Wie jeden Morgen in der Woche klingelte Linas Wecker und riss sie aus ihrer Traumwelt. Mit jedem Klingeln des Weckers kamen die traurigen Erinnerungen zurück.
Mühsam rappelte sie sich auf und ging in ihr Badezimmer, blickte in den kleinen Spiegel über dem Waschbecken und guckte schnell wieder weg.
Lina stellte sich unter die Dusche und machte das Wasser an. Das stetige Rauschen beruhigte sie. Doch zu lange mochte sie auch nicht duschen – aus Angst ihren Stiefbruder zu wecken.
Nach dem sie sich fertig abgetrocknet hatte suchte sie nach Klamotten für die Schule. Lina entschied sich für ein dunkelblaues Langarmshirt und eine hellblaue enge Hose, die ihre besten Tage auch schon hinter sich hatte.
Schnell lief sie noch einmal ins Bad, versuchte die blauen Flecke in ihrem Gesicht mit Make-up zu verdecken und tuschte auch noch ein wenig ihre langen Wimpern.
Danach lief sie schnell, aber leise, die Treppe runter und schmierte sich ein Brot für den Schultag. Lina riss im gehen die Jacke von der Garderobe und verschwand eilig aus dem Haus, um zur Schule zu gehen.
Seit drei Monaten ging das nun schon so. Jeden Morgen die gleiche Routine.
Drei Monate war es jetzt schon her, dass Linas Mutter und ihr Stiefvater bei einem Motorradunfall ums Leben kamen. Zwei Tage nach der Beerdigung stand ein junger Mann vor ihrer Tür und erklärte ihr, dass sie ab nun bei ihm leben würde. Er, ihr Stiefbruder. Lina hatte ihn nur einmal gesehen und an diesen Tag erinnerte sie sich, als wäre er erst gestern passiert und nicht vor vier Jahren.
Es war der Tag der Hochzeit von seinem Vater und ihrer Mutter.
Die Zeremonie sollte gerade beginnen, alle waren schon leise und guckten voller Erwartung zu der Tür, aus der ihre Mutter gleich kommen sollte.
Doch plötzlich wurde die schöne Ruhe von dem Geknatter von Motorrädern durchbrochen. Jeder drehte sich in die Richtung des störenden Geräusches. Auf jedem der drei Motorräder saß eine Person, nein, auf dem ersten Motorrad saßen Zwei. An den Fahrer klammerte sich eine blonde Frau. Die Motorräder wurden abgestellt und die drei Fahrer nahmen ihre Helme ab. Zum Vorschein kamen ein Kopf mit schwarzen Haaren, einer mit dunkelblonden und einer ohne Haare. Eine Glatze. Lachend blickten sie in die Runde und gingen auf Frank, Linas Stiefvater, zu, der schon am Traualtar stand. Lachend schlug der schwarzhaarige Mann Frank auf die Schulter und redete so laut, dass es jeder hören konnte: „Alter Fränky, dass ich von dir mal einen Brief bekomme hätte ich nie gedacht. Und du heiratest. Welche Frau will dich schon haben, dich alten Säufer.“ Frank war dies alles furchtbar peinlich und wischte die Hand von seiner Schulter: „Wäre es nach mir gegangen, hättest du überhaupt keine Einladung bekommen und jetzt sieh zu, dass du und deine….deine Freunde von hier verschwindet. Ich möchte in Ruhe meine Hochzeit feiern.“
Überrascht hatte Lina Frank angeschaut. So kannte sie ihn gar nicht. Frank war immer total lieb zu ihr und brachte ihr andauernd Geschenke von seinen Reisen mit. Frank war nämlich Pilot. Und Lina hatte ihn auch noch nie mit einem Bier in der Hand gesehen, deshalb verstand sie nicht, warum der schwarzhaarige Mann ihn einen „Säufer“ genannt hatte.
Die Motorradfahrer und die blonde Frau gingen nach unten und setzten sich demonstrativ in die erste Reihe, wo noch die Plätze für Lina und die Freundinnen ihrer Mutter frei gewesen waren. Frank wollte schon zu den Motorradfahrern hingehen, als plötzlich die Musik anging und der Brautmarsch erklang. Linas Mutter Susanne schwebte die Treppe hinunter, begleitet von ihren beiden Freundinnen. Lina setzte sich in Bewegung und begann die Blumen zu streuen. Sie war für die Hochzeit ihrer Mutter das Blumenmädchen. Mit ihren 13 Jahren freute sie sich schon die ganze Woche darauf. Als sie ihren Korb leer hatte ging sie einen Schritt zur Seite, um ihre Mutter durchzulassen. Diese stellte sich neben Frank und die Zeremonie begann.
Lina lächelte bei dem Anblick, den ihre Mutter und Frank abgaben. Sie freute sich so für die beiden. Sie drehte sich um, wollte sich auf ihren Stuhl in der ersten Reihe am Rand setzen, stieß jedoch nur gegen ein paar Beine. Erschrocken dreht sie sich um und blickt in die braunen Augen des schwarzhaarigen. Dieser lächelt ihr Charmant zu und zwinkerte. Lina drehte sich erschrocken zu ihrer Mutter um, doch die hatte nur Augen für Frank. Lina war total überfordert, wusste nicht wo sie hingehen sollte. Der schwarzhaarige Mann schien dies zu bemerken und hob Lina hoch und setze sie auf seine Knie. Stocksteif saß sie da. Sie kannte den Mann nicht und hatte vorhin vor lauter Aufregung gar nicht mitbekommen, dass er sich auf ihren Platz gesetzt hatte.
Doch nach ein paar Minuten war es Lina egal, dass sie bei einem völlig fremden Mann auf dem Schoß saß. Sie lehnte sich zurück und genoss die Zeremonie.
Nach der Zeremonie brach jedoch die Hölle aus. Mittlerweile wusste Lina, dass der Schwarzhaarige Franks Sohn war und Tristan heißt. Doch Frank war alles andere als begeistert, als er Lina auf Tristans Schoß sitzend entdeckte. Er riss Lina dort runter und stampfte mit ihr ins Haus, die Gäste blieben alle im Garten. Im Haus begann er Lina anzuschreien, dass sie sich nicht einfach bei fremden Männern auf den Schoß setzen solle.
Lina verstand die Welt nicht mehr und rannte weinend auf ihr Zimmer. Von unten hörte sie laute Stimmen, danach das erneute Geknatter von den Motorrädern, das sich immer weiter entfernte. Traurig setzte sie sich ans Fenster und schlief dort bald ein.
Nach diesem Tag hatte Lina Tristan nie wieder gesehen und Frank hatte nie mit ihr über ihn geredet. Dies war jetzt alles vier Jahre her. Lina war mittlerweile 17 Jahre alt.
Der plötzliche Tod von ihrer Mutter und ihrem Stiefvater hat sie sehr mitgenommen. Als dann auch noch Tristan vor ihrer Tür stand und ihr erzählte er sei nun ihr Vormund war sie wie vor den Kopf gestoßen. Sie kannte ihn gar nicht und dachte sie würde bei ihren Nachbarn wohnen. Doch diese Gedanken ließ Tristan wie eine Seifenblase platzen, in dem er darauf bestand, dass sie mitkam. Zu dem plötzlichen Tod kam nun auch noch der Umzug in eine neue, weit entfernte Stadt. Mit ihrer Mutter und Frank hatte sie in einem kleinen Örtchen im Norden von Deutschland gelebt nach dem Umzug von München nach Flensburg. Mit Tristan würde sie in eine Stadt nach England ziehen. Sie wollte aber nicht mit und es brach ein Streit zwischen ihr und Tristan aus, der damit endete, dass er Lina eine Backpfeife gab. Mit großen, voll mit Tränen gefüllten Augen hatte sie ihn angeguckt und war ins Haus gegangen.
Tristan war ihr gefolgt ohne ein Wort zu sagen. Lina hatte wortlos ihre Sachen gepackt. Zusammen verstauten sie sie im Auto und fuhren los. Nach langer Zeit des Schweigens schlief Lina ein.
Als sie aufwachte, lag sie in einem fremden Bett. Erschrocken richtete sie sich auf. Alles wirkte so fremd auf sie. Nach einiger Zeit schlich sie sich aus dem Zimmer und begegnete Tristan. „Wo bin ich hier?“, fragte sie ihn schüchtern. Seine Antwort war sehr kurz: „Bei mir!“ und er ging weg.
Lina rannte in das Zimmer und weinte.
So vergingen die restlichen drei Monate. Tristan redete kaum mit ihr und sie ging ihm so gut es ging aus dem Weg. Abends veranstaltete er oft Partys zu denen eine Menge Leute kamen. Jede Nacht nach den Partys hörte sie Tristans Gestöhne und das von immer einer oder mehreren anderen Frau.
Lina wollte nur noch nach Hause, aber das ging nicht. Tristan war nun ihr Vormund. Lina hatte oft blaue Flecken am Körper und im Gesicht, da sie sich noch immer nicht an ihr neues zu Hause gewöhnt hatte. Nachts lief sie im Dunklen über den Flur, aus Angst einer der Partygäste könnte sie sehen. Dabei stieß sie immer und oft gegen Gegenstände oder rannte gegen Türen.
Das Haus war riesig.
Lina hatte morgens schon eine Routine entwickelt, die sie total anödete.
Auch diesen Morgen war es wieder das Gleiche – fast das Gleiche.
Nach dem sie ihr Brot für die Schule geschmiert hatte, klopfte es an der Tür. Lina wunderte sich, denn sonst kam nur abends Besuch, wenn Tristan wach war.
Langsam ging sie auf die Tür zu und öffnete sie. Draußen blickte Lina sich um. Dort stand keiner. Komisch, dachte sie sich. Gerade als sie die Tür wieder schließen wollte kam eine Hand um die Ecke geschossen und drückte die Tür wieder auf. Erschrocken schrie Lina auf und blickte nach oben. Dort stand ein riesiger Mann, der sie ungeniert von oben bis unten musterte. Lina war dies sehr unangenehm und grübelte darüber nach, wer der Fremde wohl war und was er wohl wollte. Keiner von beiden sagte ein Wort. Der Fremde schob sich an Lina vorbei und trat ins Haus ein. Hinter sich schloss er die Tür und Lina fühlte sich augenblicklich unwohl mit diesem großen Kerl in dem Flur. „Was wollen sie? Und was fällt ihnen eigentlich ein hier einfach hereinzukommen?“, fragte sie und versuchte ihre Stimme stark klingen zu lassen, damit der Fremd ihre Angst nicht bemerkte. Es misslang ihr aber gründlich, denn ihre Stimme zitterte leicht.
Der Fremde guckte sie nur sarkastisch lächelnd an: „Ich will Tristan sprechen!“. „Er schläft noch und möchte um diese Uhrzeit nicht gestört werden…“, antwortete Lina ausweichend. Normal bekam Tristan nie um diese frühe Zeit Besuch. Warum hielt sich dieser riesige Mann nicht an Tristans Regeln? Der Riese antwortete ihr harsch: „Das ist mir doch egal, er wird schon eine Ausnahme machen für mich. Los, geh und weck deinen Freund.“
Lina machte sich lieber auf den Weg, denn sie hatte trotz den Schlägen weniger angst vor Tristan als vor diesem fremden, riesigen Kerl.
Ängstlich klopfte sie an die Zimmertür von Tristan…. Sie bekam keine Antwort. Erneut klopfte sie, dieses Mal etwas stärker und somit lauter.
Von innen kam nur ein grummeln und leises stöhnen.
’Was soll ich denn nur machen? Ihn wecken oder dem Riesen sagen er ist nicht da?’ Lina war völlig verzweifelt. Was würde das kleinere Übel sein?
Der Riese machte ihr schon angst, aber auch Tristan konnte sehr aggressiv sein, wenn er gestört wurde….
Lina entschloss sich dazu, ihren Stiefbruder zu wecken.
Leise öffnete sie die Zimmertür und schaute sich in dem halb dunklen Zimmer um. Sie war vorher noch nie in einem anderen Raum gewesen als in ihrem eigenen, dem Bad, der Küche und den Wohnzimmer. Das hört sich nach vielen Räumen an, doch das haus wo sie jetzt lebte ist vier Mal so groß wie die Wohnung von ihren Eltern und ihr.
Schließlich entdeckte sie das Bett ihres Stiefbruders und schlich leise in die Richtung. Doch bevor sie auch nur einen Meter vor dem Bett stand, in dem Tristan und seine neuste Eroberung lagen, bewegte sich ein Schatten vor ihren Augen und sie spürte wie ihr eine Waffenöffnung in die Wange gedrückt wurde. Vor Schreck erstarrt stand sie wie angewurzelt auf der Stelle und traute sich nicht einmal zu atmen. Langsam beweckte sich der Schatten von ihrer Seite nach vorne. Sie schaute auf und blickte in Tristans Augen. „Verdammt, Lina. Was machst du hier?! Ich hatte dir gesagt mein Zimmer und mein Bad, sowie die Garage sind Tabu für dich. Was machst du hier?“, schrie er sie an. Zzzacckk, hatte sie eine Ohrfeige sitzen. Lina schloss die Augen und unterdrückte die Tränen, „I…Ich…. Ich wollte dich nicht stören. Ich schwöre es. Aber d….“, „Nichts ’ABER’“, wurde sie von ihrem Stiefbruder unterbrochen, „Verschwinde von hier, du störst mich!“. „Aber da ist ein Mann Tristan. Er macht mir angst und sagt er will dich sprechen. Er ist so riesig und behauptet ich sei deine Freundin.“. sprudelte es nur so aus Lina raus.
Tristan guckte sie mit zusammengekniffenen Augen an, „Was? Wieso hast du die Tür einfach geöffnet?“ „Ich….ich wusste nicht, dass ich jetzt nicht mal mehr die Türe öffnen darf…“, flüsterte Lina leise. Tristan schaute sie ein paar Minuten einfach nur an. ’Was er wohl jetzt über mich denkt?’, fragte sie sich. ’Eigentlich mag ich ihn ja ganz gern, wenn er nur nicht immer so schnell ausrasten würde. Vielleicht sollte ich ihn bei einem
Anti-Aggressions-Training anmelden’. Den letzten Gedanken tat sie mit einem Schmunzeln im Gesicht ab. Tristan drehte sich daraufhin um und ging zur Wohnungstür. Lina drehte sich zu der fremden Frau im Bett. Diese schaute Lina aufmerksam an und musterte sie von oben bis unten bevor sie ein abfälligen Ton von sich gab, aufstand und sich anzog. Lina ging schnell aus dem Raum. Mit dieser arroganten Person wollte sie nicht länger als nötig in einem Raum sein.
Als Lina im Flur ankam, hörte sie Tristan und den Riesen laut diskutieren. Schnell rannte sie in ihr Zimmer, damit die beiden nicht dachten, dass sie sie belauscht. Ein paar Satzfetzen hatte sie jedoch aufgeschnappt und fragte sich, was das für ein „riesen Geschäft“ sei, über das so wild diskutiert wurde. Mit einem schnellen Blick auf die Uhr erkannte Lina, dass sie zu spät zur Schule kommen würde. Schnell schnappte sie sich ihre Tasche, lief in die Küche um ihr Brot zu holen und rannte zur Haustür. Tristan und der fremde Mann versperrten ihr den Weg. „Mmh…. Tristan, kann ich bitte durch? Ich komme sonst zu spät zum Unterricht…“, fragte Lina leise ihren Stiefbruder. Dieser drehte sich erschrocken zu ihr um. „Schleich dich nicht immer so an.“, fuhr Tristan seine Schwester an. Der „Riese“ unterdrückte ein Schmunzeln und trat zur Seite. Gerade als Lina an Tristan vorbei durch die Tür treten wollte, packte dieser feste ihren Arm. „Wir reden nach der Schule über den Vorfall.“, knurrte er ihr ins Ohr.
Lina riss ihren Arm los und rannte an den beiden Männern vorbei in Richtung Schule.
Der Schultag verlief wie die anderen davor. Lina war die „Neue“ und hatte noch keine Freunde gefunden. So überstand sie die Unterrichtsstunden schweigend und grübelnd. Sie hatte immer wieder versucht mit Klassenkameraden Freundschaften zu schließen, aber alle blockten sie ab. Keiner wollte neben ihr sitzen, mit ihr reden oder bei Gruppenarbeiten ihr Partner sein. Lina fühlte sich richtig ausgeschlossen und wusste nicht wieso. ’Habe ich ihnen etwas getan?’, fragte sie sich und wieder stiegen ihr Tränen in die Augen. Sie hatte niemanden zum Reden. Nach dem Klingeln zum Schulschluss packte Lina wie immer ganz langsam ihre Sachen und ging danach auf die Toilette. Dort angekommen ging sie in eine Kabine und schloss ab. Bevor sie doch eine weitere Bewegung machen konnte, hörte sie Stimmen näher kommen. Es waren Jessica und Miranda aus ihrer Klasse. „Ja, und das sie nicht merkt, dass wir sie nicht in der Klasse haben wollen. So etwas wie die brauchen wir nicht. Rose hatte schon recht, als sie uns am Anfang gewarnt hat. Hätte echt nicht gedacht, dass sie so eine ist.“, hörte Lina Miranda sagen. Lina drückte sich ängstlich an die Kabinenwand. ’Die reden ja über mich. Ich bin die einzige Neue in der Klasse. Warum hassen die mich so sehr?’, fragte sich Lina und Tränen flossen über ihre Wangen. Doch bevor sie noch etwas weiters denken konnte antwortete Jessica, „Genau, wer hätte gedacht das die auf den Strich geht. Wahrscheinlich ist die deswegen zu ihrem Bruder gekommen. Ihre Eltern wussten bestimmt nicht mehr weiter und wollten sie nicht mehr haben. Aber wer will auch schon eine Nutte als Tochter.“
Lina wurde übel. Ihre Eltern wollten sie doch noch haben. Und wer hatte so ein Gerücht über sie in die Welt gesetzt. Wer ist denn nur diese Rose…
„Wahrscheinlich besorgt sie es ihren Bruder auch zu Hause, wenn er mal keinen Bock hat eine aufzureißen. Ist ja auch nur ihr Stiefbruder wurde mir gesagt. O ist es ja noch nicht mal illegal. Und auf den Partys von ihrem Bruder kann die kleine Schlampe dann ja so richtig Geld verdienen.“, hörte Lina Miranda gehässig sagen.
Lina hielt es nicht mehr aus, sie wollte nur noch nach Hause. Aber die beiden Mädchen hatten wohl noch nicht vor zu gehen.
Lina setzte sich aufs geschlossene Klo und fing leise an zu weinen. Sie weis nicht mehr wie lange sie dort saß, aber nach gefühlten Stunden gingen die Beiden endlich. Lina wartete noch ein paar Minuten in ihrem Versteck. Dann schmiss sie die Tür auf und rannte aus der Schule. Schnell wollte sie nach Hause und sich in ihrem Zimmer verkriechen. Sie rannte und rannte und immer mehr Tränen liefen ihr übers Gesicht. Sie wusste nicht mehr weiter. Tristan hasste sie, ihre Klassenkameraden und wahrscheinlich bald die ganze Schule hielten sie für eine Hure und das schlimmste war, dass sie nicht wusste was sie dagegen tun könnte.
So allein wie jetzt hatte sich Lina noch nie gefühlt.
Als sie bei Tristans Haus ankam verlangsamte sie ihre Schritte und hatte angst das Haus zu betreten. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und öffnete leise die Tür. Schnell wollte sie die Trappe rauf rennen und sich in ihrem Zimmer einschließen, doch auf halben Weg hörte sie Tristan ihren Namen vom Fuß der Treppe rufen. Erschrocken blickte sich Lina um und stolperte. Sie fiel der Länge nach hin und blieb erschrocken liegen. Sie hörte Tristan die Treppe hoch steigen und neben ihr stehen bleiben. Plötzlich fühlte sie, wie sich zwei Hände unter ihre Arme schoben und ihr aufhalfen. Als Lina wieder auf ihren eigenen Füßen stand, drehte Tristan sie zu sich um. Schnell sengte sie ihren Blick, denn sie wollte nicht, dass er ihr Tränen sah. Linas linkes Bein und ihr linker Ellenbogen schmerzten. Doch dieser Schmerz war nicht mit dem in ihrem Inneren zu vergleichen. Schweigend standen sie beide auf der Treppe. Lina wüsste zu gern, was Tristan gerade dachte. Sie wartete auf eine Standpauke für ihren Fehler heute Morgen und eine Strafe. Doch nichts dergleichen kam.
Nach einigen Minuten hob Lina den Kopf und sah Tristan durch ihre gesenkten Wimpern hindurch an. Er sah gar nicht sauer aus, vielmehr nachdenklich und unglücklich. Lina fragte sich, ob etwas Schreckliches passiert war. Doch noch bevor sie ich ihm diese Frage stellen konnte hob er seine Wimpern und blickte ihr gerade Wegs in die Augen. Erschrocken blickte Lina auf ihre Füße, gleich würde er bestimmt anfangen zu Schreien. Aber auch diese Erwartung erfüllte sich nicht. Stattdessen hob er eine Hand und wischte ihr die Tränen von den Wangen. Lina war verwirrt. Was war mit Tristan geschehen, dass er plötzlich so nett zu ihr war?
Es kam Lina wie Stunden vor, wo sie sich einfach nur in die Augen blickten. Sie war wie vor den Kopf gestoßen. Heute Morgen war er der schreckliche Tristan, so wie immer. Aber jetzt nach der Schule war er wie ausgewechselt. Lina senkte schließlich ihren Blick auf den Boden und dies schien Tristan aus seiner Starre zu lösen. Er hob erneut die Hand, wie zum Schlag und Lina duckte sich instinktiv und hob ihre Arme über den Kopf als Schutz. Als der erwartete Schlag ausblieb schaute Lina vorsichtig zwischen ihren Armen hindurch in seine Richtung. Tristan starrte sie regelrecht erschrocken an und zog abrupt die Hand runter. Danach rannte er die Treppen runter und Lina hörte nur noch das Zuknallen seiner Zimmertür. Sie verstand die Welt nicht mehr, hatte sie schon wieder etwas falsch gemacht?
Nachdenklich schlich sie sich in ihr Zimmer und verschloss die Tür. Sie beschloss erst einmal duschen zu gehen, denn dabei konnte sie am besten nachdenken.
Nach der wohltuenden warmen Dusche stieg Lina schnell in eine enge Hose und ihre Boots. Dazu noch ein Langarmshirt, in grün dieses Mal. Leise schlich sie sich die Treppe runter, um nach draußen in den Garten zu gelangen. Doch ihr Bemühen war umsonst. Als wenn Tristan auf sie gewartet hätte rief er Lina zu sich. Kurz bevor sie die Terrassentür öffnen konnte. Erschrocken erstarrte sie in ihrer Bewegung. Was wollte er nun schon wieder? Die altbekannte Angst machte sich wieder in Linas Inneren breit. Würde Tristan wieder ausrasten?
Langsam und mit schleppenden Schritten begab sie sich auf den Weg zur Garage. Aus Richtung eben dieser hatte Lina seine Stimme gehört, aber er meinte doch die Garage sei verboten für sie…. Mit einem mulmigen Gefühl klopfte Lina zaghaft an die Metalltür, immer noch mit der Hoffnung im Herzen, dass sie sich geirrt hatte und Tristan in einem anderen Raum war.
Ihre Hoffnung zerplatzte wie eine Seifenblase, als die Tür aufschwang und Tristan ihr mit einer Handbewegung zeigte einzutreten. Fast in Zeitlupe hob Lina ihren Fuß an um über die Schwelle zu treten. Nach kurzer zeit war sie zum ersten Mal in der Garage. Schüchtern blickte sie sich um.
Tristan stand immer noch an die mittlerweile geschlossene Tür gelehnt, weiter hinten im Raum sah Lina zwei Sofas. Auf einem der beiden saßen der Glatzkopf und ein anderer riesiger Mann, das andere war unbesetzt. Hilflos starrte sie zu Tristan. Was sollte das denn jetzt?
Als wenn dieser ihre Gedanken gehört hätte antwortete er: „Lina, das sind Mark und Roman. Ich habe ein Geschäft mit ihnen am Laufen und sie brauchen eine Sicherheit von mir. Da sie aber weder Geld noch Wertsachen haben wollten, kam Mark auf die Idee, dass ich ja meine Freundin als Pfand anbieten kann.“
Zu Tode geängstigt schaute Lina Tristan ins Gesicht. Das konnte er doch nicht machen? Wieder stiegen ihr die Tränen in die Augen. Schließlich nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und fragte Tristan mit gesenktem Blick: „Aber,….. aber Tristan ich… warum…. Ich verstehe nicht…. Also warum machst du so was? Ich wollte… wollte doch nie irgendetwas von dir, aber nun bitte ich dich… bitte schick mich zu meinen alten Nachbarn, ich zahle dir auch mein ganzes…. Erbe und dann bist du mich auch los… und ich… ich muss nicht mit diesem… diesem Mann mit…“
Mit scheuem Blick guckte sie ihm nun in die Augen. Sie glaubte ein Schmunzeln zu erkennen, als dieses jedoch bei genauerem Hinsehen nicht vorhanden war, glaubte sie an eine Täuschung.
Tristan ergriff ihre Hand und zog sie mit sich raus aus der Garage.
In der Küche angekommen schubste er Lina sanft auf einen Stuhl und hockte sich vor sie: „Lina,… Lina ich wollte mich bei dir entschuldigen. Ich hatte in letzter Zeit viele Probleme mit Kunden und habe meine schlechte Laune an dir ausgelassen. Es tut mir echt leid. Und das mit Mark… Das würde ich nie machen, er hat es vorgeschlagen und ich habe es abgelehnt. Daraufhin meinte er, wir können dich ja trotzdem mal fragen was du davon hältst. Keine Ahnung warum er das wollte. Es tut mir nur alles total leid was seit der Beerdigung deiner Mutter gelaufen ist und hoffe du kannst mir noch mal verzeihen und eine neue Chance geben.“
Lina guckte ihn überrascht an. Sie war ein wenig überfordert mit so viel Ehrlichkeit von ihm. Nach kurzem Zögern lächelte sie Tristan schüchtern an und nuschelte eine leises „Ok, ich versuch dir zu verzeihen. Ich brauche nur ein wenig Zeit…“
„Du bekommst alle Zeit der Welt und falls du irgendwelche Probleme hast, sag mir einfach bescheid.“ Mit diesen Worten stand Tristan auf und ging zurück in die Garage. Lina schaute auf die Uhr und beschloss ein Abendessen zu kochen, sie hatte genug Pizza in den letzten Tagen gegessen.
Nach dem Essen ging sie in ihr Zimmer und machte ihre Hausaufgaben. Da sie nicht viel verstand verschob sie die Matheaufgaben auf den nächsten Tag. Erschöpft von den Ereignissen dieses Tages machte Lina sich bettfertig und fiel ins Bett. Schnell war sie eingeschlafen und bekam gar nicht mit, wie sich ihre Zimmertür öffnete und eine dunkle Gestalt sich in ihr Zimmer schlich.
Lina träumte. Es war kein schöner Traum, eher ein Alptraum. Sie sah ihre Mutter und ihren Stiefvater. Beide waren in einen sanften Schimmer gebetet. Ihre Mutter strahlte Lina an, ihr Stiefvater zog hart am Arm ihrer Mutter und schrie ihr ins Gesicht. Linas Mutter jedoch lächelte weiterhin in Linas Richtung, als wenn sie nicht mitbekommen hätte das ihr Mann sie anschrie. Plötzlich veränderte sich das Bild und Lina sah nun ihre Mutter weinend am Boden liegen, die Hände schützend um den zusammengerollten Körper geschlungen. Lina sah eine hand durch die Luft sausen und „ZACK“ bei ihrer Mutter im Gesicht zuschlagen. Langsam näherte sich ein Gesicht und Lina erkannte ihren Stiefvater.
„Warum?“, Fragte sich Lina, „ist das wirklich war? Ich habe nie etwas davon mitbekommen, ich hätte ihr helfen müssen….“
Traurig wachte sie schlagartig auf und bemerkte, dass ihr Gesicht Tränennass war. Im selben Augenblick bemerkte sie jedoch auch die Gestalt am Ende ihres Bettes stehen. Erschrocken schrie Lina auf. Die dunkle Gestalt schnellte vor und drückte ihr die Hand auf dem Mund.
Lina fing an sich zu wehren. Sie kratzte und trat den Mann, aber diesen schien das nicht zu stören. Er zog sie am ihrem Haarschopf hoch und schon landete eine Schlag auf Linas rechter Wange. Der Fremde zerrte sie aus dem Bett und holte Handschellen aus seiner Jackentasche. Lina versuchte alles um sich zu befreien. Sie drehte sich in seinem festen Griff, sie trat um sich, versuchte in seine Hand zu beißen, doch all ihre Bemühungen waren umsonst. Sie hörte ein Klick und spürte im nächsten Moment die Handschellen um ihre Handgelenke. Wie hatte er das geschafft? Und dann auch noch so schnell und ohne Hilfe….
Der Man zog nun ein Stück Stoff aus der Tasche und Sekunden später war Lina nicht mehr fähig etwas zu sagen, dazu steckte der Stoff zu feste in ihrem Mund. Tränen der Angst liefen Lina unaufhaltsam über ihr schönes Gesicht. Zitternd stand sie plötzlich alleine im Zimmer, der Mann war verschwunden. Augenblicklich versuchte sie zu fliehen, jedoch stolperte sie über das Seil, welches ihre beiden Füße zusammenhält. Mit einem lauten „Rums“ landete Lina auf dem Boden. Ihre Hüfte schmerzte nun höllisch und auch ihr rechtes Fußgelenk hatte unheilvoll geknackt.
Aber sie kannte nur einen Gedanke, raus aus dem Haus.
Schnell robbte sie zur Tür, welche leider verschlossen war. Immer und immer wieder versuchte Lina sich irgendwie auf die Beine zu bekommen. Dies gestaltete sich mit den Handschellen und den Seilen um Hände und Füße als unmöglich. Aber Lina gab nicht auf. Sie versuchte alles möglich, um von dem Haus und somit von dem gefährlichen Kerl wegzukommen.
Gerade als sie schwankend auf die Beine gekommen war, öffnete sich die Tür und knallte gegen ihre Schläfe. Lina knallte zu Boden und stöhnte aufgrund des Schmerzes auf. Der Mann nahm dies mit einem Schmunzeln zur Kenntnis. Er zog einen weiteren gefesselten Mann in ihr Zimmer und schubste ihn neben Lina auf den Boden. Noch zu benommen vom Schlag der Tür konnte sie erst einmal gar nicht erkennen wer es war.
Sie hörte aber mehrere Schritte die Treppe hoch kommen. Es waren viele schwere Schritte und sie vermutete, dass noch mehr Männer kommen würden. Ängstlich blickte Lina sich um und erkannte nun den Mann neben ihr auf dem Boden. Erschrocken riss sie die Augen auf und versuchte fieberhaft etwas zu sagen. Es gelang ihr aber nicht. In Gedanken schrie sie immer wieder „Tristan, Tristan was machen die hier und wer sind die? Was wollen die?“ Aber Tristan konnte ja leider keine Gedanken lesen. Sie blickte Tristan in die Augen und erkannte dort Schmerz, Mitgefühl und Schuldeingeständnis. Lina musterte sein Gesicht. Er war grauenvoll verprügelt worden. Sein Gesicht blutete aus unzähligen Schnittwunden und viele Stellen verfärbten sich bereits bläulich. Langsam drehte er sein Gesicht von ihrem weg und Lina sah nur noch, wie er erschrocken die Augen aufriss. Schnell drehte sie ebenfalls ihr Gesicht zur Tür und sah, wie vier weitere Männer den Raum betraten. Der erste war riesengroß, hatte sehr viele Muskeln, sein Gesicht war auf einer Seite vernarbt und seine Nase sah aus, als wenn sie schon ein paar Mal gebrochen gewesen war. Lina blickte weiter auf und sah und sah in dunkle, fast schon schwarze, finster dreinblickende Augen. Schnell wandte sie ihren Blick ab und erhaschte einen Blick auf die anderen drei Männer. Alle waren sehr groß und muskelbepackt. Einer der Dreien hatte dunkelgrüne Augen und schwarze Haare, wieder ein anderer hatte huskyblaue Augen und hellblonde Haare und der letzte der Dreien hatte wie der erste fast schwarze Augen, aber im Gegensatz zu dem Schlägertypen hellbraune Haare. Als alle vier im Zimmer waren drehte sich der Mann um, der Lina gefesselt hatte. Schnell sprachen sie miteinander in einer anderen Sprache. Lina war verwirrt und blickte wieder zu Tristan. Dieser hatte argwöhnisch die Augen zusammengekniffen und schaute den fünf Männern beim Diskutieren zu. Plötzlich knallte der Grünäugige die Hand gegen die Wand und sagte laut und deutlich etwas zu seinen Kumpanen. Diese nickten daraufhin und alle schauten nun zu Lina und Tristan, die immer noch auf dem Boden lagen. Aus dieser Perspektive sahen die Männer riesengroß aus und Lina fing langsam wieder zu Zittern an.
Langsam kam einer der Schwarzäugigen auf Lina zu und streckt die Hand nach ihrem Gesicht aus. Sie zuckt erschrocken zurück, was ihr nicht viel brachte, der Mann bekam ihr Kinn zu fassen und drehte nun ihr Gesicht von einer Seite zur anderen und begutachtete ihr Profil. Tristan fing an unter seinem Knebel zu schreien, wurde aber von keinem beachtet. Lächelnd ließ der Mann ihr Kinn los und sagte dreckig grinsend zu seinen Freunden „Für die würden wir einen Batzen Geld bekommen, was wollen wir mit ihr machen?“
Erschrocken guckte Lina Tristan an. Dieser schaute ihr Mitleidig ins Gesicht, sodass ihre für kurze Zeit verschwundenen Tränen erneut zu fließen begannen. Währenddessen unterhielten sich die Männer in der unbekannten Sprache, sahen aber ab und zu, zu Lina rüber. Ihr wurde immer mulmiger und ihre Angst stieg ins unermessliche. Wieder war es der Grünäugige, der laut etwas sagte, woraufhin alle nickten. Im Stillen fragte sich Lina, ob er wohl der Chef dieser Truppe war. Die Männer schienen sich geeinigt zu haben. Die zwei Schwarzäugigen gingen zu Tristan und schliffen ihn trotz heftiger Gegenwehr aus dem Zimmer. Lange hörte man nur Tristans Gemurmel und das Geräusch seiner schleifenden Schuhe. Man hörte eine zuklappende Autotür und kurz darauf das Starten eines Motors. Mit quietschendem Reifen fuhr der Wagen los und lies Lina mit den drei fremden Männern zurück. Grünauge, wie Lina ihn heimlich getauft hatte, sagte etwas zu den beiden anderen. Einer der beiden ging daraufhin aus dem Zimmer, der andere ging zu Linas Schrank, öffnete die Türen und begann ihre Sachen in eine Tasche zu packen, die er kurz zuvor aus seiner Jackentasche geholt hatte. Grünauge ließ Lina keinen Moment aus den Augen.
Als der Mann nach ein paar Minuten mit ihrem Schrank fertig war, nahm er noch ihren Laptop vom Tisch, ihr Handy und auch ihren iPod. Danach ging er mit der Tasche aus dem Zimmer und sie hörte, wie wieder eine Autotür geschlossen wurde. Anscheinend war auch der andere fertig geworden, denn er kam zu Grünauge und redete kurz mit ihm. Grünauge antwortete kurz und knapp. Danach kam er zu Lina, ergriff ihre gefesselten Handgelenke und zog sie hoch. Lina wurde wie ein nasser Sack über seine Schulter geworfen und mit großen Schritten ging Grünauge los. Erst aus ihrem Zimmer, dann die Treppe runter, aus der Haustür und danach zum Auto. Sanft setzte er sie auf die Rückbank des großen Land Rovers, schnallte sie an und ging um das Auto rum zur Fahrerseite. Er startete den Motor und hupte kurz. Einer der Männer kam aus dem Haus gerannt mit einem weiteren Sack in der Hand. Diesen schmiss er in den Kofferraum, bevor er sich zu Lina auf die Rückbank setzte. Sofort fuhr Grünauge los und Lina liefen wieder einmal stumm die Tränen über die Wangen. Sie fühlte sich völlig hilflos und hatte schreckliche Angst. Außerdem machte die große Ungewissheit, was mit ihr passieren sollte, sie fertig. Lina versuchte sich den Weg zu merken, aber schon nach fünf Minuten band der Mann auf der Rückbank ihr ein Tuch vor die Augen, sodass sie gar nichts mehr erkennen konnte. Lina schloss müde und erschöpft vom lauter weinen die Augen und fiel in einen Halbschlaf.
Tag der Veröffentlichung: 26.07.2011
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