr würde auch nur einen einzigen Ausdruck benötigen. Das sah doch richtig gut aus. Keiner sagte ein Wort. Gerade wollte sie zum Smalltalk ansetzen, da verabschiedete sich der erste mit seinem Packen Zeichnungen. Geschäftig machte sich der andere an seine Arbeit. Er sah nicht so aus, als hätte er Lust auf eine Unterhaltung. Auch gut, dachte Carla. Er würde sowieso bald fertig sein.
Warum brauchte er am PC so lange? Die Zeichnung sollte fertig vorbereitet sein, wenn man in den Druckerraum kommt. Was machte er da nur? Na also, geht doch. Da ratterte das alte Plotterding auch schon los. Carla öffnete ihre Mappe und holte ihren Stick heraus. Der Mann stand auf und ging zum Ausgabegerät. Fein säuberlich schnitt der Wagen des Gerätes das Papier von der Rolle, das der Kollege in Empfang nahm. Er verabschiedete sich und Carla wollte sich gerade an den PC setzen, als ein anderer Mann herein kam, an Carla vorbeistürzte und sich auf den Stuhl fallen ließ. Voller Bestürzung versuchte Carla, ihn zur Rede zu stellen. Der Blödmann faltete die Hände und bat Carla um Erbarmen, er sei gerade eben schon einmal hier gewesen, er hätte nur einen Fehler zu korrigieren gehabt und es würde mit seinen vier Ausdrucken auch ganz schnell gehen. Carla ließ das nicht gelten und forderte ihn auf, Platz zu machen, sie sei die Nächste gewesen. Er versuchte sich in dummen Ausflüchten und anmachenden Gebärden. Carla hörte nicht darauf, rüttelte an der Lehne und wollte, dass er ginge. Aber er hatte den PC bereits mit seinen Daten gefüttert und der Drucker tat ungerührt sein Werk. Carla war wütend bis aufs Äußerste, jedoch war ihr auch klar, dass jetzt und hier nichts mehr zu machen war. Sie musste notgedrungen warten. Als seine Arbeit beendet war und er sich anschickte, ihr auch noch mit gespielter Unterwürfigkeit die Hand küssen zu wollen, hätte sie ihm am liebsten ihr Knie unter den Kiefer gerammt. Stattdessen drehte sie sich mit einem „Sie können mich…“ nur abrupt nach links zum Schreibtisch und nahm lautstark Platz. Ihre Arbeit war schnell erledigt. Dennoch ging sie wütend und empört zurück zum Fahrstuhl. Was war denn dort los? Der Kollege, der ihr ihren Platz streitig gemacht hatte, war lautfluchend am Aufsammeln von Papierfetzen. Sie hörte ihn von weitem schimpfen und schwadronieren. Er spielte sich auf wie ein Auerhahn bei der Balz. „Das darf doch nicht wahr sein! Das gibt es doch nicht! Dieses Scheißding von Aufzug! Ich hatte meine Zeichnungen unterm Arm“, machte er der verdutzten Menge, die sich aufgrund seines Geschreis versammelt hatte, deutlich, „wollte gerade einsteigen, da ging die Tür vor meiner Nase wieder zu. Ich wollte mich noch hinein quetschen, doch die Türen rasten aufeinander und ich hatte keine Chance. Es war wie verhext. Der vordere Teil meiner Zeichnungen war aber schon eingeklemmt, sodass ich sie nicht mehr herausziehen konnte. Er nahm sie einfach mit, der verdammte Fahrstuhl, und oben an der Decke wurden sie natürlich eingequetscht und kamen als Fetzen hier unten wieder an. Ich habe keine Ahnung, wie das passieren konnte. Ich werde mich bei der technischen Betreuung beschweren!“
Carla ging ungerührt am Geschehen vorbei, betrat ihren Lift, der ja schon eine geraume Zeit auf sie wartete, und fuhr unter verständnisloser Beobachtung der anderen los.

Als sie auf ihrem Flur wieder ankam, war auch dort Tumult. Die Tauber und zwei andere Kolleginnen redeten aufgelöst, aber sichtlich erheitert, aufeinander ein. Dann lachten sie, dass ihnen die Tränen kamen. Carla war partout kein Kind von Traurigkeit und wollte wissen, was sie verpasst hatte. „Die…“, fing die alte Tabbert an, „die…“, sie konnte vor Lachen nicht weitersprechen. Die anderen fielen in den Lachkrampf ein. Carla steckte die heitere Laune an und sie musste mit lachen. Die Tabbert krümmte sich und hielt sich an ihr fest. „Die La…La…die Lana …“. Sie musste tief Luft holen. „Die dicke Lana wollte zum Automaten, eine Treppe weiter oben, hinten am Ende des Flures, Sie wissen schon, Süßigkeiten. Und die nimmt ja für eine Etage nicht die Treppe. Sie holte also oben ihre Naschereien, schlenderte zurück zum Aufzug, rein, runter, wieder raus.“ Schon ging das Gekicher wieder los. „Als sie aussteigen wollte, hihihihi, war sie draußen, aber ihr Rock war noch drin.“ „Zumindest der hintere Teil“, korrigierte sie die eine der Kolleginnen. Carla musste jetzt auch lachen. Sie stellte es sich bildlich vor. Lana also wurde von der Tücke des Fahrstuhls erfasst. Sie musste wohl oder übel ihre geliebten Leckereien fallen lassen. Und um sich selbst zu retten, musste sie ihren Rock ausziehen. Sie aber hatte nicht das Glück des unbeobachteten Momentes. Dunkelste Schamesröte trat ihr ins Gesicht, als sie dabei beobachtet wurde, wie sie, unten ohne, ihre teuren Habseligkeiten aufzulesen versuchte. Es waren auch noch der Abteilungsleiter und der Neue, die sie in dieser misslichen Situation vorfanden. Sie konnten sich das Lachen nicht verkneifen, trotz aller Mühe. Lana rannte heulend, mit dem Wenigen, was sie retten konnte, davon.

In diesem Moment wurde Carla ein wenig stutzig.

Sie legte der Tabbert zur Rechten und den anderen Kolleginnen links von ihr zum Zeichen der momentanen Verbundenheit die Hand auf die Schultern und verabschiedete sich von den dreien.
In ihrem Büro angekommen, dachte sie nach.
War das alles Zufall?
War es Fügung, was da vor sich ging?
Eigentlich glaubte sie nicht an Vorhersehungen. An Okkasionen schon.

Jetzt war es zehn Minuten vor zehn. Sie freute sich auf das bevorstehende Gespräch, auf die Vorstellung ihres endgültigen Ergebnisses. Dr. Schäfer war bisher recht angetan. Sie nahm ihre Mappe, schaute noch einmal in den Spiegel, richtete ihre Kleider (sie wusste mittlerweile auch, wie sie ihren Rock richtig platzieren musste, damit die Knitterfalten am wenigsten auffielen), atmete noch einmal tief durch, nahm den Schlüssel vom Tisch und ging zum Fahrstuhl.
Der empfing sie schon wie mit offenen Armen. Sie musste zugeben, diesmal mit einem winzigen Zögern einzusteigen. Doch ihre Laune, aber auch ihre Nervosität, stieg von Etage zu Etage. Als die Achtzehn angezeigt wurde, ging sie lächelnd Richtung Tür. Sie stieg aus und ertappte sich dabei, wie ihr letzter Schritt über die Schwelle zu einem kleinen Hüpfer wurde. Hatte sie nun selber Angst, dass ihr Rock oder ihre Mappe sie nicht begleiten durften? Ach was, so ein Unsinn.


Was sie nun im Zimmer ihres Vorgesetzten erwarten würde, konnte Carla nicht im Geringsten ahnen. Nichts deutete die Wochen vorher darauf hin, dass sie mit ihrem Projekt derart falsch liegen würde. Dr. Schäfer selbst hatte sie noch ermutigt und ihr zusätzliche Tipps gegeben und Ansprechpartner vermittelt.

Sie wusste, dass sie innerhalb einer Woche niemals eine neue Idee zurechtzimmern konnte. Das konnten nicht einmal die Besten. Nicht für ein solches Projekt.
Ihre Wut hatte sich zwischenzeitlich wieder in Verbitterung gewandelt. Sie fühlte sich verletzt. Wie konnte ein Mensch so gemein sein, jemanden so vor den Kopf stoßen, seine Meinung so schlagartig ändern? Da stimmte doch etwas nicht.
Sie wollte der Sache auf den Grund gehen.
Deshalb nahm sie noch einmal ihre Mappe und all ihren Mut zusammen, um noch einmal mit Dr. Schäfer zu reden. Jetzt. Sofort.
Ihr Fahrstuhl war ihr einziger Begleiter auf diesem schweren Weg. Sie lächelte diesmal auch nur kurz, ehe sich ihre Stirn wieder in Falten legte. Der Lift schien diesmal langsamer, bedächtiger zu fahren. Sie ging wie in Trance den Flur entlang, ohne nachzudenken, weil sie befürchtete, sie könne sich ihren Schritt noch einmal überlegen.
Sie klopfte an das Empfangszimmer ihres Vorgesetzten, um gleich darauf einzutreten. Es war niemand anwesend. Sie wollte gerade weiter durchgehen zu Dr. Schäfer, als sie Stimmen hörte, lachende Stimmen. Es klirrten Gläser, wie zum Anstoßen. „Oh, du Lieber, das hast du wunderbar gemacht. Das werde ich dir nie vergessen. Komm…“. Das war die Stimme der Neuen! Carla lugte vorsichtig durch den offen stehenden Spalt der Tür. Sie sah die Neue, erst vier Wochen im Geschäft, auf Dr. Schäfers Schreibtisch vor ihm sitzen, die Beine weit geöffnet und den Rock bis zur Hüfte hinaufgeschoben, mit ihren Lippen hing sie an seinem Hals. Also war es doch keine Sinnestäuschung, was der Fahrstuhl ihr heute Morgen im Vorbeifahren zu verstehen gab, was sie aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht begreifen konnte.
Hatte sich die Neue also zu Dr. Schäfers Liebchen gemacht, um sich den Auftrag und den Aufstiegsposten zu schnappen.


Carla ging zurück, fuhr, ohne den Blick zu heben, auf ihre Etage, ging in ihr Zimmer. Dort packte sie ihre Sachen und verließ das Büro. Lange war die Fahrt bis ins Parterre. Sehr lange.
Zuhause warf sie Schuhe und Kleider von sich und ging unter die Dusche. Dann machte sie ihren PC an und spielte ihre Musiksammlung in voller Lautstärke ab.
Trotzdem schlief sie ein. Die Anstrengungen des Vormittags und der vergangenen Wochen forderten ihren Tribut.

Sie schlief nur sehr unruhig, wälzte sich auf ihrer Ottomane hin und her und träumte wirres Zeug. Nach kurzer Zeit stand sie wieder auf, drehte die Musik leiser, holte sich aus dem Kühlschrank den Frischkäse, schnappte sich vom Küchenschrank die Flasche Rotwein und die Tüte mit den Flachkräckern, setzte sich wieder vor ihren Computer und begann zu essen. Sie stellte ihren Radiosender ein, um sich auf den aktuellen Stand zu bringen. Das hatte sie aufgrund ihrer intensiven Arbeit an ihrem Projekt vollkommen vernachlässigt.

Was? Wie bitte? „…Fahrstuhl ohne Halt in die Tiefe gestürzt. Es sind zwei Opfer zu beklagen. Der Marketingleiter der weltbekannten Firma, Dr. Schäfer, sowie eine zweiundzwanzigjährige Mitarbeiterin kamen bei dem Unglück ums Leben…“.

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Texte: Sämtliche Rechte bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 14.02.2009

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