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Endlich ist wieder Freitag.
Immer denke ich an Freitag. Schon wenn die neue Woche beginnt.
Magnet Freitag. Er zieht mich zu dir.
Die restlichen Tage der Woche rauschen vorbei im Sog, gewinnen an Bedeutung erst nach der ersten Berührung, nach dem ersten Sattsehen.
So arbeite ich und spiele, lache am Montag, streite am Dienstag, höre Musik am Mittwoch, gehe ins Theater donnerstags und tue immer so, als seist du dabei.
Am größten ist die Sehnsucht, wenn ich nicht teilen kann mit dir meine kindliche Freude über den ersten Maulwurf, den ich im Leben sehe, oder mein Entdeckerstaunen über das wunderschöne Eisnadelspitzenmuster im Maschendrahtzaun.

Doch nun ist Freitag.
Ich verlasse meine kleine Wohnung. Die Sehnsucht darf mich begleiten.
Doch sperre ich ein die dumme Angst und die süße Traurigkeit. Ich kenne diese Untermieter und wollte sie eigentlich nie mehr. Liebe und Angst. Neidisch bin ich auf die ewig währende Hingabe dieses ungleichen Paares.

Aber heute ist Freitag.
Mir klopft das Herz bis zum Hals.
Das Klopfen und Kribbeln beginnt bereits, wenn ich aus dem Zug steige nach anderthalb stündiger Fahrt. Nein, eigentlich fängt es schon auf dem Weg zum Bahnhof an. Was sage ich, schon tags zuvor beim Wochenendreisetaschepacken.
Dann komme ich an in deiner Stadt, der großen, aufregenden Stadt. Und wie in Kindertagen träume ich: ich schließe die Augen und wenn ich sie öffne, werde ich vor dir stehen.
Doch die Viertelstunde bis zu deiner Werkstatt wird auch diesmal wieder zur Unendlichkeit. Die Wege – längst kenn ich sie – scheinen sich viel länger vor mir her zu schieben, wenn ich sie alleine geh.
Dabei sind es schöne Wege: an Geschäften vorbei und hindurch durch den Strom geschäftiger Leute. Die Emsigkeit verliert sich, wo der Handel weniger wird. Im Park zaubern die üppigen, farbenprächtigen Blumenbeete im Frühling wieder Buntheit in mein Leben und im Sommer betören sie mit ihrem Duft mich auf dem Weg zu dir. Im Herbst bring ich dir Kastanien mit von hier und im Winter bewundere ich die bizarren Formen der Äste, mit denen die alten Bäume nach mir zu winken und zu greifen und mich zum Bleiben zu bewegen scheinen.
Aus den Studenten, die aus der Bibliothek kommen, werde ich selbst nach zwei Jahren nicht schlau. Wie lange studiert man heute? Und ich erinnere mich an die Zeit, als ich Studentin war, in der anderen, großen Stadt.

So lenke ich mich ab von meiner Ungeduld, zu sehen, was im Alltag verborgen bleibt.
Im Tunnel gibt’s das Neueste vom Neuen. Über dickem Leim ist Anne-Sophie Mutter neben Hansi Hinterseher und über James Blunt kleben geblieben. Sie schauen mich an, majestätisch oder so, als würde ich sie nicht interessieren. Doch auch diesmal hält mich keiner von ihnen auf. Und für die interessanten unter den Plakaten, die kleingedruckten, werde ich erst morgen wieder Muse haben.

Ich rette mich zum Spielplatz, der nächsten Station auf meiner Route de impatience.
Müde Mütter mahnen quengelnde Kinder zum Gehen. Ich lächle und erinnere mich. Das geht mich nichts mehr an.

Ein paar Schritte nur und ich tauche ein in eine andere Welt. Der altehrwürdige Friedhof öffnet seine Arme. Längst kennt er mich. Ein Hauch von Einsamkeit schlägt mir entgegen. Die stummen Gräber, von eigener Schönheit und in großer Würde gealtert, sind mit dunklem Moos bewachsen. Immergrünes Gerank liebkost die uralten, verschnörkelten Eisenkreuze. An den Stämmen der Bäume klettert Efeu empor. Es riecht nach Moder und verwelktem Laub am kalten, nebeligen, düsteren Herbstabend. Da jagt die Kulisse meine Beine quer über den Totenacker und meinem Rücken einen kalten Schauer unters Hemd.
An heiteren, vogellauten Sommertagen aber, wenn die Sonne warme Muster durch die Blätterkronen auf die Mauer wirft, wenn die Eichhörnchen wie Staubwedel durch das Gras und um die Äste wuseln, finde ich hier, was draußen oft fehlt: Ruhe und Frieden und Inspiration.

Die Mystik ist vorbei, sobald ich die Treppe hinaufsteige zur Straße. Betonfassadengrau hat plötzlich alles Grün geschluckt. Kilometerlang die Straße, wie eine graue Bandnudel, die ganz am Ende im hungrigen Rachen des Horizontes verschwindet. Als Beilage bunte Autos, die am Straßenrand aneinander kleben wie Erbsen. Ich beobachte, wie er sich hin und wieder eine aus der Reihe holt, der Horizont, sie sich hübsch anrichtet auf seiner langen Tafel und sie langsam verschlingt.
Hier ist mir die Welt ein paar Töne zu laut, ein paar Stiche zu grau, ein paar Nummern zu groß. Es gibt Orte, da passt man zuweilen nicht hin. Menschen sieht man nur, wo der imaginäre Großstadtstaubsauger sie wieder ausgespuckt hat. Schnell verschwinden sie in ausdruckslosen Hauseingängen und düsteren Hinterhöfen wie lichtscheue Insekten.
Das funkelnagelneue Krankenhaus soll Sicherheit bieten, Schutz und Heilung. Doch noch immer nicht geht mir der Mann aus dem Kopf hinter der gläsernen Front, im Treppenhaus. Was wohl hat ihn bewogen, zu fliehen, torkelnd die Treppe hinunter, sich immer wieder umblickend.

Ich mache, dass ich weg komme, verlasse die Straße, biege endlich ein in die kleine Gasse zwischen den einfachen, aber liebevoll gepflegten Vorgärten auf der einen und dem schattigen Kinderspielplatz auf der anderen Seite.
Plötzlich kann ich wieder langsam gehen, begegne bunten Menschen und lächle zurück.
Das alte Werbeschild auf dem Dach deiner kleinen Werkhalle sehe ich schon von weitem. Es leuchtet für mich, obwohl die Elektrik nie eingeschaltet ist. Das Graffiti an der weißen Wand deiner Garage ist neu.
Der Spielplatz hat sich an den Rücken deiner alten Werkstatt geschmiegt. Auf dem Weg werde ich gestellt. Ich muss Zoll zahlen an der Kreidegrenze, nehme zwei Hüpfkästchen auf einmal, danke verdutzt für den Pferdekopfkieselstein, den mir das kleine Mädchen schenkt, und ziehe froh gelaunt weiter.
Jeder Schritt mehr in deine Richtung zieht meine Mundwinkel weiter nach oben. So hänge ich an dir.
Nur um zwei Ecken noch und ich werde vor dir stehen. Ich richte noch einmal mein Haar und meine Kleider und atme tief durch. Das Kribbeln kann sich nicht entscheiden zwischen Bauch und Fingerspitzen. Auch noch nach zwei Jahren spüre ich mein Herz schneller schlagen. Ich komme um die Ecke. Das alte, verrostete Rolltor ist hochgezogen wie ein Theatervorhang und mit großem Lampenfieber betrete ich für eine neue Wochenendpremiere die Bühne unseres gemeinsamen Lebens. Und noch bevor ich das erste Wort gesagt, spendest du mir Applaus mit deinem Strahlen in den Augen und nimmst mich in die Arme.

Für diesen Augenblick würde ich noch tausendmal Zug fahren und tausendmal noch diese Wege gehen. Aber nur für diesen. Denn endlich möchte auch ich wo angekommen sein.

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Texte: Sämtliche Rechte bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 24.01.2009

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