Kapitel 1.
Es regnete schon den ganzen Morgen. Kein richtiger Regen sondern unablässig gegen die Fensterbretter tröpfelnder Nieselregen. Ein Fenster war gekippt, sodass die frische Luft mit dem Geruch nach nassem Gras und Regenwasser ins Klassenzimmer wehen konnte. Ich warf einen sehnsüchtigen Blick auf meine Armbanduhr. Nur noch wenige Minuten dieser schnarch langweiligen Sozialwesenstunde und ich wäre endlich für 15 Minuten befreit von der Ödnis des Tages. Mein Kopf war schwer und meine Gedanken wie in betäubenden Nebel eingehüllt. Ich hatte ausgesprochen gute Noten in Sozialwesen und auch wenn man es mir nicht ansah, hörte ich doch die ganze Zeit zu. Meinem Lehrer war das relativ egal solange ich nur weiter gute Noten schrieb und um ehrlich zu sein mir auch. Also schaute ich gelangweilt mit aufgestütztem Kopf aus dem Fenster und lauschte dabei der Diskussion im Hintergrund.
„Wie ein fremder Mensch beurteilt wird kommt meist auf den ersten Eindruck seines Gegenübers an. Dabei geht es hauptsächlich um die äußere Erscheinungsform…“
Ja. Nur das äußere eines Menschen zählte, in erster Linie. Und so war es auch wenn wir uns verliebten. Kein Mädchen würde sich je in einen pickligen, kleinen, dürren Jungen mit gammligen Schlabberhosen und Streberbrille verlieben. Denn jedes Mädchen, ob stille Streberin, beliebtes Modepüppchen oder schlangenhafte Klassenbitch, suchte im Grunde nach ihrer großen Liebe. Die einzige Frage die sich da stellte… Wie sieht der gesuchte, begehrenswerte Typ den nun eigentlich aus? Die Antwort ist ein Geheimnis, das jedes Mädchen in ihrem Herzen trägt. Ohne, dass ich es bemerkte, hatte ich mit meinem Bleistift ein Herzchen auf den Tisch gekritzelt. Jetzt starrte ich es an. War die Liebe denn wirklich berechenbar? Und da war noch eine Frage die mir plötzlich in den Kopf drängte. War es möglich-… Ich meine, was würde geschehen wenn ein Mädchen einem unattraktiven Jungen das Geheimnis verraten würde?
„Okay, ab in die Pause. Bis nächsten Mittwoch und beeilt euch bitte, ich muss hier abschließen und habe Pausenaufsicht.“, verabschiedete sich mit einem mal Herr Neuwelt (und er heißt wirklich so).
Es klingelte und alle Schüler kramten ihre Sachen zusammen und machten, dass sie so schnell wie möglich in die Pause kamen. Stühle quietschten, das Fenster wurde zugeschlagen und mit ihm meine Gedanken, wie ein offenes Buch. Ich stopfte rasch mein Federmäppchen in meinen schwarzen Rucksack und lief raus auf den Flur. Beinahe wäre mir Ichiru runter gefallen, ein kleiner Anhänger der aussah wie eine Mischung aus Hündchen und Lux. Ja, schon klar, für eine Neuntklässlerin ist das irgendwie ein bisschen kindisch aber ich glaube das Ding bringt mir Glück. Außerdem sieht es süß aus.
Von überall strömten die Schüler in den Flur und drängelten sich nun in einem haltlosen Chaos aneinander vorbei. Es war ohrenbetäubend laut und man musste echt aufpassen nicht über den Haufen gerannt zu werden. Ich schob mich vor zu der Glastür, die in die Pausenhalle führte und konnte schon von weitem meine Freundin Nana auf einer der Bänke sitzen sehen.
„Hey, Keira! Ich hab grad Mathe raus bekommen und ne 1 gekriegt! “ strahle sich als ich mich neben sie auf die Bank setzte.
„Was soll man von einem Mathegenie wie dir auch anderes erwarten? Ich hab doch gleich gesagt, dass du Mathe niemals verhauen kannst. Hast du Mia gesehen?“
Nana war zwei Jahre älter als ich, hatte kurze blonde Haare und war… recht außergewöhnlich. Manchmal benahm sie sich echt wie ein 5 jähriges Kind und liebte es anderen auf die Nerven zu gehen. Es sieht verdammt seltsam aus wenn ein Mädchen das schon fast eine Frau ist (zu mindestens was ihre Oberweite und die Kleidung angingen) plötzlich total verspielt kicherte und gierig nach was Süßem zu essen fragte. Blöderweise möchte ich sie einfach so wie sie war (warum auch immer…).
Mia war in der neunten wie ich aber sie war auch bestimmt zwei Köpfe kleiner und rothaariger als ich. Ein richtiger Wirbelwind und total verrückt genau wie ich (na gut, sie hat nicht so kranke Ideen). Sie kabbelte sich oft und gerne mit Nana wobei sich die beiden dann mit Heften oder Büchern schlugen (ja das ist schon irgendwie dumm…) aber wenigsten bekam ich dann nichts ab. Was nicht heißen soll das ich sie dafür nicht umgebracht hätte wenn sie es doch täten. Also ich meine, wir sind echte Freunde geworden, seit dem ich auf dieser Schule bin. Nun jedenfalls war Mia nicht da, zumindestens noch nicht.
„Nö. Hast du was zu essen?“ Ich machte ein genervtes Gesicht und schaute sie mit dem typischen vergiss-es-ich-hab-selbst-Hunger-Blick an.
„Nein. Du wirst fett wenn du ohne Unterbrechung futterst und dann schaut dich dein Schatz Kai nicht mehr an.“ Ich liebte es sie auf die Palme zu bringen, denn es gab wirklich nichts Leichteres als das und amüsant war es noch dazu. Nana war seit Monaten in den Schwarm der Schule verliebt. Kai ging in dieselbe Klasse wie Nana war aber schon ein Jahr älter als sie und sah wirklich unglaublich… interessant aus. Er war groß hatte nussbraune Haare und Augen, einen athletischen Körper und er war im Gegensatz zu vielen andern Jungs ziemlich nett und zwar zu allen. Nana fing schon an zu sabbern wenn sie ihn nur von weitem sah aber in meinen Augen… Er kam mir irgendwie viel zu steif vor, fast schon elitär. Vielleicht kannte ich ihn auch einfach nur zu wenig oder ich war mehr der Typ der auf die Badboys steht. Egal, ich war einfach nicht verliebt.
„WAS?! Sag das doch nicht so laut! Er ist nicht „mein“ Schatz! Gemein! Du bist gemein! Und selber fett! Und außerdem wirst du nie einen Freund haben! Ich will was Süßes! ICH WILL ZUCKER! Ist mir doch egal ob mich irgend so ein Typ anschaut…“ jammerte sie in ihrem unmissverständlichen Kleinkindtonfall aus dem man trotzdem noch heraushören könnte das, dass Gegenteil der Fall war. Das war der Moment in dem ich einfach auf Durchzug schaltete, denn wenn Nana erst mal in ihrem Ich-will-Süßes-und-bin ja-gar-nicht-in-Kai-verliebt-Modus war konnte das noch Stunden so gehen. Obwohl ich wusste, dass ihre Worte nur Spaß waren, spürte ich einen kleinen Stich als sie das mit dem Freund sagte. Ich hatte tatsächlich noch nie einen richtig ernsten Freund gehabt… Um ehrlich zu sein verstand ich es nicht wirklich. Ich war nun vielleicht kein Topmodell aber trotzdem noch recht hübsch (also ich meine nicht hässlich). Ich hatte langes dunkelbraunes Haar und etwas melancholische dunkelbraune Augen. Na ja und vielleicht weniger hübsch, eine ziemlich blasse Haut weil ich den ganzen Winter über nicht wirklich draußen war und nicht ins Solarium gehe. Vielleicht war ich einfach nur zu wählerisch was die Jungs anging. Plötzlich erinnerte ich mich wieder an meine Gedanken kurz vor dem Ende der Sozialwesestunde. Das Geheimnis an einen Jungen weitergeben. Irgendwie gefiel mir der Gedanke. Aber welcher Junge kam dafür den bitte infrage? Ich überlegte während Nana sich mit ein paar anderen Mädchen unterhielt die sich zu uns gesetzt hatten. Sie kannte das ja schon wenn ich einfach nur still da hockte und versonnen einen Fleck auf dem Boden taxierte. Das hieß, dass ich nachdachte und das wiederrum gefiel ihr meistens. Sie mochte meine verrückten Ideen. Jedenfalls, sollte er einen guten Charakter haben. Auf keinen Fall einer von diesen Möchte-gern-Gangstern die sich saucool vorkamen wenn sie ein Mädchen auf dem Flur mit einem dämlichen Spruch verarschten, wie „Hey, der Basti ist in dich verknallt. Der steht voll auf dich! Willst du mit ihm gehen?“ und sich dann einen ablachten. Leider gab es echt ne Menge aufdringliche Proleten an unserer Schule. Ich hörte ein empörtes kreischen und konnte gerade noch sehen wie ein paar Meter vor unserer Bank ein Junge in die Schulschlampe Lisa Nordmann rein rannte. Erst ein paar Sekunden später kapierte ich wirklich, was ich da sah. Bei dem Jungen handelte es sich um David Porl. Ich kannte ihn weil er ständig bei uns an der Bank stand um meine andere Freundin Mia wie ein Schatten zu verfolgen. Ich habe ihn schon mal gefragt ob er in sie verliebt sei, woraufhin er aber nur verdammt rot anlief und panisch abgewinkt hatte, dass sie für ihn mehr so etwas wie eine Schwester sei. Ich hab ihm kein Wort geglaubt und noch weiter nachgehackt aber er stotterte nur ziemlich wirres Zeug und mit der Zeit bekam ich Angst er könne vielleicht an dieser vulkanartigen Röte in seinem Gesicht umkommen. Also ließ ich es dabei. Er war wie ich in der neunten Klasse, trug eine außergewöhnlich bescheuerte graue Brille, war groß, dünn, nicht gerade ein Genie, meistens total einfallslos gekleidet, still, ruhig, abwehrend, vielleicht schon gestorben oder mit kaputten Stimmbändern geboren worden, hatte dunkelbraunes seltsam abstehendes Haar und-… er lang jetzt auf dem Boden. Nun, nicht direkt auf dem Boden. Offensichtlich waren die beiden so hastig ineinander gerannt das sie zusammen aufeinander gestürzt waren. Plötzlich wurde es schlagartig ruhiger in der Pausenhalle und alle Augenpaare richteten sich auf die beiden am Boden. David kniete direkt über Lisa und starrt sie an. Die hatte die Augen entsetzt weit aufgerissen und starrte zurück wie ein Kaninchen vor der Schrottflinte. Wie auch immer er es fertig brachte, hatte er ihr ohnehin nur mit ein paar Trägern befestigtes weit ausgeschnittenes Top vollends herunter gerissen und starrte jetzt mit hochrotem Kopf auf ihren prallen Busen in einen pinken BH mit Leopardenmuster. Sein Gesicht war nur wenige cm von ihrem BH entfernt. „T-tut…..mir leid…!“ kam es gepresst von David während er weiter wie ein Vollidiot über Lisa kniete (später begriff ich das es wohl an der hypnotischen Wirkung ihrer Brüste gelegen haben musste, das er sich so abgrundtief dumm benahm. Er ist ja schließlich auch nur ein Junge). Und plötzlich brach die Hölle in der Pausenhalle los. Einige glotzten einfach wie hypnotisiert die beiden an, anderen grölten und lachten aus vollem Hals und sprangen zu den beiden. „Ich glaubs nicht! Ausgerechnet der Streber is scharf auf die!“, lachte Dennis ein Typ aus meiner Klasse der ziemlich beliebt bei seinen Kumpels war und den ich abgrundtief verabscheute. „Der geht aber ganz schön ran, nich wahr Lisa?!“ kam es von der anderen Seite. David schien unter einem psychischen Schock zu stehen und rührte sich keinen Millimeter, als wäre er da fest gefroren. Lisa schubste ihn panisch und wütend weg. „DU DRECKIGER PERVERSLING!“ schrie sie hysterisch und sofort kamen ein paar ihrer Freundinnen und legten ihr eine Jacke um die Schultern. Lisa schnappte sich ihr zerrissenes Top das noch auf dem Boden lag und hielt es sich schützend vor den Oberkörper. Im selben Moment kam auch schon eine Lehrerin angelaufen um zu klären was der Grund für das Geschrei war. David stand unsicher auf und trat total verschüchtert zurück.
„Was war das denn?“ flüsterte Nana neben mir und beobachtete weiter aufgeregt das Geschehen. Die nächsten drei Augenblicke brannten sich mir ins Gedächtnis wie keine je zuvor.
1. Die Lehrerin kümmerte sich um Lisa die wütend und total außer sich rumschrie und versuchte gleichzeitig die grölenden Schüler unter Kontrolle zu bringen. Währenddessen war Mia aufgetaucht, zu David gelaufen und redete nun beruhigend auf ihn ein. Er hatte den Kopf vor Scham gesenkt aber ich konnte trotzdem sehen dass sein Gesicht feuerrot war. Er machte den Eindruck eines verstörten Labortieres.
2. Plötzlich blickte er auf und schaute direkt zu mir rüber. Seine Augen hatten so einen komischen matschgrünen Ton. Sein Blick war von Schuldgefühlen und grenzenloser Peinlichkeit gezeichnet während er mich entschuldigend anschaute (Ich verstand nicht warum). Ich konnte ihm ansehen dass er am liebsten gestorben wäre vor Scham.
3. Er tat mir wahnsinnig Leid, den ich wusste, dass man ihn den Rest seiner Schulzeit (noch ein ganzes Jahr) für diesen Vorfall mobben würde. Genau das war der Augenblick in dem ich beschloss sein Leben zu verändern. Und genau in dieser Sekunde fällte ich meine Entscheidung. Dieser Junge war genau der richtige um zu erfahren ob die Liebe berechenbar war.
Ein paar Minuten später war die Halle wieder von demselben Lärm erfüllt wie vor dem Vorfall. Die Fünftklässler tobten wild kreischend durch die Gegend und die älteren standen rum und unterhielten sich rege über das Geschehene.
„Keira? Ist alles okay?“ Nana sah mich besorgt von der Seite an. Ich wand mich zu ihr und spürte ihre Verwunderung.
„Ich glaube mehr als okay. David tut mir echt wahnsinnig Leid. Die werden ihn jetzt total fertig machen.“, flüsterte ich.
„Und was ist daran okay? Schließlich war es ja gar nicht seine Schuld. Ich mein dieser dünne Stofffetzen wäre so und so demnächst runter gerutscht, ober er sich nun dran festgeklammert hätte oder nicht.“ Nana zuckte mit den Schultern und sah grimmig zu den lachenden Jungs die David hinterher riefen als er die Pausenhalle verließ.
„Ich hasse Leute die sich über andere lustig machen. Ich glaub nicht, dass David das mit Absicht gemacht hat. Eigentlich ist er doch nur in Mia verliebt. Der folgt ihr doch überall hin. Ich meine, wir sind ja auch dauernd mit ihr unterwegs. In der Pause. Aber er läuft ihr richtig hinterher wie ein Hündchen. Das ist total niedlich. Ich glaub Mia mag ihn auch, obwohl sie behauptet sie seien nur Freunde.“ Nana grinste als Mia gerade kam und sich neben sie auf die Bank setzt.
„Die sind so bescheuert!“ Mia deutete wütend mit einem Kopfnicken, auf die Gruppe an Jungs die immer noch abartig hohl grinsten und Davids Sturz nachahmten. „Wie geht’s David jetzt?“ fragte ich und dachte besorgt an seinen Blick von vorhin. „Ihm ist das verdammt peinlich aber er musste jetzt erst mal mit zur Schulleiterin um die ganze Sache zu klären.“ Mia ballte die Hände zu Fäusten und machte eine Handbewegung als wollte sie jemanden den Hals umdrehen.
„Ich hasse diese Schlampe. Sie tut jetzt so als hätte David sich auf sie gestürzt und sie vergewaltigt! Ich könnte sie umbringen! Ich wette sie ist sogar mit Absicht mit ihm zusammen gestoßen.“, knurrte sie zornig und schickte einen Todesblick zu der Jungsgruppe rüber. „Glaub ich kaum…“ murmelte ich darauf, sodass nur Nana mich hören konnte. Die Glocke klingelte und verkündete das Ende der Pause.
„Das war vielleicht ne Pause. Die war viel kürzer als sonst.“, murrte Nana düster und schulterte ihre Tasche. Mia war schneller aufgestanden als wir beide und eilte schon etwas voraus. „Sie kam dir nur kürzer vor glaub ich. Bis Morgen, ich bin in der zweiten Pause beim Tutorentreffen also sehen wir uns nicht mehr. Tschau!“ Sie winkte und war ihm nu in den Massen an Schülern verschwunden.
„Nana, ich brauch deine Hilfe fällt mir ein.“ Wir beide hatten unser Klassenzimmer im selben Flur und liefen nebeneinander her.
„Bei was denn?“
Gute Frage, ich wusste es ja selbst noch nicht so genau. Nur das ich eben aus David, Jonny Depp machen wollte. Oh Mann, das hörte sich plötzlich total dämlich an.
„Es geht um David. Ich möchte ihm helfen.“
„Wie? Oder besser gefragt wo? In Sachen Mia oder in Sachen nicht von der ganzen Schule fertig gemacht werden.“
„Eigentlich beides. Ich weiß nicht wie ich es sagen soll aber… Ich glaub Mia liebt David schon auch irgendwie aber er sieht halt nun mal aus wie der letzte Vollidiot und deshalb mobben ihn auch die anderen. Ich meine wenn wir ihm vielleicht helfen können sich zu verändern, zu einem Gentleman bei dem alle Mädchen dahin schmelzen und die Jungs den Schwanz einziehen…“ weiter kam ich einfach nicht. Plötzlich wurde mir bewusste was ich da für eine verblödete Idee hatte. Wieder einmal hatte meine Verrücktheit meinen Verstand besiegt und mir so eine dumme Idee in den Kopf gesetzt. Aber da hatte ich nicht mit Nana gerechnet.
„Okay, ich mach mit! Hört sich lustig an! Aber nächste Woche beginnen doch schon die Sommerferien. Wann reden wir mit David?“ Fast blieb mir den Mund offen stehen. Nana machte tatsächlich mit. Sie wollte das echt machen. Das war typisch für sie. Sie redete nicht viel drüber sondern machte es einfach gleich.
„Ähm… ich mag ihn ja nicht sonderlich weil er dauernd an Mia hängt wie eine Klette. Aber ich versuch ihn morgen anzusprechen wenn ich ihn finde. Das mit den Sommerferien ist ganz gut so. Ich schätze wir haben echt viel Arbeit mit ihm vor uns. Ich hab nur noch eine Stunde, also…. Bis morgen dann.“
Nana nickte, winkte mir zu und bog dann bestens gelaunt ihn ihr Klassenzimmer ab. Ob sie überhaupt begriffen hatte was ich wollte? Aber ich hatte ja selbst keine Ahnung.
Kapitel 2.
Die fünfte Stunde war schneller vergangen als ich erwartet hätte. Ich lief die Treppen zum Sekretariat hoch um das Klassenbuch noch schnell los zu werden, dann machte ich dass ich so schnell wie möglich nach Hause kam. Es Regnete schon wieder, diesmal heftiger als noch während des Unterrichts. Typisch für mich. Ich war noch nie ein Glücksvogel. Und trotzdem… Meine Idee ging mir immer noch durch den Kopf aber was genau wollte ich eigentlich machen? Automatisch bog ich nach links in den Park. Nahm ich mir da nicht einfach zu viel heraus? Warum will ich David eigentlich helfen? Ich kenn ihn ja noch nicht mal richtig! Ich weiß nur dass er in Mia, meine Freundin verliebt ist, dass er ziemlich bescheuert aussieht, vermutlich recht dumm ist und ein krankes Interesse an Chemie oder so hat aber-…! Ich blieb schlagartig stehen und ließ den Regen auf mich herunter prasseln. Wie als seien meine Gedanken durch einen unsichtbaren Faden mit dem verbunden der sie betrifft, sah ich auf der andern Seite der Wiese David, völlig durchnässt auf einer Bank sitzen. Er hatte den Kopf auf die Hände gestutzt, den Blick zu Boden gerichtet. Der Regen ließ ihn leicht vor meinen Augen verschwimmen. Ich stand einfach nur da und fühlte mich wie vorhin in der Pausenhalle. Meine Beine bewegten sich vorwärts, geradewegs durch die schlammige Wiese. Ich war eh schon völlig nass, was machte es wenn ich mir jetzt auch noch die Schuhe ruinierte. Und plötzlich fühlte ich mich stark, so als gäbe mir der kalte Regen neue Kraft die mir den ganzen Tag über gefehlt hatte. „Hey, David!“ Er reagierte nicht. Zitterte er? Vorsichtig darauf bedacht nicht auszurutschen stakste ich über die Wiese. Ich stand direkt vor ihm und schaute auf ihn herab.
„Hey, hör mal ich-… Sag mal weinst du?“ Warum schaute er mich nicht an? War er zu stolz um seine Tränen vor einem Mädchen zu zeigen? Hatte er vielleicht einen männlicheren Charakter als ich gedacht hatte? Oder erkannte er mich einfach nicht?
„Ja und? Sieht doch eh keiner wenn es regnet.“ Er blickte auf, starrt mich mit durch seine Goldfischglasbrille an und schniefte geräuschvoll. Seine Klamotten und Haare klebten an ihm und ließen ihn wie eine nasse Ratte, die gerade aus der Kanalisation gekrochen war aussehen. Ich nahm alles was ich zuvor gedacht hatte zurück. Wie konnte man nur so mutlos, so wenig stolz, so widerlich sein das man nicht mal ein Taschentuch benutzte wenn einem die Nase lief?! Nein okay, mal ernsthaft. David war doch nicht blöd (oder?) und es war ja heute keine Ausnahme dass er so aussah. Er musste doch wissen wie er für andere wirkte? Nein das wusste er nicht… Ich weiß nicht warum aber genau in diesem Moment ergriff mich diese unglaubliche Kraft und das Verlangen diesem dummen Jungen endlich einmal die Wahrheit zu sagen.
„Das ist abartig. Warum läufst du so rum?“ schnaubte ich wütend. Ich schaute zu Boden, um ja jeglichen Blickkontakt zu vermeiden. Ich durfte ihn nicht ansehen wenn ich wirklich ehrlich sein wollte.
„Hast du noch nie geweint? Ist doch nicht so-“
„DEINE NASE TROPFT! DU SIEHST AUS WIE EIN TOTER STRAßENPENNER! DU LÄSST DICH VON ALLEN MÖGLICHEN VOLLIDIOTEN FERTIG MACHEN! DU HAST NICHT DEN MUT DEM MÄDCHEN DAS DU LIEBST DIE WAHRHEIT ZU SAGEN UND BENIMMST DICH STATTDESSEN WIE DER ALLERLETZTE STALKER! WARUM?!“ kam es mir ohne zu zögern über die Lippen.
„Ich hab kein Taschentuch…“ flüsterte er leise und ich wusste, dass auch er jetzt den Kopf senkte.
„Du verteidigst dich noch nicht mal und bleibst trotzdem bei denen die dich nur ausnutzen. Du lässt alles mit dir machen und steckst einen Schlag nach dem anderen ein ohne auch nur den Versuch eines Gegenangriffes oder auch nur irgendwas…“
„…tut mir leid…“ Er sank immer mehr in sich zusammen und ich vermutete, er würde bald mit dem Regen im Rinnstein davon geschwemmt werden. Ich wurde leiser und ich wusste es war grausam was ich flüsterte.
„Hast du den … gar keinen Mut?! Bist du so feige, das du dich nicht ein einziges Mal gegen die anderen Stellen kannst? Willst du wissen warum Mia für dich nicht empfindet? Du benimmst dich als hättest du keinen eigenen Charakter, keinen Stolz und keinen Mut. Das ist der Grund, warum Mia dich nicht liebt. Weil du nicht stark genug bist, David.“
Als ich seinen Namen aussprach riss er den Kopf nach oben und ich sah ihm direkt ins Gesicht. Ich konnte nicht weitersprechen und drehte mich von ihm weg. Sein Blick war gebrochen, seine ganze Haltung kraftlos und über seine Wangen liefen immer noch Tränen. Er tat mir leid aber ich war mir sicher, dass es nötig gewesen war um meinen nächsten Schritt umzusetzen. Oh, mein Gott, was redete ich da?! Ich hatte einen Jungen zum Weinen gebracht! Ich kam mir plötzlich vor wie einer von diesen fiesen Schlägertypen aus den Gangsterfilmen.
„Willst du so weiter machen?“ Inständig hoffte ich, dass meine Stimme kraftvoll und nicht brüchig klang, so wie ich mich jetzt fühlte. Er antwortet nicht und ich drehte mich um und setzte mich neben ihn. Meine Tasche ließ ich einfach neben die Bank fallen, nachdem ich ein Taschentuch aus der Seitentasche geholt hatte. „Hier. Ist leider nass.“ Ich hielt ihm das durchweichte Ding hin und reichte ihm dann die ganze Packung.
„Passt schon. Danke.“ Er nahm die Goldfischglasbrille ab, drückte das Taschentuch aus und wischte sich damit übers Gesicht. Es war verrückt aber kaum hatte er dieses hässliche Goldfischglas abgenommen wirkte er wesentlich erwachsener. „Und? Was willst du jetzt machen?“
„Keine Ahnung! Was soll ich den machen? Es gibt nichts zu machen. Ich bin halt wie ich bin und den Rest ignoriere ich. Ich will mich nicht für die anderen verändern!“ Er drehte den Kopf und sah mich direkt an. Für einen Moment vergaß ich zu atmen. Durch die Brille wirkten seine Augen immer Matschgrün (wenn er überhaupt mal aufblickt) und überdimensional wie bei einem Volltrottel eben. Aber ohne sie waren sie von einem durchdringenden, katzenhaften smaragdgrün.
„Du könntest damit anfangen diese Brille weg zu werfen. Du trägst keine gefärbten Kontaktlinsen oder?“ flüsterte ich atemlos überrascht. Sein Blick war verständnislos und plötzlich viel mir auf warum er die Brille nicht schon längst entsorgt hatte.
„Nein. Aber ich brauche diese Brille. Ohne sie bin ich blind wie ein Maulwurf. Du hast keine Ahnung wie verschwommen ich selbst dich jetzt sehen, obwohl du gerade mal 30cm entfernt bist.“ Deswegen kniff er auch so angestrengt die Augen zusammen.
„Es gibt doch auch starke Kontaktlinsen. Was ist das überhaupt für eine Brille? Ich mein ohne die Brille… deine Augenfarbe ist wahnsinn.“ Er setzte die Brille auf und schon schaute mich wieder der alte Goldfischglas-matschgrüne-Augen-David an.
„Und du glaubst ohne die Brille bin ich dann plötzlich nicht mehr das große Mobbingopfer? Es ist egal welche Augenfarbe ich hab, das ändert gar nichts.“ Seine Stimme war hoffnungslos und zusätzlich von dem prasselnden Regen gedämpft. Vor mir saß einfach ein Junge, der absolut keinen Mut mehr hatte überhaupt etwas dagegen zu machen, dass die anderen in scheiße behandelten. Meine Haare bekamen langsam Locken (war immer so wenn sie nass wurden), sodass ich sie mir erst mal aus dem Gesicht strich bevor ich antwortete.
„Du musst es ja nicht alleine schaffen. Wir helfen dir. Ich meine Nana und ich. Übermorgen beginnen die Sommerferien. Das bedeutet du hast acht Wochen Zeit um dich für das nächste Jahr bereit zu machen.“ Sein Blick war skeptisch.
„Ja, ihr habt ja auch total viel Ahnung. Deswegen seid ihr ja auch so beliebt!“ Wut durchzuckte mich und das schien er zu merken. Er musste sich ja nicht helfen lassen. Im Grunde war es ganz allein sein Problem wenn er von der ganze Schule gemobbt werden würde. „Hör mal zu! Ich glaub du hast etwas Entscheidendes nicht mitgekriegt. Sich veränder, weiterentwickeln und langsam mal so was wie einen Charakter aufbauen bedeutet nicht diesen ganzen Vollidioten hinterher zu kriechen die dich jetzt nicht beachten! Wenn du das willst, musst du nichts weiter machen als auf irgendwelche Partys zu rennen, dich dort zu besaufen und das mit Lisa noch mal, ein bisschen weiter auszuführen. Lern noch ein paar Ausdrücke auf Russisch oder Türkisch und dann prügel dich vielleicht noch ein wenig mit irgendjemandem der noch schwächer ist als du selbst! Dann kannst du bei den ganzen Assis super mitmachen! Glaubst du wirklich, dass ich nicht mit diesen Leuten abhänge weil ich es nicht kann? Es ist eine Sache von 5 Minuten mit denen einen Flasche Wodka zu trinken und eine andere sich die ganze Schulzeit nicht zugehörig zu deinen Klassenkameraden zu fühlen! Aber besser das, als die Achtung vor sich selbst und anderen zu verlieren und einiges anderes noch dazu…!“ Seine Jungfräulichkeit zum Beispiel aber das sagte ich nicht weil ich wusste, dass es blöd rüber kommen würde. Er schaute wieder auf den Boden, so als hätte er noch nie zuvor einen gesehen und schwieg sich aus. Im Grunde reichte mir das schon. Mir wurde langsam kalt und meine Jeans fühlte sich klamm an und klebte an den Beinen. War eh ne Schnapsidee. Wenn er sich so toll fand wie er jetzt war, sollte er doch so bleiben!
„Vergiss es einfach, okay. Bis dann.“ Ich schnappte mir meinen Rucksack, stand auf und ging. Na ja wenigstens war ich noch richtig schön nass geworden. Ich hatte mich ziemlich lächerlich gemach-…!
„Warte! Du hast Recht! Ich krieg das nicht allein hin!“ Blitzschnell war er aufgesprungen und hatte mein Handgelenk umfasst, ziemlich fest sogar. „Autsch!“
„Oh! Tut mir leid! Sorry, ich wollte dir nicht-!“
„Passt schon. Tut nicht weh.“ Wieso sagte ich dann “Autsch“? Jetzt hielt er mich sicherlich für ein empfindliches kleines Mädchen, dass-
Moment mal, er war hier derjenige der aussah wie eine Kanalratte!
„Ich wollte nur sagen, dass… Ich brauche eure Hilfe! Ich will nicht wie... ähm ein alter Straßenpenner aussehen und…“
„Tod. Toter Straßenpenner.“ Gott, warum hielt ich nicht den Mund?!
„Ja, genau. Ich glaub das heute, mit Lisa, “ er wurde leicht rosa auf den Wangen „ …werden mich die anderen nicht vergessen lassen, selbst wenn 6 Wochen dazwischen liegen. Und außerdem wegen… also… Das Mädchen das ich… lie- mag, vielleicht. Ich meine… Sie sollte… also nicht denken ich sei… irgendwie vielleicht blöd oder-.“ Er wurde wieder knallrot und starrt wie hypnotisiert einen Baum an.
„Sie sollte sich vielleicht auch in dich verlieben? Meist du das?“ Der Junge war echt schwieriger als ich dachte. Er konnte das Wort Liebe noch nicht einmal aussprechen.
„Ja, genau! Das wäre toll! Ich meine echt supergenial.“
Aha. “Echt supergenial“ also? Mit welchem Adjektiv würde er wohl einen Kuss beschreiben? Du darfst Mia küssen. Absolut Superdupergenial? Verdammt schwieriger Junge!
Das schien ihm plötzlich auch einzuleuchten und er fuhr sich gestresst mit der Hand durchs nasse Haar. Dann drehte er sich um und ging ein paar Schritte weg, drehte wieder um und blieb vor mir stehen. Ich rührte mich nicht und starrte ihn mit der Faszination eines Katastrophenforschers an.
„Okay, vergiss das. Ich bin blöd. Vermutlich der größte Trottel der hier rumläuft.“
„Sind nicht so viele bei Starkregen im Park unterwegs.“ kam es mir über dir Lippen. Meine Aufmunterungen konnte er bestimmt, wirklich gut gebrauchen.
Er schwieg, schaute sich mit einem hilfesuchenden Blick um und sah mich dann wieder an.
„Egal was ich sage, ich mach es nur noch schlimmer und immer wenn ich versuche irgendwie nicht ganz so blöd dazustehen und was sagen will, dann rede ich nur Müll und-. Ich will nur das dieses Mädchen… Sie muss sich nicht in mich verlieben, dass kann ich nicht beeinflussen aber… Ich wünsche mir, dass sie mich sieht. Das sie mich einmal so sieht wie ich eigentlich wirklich bin und das ich wenigstens einmal vernünftig mit ihr reden kann ohne das ich Blödsinn rede oder es sonst irgendwie versaue. Ich wünsche mir nur das sie mich wenigstens einmal richtig wahrnimmt.“ In seinem letzten Satz lag so viel Verzweiflung und Sehnsucht nach diesem Wunsch, dass es mir plötzlich egal war ob er sich wie ein Volltrottel benahm. Er war Unglücklich und verliebt und ich hatte Mitleid mit ihm. Drei Punkte die, zusammen mit Nana und mir keine gute Mischung ergeben. Aber ich hatte mein Entscheidung schon gefällt.
„Okay, dann werden wir versuchen dir diesen Wunsch zu erfüllen! Ich verspreche dir, dass Mia dich wahrnehmen wird und alle anderen auch. Es ist so gut wie nichts unmöglich wenn man an sich glaubt!“ Woher hatte ich diesen vorzeitlichen Spruch denn? In jedem anderen Moment wäre er mir vermutlich peinlich gewesen aber hier, im Park, gegenüber einem unglücklich, verliebten Jungen der allen Mut aufgegeben hatte schien er zu passen.
„Hast du dieses Wochenende Zeit? Wir sollten sofort beginnen, denn ich glaube wir werden die ganzen Ferien brauchen.“ Um ehrlich zu sein gefiel mir diese Aufbruchsstimmung in meinen Worten selber nicht.
„Immer! Ähm ich glaube schon. Wie viel Uhr und wo?“ Seine Stimme war so schüchtern genau wie sein Blick, der wieder suchend umherstreifte. Aber irgendwie gewöhnte man sich daran nicht beim Reden angeschaut zu werden. Aber die Frage war gut. Wo sollte man sich treffen? Irgendwas neutralles am besten… Starbucks oder McDonalds? Nein, zu riskant auf Leute aus unserer Schule zu treffen. Besser ein Cafe, irgendwas großes, unüberschaubares wo viele Menschen saßen. Am besten ältere Menschen.
„Sonntag, 13:00 Uhr, am besten in irgendeinem Cafe. Da gibt’s doch diesen großen Bäcker ein bisschen außerhalb der Innenstadt, wie hieß der noch mal? Die sind riesig und die haben auch dieses leckere Eis.“
Super Beschreibung. Wusste doch sofort jeder was ich meinte.
„Bäcker Schmidt. Da ist auch ein Restaurant drin. Draußen oder drinnen?“
Wow, er wusste wirklich was ich meinte.
„Drinnen ist sicherer… falls es regnet meine ich.“ Ich schaute ärgerlich zum Himmel, obwohl es mittlerweile nur noch nieselte. War im Grunde egal, denn ich war total durchnässt und langsam bekam ich sogar Gänsehaut.
„Okay. Ist besser wenn du jetzt gehst. Du bist ganz nass.“
„Ja. Du auch. Bis Morgen dann.“
„Ähm, nein. Bis Sonntag… nur falls wir uns in der Schule nicht sehen.“
Er hatte nicht vor morgen zu kommen. Irgendwie logisch. Ich würde mich auch nicht einem Rudel hungriger Wolfe entgegenstürzen wenn ich ein Schaf wäre. Zum Glück konnte er nicht meine Gedanken hören sonst wäre er vermutlich wieder in Tränen ausgebrochen.
Wir versuchten beide ein freundliches Lächeln zum Abschied (was wohl ziemlich misslang. Er grinste verkrampft, gerade so das er sich nicht vor mir verbeugte und ich zu übertrieben freudig, was wohl einfach schlecht geschauspielert aussah). Jedenfalls drehten wir uns dann hastig um und gingen eilig in verschiedene Richtungen.
Ich begriff erst am Abend das David tatsächlich zugestimmt hatte sich von uns im weitesten Sinne “umstylen“ zu lassen. Nana würde durchdrehen wenn ich ihr das erzählte. Und plötzlich wurde mir bewusst, dass der Junge nicht nur schwierig sonder auch ziemlich verzweifelt sein musste.
Kapitel 1. /Forts.
Verdammte Scheiße, er war doch wirklich der größte Vollidiot aller Zeiten!
“Ist besser wenn du jetzt gehst. Du bist ganz nass.“ Ach ne, wie kommt das nur? Vielleicht weil es wie aus Eimern schüttet?!! Besser konnte man seine eigene Beschränktheit eigentlich kaum demonstrieren. Und da musste er auch noch zugeben, dass er sich morgen nicht mehr in die Schule traute. Wütend stapfte er die Treppe in sein Zimmer hoch. Seine Klamotten klebten an im wie eine zweite Haut. Am besten ging er gleich duschen, vielleicht würde er ja ausrutschen und sich das Genick brechen, dann hatte er keine Probleme mehr. Und keinen Wiederholungsschleife von Keiras wütender Stimme im Kopf: “Willst du so weiter machen?“ Nein, natürlich nicht! Es war ziemlich peinlich von einem Mädchen heulend im Park erwischt zu werden… Das wollte er auf keinen Fall wiederholen. “Hast du den gar keinen Mut?! Bist du so feige, das du dich nicht ein einziges Mal gegen die anderen Stellen kannst?“ Davon hast du doch keine Ahnung! Das verstehst du eh nicht! Ohne genau hinzusehen schmiss er seine Tasche in eine Ecke seines Zimmers.
“Willst du wissen warum Mia für dich nicht empfindet?“ Nein, das wollte er lieber gar nicht wissen! “Du benimmst dich als hättest du keinen eigenen Charakter, keinen Stolz und keinen Mut.“ Ja so musste es auf seine Umgebung wirken. Er schmiss sein nasses Hemd gleich daneben. “Das ist der Grund, warum Mia dich nicht liebt. Weil du nicht-“ Stopp! Ruhe! Kein Wort mehr. Das genügt völlig, um sich selbst in der Badewanne zu ertränken. Er lief durch den Flur und knallte die Badezimmertür zu. Ein Glück das Bianca(seine kleine Schwester, 12 Jahre) noch nicht zu Hause war. Sie würde ihn sonst bestimmt wieder mit diesem hoch besorgten Ton fragen was los ist. Das hat sie schön öfters gemacht, wenn sie gemerkt hatte, dass er wieder mal einen scheiß Tag in der Schule hatte. Seine Mutter arbeitete bis 20:00 Uhr in der Kanzlei, bis dahin hatte er sich schon längst wieder im Griff. Im Grunde war aber auch das egal, denn schließlich ahnte sie ja noch nicht mal was bei ihm in der Schule abging. Er hängte seine restlichen Klamotten über die Heizung und drehte die Dusche schon mal auf. Sein Spiegelbild auf der anderen Seite über dem Waschbecken starrte ihn verzweifelt und wütend an. Idiot. Was musst du überhaupt so viel reden? Was hast du dir jetzt schon wieder eingebrockt?! Moment, so konnte er nicht nachdenken, diese vorwurfsvolle Stimme in seinem Kopf brachte ihn nicht weiter. Er stelle sich unter die Dusche. Das Wasser fühlte sich auf seinen kalten Füßen und Händen kochend an aber er hielt trotzdem sein Gesicht darunter. Für ein paar Sekunden war sein Kopf frei.
1. Schritt: Er musste sich beruhigen. 2. Schritt: Feststellen was im Park eigentlich schief gelaufen war. Okay, das sollte doch möglich sein.
Also, als erstes hatte sie ihn heulen sehen. Im Regen. Es wäre doch besser gewesen wenn er einfach stumm davongerannt wäre aber er hatte sie sowieso erst bemerkt als sie seinen Namen bereits gerufen hatte. Er musste ziemlich armselig ausgesehen haben.
Und davor war noch diese entsetzliche Geschichte mit Laura Nordmann, die wohl sein restliches Leben (und wenn nicht das, dann sein nächstes Schuljahr) versaut hatte. War auch wieder einer seiner Spitzeneinfälle gewesen! Er hatte endlich reinen Tisch machen wollen. Gott, wie sich das jetzt anhörte. Er wollte rüber gehen, zu der Mädchenbank (er kannte die meisten schon eine Zeit lang und wenn nur vom sehen) und ihr endlich klar sagen das er in sie verliebt war. Mia hielt ihn ja sowieso schon für einen Stalker und die anderen auch. “Du benimmst dich wie der allerletzte Stalker!“ Ja, das wusste er bereits, danke fiese Stimme in meinem Hinterkopf! Das Endresultat war er und ein Pinker Leopardengemusterter BH und das dazugehörige kreischende Mädchen, dem er ganz bestimmt keine Liebeserklärung machen wollte! Na ja, zurück zum Park. Auf jeden Fall hatte Keira ihn ordentlich nieder gemacht. Nein. Sie hatte ihm die Wahrheit an den Kopf geworfen. Das war zwar auch schmerzhaft (In seinem Fall so schmerzhaft wie eine Bratpfanne gegen den Kopf zu bekommen) aber etwas anderes.
Ach, ja und dann kam sein Maulwurfauftritt. Sie hatte ihm ein Taschentuch gegeben und… “Deine Augenfarbe ist Wahnsinn!“gehaucht. Hatte sie das wirklich gehaucht? Ganz leise und vor allem überrascht war sie auf jeden Fall gewesen.
Das sein Gesicht bei diesem Satz nicht vor Freude und Scham verbrannt ist, hatte er nur seinem ständigen Training in Sachen Gefühle perfekt verstecken zu verdanken. Ihre atemlos überraschte Stimme war ihm, noch deutlich im Kopf. Und was machte er? Anstatt sich für das Kompliment zu bedanken kam er wie der typische Mitläufer rüber. Keine Wunder das sie da wütend geworden war und gehen wollte. In diesem Moment musste es in seinem Gehirn wohl sowas wie einen Kurzschluss gegeben haben. Anstatt sie freundlich aufzuhalten und von seinem eigentlich vorhandenen Gehirn zu überzeugen, packte er sie grob am Handgelenk und tat ihr weh.
Er stöhnte auf uns schlug die Faust gegen die Fließen. Das war doch nicht zu ertragen wie blöd er sich angestellt hatte! Warum hatte er nicht einfach sanft ihre Hand genommen, sie zu sich gezogen und- Himmel, was sollte der Schwachsinn denn?! Sowas klappte nur in kitschigen Filmen. Sein Kopf musste echt irgendwie einen Schaden habe. Das Badezimmer war mittlerweile in weißen Wasserdampf gehüllt. Gleichgültig grabschte er nach irgendeinem Duschgel. Na ja, dann hatte er sich nur noch lächerlich gemacht indem er blöd rumgestottert hatte und schlussendlich, würde sie sich Übermorgen mit ihm in einem Cafe treffen.
Stopp, Moment mal, was?!! Ein Treffen. Keira würde… wollte, und Nana auch. Ob sie Mia mitbringen würden?! War das nicht ihr Plan? Sie wollten… Ja was eigentlich? Ihm vielleicht einen neuen Pass und gefälschte Papiere besorgen, damit er ein neues Leben in China anfangen konnte?
„Was zum…?“ Shit! Er hatte das Rosen und Jasmin Duschgel von seiner Schwester in der Hand. Hastig wusch er sich den üppig duftenden Schaum von der Haut. Es nützte nichts. Er roch wie die Klamotten von seiner Großtante, die früher einmal in einer Parfümerie gearbeitet hatte, daran war nichts zu ändern. Was konnte heute eigentlich noch alles schief gehen?!
„Riecht gut, nicht?“ Er schnappte erschrocken nach Luft. Beinahe wäre er tatsächlich in der Dusche ausgerutscht. Mit einem Schlag zerrte er die milchige Glastür der Dusche auf. Davor stand ein Mädchen mit schulterlangen braunen Haaren in Jeans und T-Shirt. Sie grinste frech, hielt sich gespielt erschrocken die Augen zu und reichte im sein Handtuch. Er riss es ihr aus der Hand. „Bianca! Was tust du hier?! Wie bist du überhaupt rein gekommen?!!!“
„Na, durch die Tür. Jetzt weiß ich wenigstens warum mein Duschgel immer so schnell leer wird. Sag mal, magst du einfach den Geruch oder stehst du darauf dich mit Frauenduschgel zu waschen? Bist du vielleicht ein kleiner Perversling, Bruderherz?“
Das konnte doch nicht wahr sein! Er hatte vergessen abzusperren.
„RAUS! Und wenn hier jemand pervers ist dann ja wohl du! Noch nie von anklopfen gehört?!“ seine Stimme bebte vor Entrüstung.
„Ach, komm du kannst es mir ruhig sagen. Wenn du drauf stehst schenke ich dir eine Flasche. Oder ist es wegen einem Mädchen das genauso riecht? Du hast ja die ganze Zeit beim Duschen vor dich hin gemurmelt!“
„Du hast mir nachspioniert?! Wie lange stehst du da schon?!!!“
„Och nur seit dem du gegen die Wand geschlagen und gestöhnt hast. Vielleicht etwas früher… Stellst du dir das Mädchen vielleicht nackt vor wenn-!“
„RAUS! SOFORT!“
Er packte Bianca kurzerhand am Kragen riss die Tür auf und warf sie auf den Flur.
„Au! Sei nicht so grob!“
„Wag es nie wieder ins Bad zu kommen wenn ich drin bin! Klar soweit? DANN HAU AB BEVOR ICH AUSRASTE!!!“
Er donnerte die Tür direkt vor ihrer Nase zu und dann war es ruhig.
Warum existierten Geschwister?! Warum konnte nicht jeder ein Einzelkind sein oder besser: WARUM KONNTE ER KEIN EINZELKIND SEIN?!
Später würde er sich gemein und hinterhältig Rächen, indem er ihr den Nachtisch klaute. Dann würde sie ausrasten.
Er lehnte sich gegen die Badewanne, legte den Kopf in den Nacken und fuhr sich mit der Hand durch die nassen Haare. Was verstanden die anderen den schon? Was wussten sie denn? Gar nichts! Gar nichts wussten sie! Gar nichts verstanden sie! Nie würden sie sehen wie er wirklich war. Niemals.
Tag der Veröffentlichung: 07.03.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
an alle die diese Geschichte lesen