Es war ein verregneter,düsterer Nachmittag. Fabi hastete durch die dunklen Gassen der kleinen Stadt. Sie war auf dem Weg nach Hause. Den ganzen Nachmittag hatte sie ihrer Mutter in dem kleinen Laden geholfen,der seit Jahren im Besitz der Familie war. In dem Laden gab es so ziemlich alles,was der Mensch brauchte:Von Ohrringen bis zu Kinderspielzeug;von Geschirr bis zu Schuhen;Süßigkeiten und Klamotten. An diesem Tag waren viele Leute in dem Laden gewesen,weil es so geregnet hatte. Die Menschen waren scharenweise vor dem Regen in das kleine Krimskramsgeschäft geflüchtet,und Fabi´s Mutter hatte das alles gar nicht alleine schaffen können. So war Fabi nach der Schule direkt hingegangen und hatte ihr geholfen.
Jetzt war es schon fast Abend. Die Menschen waren alle auf dem Weg nach Hause. Fabi lief,wie immer,durch die schmalen,unbelebten Gassen,wo sich kaum je ein Mensch hinverirrte. Links und rechts waren große,alte Bürohäuser,die leerstanden,seit Fabi denken konnte. Hier gab es nichts als Müll,Ratten und Dreck. Fabi´s Mutter sagte immer,hier würde sich viel Gesindel herumtreiben,und Fabi solle lieber auf den belebten Straßen gehen,doch der Weg durch die Gassen war kürzer. Seit sie laufen konnte hatte Fabi diese Wege genommen,sie kannte sich hier aus. Doch noch nie war ihr ein Mensch begegnet.
Ein Poltern riss Fabi aus ihren Gedanken. Dann hörte sie leise Schritte. Was war das? Sie schaute sich um,sah aber nichts. Sie hörte auch nichts mehr. Hatte sie sich das eingebildet? Sie zuckte mit den Schultern und ging weiter. Da hörte sie wieder Schritte. Da war jemand! Fabi griff nach ihrem Portmonee. Ihre Mutter sagte immer,das ganze Gesindel sei nur hinter dem Geld her. Wenn sie ihren Opfern das Geld abgenommen hätten,würden sie abhauen. Wenn da tatsächlich jemand war,würde sie ihm einfach ihr Geld geben,vielleicht würde er ihr dann nichts tun. Und wenn doch? Fabi wischte den Gedanken beiseite. Da hörte sie wieder ein Geräusch. Diesmal ganz nah. Sie drehte sich in die Richtung,aus der das Geräusch gekommen war. Ein Geldstück fiel ihr runter. Es klimperte leise auf dem Boden. Fabi kümmerte sich nicht darum. Ihr Herz raste. Warum hatte sie bloß nicht auf ihre Mutter gehört,und war auf der belebten Straße geblieben? Sie stand reglos da,gelähmt vor Angst,und wartete darauf,dass der Jemand,der die Geräusche verursacht hatte,sie packte und ihr das Portmonee entriss.
Lia hockte versteckt hinter einer Mülltonne und beobachtete das Mädchen.
Das war ja nicht zum Aushalten! Wenn es das Geldstück nicht gleich aufheben würde,würde sie es sich holen. Lia merkte,dass das Mädchen Angst hatte. Sie beobachtete es noch eine Weile,doch als es sich nicht rührte,hielt sie es nicht mehr aus. Sie sprang aus ihrem Versteck. Das Mädchen zuckte zusammen,riss die Hände vor das Gesicht und rief angsterfüllt: „Bitte nicht schlagen!Du kannst mein Geld haben,aber tu mir nichts!“
Lia blieb stehen. Hatte das Mädchen echt gedacht,sie würde es brutal zusammenschlagen,und ihr das Geld wegnehmen? Seltsam,die Menschen heutzutage,dachte sie. Dann hob sie das Geldstück auf,das das Mädchen verloren hatte,zögerte einen Moment,ging dann zu dem Mädchen und hielt es ihr hin. Sie wollte nicht stehlen,sie hasste es,anderen Menschen einfach etwas wegzunehmen oder ihnen Angst zu machen. Das machte ihr immer ein schlechtes Gewissen und sie konnte hinterher nächtelang nicht schlafen. Deshalb versuchte sie alles,um nicht klauen zu müssen.
Fabi stand,noch immer unfähig sich zu rühren,da und starrte abwechselnd auf die ausgestreckte Hand des Mädchens und auf ihr Gesicht. Sie schaute sich das Mädchen genauer an. Es war ungefähr in ihrem Alter. Neun oder Zehn vielleicht. Es hatte sehr langes,ungekämmtes Haar,helle,graue Augen,eine Stupsnase und Sommersprossen. Trotz des kalten Wetters und des Regens trug sie nur ein zerrissenes T-Shirt,eine abgenutzte,zerschlissene Fleece-Jacke darüber,die ihm mindestens zwei Nummern zu groß war,und eine an den Knien abgeschnittene Jeans,die wohl einmal hellblau gewesen war. Schuhe hatte es überhaupt gar keine an. Insgesamt machte es einen ziemlich verwahrlosten Eindruck. Der Dreck,der ihm im Gesicht,an Armen,Beinen und Füßen klebte,machte diesen Eindruck nicht besser.
Ohne den Blick von dem Mädchen zu wenden nahm Fabi ein zwei-Euro Stück aus dem Portmonee und legte es zu dem zehn-Cent Stück in seiner Hand,das es ihr immer noch hinhielt. Dann drehte sie sich wortlos um und rannte nach Hause.
Lia stand in der Gasse und sah dem Mädchen erstaunt nach. Es tat ihr Leid,dass sie es erst so erschreckt hatte. Sie sah auf das Geld in ihrer Hand. Zwei Euro und zehn Cent! Das Mädchen,ein wildfremdes Mädchen,hatte ihr einfach so zwei Euro zehn geschenkt! Und sie hatte sich noch nicht einmal bedankt! Sie war so ein Schaf! Das Mädchen hatte ihr sehr geholfen. Jetzt fehlte ihr gar nicht mehr so viel Geld. Bis zum Winter musste sie genug zusammen haben,um sich eine warme Decke,eine neue Jacke,Socken und Schuhe zu kaufen. Und dank dieses Mädchens fehlte ihr kaum noch etwas. In dem kleinen Krimskrams-Laden,gar nicht weit von hier,gab es das ganze Zeug ziemlich günstig,da würde sie es sich bald leisten können. Glücklich drehte sie sich um,lief wieder hinter die Mülltonne,krabbelte durch das Loch in der Wand und ging durch den Flur des verlassenen Bürohauses bis ins Treppenhaus. Dort kletterte sie die halb zerfallene Treppe hoch (sie wusste genau,wo sie hintreten musste,sie kannte den Weg über die noch stabilen Stufen im Schlaf) ,ging,oben angekommen,durch einen weiteren langen Flur und bog schließlich in das Zimmer ein in dem sie wohnte. Lia ging zu der Wand gegenüber der Tür und nahm einen losen Stein heraus. Aus dem kleinen Fach dahinter nahm sie ein gut zugeschnürtes Tuch. In dem Tuch waren mehrere Geldstücke. Sie knotete es auf und legte das Geld dazu,das sie von dem Mädchen geschenkt bekommen hatte. Jetzt hatte sie genau acht Euro und fünfundsechzig Cent. Die Sachen die sie brauchte würden wohl so ungefähr zehn bis fünfzehn Euro kosten. Sie knotete das Tuch wieder sorgfältig zu,legte es zurück in das Versteck und rückte den Stein zurück an seinen Platz. Dann legte sie sich auf die Matratze in der Ecke und dachte an das nette Mädchen,das ihr so großzügig zwei Euro und zehn Cent geschenkt hatte.
Als Fabi nach Hause kam,war ihr Vater noch nicht da. Sie legte sich in ihrem Zimmer auf den Fußboden und machte Hausaufgaben. Aber richtig konzentrieren konnte sie sich nicht. Immer wieder musste sie an das arme Mädchen in der dunklen Gasse denken. Hatte es wohl ein zuhause? Und Eltern? Hatte es überhaupt irgendetwas oder -jemanden? Es war doch höchstens so alt gewesen wie sie selbst. Konnte man denn da alleine leben? Und bald würde der Winter kommen. Würde sie nicht frieren?Wovon es wohl lebte? Vom stehlen? Aber es hatte ihr das Geld doch zurückgegeben...
Fabi war froh,dass sie ihm das Geld gegeben hatte. Hätte sie doch bloß mehr dabeigehabt! Das Mädchen brauchte es wohl dringender als sie. Später kamen Fabi´s Eltern nach Hause. Sie riefen sie zum Abendessen. Doch Fabi konnte nichts essen. Sollte sie etwa hier sitzen und sich sattfuttern,während das Mädchen draußen in der Kälte hockte und hungerte? „Fabi,alles in Ordnung? Was ist denn los,warum sagst du nichts?,“fragte ihre Mutter besorgt. „Nichts,ich bin...ach,egal,es ist alles in Ordnung!“ Um ihre Eltern davon zu überzeugen,dass wirklich alles okay war,aß sie auch ein bisschen was. Unauffällig steckte sie dabei ein bisschen Brot in ihre Tasche. Sie hatte einen Plan. Nach dem Abendessen lief sie in den Flur und griff nach ihrer Jacke. „Ich muss nochmal weg!,“ rief sie. „Fabi!,“ ihr Vater kam ihr nach. „Das hat doch auch Zeit bis morgen,“ sagte er lächelnd. „Nein,hat es nicht!,“ brummte sie und riss sich los. „Fabienn! Du ziehst jetzt sofort deine Jacke aus und gehst zähneputzen und dann ins Bett!,“ sagte ihr Vater böse. Wütend warf sie ihre Jacke auf den Boden,funkelte ihn an und ging nach oben.
Lia saß immer noch auf ihrer Matratze. Sie hatte Hunger,aber sie brauchte das Geld für andere Dinge. Sie versuchte zu schlafen,aber ihr Magen hielt sie wach. Sie lag da,starrte in die Dunkelheit und versuchte den Hunger zu unterdrücken. Schließlich stand sie auf und ging aus dem Zimmer. Sie kletterte die Treppe hinunter und ging durch den langen Gang bis zu einer Biegung. Dort lief sie nach rechts. Am Ende des Flures war eine große Tür. Sie war abgeschlossen. „Corbinian! Mach auf! Ich bin es,Lia!,“ rief sie. Einen Moment später ging die Tür auf und ein alter Mann stand vor ihr. „Hallo,Lia,“ sagte er, „was gibt’s denn zu so später Stunde?“ Lia sah beschämt zu Boden: „Ich hab so Hunger,aber mein Geld,das brauch ich doch für den Winter...“ Corbinian lachte: „Na dann komm mal herein,mein Mädchen,du weißt doch,dass du immer zu mir kommen kannst!“ Lia ging durch die Tür und trat in einen großen Raum. Ein altes,mit Spinnenweben und Staub bedecktes Himmelbett stand gegenüber der Tür. Auf der linken Seite des Raumes waren Schränke,rechts standen ein Tisch und drei Stühle. Corbinian war früher Kapitän gewesen,doch schließlich war er zu alt geworden,hatten die Leute gesagt,und dann war er umgezogen,in diese Stadt. Doch Corbinian konnte nicht so leben,wie alle anderen Menschen. Er war etwas seltsam. Statt sich eine Wohnung zu mieten hatte er seine wenigen Möbel gepackt und war in das alte Bürohaus gezogen. Dort wohnte er seitdem in dem einzigen Raum,den man noch abschließen konnte. Er hatte verdammt viel Geld,glaubte Lia,aber sie war sich nicht sicher. Er hatte immer genug zu essen,obwohl er sein Zimmer nie verließ,solange er nicht dringend gebraucht wurde. Er wurde von den Bettlern und Obdachlosen sehr respektiert. Weil er so viel Geld hatte,so weise und gutmütig war,vermutete Lia. Jedenfalls hatte er nunmal immer genug zu essen und wer den Hunger und die Kälte nicht mehr aushielt,der kam zu ihm und wurde dort ein,zwei Tage versorgt. Corbinian war ein gutherziger,uralter Mann,und Lia kannte ihn schon sehr lange. Er war ihr zum Freund geworden. Corbinian gab Lia etwas zu essen. „Danke,“ sagte sie,“ich weiß echt nicht,was ich ohne dich machen würde.“ Sie überlegte,ob sie Corbinian von dem großzügigen Mädchen erzählen sollte,aber dann ließ sie es. Wenn der böse Albert davon erfahren würde,täte er dem Mädchen vermutlich etwas an. Lia wusste,dass Albert kein Mitleid mit den normalen Menschen hatte. Er lebte nach dem Motto: Wenn sie uns nichts geben,müssen wir´s uns eben holen.
Er schreckte vor nichts zurück,und Lia traute ihm zu,dass er sogar Kinder entführen würde,um an Geld zu kommen. Natürlich würde Corbinian ihm nichts erzählen,aber sicher war sicher. Als sie satt war bedankte sie sich noch einmal und ging dann wieder nach oben. Sie legte sich zufrieden auf die Matratze und schlief schnell ein.
Fabi wachte von einem schrillen Piepen auf. Schnell griff sie nach ihrem Handy und machte den Wecker aus. Es war ein Uhr. Leise stand sie auf und zog sich an. Dann schlich sie sich in die Küche und packte noch ein paar Äpfel zu dem Brot,das sie beim Abendessen stibitzt hatte. Sie zog ihre Jacke an und überlegte,wie sie vorgehen sollte. Wenn sie aus der Haustür hinausging und die Tür hinter sich zumachte,hätte sie sich selbst ausgeschlossen. Der Haustürschlüssel hing an einem Haken,an den sie nicht drankam. Also schlich sie wieder in ihr Zimmer und öffnete das Fenster. Zweifelnd sah sie hinaus. Da ging es direkt aufs Garagendach und an der Garage müsste noch die Leiter lehnen,die der Hausmeister dorthin gestellt hatte. Sie holte noch einmal tief Luft,dann stieg sie aus dem Fenster. Von draußen zog sie es vorsichtig zu,so dass es angelehnt war. Sie nahm die Tasche mit dem Essen und ging hinüber zur Leiter. Leise kletterte sie hinunter. Dann rannte sie durch den Garten und stieg über den Gartenzaun. Endlich stand sie auf der Straße. Sie warf einen letzten Blick auf das Haus,dann lief sie los. Wie immer quer durch die dunklen Gassen. Sie begegnete keinem Menschen. Die Stadt schlief. Irgendwo bellte ein Hund und von weit her hörte sie die Autos auf der Autobahn. Schließlich war sie an der Stelle angekommen,an der sie das Mädchen getroffen hatte. Sie zögerte kurz. Wo konnte das Mädchen sein? Lebte es hier in der Nähe,oder war es vielleicht nur am Nachmittag hier gewesen und wohnte ganz woanders? Wenn man das überhaupt wohnen nennen konnte...Hatte es nicht hinter der Mülltonne,dort in der Ecke,gehockt? Fabi ging langsam zu der Mülltonne. Wer weiß,vielleicht war hier ja jemand? Doch sie sah niemanden. Als sie sich den Platz hinter der Mülltonne genauer ansah,bemerkte sie ein kleines Loch in der Wand dahinter. Vielleicht war das Mädchen da drinnen? Sie schaute sich noch einmal um,doch als sie immer noch weder jemanden sah,noch etwas hörte,vergaß sie alle Vorsicht und krabbelte durch das Loch ins innere des Bürohauses.
Es war dunkel in dem verlassenen Gebäude. Die Fenster waren zugenagelt,der Schein der Straßenlaternen reichte nicht durch die Ritzen des Hauses. Die Wände waren mit Graffiti vollgesprüht,überall waren Spinnweben. Der Staub lag zentimeterdick auf dem Boden. Fabi ging in die Hocke. Im Staub waren Spuren. Spuren von kleinen,nackten Füßen. Von dem Mädchen? Fabi richtete sich auf und folgte den Spuren. Es war schwer,sie in der Dunkelheit zu erkennen. Immer wieder musste sie sich hinhocken und nachschauen,wo die Spuren hinführten. Schließlich stand sie vor einer Treppe. Sie sah ziemlich morsch aus. Fabi sah sie sich genauer an. Der größte Teil der Treppe war,wie der Boden,mit Staub bedeckt. Doch an einigen Stellen waren wieder die Fußspuren. Fabi dachte kurz nach. Diese Spuren waren von einem Kind. Vermutlich von dem verwahrlosten Mädchen. Und das Mädchen war etwa so alt wie Fabi,woraus folgte,dass sie auch etwa das gleich Gewicht hatten. Wenn die Treppe also das Mädchen aushielt,müsste auch Fabi ohne Gefahr hinaufsteigen können. Fabi untersuchte noch einmal die Spuren,prägte sich genau ein,wo sie waren und stellte ihren Fuß dann auf den ersten Fußabdruck. Vorsichtig kletterte Fabi,immer in die anderen Fußabdrücke tretend,die Treppe hinauf. Als sie oben war stand sie wieder in einem langen Gang. Sie schaute kurz nach links und rechts. Der Gang sah überall gleich aus: Staub,Graffiti und Müll. Dann hockte sie sich wieder hin und sah nach,wohin die Spuren führten. Nach rechts. Also gut. Fabi atmete tief durch und folgte dann wieder den Spuren. Als sie ein Stück gegangen war bogen die Spuren plötzlich nach links ab. Fabi sah auf. Sie stand vor einer Tür. Sollte sie klopfen? Oder einfach reingehen? Vielleicht sollte sie auch einfach umdrehen und wieder nach Hause laufen? Du Angsthase,schalt sie sich,jetzt bist du so weit gekommen,du wirst jawohl vor einer verschlossenen Tür nicht zurückschrecken! Sie atmete ein paar Mal tief durch,dann klopfte sie leise. Nichts rührte sich. Fabi wartete einen Moment,dann öffnete sie langsam die Tür. Vorsichtig steckte sie den Kopf in das Zimmer. Dann trat sie ganz ein. Der Raum war so gut wie leer. Nur eine Matratze lag in einer Ecke. Darauf lag ein Bündel. Fabi ging langsam auf die Matratze zu. Sie hockte sich davor und – erschrak! Das war kein Bündel,das war ein Kind! Es war das Mädchen aus der Gasse! Fabi hatte sie gefunden. Sie wusste nicht was sie tun sollte. Das Mädchen wecken? Lieber nicht. Wer weiß,was sie tun würde,wenn plötzlich ein wildfremdes Mädchen vor ihrem Bett (wenn man das Bett nennen konnte) stand. Fabi entschied sich,erst einmal zu warten. Wenigstens eine Weile. Sie musste bloß früh genug zurück nach Hause,damit ihre Eltern nichts merkten. Aber noch hatte sie Zeit. Sie setzte sich an die Wand,die am weitesten von der Matratze weg war,damit das Mädchen sich nicht erschreckte,wenn es aufwachte. Sie saß da und schaute das Mädchen an. Warum war sie überhaupt hier? Was tat sie hier? Sollte sie nicht zu Hause sein? In ihrem Bett? Bei ihren Eltern? Was machte sie hier,bei diesem Mädchen,dass sie überhaupt gar nicht kannte? Doch dann riss sie sich zusammen. Du musst ihr helfen! Sie braucht dich! Stell dir vor,du würdest so leben wie sie! In einem verlassenen Bürohaus schlafen,Geld erbetteln,stehlen oder sonst was,vermutlich keine Eltern haben! Ja,da darfst du ruhig ein schlechtes Gewissen haben,wegen deinen Gedanken vorhin! Was du hier machst? Du rettest einem Mädchen das Leben!
Vielleicht war das etwas übertrieben,aber Fabi brauchte diese Gedanken,um nicht einfach davonzurennen,zurück nach Hause. Die ganze Zeit versuchte sie sich Mut zu machen,redete sich ein,dass das Mädchen sich freuen würde,sie wiederzusehen,und über das Essen,das sie ihr brachte. Eine Ewigkeit,wie es ihr schien,saß sie da und redete sich so zu,und schließlich regte sich das Mädchen.
Als Lia aufwachte,war es noch dunkel im Zimmer. Vermutlich mitten in der Nacht. Sie setzte sich auf und sah sich um. Hatte sie nicht was gehört?Und tatsächlich: an einer Wand des Zimmers saß eine kleine Person. Soweit Lia erkennen konnte ein Mädchen. Sie stand auf,nahm eine Kerze und kramte ihr Feuerzeug aus der Hosentasche. Als die Flamme aufflackerte,erkannte Lia,dass es das Mädchen war,das sie am Nachmittag in der Gasse getroffen hatte. Das Mädchen,das ihr das Geld geschenkt hatte. Was machte sie hier? Wie hatte sie sie gefunden? Wie war sie die Treppe hochgekommen,ohne einzubrechen? Tausend Fragen schossen Lia durch den Kopf,in dem Moment,als sie das Mädchen erkannte. Sie machte einen zögerlichen Schritt auf sie zu. „Was...was machst du hier? Wie bist du hergekommen?,“ fragte sie schließlich. Das Mädchen sah sie einen Moment lang an,dann hielt es ihr eine Tasche hin. Lia schaute sie fragend an. Das Mädchen nickte ihr zu. Lia nahm die Tasche und sah hinein. Drei Äpfel waren drin und ein Stück Brot. Jetzt war Lia total verwirrt. „Äh...Danke...,“ sagte sie, „Warum...?“ Sie musste die Frage nicht beenden,das andere Mädchen wusste,was sie meinte. Seufzend stand es auf. „Also,weißt du,du sahst so arm aus,so verwahrlost,wie du da heute Nachmittag in der Gasse standst und mir das Geld hingehalten hast. Du tatst mir so Leid...“ Lia starrte das Mädchen erstaunt an. Normalerweise,wenn andere Kinder sie sahen,lachten sie sie aus und riefen ihr „Bettelkind“ oder „Drecksmädchen“ nach. Als sie sich wieder gefasst hatte,sagte sie: „Komm,also,wenn du magst,wir können uns hinsetzen und dann kannst du mir alles erzählen,von Anfang an,ja?“ „Okay,“ nickte das Mädchen. Sie gingen zu der Matratze in der Ecke. Doch plötzlich drehte Lia sich um: „Ach,übrigens,ich bin Lia.“ „Oh,ja,sorry,hab ich ganz vergessen,ich bin Fabienn,aber eigentlich nennen mich alle Fabi!“ „Okay,Fabi,dann erzähl mal!,“ forderte Lia sie lächelnd auf. Die beiden Mädchen setzten sich auf die Matratze und Fabi erzählte,warum sie beschlossen hatte,Lia zu helfen und wie sie sie gefunden hatte. „Ach natürlich! Die Fußspuren! Ich bin so doof!,“ rief Lia, „Da muss man mich ja finden!“ „Wieso?,“ fragte Fabi verwirrt, „Darf man dich denn nicht finden?“ „Hm...du,ich würd´s dir ja echt gern erzählen,aber es wird bald hell und du hast gesagt,du musst rechtzeitig nach Hause...Vielleicht kannst du Morgennachmittag vorbeikommen,so um vier. Da können wir uns unten an dem Loch in der Wand treffen,dann erzähl ich dir meine ganze Geschichte,okay?“ „Morgen ist perfekt,“ sagte Fabi. Lia brachte Fabi noch bis zu dem Loch in der Mauer,dort verabschiedeten sich die Mädchen voneinander. „Morgen um vier,nicht vergessen!,“ sagte Lia noch. „Natürlich nicht! Pass du lieber auf,dass du´s nicht vergisst!,“ erwiderte Fabi. Lachend trennten sich die Mädchen voneinander. Als Lia wieder auf ihrer Matratze lag,schlief sie sofort ein,so müde war sie von all den Erlebnissen.
Gedankenverloren lief Fabi durch die Gassen nach Hause. Sie kannte den Weg im Schlaf. Ihre Gedanken waren bei Lia. Besser gesagt,bei Lia´s Eltern. Was wohl mit ihnen passiert war? Waren sie gestorben? Oder waren sie vielleicht auch arm gewesen,hatten geklaut und saßen jetzt im Gefängnis? Dieser Gedanke kam Fabi etwas absurd vor,aber es war eine Möglichkeit.
Schließlich war Fabi an ihrem Haus angekommen. Sie kletterte über den Gartenzaun,stieg die Leiter hinauf auf´s Garagendach,stieß ihr Fenster auf und kletterte hinein. Todmüde fiel sie,wie sie war,aufs Bett und schlief sofort ein. Was allerdings ein Fehler war...
Am nächsten Morgen wurde Fabi davon wach,dass ihre Mutter schrie: „Fabi! Was hast du nur wieder angestellt,wie siehst du denn aus? Alles voller Staub und die Schuhe hast du auch noch an! So kannst du doch nicht schlafen!“ „Lass mich...,“ murrte Fabi. „Fabienn,du stehst jetzt sofort auf und gehst duschen,aber schnell! Du musst zur Schule!“ Seufzend stand Fabi auf und tappte,noch halb schlafend,ins Bad. Als sie in den Spiegel sah,war sie sofort hellwach. Das sollte sie sein?? Ihre Haare waren zerzaust,das Haargummi hing noch irgendwo darin,überall war Staub,ihr Gesicht war voller Dreck und am Oberarm hatte sie eine große Schramme. Die musste sie sich zugezogen haben,als sie durch das Loch in der Wand gekrabbelt war. Schnell zog sie sich aus und ging duschen. Als sie fertig war lagen schon Klamotten für sie bereit. Fabi nahm ein Teil,hielt es mit ausgestreckten Armen vor sich und sah es sich an. Ein dunkelblaues Kleid. Ihr Lieblingskleid. Sie dachte an Lia. Die hat keine so schönen Kleider,dachte sie. Seufzend zog sie sich an und ging in die Küche. Ihre Mutter war total im Stress: „Fabi,du hast jetzt keine Zeit mehr zu essen,hier,nimm das mit und iss es im Auto,ich fahr dich zur Schule. Uns erklären was du angestellt hast,dass du so aussahst,kannst du heute Mittag noch. Und jetzt ab!“ Damit drückte sie Fabi ein Nutellabrot in die Hand und schob sie zur Tür hinaus. „Was heißt hier uns? Ich bin im Gegensatz zu euch heute Mittag bei der Arbeit!,“ rief Fabi´s Vater ihnen noch nach. Fabi sagte den ganzen Weg zur Schule nichts. Erst als sie ausstieg teilte sie ihrer Mutter mit,was diese sicher wieder wütend machte: „Abholen brauchst du mich aber nicht! Ich kann schon ganz gut allein nach Hause gehen!“ Damit schlug sie die Tür zu und ging.
Den ganzen Vormittag verbrachte Lia in der Fußgängerzone. Das ganze Jahr lang war es schon so. Meistens hielt sie sich dort auf,wo viele Menschen waren. Die Leute ließen andauernd Geld fallen,aber statt es wieder aufzuheben gingen sie einfach weiter. Wie kann man bloß so verschwenderisch mit seinem Geld sein?, fragte sich Lia. Sie verstand die Leute nicht. Der Frau vor ihr fiel ein Geldstück runter. Kaum war sie ein Stück weitergegangen,schwupps,war Lia da und hob das Geldstück auf. Fünfzig Cent. Gar nicht schlecht. Wenn das so weiterging würde sie bald genug Geld zusammenhaben. Plötzlich hörte sie einen schrillen Pfiff. „He,Kleine,bleib sofort stehen!“ Oh nein,ein Polizist! Lia drehte sich um und rannte weg. Sie lief zwischen all den Menschen hindurch,keiner schaffte es,sie festzuhalten. Sie waren alle viel zu überrascht,als dass sie so schnell reagieren konnten. Wenn die Menschen zugriffen war Lia immer längst schon fünf Meter weiter. Sie kannte solche Verfolgungsjagden. Sie war damit aufgewachsen. Im laufen sah sie sich um. Der Polizist war ein paar Meter hinter ihr,er brauchte länger um durch die Menschenmasse zu kommen. Pech,wenn man groß und fett ist! ,dachte Lia grinsend. Dabei war der Mann gar nicht so dick. Die Menschenmasse lichtete sich. Sie war aus der Fußgängerzone draußen. Verdammt,jetzt holte der Polizist auf!Schnell bog sie in eine schmale Seitenstraße ein und duckte sich hinter ein Autowrack. Durch die Löcher,die wohl ehemals Fenster gewesen waren,sah sie,wie der Polizist stehen blieb und sich verwirrt umsah. Er nahm die Polizeimütze ab und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Lia kicherte. Der Mann schnaufte wie ein Walross nach einem Hundert-Meter-Sprint. Schließlich setzte der Polizist seufzend seine Kappe wieder auf und ging zurück Richtung Fußgängerzone. Lia hingegen stand auf,lief aus der Seitenstraße hinaus,drehte sich kurz in die Richtung,in die der Mann gegangen war,schnitt ihm eine Grimasse (die er natürlich nicht sah,er ging ja von ihr weg) und hüpfte dann,fröhlich pfeifend,mit ihrem Geld in der Hand nach Hause.
Den ganzen Morgen lang konnte Fabi sich nicht konzentrieren. Mit ihren Gedanken war sie schon bei ihrem Treffen mit Lia am Nachmittag. Endlich würde sie Lia´s Geschichte erfahren. Warum sie wohl allein lebte? Oder war sie vielleicht gar nicht allein? Hatte sie vielleicht irgendwo eine Familie? Mutter,Vater,vielleicht Schwester oder Bruder oder beides? Vielleicht war sie von zu Hause abgehauen? Oder war aus dem Waisenheim? Vielleicht waren auch ihre Eltern bei einem Unfall oder so gestorben und Lia musste sehen wie sie allein zu Recht kam? Nein,jetzt ging ihre Fantasie mit ihr durch. Wenn Lia´s Eltern tatsächlich gestorben waren,wäre Lia zu Verwandten,in eine Pflegefamilie oder ins Heim gekommen.
„Fabienn?!“ Fabi blickte auf. Die Lehrerin sah sie auffordernd an. „Äh...was haben sie gesagt?“ „Fabienn,du sollst zuhören und nicht vor dich hinträumen! Du passt doch sonst so gut auf! Bitte lies doch den ersten Abschnitt auf der Seite einhundertfünfundzwanzig vor.
Endlich war Schulschluss. Fabi packte ihre Sachen zusammen und wollte gerade zur Tür hinausgehen,als jemand sie anrempelte. „Hey,pass doch auf!,“ sagte sie,aber sie hielt schnell den Mund,als sie sah,dass es Marco gewesen war. Marco´s Eltern waren steinreich,er hatte immer die coolsten Klamotten und lud oft die ganze Klasse zu einer Party ein. Manchmal ging er auch mit verschiedenen Leuten ins Kino. Die Mädchen schwärmten alle für ihn. Nur Fabi hatte er noch nie eingeladen. Überhaupt wurde Fabi nie von irgendjemandem eingeladen. Alle nannten sie nur „Streberin“ oder „Mamakindchen“. Dabei lernte Fabi zu Hause gar nicht so viel. Ihr machte der Unterricht einfach Spaß. Da konnte sie doch nichts für. Kaum jemand mochte sie. Nur Leo,der war immer nett zu ihr. Naja,so nett wie es eben ging. Wenn nämlich jemand mit Fabi sprach,dann rief der Marco immer gleich: „Schaut mal,er redet mit der Streberin,er steht auf die Streberin!“ Und dann riefen es alle. Was Marco tat,das taten alle. Und da keiner seinen Ruf gefährden wollte,sprachen die Leute lieber nicht mit Fabi. Aber wenn Fabi mal wieder eine gute Note geschrieben hatte und alle spotteten,dann machte der Leo nie mit. Manchmal warf er ihr heimlich ein Lächeln zu,wenn es niemand sah. Ja,den Leo,den mochte Fabi.
„Na,Streberin,hast wohl geträumt heute! Von wem denn,vom Leo?,“ sagte Marco. Fabi wandte sich zum gehen: „Lass mich in Ruhe,Marco.“ Er hielt sie am Arm fest: „Ich soll dich in Ruhe lassen? Aber wieso denn? Ich tu doch gar nichts?“ „Fass mich nicht an,“ fauchte Fabi. „Uh,jetzt hab ich aber Angst!,“ spottete er. Die Kinder,die noch in der Klasse waren,lachten. Nur der Leo nicht. „Lass sie in Ruhe,Marco. Nur weil sie schlauer ist als du,musst du sie noch lange nicht ärgern!,“ sagte er. Alle sahen ihn erstaunt an,und für einen Moment lockerte sich Marco´s Griff an Fabi´s Arm. Fabi nutzte das,riss sich los und rannte weg. Sie hörte,dass jemand hinter ihr her lief. Sie rannte schneller,bog in eine der Gassen ein und versuchte sich zu orientieren. „Fabi! Bleib stehen! Warte doch,“ hörte sie jemanden rufen. Leo! Sie blieb stehen und drehte sich um. „Leo...,“ sagte sie verwundert. Sie war es nicht gewöhnt,dass jemand ihr nachlief,wenn Marco sie mal wieder geärgert hatte. „Ja,ich bin Leo,“ lachte er. „Warum hast du das getan?,“ fragte sie leise. Sie wusste,dass er wusste,was sie meinte. „Weil ich dich mag. Ich hab dich schon immer gemocht,vom ersten Schultag an,als ich dich zum ersten Mal gesehen habe.“ Er sagte es ihr einfach ins Gesicht,wurde nicht rot und sah nicht einmal beschämt zu Boden. Er gab es einfach zu. Fabi sah ihn an: „Du...magst mich? Und was ist mit Marco und den anderen? Sie werden dich ab jetzt nicht mehr mögen...Ich will nicht schuld daran sein,dass du keine Freunde mehr hast...“ „Ich hab dann ja dich. Wir können doch Freunde sein?“ „Ja...,“ antwortete sie leise. Es war neu für sie,so etwas gefragt zu werden. „Und,Fabi,“ er sah ihr in die Augen und nahm ihre Hände, „wenn die anderen wirklich meine Freunde sind,dann müssen sie auch damit klar kommen,dass ich dich gern hab. Fabi,ich...“ Fabi legte ihm einen Finger auf die Lippen. Sie wusste,was er sagen wollte;sie wollte es nicht hören. Klar,sie mochte den Leo,sehr gern sogar. Aber sie wollte nicht,dass er es sagte. Nicht diesen Satz. Nicht:Fabi,ich habe mich in dich verliebt. Als sie sicher war,dass er nichts sagen würde,nahm sie den Finger wieder von seinem Mund. Ihre andere Hand lag immer noch in seiner. Sie schaute einen Moment darauf,überlegte,ob sie es wollte. Doch dann fiel ihr ein,dass Leo alles für sie aufgeben müsste,seine Freunde,sein Ansehen,einfach alles,was ihm früher etwas bedeutet hatte. Nein. Sie konnte nicht mit dem Gewissen leben,ihm alles kaputtgemacht zu haben,so gern sie es auch wollte. Die Tränen schossen ihr in die Augen. „Fabi!Was ist denn los?“ Leo wollte ihr eine Träne aus dem Augenwinkel wischen,aber sie entriss ihm ihre Hand,stieß ihn weg,drehte sich um und rannte davon,weg,nur weg von ihm. Sie wollte nicht,dass er ihretwegen litt,wollte ihm nicht alles kaputtmachen. Blind vor Tränen lief sie durch die Gassen,bis sie schließlich stehen blieb und sich nahe der Stelle wiederfand,an der sie am Vortag Lia getroffen hatte. Sie ging ein Stück weiter bis zu dem Loch in der Wand,kletterte hindurch und ging den selben Weg wie gestern,bis zu Lia´s Zimmer. Leise klopfte sie an die Tür. Nichts. Noch einmal klopfte sie,ein bisschen lauter. „Suchst du was Bestimmtes?,“ fragte eine Stimme hinter ihr. Sie zuckte zusammen,drehte sich um und blickte direkt in Lia´s grinsendes Gesicht. „Musst du mich so erschrecken!“ Lia lachte. „Komm rein! Waren wir nicht eigentlich erst um vier verabredet?“ „Ja...aber...es passte halt gerade...“ „Deine Eltern wissen nicht,dass du hier bist, stimmt´s?“ Woher wusste sie das? Lia lachte wieder,als sie Fabi´s Gesicht sah: „Du bist ziemlich leicht zu durchschauen,aber jetzt komm,wenn du meine Geschichte hören willst!“ „Okay.“ Die beiden Mädchen gingen in den Raum und setzten sich wie in der Nacht auf die Matratze. Lia holte ein Stück Brot,riss es entzwei und gab Fabi die eine Hälfte. Dann begann sie zu erzählen: „Ich wurde als Baby in einem Weidenkorb vor die Haustür von einem alten Mann gelegt. Der Mann war ziemlich arm,seine Frau machte immer ein Riesentheater,weil es nie genug zu essen gab. Sie wollte mich nicht auch noch durchfüttern müssen. Doch der alte Mann hat mich von Anfang an geliebt. Er passte auf mich auf,vier Jahre lang. Dann machte er den Abgang.Seine Frau,die geizige Alte,benutzte mich zum betteln. Sie schickte mich früh morgens los in die Stadt. Dort musste ich den ganzen Tag lang stehen und betteln. Viele Menschen gaben mir Geld. Mit Kindern haben sie mehr Mitleid als mit Erwachsenen. Manchmal gaben sie mir auch was zu essen. Das aß ich immer sofort auf. Die Alte gab mir nicht viel zu essen,sie fraß alles allein. Wenn ich dann abends wiederkam,nahm sie mir sofort die Kohle ab. Wenn es zu wenig war schlug sie mich. Nachts nahm sie mich mit auf ihre Raubzüge. Viele Menschen lassen in der Nacht das Badezimmerfenster auf. Ich war klein und dünn,deshalb passte ich dort gut durch. Ich musste also durchs Badezimmerfenster in die Häuser klettern und der Alten von innen die Türen aufmachen. Dann kam sie rein und nahm alles Wertvolle,was sie finden konnte. Lange ging es nicht so. Nur etwa ein Jahr. Dann lief ich weg. Die Menschen,die wir bestahlen,taten mir Leid. Ich fand das Loch unten in der Wand und krabbelte durch. Hier lernte ich Corbinian kennen. Der ist uralt und kennt alle Armen und Obdachlosen,in der ganzen Stadt. Er lebt unten,in dem einzigen Raum dieser Häuser,den man abschließen kann. Ich glaube,er hat viel Geld. Frag mich nicht,warum er hier lebt,ich hab keine Ahnung,keiner weiß es. Aber er gibt uns essen,wenn wir etwas brauchen und er war immer lieb zu mir. Ein paar Wochen lebte ich bei ihm,dann bin ich hier hoch gezogen. Ich konnte mich ja nicht von Corbinian versorgen lassen...“ Damit endete ihr Redeschwall und ein langes Schweigen folgte. Schließlich fragte Fabi: „Und wovon lebst du?Hast du je wieder gestohlen?“ „Oft.Ich habe versucht,von dem Geld zu leben,das mir die Menschen gaben,aber mit der Zeit ist es weniger geworden. Ich sag´s ja: Mit den Kleinen haben sie mehr Mitleid. Irgendwann fing ich wieder an zu stehlen,schlitzte die Taschen auf und das Geld fiel mir direkt in die Hände. Aber dieses Jahr habe ich mir vorgenommen nicht zu stehlen. Ich sammle das Geld ein,das den Menschen runterfällt,und das ist nicht gerade wenig. Ich spare so viel ich kann,aber ab und zu muss ich halt auch was essen.“ „Wofür sparst du?“ „Na,für den Winter! Meinst du,ich will erfrieren?“ „Oh...ja...daran hab ich gar nicht gedacht...Aber...wenn du magst,ich kann dir eine Decke und eine Jacke vorbeibringen,Schuhe auch und eine lange Hose,alles was du brauchst!“ „Danke,das ist sehr lieb von dir,aber ich habe bald genug Geld,ich will nicht,dass du meinetwegen Ärger bekommst.“ Fabi hätte gerne widersprochen,aber sie verstand Lia. Das Mädchen fühlte sich wahrscheinlich gerade ungefähr so,wie sie sich vorhin gefühlt hatte,als Leo mit ihr redete. Die Mädchen sprachen noch lange,aber schließlich stand Fabi auf und verabschiedete sich. „Morgen bringe ich dir was zu essen mit,“ versprach sie.
Sobald Fabi weg war,lief Lia wieder in die Stadt. Sie brauchte Geld. Sie wollte nicht,dass Fabi ihr half. Natürlich war es echt nett von ihr,aber Lia wollte das allein schaffen. Sie konnte Fabi´s Hilfe nicht annehmen. Aber etwas zum Essen brauchte sie trotzdem. Also lief sie durch die Fußgängerzone. Es waren nur noch wenig Leute unterwegs,aber Geld lag trotzdem einiges herum. Meistens nur Cent-Stücke,aber manchmal hatte sie Glück und fand einen Euro.Sie suchte weiter,bis es dunkel wurde,dann rannte sie mit ihrer Beute nach Hause.
Als Fabi zur Tür hinein kam,kam ihr ihre Mutter entgegen. „Mein Gott,Fabi,da bist du ja,ich hab dich überall gesucht,hab deine halbe Klasse durchtelefoniert! Wo warst du denn bloß? Ich hab mir solche Sorgen gemacht!“ Sie schloss Fabi in die Arme und küsste sie auf die Wangen. Fabi befreite sich ärgerlich: „Mama! Ich bin kein kleines Kind mehr! Nur weil ich mal etwas später nach Hause komme musst du nicht gleich eine Suchaktion starten!“ Ihre Mutter sah sie verständnislos an: „Was soll das heißen? Ich habe doch keine Suchaktion gestartet. Und wie redest du überhaupt mit mir? Wenn du nach der Schule nicht nach Hause kommst,darf ich mir ja wohl mal Sorgen machen!“ Ihre Worte waren während sie sprach immer lauter und ärgerlicher geworden, „Und wie siehst du schon wieder aus? Du gehst jetzt sofort ins Bad und machst dich sauber,am besten gehst du gleich baden,und danach kommst du runter,zum Abendessen. Sobald Papa da ist reden wir!“ Böse ging Fabi nach oben.Das ihre Mutter so überreagieren musste! Warum war sie auch nicht Mittags einfach nicht zu Hause,sondern arbeiten,wie andere Mütter auch? Immer machte sie sich Sorgen. Fabi,tu dies nicht,Fabi,tu das nicht! Nie durfte sie irgendwas,immer musste sie in der Nähe ihrer Mutter sein! Wenn die jemanden brauchte,auf den sie den ganzen Tag aufpassen konnte,sollte sie sich halt einen Hund anschaffen,oder einfach noch ein Kind kriegen! Hauptsache sie hatte keine Zeit,sich den ganzen Tag Sorgen um Fabi zu machen! Immer noch böse stieg Fabi in die Badewanne. Jetzt kamen ihr andere Gedanken: Was sollte sie ihren Eltern erzählen? Wenn sie ihnen die Wahrheit sagte,nämlich dass sie den ganzen Nachmittag mit einem Straßenmädchen verbracht hatte,und sogar in der Nacht zu ihr gegangen war,dann würde sie den Hausarrest ihres Lebens bekommen und ihre Mutter würde sie nicht mehr aus den Augen lassen. Als wäre Lia irgendetwas Schlimmes,ein Monster. Sie war doch auch nur ein Mensch!
Das Abendessen verlief vorerst ohne jedes Wort,doch dann ging die dämliche Fragerei los,auf die Fabi nicht die geringste Lust hatte. „Fabi. Wo warst du?,“ fragte ihr Vater eindringlich. Fabi sah schweigend auf den Tisch. Ihr Vater nahm ihre Hand: „Weißt du eigentlich,welch schreckliche Stunden das für mich waren,nachdem deine Mutter mich angerufen und erzählt hatte,dass du weg warst? Wir haben uns Sorgen gemacht.“ Fabi sah ihn böse an. „Das ist es ja eben! Ihr macht euch viel zu viele Sorgen!Immer wollt ihr wissen,wo ich bin! Ich habe mein eigenes Leben! Ich bin nicht mehr das niedliche zweijährige Mädchen,das immer jemanden braucht,der auf es aufpasst! Ich komme allein klar!,“ schrie sie. Ihre Eltern warfen sich einen verblüfften Blick zu,dann wandten sie sich wieder zu ihr. Diesmal war es Fabi´s Mutter,die nach ihrer Hand griff: „Fabi...das hättest du uns doch sagen können. Wir wussten nicht,wie es dir geht. Wenn du meinst,wir machen uns zu viele Sorgen,dann sag es doch einfach. Wir konnten doch nicht wissen,was in dir vorgeht.“ „Ich will halt auch mal mit Freunden ins Kino gehen ohne dass alle zwei Minuten mein Handy klingelt und ihr fragt wie es mir geht. Ich brauch keinen mehr,der immer auf mich aufpasst,ich kann selbst auf mich aufpassen. Und wenn ich mal zu spät nach Hause komme,dann müsst ihr euch nicht gleich Sorgen machen. Ich will einfach mal mein Leben leben. Aber das geht nicht,wenn ihr mich andauernd im Blick haben müsst. Ich brauche auch mein Privatleben. Und wenn doch mal was passiert,dann könnt ihr eh nichts dagegen machen,egal ob ihr ein paar Sekunden vorher noch mit mir telefoniert habt. Wenn etwas passiert,dann passiert es,da könnt ihr nichts gegen tun. Dann passiert es einfach. Lasst mir einfach mal ein bisschen Freiheit,oder ist das auch zu viel verlangt?“ Das alles hatte sie ganz ruhig und leise gesagt. Ohne ein weiteres Wort stand Fabi auf und ging in ihr Zimmer. Dort zog sie sich um und legte sich ins Bett. Aber einschlafen konnte sie nicht. Sie dachte an alles,was passiert war. Leo,der in sie verliebt war; Lia´s Geschichte; ihre Eltern...Es war so wenig und doch so viel. Es klopfte leise an der Tür. Fabi blieb still liegen. Die Tür öffnete sich. „Fabi?“ Fabi drehte sich um und sah ihre Mutter an. Sie kam zu ihr und setzte sich auf die Bettkante: „Fabimaus. Natürlich verstehen wir dich. Und wenn du sagst,du kannst auf dich selbst aufpassen,dann glauben wir dir das. Aber weißt du,wenn man jemanden liebt,dann will man auf ihn aufpassen,will verhindern,dass ihm etwas zustößt. Ich werde mir weiterhin Sorgen machen,wenn ich nicht weiß,wo du bist,aber ich werde dir deine Freiheit lassen. Deine Freiheit und deine Geheimnisse. Wenn du meinst,es geht uns nichts an,wo du warst,dann musst du es nicht erzählen. So,und jetzt schlaf. Ich glaube,das hast du dringend nötig.“ Lächelnd gab sie Fabi einen Kuss und ging dann aus dem Zimmer. Und als sie die Tür hinter sich schloss,war Fabi schon ein geschlafen.
Es war dunkel in dem alten Gemäuer. Doch Lia war das gewöhnt. Oft war die Sonne schon längst untergegangen,wenn sie nach Hause kam und das Licht der Straßenlaternen reichte nicht bis in die Zimmer des verlassenen Bürohauses. Lia schlich vorsichtig durch die kalten Gänge. Sie wurde beobachtet,sie spürte es ganz deutlich. Sie blieb stehen und drehte sich langsam im Kreis. Wo war der Beobachter? Wer war es? Sie hörte ein Poltern. Dann war das unangenehme Gefühl weg. Gemeinsam mit dem Beobachter. Lia ging nachdenklich in ihr Zimmer. Wer war das gewesen? Warum hatte er sie beobachtet? Was wollte er von ihr? Sie legte sich auf ihre Matratze,aber an Schlaf war nicht zu denken. Wenn jemand sie beobachtet hatte würde er vielleicht wiederkommen wenn sie schlief. Würde ihr das lang gesparte Geld klauen oder Schlimmeres. Nein,schlafen konnte Lia diese Nacht nicht. War es Albert gewesen? Hatte er von Fabi erfahren und wollte wissen ob sie noch hier war? Oder der Polizist vom Vormittag? Vielleicht auch Fabi? Nein,eher nicht. Warum sollte sie ihr nachspionieren? Die ganze Nacht grübelte Lia darüber nach,wer das da unten gewesen war,aber als es langsam wieder hell wurde,hatte sie immer noch keine Lösung gefunden.
„Fabi,aufstehen mein Engel! Es ist ein wunderschöner Tag!“ Fabi drehte sich zu ihrer Mutter um und blinzelte ins Licht. „Ich hab aber keine Lust...,“ murrte sie. Ihre Mutter lachte und ging aus dem Zimmer. Seufzend stand Fabi auf und zog sich an. Sie kämmte ihr widerspenstiges Haar und klemmte die vorderen Strähnen mit einer Spange zur Seite. Dann lief sie in die Küche,wo ihre Mutter schon Frühstück machte. „Da bist du ja,“ sagte ihr Vater,der wie immer hinter seiner Zeitung verschwunden war. Fabi murmelte etwas von: Ja klar,muss ja zur Schule.
Nach dem Frühstück raste sie wieder nach oben und holte ihre Schultasche. Dann zog sie ihre Jacke an,rief noch: „Ich bin weg!“ in die Küche und war schon auf dem Weg nach draußen,als ihre Mutter ihr nachkam: „Ist es nicht ein bisschen früh?“ Fabi drehte sich genervt zu ihr um: „Hatten wir nicht eine Abmachung?“ „Oh,ach ja,dein Geheimnis...Darf ich wenigstens wissen,ob du heute nach der Schule nach Hause kommst?“ „Weiß ich noch nicht!“ Und damit war Fabi zur Tür hinaus. Sie wollte vor der Schule noch bei Lia vorbeischauen. Doch anscheinend war ihr das nicht gegönnt. Vor dem Gartentor stand Leo. Er lächelte sie an: „Hey Fabi! Ich dachte,du freust dich bestimmt,wenn ich dich abhole und du nicht allein gehen musst!“ Falsch gedacht,dachte Fabi. Normalerweise mochte sie den Leo ja,aber das hier ging ja wohl wirklich zu weit! Kaum war sie ihre Eltern los,kam er und wollte auf sie aufpassen! Sie atmete tief durch: „Leo...das ist ja echt nett von dir,aber ich...ähm...ich muss da noch was erledigen...“ „Was denn?“ „Äh...Bäckerei! Ich muss noch zur Bäckerei,mir ein Crossaint kaufen,für die Pause!“ „Da kann ich doch mitkommen!“ Oh,verdammt!Was sollte sie denn jetzt sagen? „Äh...Ja!“ Was?! Ja?? Das war ja mal das Dämlichste was sie sagen konnte! Was war denn in sie gefahren? Sie wollte ihn loswerden,nicht die ganze Zeit am Hals haben! Schnell verbesserte sie sich: „Ähm,NEIN! Also,ich meine...das ist echt richtig lieb von dir,aber das ist eine streng geheime Sache! Darf niemand wissen! Du kannst leider nicht mitkommen!“ „Es ist eine streng geheime Sache,dass du zur Bäckerei gehst?“ „Ja! Äh...Nein! Natürlich nicht...“Und damit ließ sie den verwirrten Leo stehen und rannte Richtung Lia.
Lia streifte durch die dämmrigen Gänge und suchte nach brauchbaren Dingen. Tausende Male war sie auf Streifzügen durch die verlassenen Häuser auf Dinge gestoßen,die man noch gut gebrauchen konnte,aber trotzdem fand sie jedes Mal etwas neues. Die Gebäude waren so groß und so verwirrend,dass Lia in den vier Jahren,die sie schon hier lebte,immer noch lange nicht alles erkundet hatte. Heute hatte sie einen Tisch mit drei Beinen und einen Stuhl gefunden. Den Tisch hatte sie liegengelassen,vielleicht würde sie ihn irgendwann einmal reparieren. Gerade war sie dabei,den Stuhl die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer zu bringen,als sie ein Geräusch hörte. Da kam jemand. Der Beobachter von letzter Nacht? Sie blieb stumm stehen und lauschte. Wer auch immer da war,er schien ein bestimmtes Ziel zu haben. Die Schritte waren schnell und zielstrebig. Dann bog die Person ins Treppenhaus ein. Es war Fabi. „Was schleppst du denn da mit dir herum?,“fragte sie. „Fabi! Du hast mich vielleicht erschreckt! Warum bist du nicht in der Schule? Naja...eigentlich hast du ja recht. Ich würde an deiner Stelle auch nicht zur Schule gehen. Lehrer sind ja wohl die dämlichsten Geschöpfe dieser Welt,direkt nach Jungs. Die sind noch schlimmer als Lehrer...“ „Natürlich gehe ich gleich zur Schule,wollte nur mal bei dir vorbeischauen. Aber warum findest du Jungs und Lehrer so schrecklich?“ Lia verdrehte die Augen: „Na,wieso wohl! Lehrer verstehen kein Wort wenn du mit ihnen redest,sie labern dauernd nur so Zeugs,was sie dir beibringen wollen und haben verdammt viel Einfluss auf dich und dein Leben.Wenn du einmal ´ne schlechte Note hast,weil der Lehrer dich fies bewertet hat,dann machen deine Eltern gleich ´nen Riesenaufstand! Du kannst einem Lehrer nicht mal deine Meinung sagen,weil er dich dann noch fieser bewertet und dann kriegst du später ´nen schlechten Job und so. Und Jungs sind noch schlimmer! Die Typen sind so verdammte Klugscheißer! Immer müssen sie alles besser wissen und wenn sie mal ´nen Fehler machen,geben sie´s noch nicht mal zu! Außerdem können sie nix,kapieren nix und sind zu doof,sich normal auszudrücken! Hast du mal versucht,dir von so ´nem Vollidioten was erklären zu lassen? Ich hab mal so ´nen Obercoolen nach dem Weg gefragt. Und was hat der Typ mir erzählt? „Hey Kleine,mach die Augen auf,denn siehste auch den Weg. Na,egal. So,halt´s Maul,dann erklär ich´s dir: Da vorne Egge links – dabei hat er nach rechts gezeigt – denn die nächste wieder links – dabei hat er nicht nach rechts gezeigt – und denn noch ´n paar Medder und du du bist da! Und jezz verpiss dich und mach hinne,sonst kriegste ´n Arschtritt!“ Also meinst du,ich hab auch nur ein Wort verstanden? Ich meine,ich war da grad mal fünf! Echt,so idiotisch,´nem kleinen Mädchen so den Weg zu erklären,kann doch nur ein Junge sein. Und sie sind alle gleich! Alles unfähige,unlogische,vollidiotische,egoistische,arschgefickte Volltrottel die von nix,aber auch gar nix, ´ne Ahnung haben!“
Das ganze sagte sie so schnell,dass Fabi Mühe hatte,alles zu verstehen. Aber als Lia endete,wusste sie nicht,was sie davon halten sollte. Waren Lehrer wirklich so schlimm? Ihr war das bis jetzt noch nicht aufgefallen. Und Jungs waren doch gar nicht so schrecklich. Also,einige natürlich schon,aber der Leo zum Beispiel,war der denn auch so? Nein,ganz bestimmt nicht. Dabei war er doch auch ein Junge! Unsicher sah sie Lia an. „Was ist?,“ fragte diese, „Was starrst du mich so an?“ Schnell wandte Fabi den Blick ab: „Nichts. Komm,ich helf´ dir,aber dann muss ich auch los.“ Zusammen versuchten sie Mädchen,den Stuhl über die verfallene Treppe ins zweite Stockwerk hinauf zu bringen. Es war schwer, gleichzeitig auf den Stuhl und auf die Stufen zu achten und schließlich rutschte Fabi ab,trat an eine falsche Stelle und krachte mitsamt der Stufe nach unten. „Dreimal verdammte Gammelkacke!,“ hörte sie Lia von oben. Sie stand auf und klopfte sich ab. Außer ein paar blauen Flecken hatte sie sich nichts getan. „Alles in Ordnung!,“ rief sie nach oben,wo Lia immer noch fluchte. Sie versuchte,nicht auf die Wörter zu achten,die diese dabei von sich gab und schaute sich stattdessen um. Es war stockdunkel,aber mit der Zeit gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit und sie stellte fest,dass sie in einer Art Gang gelandet war. Boden und Wände waren aus groben Steinen gemauert,an den Wänden konnte sie Fackelhalterungen erkennen.In einigen steckten noch Fackeln,die aber natürlich aus waren. Es sah aus,wie in einem uralten Film. „Lia!,“ schrie sie nach oben, „Hol´mich hier raus! Das ist echt gruselig hier unten!“ „Sekunde! Hier ist nichts,womit ich dich hochholen könnte...warte kurz,ich hole Hilfe!“ Dann hörte Fabi ihre Schritte auf der Treppe und sie war allein. Sie sah nach rechts und links. Der Gang sah überall gleich aus. Dunkel,unheimlich,bedrohlich. Fabi bekam Angst. Sie drückte sich eng an die Wand und sah sich wieder nach allen Seiten um. Hätte Lia ihr wenigstens das Feuerzeug dagelassen,dann hätte sie eine der Fackeln anzünden können und es wäre vielleicht nicht mehr ganz so unheimlich gewesen. Nach einer Ewigkeit,wie es ihr schien,hörte sie endlich Lia´s leichtfüßigen,leisen Schritte,gefolgt von lauten,polternden. Das musste wohl dieser Corbinian sein,von dem Lia erzählt hatte. „Fabi,keine Angst,Corbinian ist hier,er holt dich da raus!“ Fabi wartete einen Moment,dann hörte sie eine tiefe Männerstimme „Achtung!“ rufen und ein Seilende kam von oben herab. Lia´s Gesicht erschien oben in dem Loch: „Gut festhalten,Fabi!“ Fabi ergriff das Seil und merkte,wie ihre Füße sich vom Boden hoben und sie langsam nach oben gezogen wurde. Als sie endlich oben war und wieder festen Boden unter den Füßen hatte,sah sie sich ihren Retter genauer an. Er war groß und dick,hatte einen grauen Vollbart und eine Kapitänsmütze auf. Aus seinen eisblauen Augen sah er sie gutmütig an: „Du bist also Lia´s Freundin.“ Fabi nickte. Corbinian wollte gerade weiterreden,da fiel Lia ihm ins Wort: „Corbinian! Sie muss doch in diese sinnlose Schule! Du kannst ihr später noch deine Fragen stellen!“ Der alte Mann lachte dröhnend: „Ja,mein Mädchen,da hast du mal wieder recht!“ Fabi fing Lia´s Blick auf. Sie wollte ihr von dem Gang unter der Treppe erzählen. Doch Lia verstand sie nicht: „Los! Raus jetzt! Sonst kommst du zu spät!“ „Zu spät komm´ich sowieso...,“ murrte Fabi,ging dann aber doch nach draußen,verabschiedete sich flüchtig von Lia und Corbinian und düste dann zur Schule.
„Lia,meine Güte! Weißt du eigentlich,in welche Gefahr du das Mädchen bringst?“ Lia sah schuldbewusst zu Boden. Corbinian war ärgerlich. Wegen ihr. Weil sie Fabi in Gefahr brachte. Fabi dürfte nie hier gewesen sein. Die dunklen Gassen und Bürohäuser bargen so viele Gefahren. Da war einmal Albert. Er könnte hinter jeder Ecke lauern;sie überfallen. Dann das,was heute passiert war. Fabi hatte Glück gehabt,dass ihr nichts passiert war. Die Häuser waren einfach schon zu alt,zu baufällig,als das ein zehn-jähriges Mädchen darin spielen durfte. Klar,sie selbst war auch erst neun,aber sie war ein Straßenmädchen. Es interessierte keinen,wenn sie sich auf der Treppe das Genick brach. Sie hatte keine Familie mehr,die sie liebte. Hatte sie nie gehabt. Sie hatte nur Corbinian und Fabi. Und wenn Fabi heute morgen etwas zugestoßen wäre,hätte sie Schuld gehabt. „Lia,schau mich an! Das Mädchen darf hier nie wieder her,hörst du! Wenn ihr hier etwas passiert,werden wir dafür beschuldigt! Uns glaubt niemand,unsere Meinung zählt nicht,nein,wenn Fabi sich hier etwas antun würde,könnte ich dafür in den Knast wandern,und du ins Kinderheim!“ „Ich weiß. Ich pass auf. Sie kommt hier nicht mehr rein!,“ sagte Lia mit fester aber trauriger Stimme.
Fabi stand vor der Tür zu ihrem Klassenzimmer. Sie holte noch einmal tief Luft,dann klopfte sie. „Herein!,“ ertönte die Stimme der Lehrerin. Fabi öffnete langsam die Tür und trat mit gesenktem Kopf ein: „Entschuldigen sie bitte die Verspätung,“ sagte sie leise,ohne dabei aufzublicken. „Fabienn!,“ die Lehrerin war entsetzt, „Mein Gott,Mädchen,was ist denn passiert?“ Sie eilte zu Fabi und fasste sie besorgt an den Schultern. Fabi sah sie verwirrt an. Was sollte denn passiert sein? „Fabienn,erzähl,was war los,wurdest du überfallen?“ Die Lehrerin hockte sich vor sie,um ihr ins Gesicht sehen zu können. Da ging Fabi ein Licht auf. Sie sah wohl doch nicht so unversehrt aus,wie sie sich fühlte. Zögernd sah sie an sich herunter. In ihrer Strumpfhose war ein Loch,ihre Arme voller Schrammen und überall waren Staub und Dreck. Entsetzt sah sie die Lehrerin an. „Nichts...ähm...nichts ist passiert. Gar nichts.“ „Fabienn,du musst die Wahrheit sagen! Wenn hier ein Verbrecher herumläuft,der Grundschulkinder zusammenschlägt,dann müssen wir das der Polizei melden. Verzweifelt suchte Fabi nach einer Ausrede. „Nein,es gibt keinen Verbrecher! Ich...ich bin nur hingefallen!“ „Fabienn,du musst keine Angst haben. Wenn er dir gedroht hat,dann darfst du davor nicht zurückschrecken! Wenn du nichts sagst,ergeht es vielleicht bald noch anderen Kindern so wie dir! Ich ruf sofort deine Eltern an.“ Fabi wusste nicht was sie tun sollte. Wie konnte sie sich da bloß wieder rausreden? „Nein!,“ schrie sie. Die Lehrerin wandte sich zu ihr um. „Sie dürfen meine Eltern nicht anrufen! Es ist wirklich nichts passiert! Mir geht es gut!“ Seufzend steckte die Lehrerin das Handy wieder ein. „Also gut,heute kommst du noch einmal so davon,aber wenn du nächstes Mal wieder so aussiehst,dann verständige ich dein Eltern!“ Fabi atmete erleichtert auf und setzte sich an ihren Platz. Leo warf ihr einen besorgten Blick zu. Fabi sah unsicher zurück. Warum war sie bloß vor der Schule zu Lia gegangen!
Endlich klingelte es. Fabi stand auf und ging aus der Klasse. Auf dem Gang holte Leo sie ein: „Was ist passiert? Wo warst du heute Morgen?“ Trotzig drehte das Gesicht von ihm weg: „Es geht dich nichts an!“ „Fabi,bitte! Du kannst mir doch vertrauen! Ich sag auch nichts der Lehrerin! Bitte sag mir was los war.“ Fabi war mit ihren Gedanken längst schon wieder ganz woanders. Was war das für ein Gang gewesen,unter der Treppe? Sie musste am Nachmittag unbedingt wieder zu Lia. Aber erst musste sie nach Hause und das versprochene Essen holen. „Fabi! Bitte!“ Verwirrt sah sie Leo an. „Was hast du gesagt?“ „Wo warst du heute morgen?“ „Bei einer Freundin.“ WAS? Was hatte sie da gerade gesagt? Oh Gott! Warum redete sie immer einfach ohne nachzudenken,wenn Leo dabei war? Sie hätte sich ohrfeigen können. Jetzt war er es,der etwas verwirrt aussah: „Ich denke,du wolltest zur Bäckerei?“ „Warum fragst du denn dann?“ Leo kratzte sich im Nacken und schwieg geschlagen.
An diesem Nachmittag war Lia nicht in der Fußgängerzone. Sie lag traurig auf ihrer Matratze und überlegte,wie sie Fabi davon abhalten konnte,weiterhin herzukommen. Sie wollte Fabi nicht einfach ins Gesicht sagen: Du kannst hier nicht mehr her,es ist zu gefährlich. Sie würde es nicht verstehen,sie würde sagen: Ich bin doch sogar älter als du,es ist nicht zu gefährlich für mich. Den ganzen Vormittag überlegte sie,wie sie es ihrer Freundin beibringen sollte,aber als sie schließlich Fabi´s Schritte im Treppenhaus vernahm,hatte sie immer noch keine gute Erklärung gefunden.Fieberhaft versuchte sie,auf die schnelle wenigstens noch eine etwas vernünftig klingende Erklärung zu finden,aber es dauerte nur einige Sekunden,bis sie Fabi´s Klopfen an der Tür hörte und seufzend: „Komm rein!,“ rief.
Lia hatte vor,Fabi einfach direkt zu sagen,was Sache war,doch dazu kam sie gar nicht. Fabi stürmte zur Tür herein und rief: „Lia,komm sofort mit,ich wollte es dir heute morgen schon zeigen,aber da hatte ich ja keine Zeit und...“ „Fabi!Bleib mal ruhig! Sag einfach,was los ist. Geht die Welt unter?“ Fabi strich sich die Haare aus dem Gesicht und sagte aufgewühlt: „Komm mit.“ Dann ging das Mädchen zur Tür hinaus. Lia stand kopfschüttelnd auf und folgte ihr. Bei dem Loch in der Treppe blieb Fabi stehen: „Da unten,“ sie zeigte hinunter, „ist ein Tunnel,ein Geheimgang. Es sieht uralt aus,mit Fackeln an den Wänden und so. Das musst du dir ansehen!“ Lia sah Fabi ungläubig an. Ein Geheimgang? Und sie wusste nichts davon? Konnte das sein? Natürlich kannte sie nicht alles in diesen Gebäuden,aber von einem Geheimgang hätte sie doch gewusst. Sie kniete an dem Loch und starrte angestrengt in die Dunkelheit. Es war nichts zu erkennen. Sie schaute Fabi an: „Komm mit.“ Die Mädchen rannten die Treppe vorsichtig wieder hinauf und liefen zurück in Lia´s Zimmer. Dort fingen sie aufgeregt an zu reden. „Also,wir brauchen Licht. Fackeln sind dort,ja? Dann brauch ich nur mein Feuerzeug. So,dann noch ein Seil, Hoffentlich schaffen wir es,da runter zu kommen. Was brauchen wir noch?“ „Ich hab was zu essen in meinem Rucksack,“ sagte Fabi und kramte eine Tüte mit Obst aus ihrer Tasche. „Warte!,“ sagte Lia, „Pack mal deine Tasche aus,wir tun alles rein,was wir brauchen.“ Hektisch begannen die beiden zu packen: Lia´s Feuerzeug; die Tüte Obst; das Seil; eine Flasche Wasser; die etwas zerfetzte Decke von Lia´s Schlafplatz. Dann setzte Fabi den Rucksack auf und die beiden liefen wieder zur Treppe. Corbinian´s Worte waren vergessen. Lia zog das Seil durch einen Ring,der fest in der Wand verankert war. Sie zog es soweit hindurch,dass auf beiden Seiten etwa gleichviel von dem Seil war. Dann hielt sie sich an beiden fest und kletterte langsam hinunter. Unten angekommen rief sie hinauf: „Komm Fabi,es ist ganz leicht!“ Fabi´s zweifelndes Gesicht erschien in dem Loch. Dann verschwand es wieder und Lia sah nur noch Füße. Sehr gut. Sie hatte bezweifelt,dass Fabi sich trauen würde,am Seil runterzuklettern. Als auch Fabi wieder festen Boden unter den Füßen hatte zog Lia an einer Seite des Seils,so lange,bis das ganze Seil runterfiel. Erst dann fiel ihr ein,wie dumm das gewesen war. Naja,irgendwie würden sie schon wieder hoch kommen. Sie stopfte das Seil in den Rucksack,nahm das Feuerzeug heraus,lief zur Wand und zündete eine der Fackeln an. Das flackernde Licht erhellte den Tunnel etwas,aber es machte ihn auch noch gruseliger. Ängstlich drängte Fabi sich an Lia. Diese schaute nach rechts,nach links und entschied sich dann,nach rechts zu gehen. Nach einer Weile kamen die beiden Mädchen an eine Gabelung. Wieder entschied sich Lia für rechts. Zögerlich tappte Fabi dicht hinter ihr. „Lia?“ „Hm?“ „Was ist,wenn wir nicht mehr zurück finden?“ „Lass mich mal machen. Ich war schon an ganz anderen Orten. Ich find´ schon wieder hier raus.“ Fabi schwieg. Lia fand das gut. Sie wollte Fabi nicht noch mehr Angst machen,deshalb sagte sie ihr nicht,dass sie in Wirklichkeit keine Ahnung hatte,ob sie hier je wieder rausfinden würde,aber sie dachte lieber positiv. Irgendeinen Ausweg gab es immer. Die Mädchen gingen eine ganze Weile nur geradeaus,es schien,als würde der Gang nie enden. Doch dann,als sie schon aufgeben und umdrehen wollten,kamen sie plötzlich an eine Tür. Lia drehte sich zu Fabi um: „Jetzt wird’s spannend!“ Fabi sah sie ängstlich an: „Sollen wir da wirklich reingehen?“ „Na logo! Was soll denn schon passieren,hier war seit Jahren kein Mensch mehr! Vielleicht finden wir sogar einen Schatz oder so was!“ „Vielleicht gehört das hier alles jemandem...“ „Mann,Fabi,jetzt sei nicht so ein Angsthase! Das einzige Lebewesen,das uns hier begegnen könnte,ist ´ne Ratte!“ Das zu sagen war ein Fehler von Lia. „Eine...Ratte?!,“ kreischte Fabi. Lia verdrehte genervt die Augen: „Ich frage mich echt,wie du es geschafft hast,mitten in der Nacht zu mir zu kommen,nur um mir was zum Futtern zu bringen! Vor Ratten musst du jetzt echt keine Angst haben. In den Gassen,durch die du immer läufst,wimmelt es nur so von ihnen!“ Verunsichert schaute Fabi sie an. Lia drehte sich zur Tür um und drückte die Klinke runter. Langsam öffnete sie die Tür. Dann drehte sie sich noch ein letztes Mal zu Fabi um und ging in das Zimmer.
Die Fackel warf einen flackernden Schein auf alles. Dunkle,gruselige Schatten tanzten an der Wand. Fabi sah sich unbehaglich um. Ihr war das alles nicht geheuer. Gegenüber der Tür stand ein Schrank,rechts ein Tisch mit einem Stuhl und links eine Matratze. Lia durchsuchte den Schrank und sah sich überall um. Fabi ließ ihren Blick weiter durch das Zimmer wandern,über die Wände,die genau wie der Gang,aus grobem Stein waren. Doch dann kam ihr ein Gedanke und ihr Blick schnellte zu der Matratze zurück. Eine Matratze? Matratzen brauchte man doch nur... „Lia! Hier wohnt jemand!,“ flüsterte sie ihrer Freundin aufgeregt zu. Lia wandte sich zu ihr um. Fabi deutete auf die Matratze: „Hier würde wohl kaum eine Matratze liegen,wenn sie keiner brauchen würde! Außerdem: Schau dich mal um! Siehst du irgendwo Staub?“ Lia schaute sich um,dann sah sie wieder Fabi an. Ihr Gesichtsausdruck war erschrocken. Eine Weile starrten sich die Mädchen nur geschockt an. Dann drehte sich Lia um,winkte Fabi,dass sie mitkommen sollte und rannte aus dem Raum heraus. Fabi erwachte aus ihrer Starre und lief ihr nach. „Lia! Warte! Wo rennst du denn hin?“ Lia lief etwas langsamer und holte tief Luft. Fabi hatte das Gefühl,dass irgendetwas nicht so war,wie es sein sollte.
Lia atmete ein paarmal tief durch,dann erzählte sie Fabi von ihrem schrecklichen Verdacht: „Fabi. Der Raum dahinten...ist das Zuhause von Albert.“ Fabi sah sie fragend an. „Albert ist ein Verbrecher. Er verdient sich sein Geld durch Diebstähle und ich glaube,er hat auch schon Schlimmeres getan!“ „Woher...woher weißt du das?,“ fragte Fabi tonlos. „Der Schrank gegenüber der Tür...darin war wertvoller Schmuck und teure Weinflaschen und sicher noch viel mehr! Das gehört Albert nicht! Der Typ ist arm wie...wie ich.“ Die letzten Worte sagte sie leise und traurig. Eigentlich hatte sie „wie ´ne Kirchenmaus“ sagen wollen,aber es war besser,nicht immer zu versuchen zu vertuschen,was sie wirklich war: ein obdachloses,armes Waisenkind. Genau wie Albert. Sie war genauso wie er,auch sie würde einmal so enden. Kinder,die schon arm auf die Welt kommen,werden immer arm bleiben,sie haben keine Chance. Lia kannte Alberts Geschichte. Auch er war arm gewesen,von klein auf. Seine Mutter war früh gestorben und sein Vater hatte sich immer betrunken. Das letzte Geld,das die Familie gehabt hatte,war für den Schnaps draufgegangen. Albert hatte eine kleine Schwester gehabt,Elisabeth. Sie war damals gerade zwei Jahre alt gewesen,Albert erst zehn. Er hatte die Kleine immer vor den Schlägen des Vaters beschützt und dafür selbst noch mehr abbekommen. Irgendwann war er mit Elisabeth von zuhause abgehauen. Ein halbes Jahr später hatten die beiden erfahren,dass ihr Vater gestorben war. Das war jetzt ungefähr sechs Jahre her. Corbinian hatte Lia die Geschichte von Albert und Elisabeth erzählt,weil sie nicht glauben wollte,dass auch Albert einmal gut gewesen war. Corbinian hatte gesagt,Albert sei genau wie sie gewesen. Er hatte auch nie stehlen wollen. Doch irgendwann hatte er die Hoffnung verloren,dass alles wieder gut werden könnte. Corbinian meinte,das war,weil Elisabeth gestorben war. Die Kleine,die damals erst vier gewesen war,hatte Hunger und Kälte nicht mehr ausgehalten und war krank geworden. Keiner war da,der sich um sie kümmern konnte. Natürlich hatte Corbinian sie gepflegt,aber er hatte ihr nicht mehr helfen können und so war Elisabeth dann gestorben. Albert hatte sich seit ihrem Tod immer mehr dem Schlechten zugewandt. Er hatte wieder angefangen zu stehlen und unter den Obdachlosen ging das Gerücht herum,dass er sogar einmal ein Kind entführt hatte. Aber Keiner wusste,ob es stimmte. Albert wollte natürlich auch niemand fragen,denn der wollte seine Ruhe und er konnte sehr aggressiv werden,wenn ihn jemand so was fragte. Lia hoffte,sie würde nicht so enden wie Albert.
Fabi riss sie aus ihren Gedanken. „Was machen wir denn jetzt?“ Lia legte einen Finger an die Lippen und lauschte. Sie hörte leise Schritte. „Wir laufen!“ rief sie,nahm Fabi´s Hand und rannte los. Bei der Wegbiegung liefen sie nach links. Sie rannten an dem Loch in der Treppe vorbei,dort kämen sie sowieso nicht hoch. Sie liefen und liefen. Lia wusste,dass Albert ihnen hinterher war,auch wenn sie ihn nicht hörten. Er war ein Meister,wenn es darum ging,nicht aufzufallen. Er bewegte sich leise und geschmeidig wie eine Katze und er bekam alles mit,was hinter geschlossenen Türen geredet wurde. Die Mädchen kamen an eine Wegbiegung. Lia zögerte einen Moment,dann entschied sie sich wieder einmal für rechts. Sie rannten weiter und kamen abermals an eine Tür. Lia öffnete sie ohne langes Nachdenken und zog Fabi hinein. Hinter der Tür blieben die Mädchen stehen. Als Albert durch die Tür sauste,in der Mitte des Raumes stehen blieb und sich suchend umsah,schlichen Lia und Fabi lautlos wieder aus dem Raum heraus,zogen die Tür zu und Lia drehte schnell den Schlüssel im Schloss um. Die Mädchen sahen sich an und dann fingen sie an zu lachen. „Gib mir Fünf!,“ rief Lia und hielt Fabi die Hand hin. Fabi schlug ein. Dann hörten sie ein Klopfen an der Tür: „Lia! Lass mich raus! Das Zeug da im Schrank gehört mir nicht! Ich wohne dort,aber die Sachen habe ich da nicht rein! Wirklich nicht! Lass mich raus,ich habe dir doch nichts getan!“ Lia zog eine Augenbraue hoch: „Du hast mir nichts getan? Wer war das denn dann,der mir damals ein Bein gestellt hat und ich mir das Handgelenk verstaucht habe? Und wer wollte mich in einem dunklen Raum einsperren,ohne Essen,bloß weil ich Vollidiot zu ihm gesagt habe? Und wer kam in mein Zimmer und hat mir mein Brot geklaut? Und wer...“ Weiter kam Lia nicht. „Ist ja gut,ist ja gut!,“ kam es durch die Tür, „Es tut mir Leid! Das war nicht nett von mir! Ich werd´s nie wieder tun! Ich verspreche es dir! Aber bitte lass mich hier raus!“ Lia drehte sich zu Fabi: „Hast du das gehört? Er kann „Bitte“ sagen!“ Die Mädchen lachten. „Wiederhole das mal! Wir haben das nicht verstanden!,“ rief Lia spöttisch durch die Tür. „Lia! Bitte!“ „Na gut,“ Lia wurde wieder ernst, „aber sag mir erst,ob es stimmt,was die Leute sagen!“ „Was sagen denn die Leute?,“ fragten Albert und Fabi gleichzeitig. Fabi fragte es neugierig,Albert kläglich. „Hast du wirklich mal ein Kind entführt?“ „Nein! Das stimmt nicht! Wie kommst du denn darauf? Ich doch nicht! Lia,du kennst mich doch!“ „Ja,eben...,“ murmelte Lia. „Komm mit,“ sagte sie und zog Fabi mit sich. „Lia!,“ hörten sie Albert rufen,aber sie reagierte nicht darauf. „Warum lassen wir ihn nicht raus?,“ fragte Fabi. „Er hat gelogen. Er hat wirklich mal ein Kind entführt.“ „Woher weißt du das?“ „Sagt er doch: Ich kenne ihn! Ich merke das,wenn er lügt. Wir gehen zur Polizei.“ „Aber du hast keine Beweise.“ „Doch. Ich wette,an dem ganzen Zeug,das er in seinem Schrank hat,sind Fingerabdrücke. Er hat mich so oft fertiggemacht,jetzt mache ich ihn fertig. Und vielleicht gibt es ja doch keine Fingerabdrücke,dann kommt er nicht mal ins Gefängnis.“ Bei der Weggabelung gingen die Mädchen wieder nach rechts. Nicht den Weg,den sie gekommen waren. Und tatsächlich: Nach einer weiteren Biegung sahen sie Licht. Tageslicht. Sie fingen an zu rennen und schließlich kamen sie zu der Lichtquelle. Eine Leiter führte nach oben. Schnell kletterten sie hoch. Sie fanden sich auf einer Wiese wieder,außerhalb der Stadt,mitten im Gebüsch. Schnell schlugen sie sich hindurch. Ab da übernahm Fabi die Führung.
Die Mädchen liefen quer über die Wiese und dann Richtung Stadt. Dort angekommen rannten sie zur Polizei. Doch als sie schon davor standen fiel Fabi etwas ein: „Wir sollten dir erst was andres zum Anziehen besorgen.“ „Oh,ja! Verdammt,das hab ich doch glatt vergessen. Meine Güte! Seit fünf Jahren laufe ich jetzt quer durch diese Stadt,mit mindestens drei Verfolgungsjagden in der Woche! Und dann vergesse ich einfach,dass ich mich vor denen nicht zeigen darf!“ „Warum darfst du dich vor ihnen nicht zeigen?,“ wollte Fabi wissen. „Weil sie mich dann ins Waisenhaus stecken.“ Also drehten die Mädchen schnell um und liefen zu Fabi nach Hause. Deren Eltern waren am Nachmittag sowieso beide nicht da und darum konnten die beiden ungestört in Fabi´s Zimmer nach passenden Klamotten suchen. Sie wuschen sich schnell die Gesichter,dann kämmte Fabi hastig Lia´s Haare. Sie zogen sich um und dann waren sie auch schon wieder auf dem Weg zur Polizeistation. Sie rannten hinein. Der Polizist hörte sich aufmerksam an was die Mädchen zu erzählen hatten,dann rief er nach einem anderen. „An der Geschichte ist was dran,“ sagte er, „schaut euch das mal genauer an.“ Der andere nickte,setzte seine Mütze auf und winkte dann den Mädchen mitzukommen. Sie setzten sich in das Polizeiauto und fuhren aus der Stadt hinaus. An der Wiese stiegen sie aus und liefen in das Gebüsch. Dort stiegen sie die Leiter wieder hinunter in den Gang. Die Fackel,die Lia in einen der Fackelhalter gesteckt hatte,brannte noch und so nahm Lia sie und die Mädchen führten den Polizisten zu Albert. „Lia?,“ hörten sie Alberts hoffnungsvolle Stimme. Der Polizist sah Lia an: „Und du sagst,das ist ein Verbrecher?“ „Meinen Sie,ich hätte mir sonst die Mühe gemacht,ihn einzusperren?“ „Also gut!,“ lachte der Polizist, „Nur leider kann ich da ohne Beweise nichts machen.“ Lia schaute ihn genervt an: „Ich bin nicht völlig blöd! Kommen Sie mit,ich zeig ihnen Beweise!“ Von Albert hörten sie nichts mehr. Ihm hatte es wohl die Sprache verschlagen,dass Lia wirklich zur Polizei gegangen war. Lia und Fabi führten den Polizisten zu Albert´s Versteck. „In dem Schrank da!,“ sagte Lia und zeigte zum Schrank. Der Polizist ging hin und öffnete ihn. Was er sah,verschlug ihm die Sprache. Lia blieb cool: „Und,hab ich zu viel versprochen?“ „Da...das...das ist...unheimlich wertvoll...ich...ich ruf sofort meine Kollegen an...“ „Das lassen Sie besser!,“ hörten sie eine Stimme von hinten. Fabi erschrak zu Tode und sie konnte sich nicht vorstellen,dass es den anderen anders erging. Sie drehte sich um und sah Corbinian. „Corbinian!,“ rief Lia. „Allerdings,“ brummelte der Alte. „Was machst du denn hier?“ „Das wollte ich eigentlich dich fragen! Was fällt dir eigentlich ein! Du kannst doch nicht hier herumlaufen und unschuldige Männer in den Knast bringen!“ „Aber Albert ist nicht unschuldig!,“ rief Lia empört. „Doch,das ist er!,“ donnerte Corbinian,er war böse, „Und jetzt halt den Mund!“ Der Polizist griff ein: „Also ist der Mann,den die Mädels hier eingesperrt haben,unschuldig?“ „Ja,er hat mit all dem hier nichts zu tun!“ „Wer war es dann?,“ fragte der Polizist. „Das kann Ihnen am besten er hier sagen!,“ sagte Corbinian und zog einen Jungen in den Raum. „Leo!,“ rief Fabi überrascht. Er warf ihr ein schnelles Lächeln zu. Dann wandte er sich zu dem Polizisten: „Es war mein Vater...“ Fabi sah ihn entgeistert an. Leo zeigte seinen eigenen Vater an? Aber war es denn nicht Albert gewesen? „Dein Vater,“ sagte der Polizist. „Ja,“ Leo redete mehr mit dem Boden als mit dem Polizisten. „Und woher weißt du das?“ „Ich habe ihm nachspioniert...“ Fabi konnte es immer noch nicht fassen. „Und wo wohnt dein Vater?“ „Rebenstraße fünf.“ „Okay,Kinder,ihr kommt mit.Und Sie lassen am besten erst mal ihren Albert frei und erklären ihm das Missgeschick!“ Traurig und enttäuscht gingen die drei Kinder dem Polizisten nach. Als sie endlich wieder im Auto saßen fuhren sie zu Leo nach Hause. Fabi hatte keine Möglichkeit,mit Leo zu reden,die ganze Zeit stellte der Polizist ihm Fragen. Endlich waren sie da. Sie gingen hinein und fanden Leo´s Vater in seinem Arbeitszimmer. Erstaunt sah er auf: „Leo! Was machst du denn hier? Und warum kommst du mit einem Polizisten?“ „Papa...ich weiß,was du getan hast. Und ich verstehe,warum du es getan hast,aber sonst wäre ein Unschuldiger wegen dir ins Gefängnis gekommen...“ Tränen liefen Leo über die Wangen. Der Polizist wandte sich zu Leo´s Vater: „Sie sind vorerst festgenommen.“ Dann legte er ihm Handschellen an und die beiden Männer verließen das Haus. Die Kinder hörten das Auto abfahren. Fabi ging zu Leo und nahm ihn in die Arme. „Du hast das Richtige getan,“ sagte sie. Sie spürte wie Leo nickte. „Ähm,Leute,sorry,dass ich euch störe,aber ich hätte das jetzt ganz gern aufgeklärt...,“ meinte Lia. Leo schluckte,dann begann er zu erzählen: „Also,neulich,nach der Schule,als ich mit dir geredet hab,Fabi,weil Marco dich wieder geärgert hatte,da bist du plötzlich so schnell weggerannt. Ich bin dir hinterher und dann warst du plötzlich verschwunden. Ich hab die Gassen ein bisschen durchsucht und das Loch in der Wand gefunden. Dann bin ich durch und hab die Fußspuren am Boden gesehen. Dann war alles klar. Du warst da drin. Aber ich hatte Angst,du wärst sauer,wenn du mich beim spionieren erwischen würdest,also bin ich zurück nach Hause. Mein Vater war so komisch und plötzlich ist er rausgerannt und weggefahren. Ich bin ihm mit dem Fahrrad nach. Er ist auf die Wiese außerhalb der Stadt gegangen und in den Gang. Ich bin ihm gefolgt. Dann war er unten in dem Raum mit dem Schrank. Ich hab mich versteckt und ihn beobachtet. Er hat irgendwas in den Schrank getan. Als er weg war hab ich nachgeguckt was es war und das ganze Zeug gefunden. Danach wollte ich erstmal nicht nach Hause. Es war schon dunkel,darum dachte ich,du wärst bestimmt schon wieder zu Hause. Also bin ich zurück in die Gasse. In dem Bürohaus bin ich den Spuren gefolgt und hab Lia gesehen. Ich hab sie kurz beobachtet bis mir klar wurde,dass du bei ihr gewesen warst. Am nächsten Morgen wurde alles noch deutlicher. Als ich dich abholen wollte hast du dich rausgeredet. Mir war klar,dass du zu deiner Freundin wolltest und nicht zur Bäckerei. Als du dann so dreckig warst als du zur Schule kamst,dachte ich,es musste etwas passiert sein. Ich hatte Angst,dass ihr beiden vielleicht meinen Vater beobachtet hattet und er euch erwischt hat oder so. Also bin ich euch nach der Schule gefolgt. Ich konnte euch allerdings nicht nachkommen in den Gang,weil ich kein Seil hatte. Also bin ich die Treppe runtergerannt und irgendwie muss ich dabei ziemlich Lärm gemacht haben. Jedenfalls stand plötzlich Corbinian vor mir,der wissen wollte,wer da diesen Krach macht. Als ich merkte,dass er euch kennt hab ich ihm alles erzählt und wir haben ein Seil aus seinem Zimmer geholt und sind euch hinterher. Fragt mich nicht wie er es geschafft hat da runterzuklettern. Wir haben gemerkt,dass ihr Albert im Verdacht hattet und als ihr dann mit dem Polizisten wiederkamt,war mir klar,dass ich erzählen musste,was ich wusste. Ja,und den Rest kennt ihr...“ Kurz schwiegen die drei. Dann meinte Leo: „Wir müssen zu Corbinian.“ Sie liefen raus und rannten quer durch die Stadt zu den Bürohäusern. Als sie an Corbinian´s Zimmer ankamen klopfte Lia und rief: „Corbinian! Mach auf! Wir sind´s!“ Die Tür wurde aufgemacht und Corbinian stand vor ihnen. „Na,da habt ihr ja ganz schönen Mist gebaut.“ Die Mädchen sahen zu Boden. Corbinian zog die drei ins Zimmer. Albert saß am Tisch. Da war der Moment des Schämens für Lia auch schon vorbei: „Er hat aber wirklich ein Kind entführt!“ Corbinian legte ihr beschwichtigend eine Hand auf die Schulter: „Ja,Lia,ich weiß,er hat mir alles erzählt. Aber wie oft hast du denn schon gestohlen,weil du hungrig warst?“ „Das ist ganz was anderes!“ „Ja,natürlich ist es was anderes,aber Albert hat sich gebessert. Er hat eingesehen,dass er Mist gebaut hat und er wird es wieder gutmachen. Aber wir zeigen uns doch nicht gegenseitig an!“ Darüber dachte Lia einen Moment lang nach,dann sagte sie: „Ja...na,gut. Sorry Albert.“ „Ist schon okay,Lia,ich war auch nicht immer nett zu dir.“ Lia schaute ihn einen Moment lang an. Dann fragte sie: „Warum bist du uns unten im Gang nachgerannt?“ „Weil ich dachte,es wäre der Mann gewesen,der das Zeug in meinem Schrank versteckt hat. Er konnte ja nicht wissen,dass ich da wohne,aber blöd fand ich´s trotzdem.“ „So,“ sagte Corbinian, „dann ist ja jetzt alles geklärt. Ich glaube,es ist das Beste,wenn Leo und Fabi jetzt nach Hause gehen. Es ist schon spät.“ Da hatte Fabi eine Idee: „Lia,wie wär´s,wenn du bei uns zu Abend isst?“ „Ja,dann habe ich mich wenigstens nicht umsonst so gut angezogen!“ Sie lachten. Leo verabschiedete sich von ihnen: „Ich muss heim,meiner Mutter alles erzählen...“ „Viel Glück!,“ sagte Fabi und sah ihm einen Moment in die Augen. Dann lief er raus. Auch die Mädchen verabschiedeten sich. Sie wollten bei Fabi sein,bevor deren Eltern heimkamen. Als sie ankamen liefen sie sofort in Fabi´s Zimmer. Ab da stand Lia unter Fabi´s Befehl: Zuerst musste sie duschen. Währenddessen suchte Fabi ihr andere Klamotten raus. Dann kämmte und föhnte sie Lia´s langes Haar und flocht es zu zwei Zöpfen. „So siehst du ganz anders aus. Meine Eltern werden dich sofort gern haben!“ „Ich sehe gar nicht aus wie ich!,“ maulte Lia. Fabi lachte. Auch sie hatte sich inzwischen umgezogen. „Oh,meine Eltern kommen,ich hab die Tür gehört!,“ sagte Fabi, „Komm,wir gehen runter!“ Sie liefen die Treppe runter. „Hallo Mama,hallo Papa!,“ rief Fabi. „Hallo Fabi! Oh,du hast Besuch!“ „Ja,ich hab sie zum Abendessen eingeladen,ist doch okay,oder?“ „Ja,natürlich,mein Schatz.“ Das Abendessen war schnell gemacht und dann saßen sie auch schon alle um den Esstisch. „Wie heißt du denn überhaupt?,“ fragte Fabi´s Mutter. „Liana,“ sagte Lia. „Liana,was für ein schöner Name! Und bist du in Fabi´s Klasse?,“ fragte Fabi´s Mutter weiter. „Ähm,nein,Parallelklasse!,“ sagte Fabi schnell. Das Abendessen verlief außer den ewigen Fragen gut. Danach verabschiedete sich Lia und lief nach Hause. Fabi hatte gewollt,dass sie die Klamotten anlässt,aber Lia wollte unbedingt ihre eigenen Sachen anziehen. Wenigstens die Zöpfe hatte sie so gelassen wie sie waren. Lia war ein echter Sturkopf!
Am nächsten Morgen holte Fabi Leo zur Schule ab. „Und? Wie war das Gespräch mit deiner Mutter?,“ fragte sie. „Sie ist völlig fertig. Kann sich das gar nicht vorstellen. Aber Dad konnte halt nicht anders. Er musste ja irgendwie an Geld kommen. Seit er seine Arbeit verloren hat ist bei und nur noch Stress. Mum arbeitet als Putzfrau,aber das bringt nicht genug ein. Und ich kann mit meinem Zeitungaustragen auch nicht viel helfen. Vielleicht wird jetzt alles besser,vielleicht auch schlechter. Ich weiß es nicht. Jedenfalls will Mum sich einen besseren Job suchen,damit ich nicht mehr diese doofen Zeitungen austragen muss. Vielleicht bringt das dann genug ein. Aber Hauptsache ist doch,dass meine Mum bei mir bleibt. Ich will nicht so enden wie Albert. Oder Lia...“ Fabi schwieg. Er hatte recht. Ihr tat Lia auch Leid. Sie war immer allein gewesen,hatte keine Familie. Aber sie war mit ihrem Leben zufrieden,hatte sich ihm angepasst.
Nach der Schule gingen Leo und Fabi zu Lia. Es wurde ein lustiger Nachmittag. Auch Albert kam vorbei. Er hatte ihnen verziehen. Selbst Leo vergaß seine Sorgen,als Lia mal wieder einen ihrer Witze über Albert machte,er aber konterte und Lia ganz geschockt war. Für den Abend hatte Fabi sich etwas ganz besonderes ausgedacht: Sie hatte von zu Hause einen Picknickkorb mit lauter leckeren Dingen mitgebracht. Die Kinder bereiteten alles vor und holten dann Albert und Corbinian dazu.
„Was ist jetzt eigentlich mit Marco und deinen anderen Freunden?,“ fragte Fabi Leo. „Scheiß auf Marco und seine anderen Freunde! Wir sind viel cooler!,“ rief Lia. Sie lachten und Leo nickte zustimmend: „Da hat sie allerdings recht,ausnahmsweise mal!“ Er zwinkerte und sie lachten wieder. Nur Lia nicht. Sie spielte beleidigt: „Was soll das denn jetzt heißen?“ „Naja...vielleicht...dass du ein bisschen...wie soll ich sagen...dumm bist?“ Lia sprang auf und jagte Leo durchs ganze Zimmer,bis sie ihn schließlich einfing und ihm eine Ohrfeige gab. „Siehst´e mal,besser dumm als schwach! Außerdem habe ich immer recht!,“ lachte sie. Dann setzten sie sich wieder zum Essen. Lia sah Corbinian einen Moment lang nachdenklich an,dann sagte sie: „Fabi und Leo dürfen mich doch weiter besuchen, oder? Es ist nicht mehr zu gefährlich.“ „Gefährlich schon, aber ich denke, die beiden sind vorsichtig genug,“ erwiderte Corbinian lächelnd. Fabi dachte nicht weiter darüber nach, sondern redete wieder mit Leo und Albert. „Lia?,“ sagte Corbinian nach einer Weile. „Was gibt’s?“ „Meintest du nicht mal, die, die Geld haben sind eh alle doof?“ „Öhm...meinte ich das?“ „Jaa! Bevor du Fabi kennengelernt hast!,“ sagte jetzt auch Albert. „Hm...dann hab ich mich wohl geirrt...“ „Siehst du? Schon wieder hast du dich geirrt! So viel zu: Du hast immer recht!,“ spottete Leo. „Siehst du Fabi,“ meinte Lia, „ich hab´s dir doch gesagt: egoistische,vollidiotische,unlogische,unfähige – und so weiter – Volltrottel!“ Fabi lachte. Das würde noch lustig werden, mit den beiden. Sie war so froh wie noch nie. Endlich hatte sie Freunde. Zwar waren sie ganz anders als sie selbst, aber sie verstanden sie und sie konnte ihnen vertrauen und sie waren einfach die Allerallerbesten.
Auch Lia war vollkommen zufrieden mit ihren neuen Freunden. Fabi konnte sie immer alles erzählen und Leo konnte sie immer ein bisschen ärgern. Es war alles perfekt.
Selbst Leo war glücklich. Zwar saß sein Vater im Gefängnis und seine Mutter hatte keine richtige Arbeit,aber er hatte Freunde. Wahre Freunde.
Bei Freunden kommt es nämlich nicht darauf an, ob sie viel Geld haben, wie Marco, oder ob sie einen bewundern, wie die anderen aus Fabi´s und Leo´s Klasse Marco bewundern. Bei Freunden kommt es darauf an, dass man ihnen vertrauen kann und sie gern hat, dass man mit ihnen lachen kann aber auch weinen, wenn man traurig ist, und dass man einfach alles zusammen machen kann. Und man sollte nicht sofort aufgeben, wenn man mal Streit mit seinen Freunden hat, sondern man sollte für sie kämpfen. So wie Leo für Fabi kämpft. Denn wenn man Freunde hat, sieht die Welt gleich viel besser aus. So wie bei Albert. Zwar hat er seine Schwester verloren und ist vom rechten Weg abgekommen, aber er hat, dank seinen neuen Freunden, wieder den auf den richtigen Weg zurückgefunden. Freunde sind einfach das Wichtigste der ganzen Welt und manchmal gar nicht so selbstverständlich wie man immer denkt. Es gibt tausende Freundschaften auf dieser Welt, die keine echten Freundschaften sind. Viele Menschen sie nur befreundet, weil sie das als Vorteil sehen, nicht weil sie den anderen mögen. Viele Menschen reden heimlich über seine sogenannten Freunde. Aber es gibt auch einige Freundschaften, die ganz echt und ehrlich sind. In solchen Freundschaften kann man dem anderen alles erzählen, ihm vertrauen, mit ihm weinen oder lachen und man respektiert ihn. Man kann mit ihm alles machen, und vielleicht auch ab und zu mal streiten, denn Streit gibt es überall mal.
Nur das ist echte Freundschaft. Alles andere ist falsch.
Freunde sind das Wichtigste und das Wertvollste was es überhaupt gibt.
Tag der Veröffentlichung: 08.03.2011
Alle Rechte vorbehalten