Missi
Als meine Katze Missi starb, traf mich das ganz kolossal. Sechzehn Jahre lang hatten wir zusammengelebt, hatten uns gezofft und geliebt – vor allem geliebt.
Missi hatte eine verblüffende Intelligenz. Dieses Tier kam mir manchmal vor wie ein Mensch, den eine böse Fee in einen Katzenkörper gehext hatte.
In unserem Haushalt gab es auch noch einen schwarzen Kater, das war mein Shadow. Er hatte eine ungewöhnliche Fähigkeit: Er konnte Bilder erkennen. Normalerweise interessieren Katzen sich nicht dafür und sehen gar nicht hin, aber Shadow konnte nicht nur das; er guckte sich auch gerne Tierfilme im Fernsehen an.
Leider verstanden die beiden sich gar nicht, und das lag wohl nur an Shadows Eifersucht. Schon als Kind (er war sechs Jahre jünger als Missi) ärgerte er sie, wo er nur konnte.
Und als ich dann eines Tages vom Tierarzt kam, ohne die kranke Katze wieder mitzubringen, da verstand Shadow. Er sah die leere Tiertransporttasche, drehte sich um und ging ins Wohnzimmer – und seine Körpersprache zeigte deutlich: Na, die bin ich endlich los!
Ich dagegen war untröstlich. Wenn ich von der Arbeit nach Hause kam und Missi saß nicht im Flur, um auf mich zu warten, musste ich erstmal eine Runde heulen. Meine Katzen waren nie nur Haustiere für mich, sondern vierbeinige Familienmitglieder, und ich trauerte um sie nicht weniger als um die Zweibeinigen. Auch wenn das manche Leute nicht verstehen werden. Ich lebte damals mit den beiden Katzen alleine, und sie waren viele Jahre lang wirklich alles, was ich an Hausgenossen hatte.
In den Tagen nach Missis Tod geschahen Dinge, die mir erst später ungewöhnlich erschienen. Zum Beispiel wenn ich nachts mal das Bad aufsuchte. Dann hörte ich in der Küche, die neben dem Badezimmer lag, einen dumpfen Bums. Früher war das Missi gewesen, die von der Fensterbank herunter auf den Küchentisch sprang, wenn sie mich kommen hörte, aber nun dachte ich mir wenig dabei. Sicher schlug jemand draußen auf dem Parkplatz eine Autotür zu.
Aber eigentlich seltsam. Nachts um 3 Uhr, und jedes Mal?
Dann saß ich manchmal lesend im Wohnzimmer auf dem Sofa und hörte ein seltsames schwirrendes Geräusch in der Luft. Ich stand auf. Ging zum schlafenden Shadow, um zu lauschen, ob er im Schlaf schnurrte – aber nein, kein Laut von ihm.
Ich ging ans Fenster und versuchte zu ergründen, ob das Geräusch von draußen kam, aber auch dort war nichts Ungewöhnliches.
Das Geräusch schien direkt neben mir zu entstehen, auf der Couch.
Aber da ich mit beiden Beinen ziemlich fest am Boden stehe, glaubte ich nichts Besonderes. Ich wunderte mich zwar, legte die Sache aber als "ungeklärten Eindruck" zu den Akten.
Dann kam die Nacht zum 3. Oktober 1991, in der Seltsames geschah. Und wenn ich ganz allein gewesen wäre, ohne Shadow, wäre erstens gar nichts passiert und zweitens hätte ich es auch nicht geglaubt!
Es war 2 Uhr morgens. Ich hatte mich in einem Buch festgelesen wie so oft, und Shadow lag rechts neben mir auf der Couchlehne und döste. Ich muss noch erklären, dass mein Bett eine Ausziehcouch war, bei der man die beiden Sitze nach vorne zog, so dass die Rückwand und die beiden Armlehnen stehen blieben. Ich lag immer so, dass der Platz links neben mir frei blieb. Das war Missis Schlafplatz gewesen. Auf ihrer Seite stand ein schmaler hoher Kasten, der tagsüber das Bettzeug beherbergte, und daran schlossen sich halbhohe Bücherregale an, ähnlich wie ein Sideboard.
Nun geschah Folgendes.
Shadow hatte, wie gesagt, dösend mit halb geschlossenen Augen neben mir auf der Lehne gelegen.
Plötzlich fuhr er buchstäblich hoch und starrte… auf etwas, das ich nicht sehen konnte. Seine Pupillen, die eben noch schmal gewesen waren im Licht der Leselampe, wurden vor Aufregung riesengroß und rund. Mit dem Blick folgte er irgendetwas Unsichtbarem, das anscheinend vom Fußende aus über das Bett wanderte bis zu dem Platz neben meinem Kopfkissen, der Missis angestammter Platz gewesen war.
Einen Moment später folgten seine Augen dem unsichtbaren "Wesen", wie es zuerst auf den Bettzeug-Kasten stieg und von dort aus auf das halbhohe Bücherregal. Das war Missis typischer Weg, sie war immer wie über eine Treppe auf das Sideboard geklettert.
Fasziniert und mit großer Konzentration beobachtete ich, was passierte. Es flog kein Insekt und kein Staubkörnchen herum, das er vielleicht beobachtet haben könnte. Sein Gesichtsausdruck in diesem Moment war ganz neu, in all den Jahren hatte ich ihn noch nie so gesehen: Ungläubiger Schrecken trifft es am besten. Im nächsten Augenblick hielt er die Aufregung nicht mehr aus – er sprang von der Lehne und flüchtete für ein paar Minuten unter das Bett.
Ich dagegen versuchte, eine andere Erklärung zu finden als die, dass Missi gerade wie gewohnt ihren Schlafplatz aufsuchte. Mir fiel keine ein. Aber konnte ich das so akzeptieren?
Plötzlich tauchte Shadow auf der anderen Seite des Bettes auf, mit dem bösen Gesicht eines Springteufelchens. Er starrte auf jenen Platz neben mir, auf dem Missi üblicherweise zusammengerollt gelegen hatte. Haargenau so hatte er sie jahrelang von ihrem Platz vertrieben. (War sie in der Zwischenzeit wieder vom Bücherschrank herunter gekommen und hatte sich neben mich gelegt?)
Früher hatte ich dann mit ihm geschimpft: "Lass Missi in Ruhe!" Aber das kam mir nun doch verrückt vor… ich sagte gar nichts und guckte nur stumm zu…
Und ich muss leider sagen, dass mir langsam ein Grauen in die Glieder kroch! Der Gedanke an einen kleinen Geist neben mir war einfach zu überraschend. So schnell konnte ich gar nicht damit umgehen.
Und dann drehte Shadow sich ein paar Mal herum und schien etwas zu suchen. Intensiv beroch er Missis ehemaligen Schlafplatz. Er folgte ihrem Weg über den Bettzeugkasten und auf das Sideboard und schnüffelte dabei wie ein Hund, der Fußspuren folgt. Endlich kam er zurück, setzte sich wieder auf die Lehne zu meiner Rechten, und blickte sich mehrmals suchend im Zimmer um. Sogar nach oben!
Ganz plötzlich fiel die Unruhe von ihm ab. Er legte sich neben mich und schloss die Augen, als wäre nichts gewesen.
Ich wusste einfach nicht, was ich von der Geschichte halten sollte. Jetzt fielen mir die Vorkommnisse mit dem seltsamen Schnurren neben mir und den Bums in der nächtlichen Küche ein – aber ich war immer noch unentschlossen, was ich davon halten sollte.
Drei Tage – oder besser Nächte - später, entwickelte ich wieder mal alte Schwarzweiß-Negative aus meiner Kindheit. Die hatte ich von meinem Vater bekommen und auch ein Vergrößerungsgerät dazu. Das Entwickeln von Fotos (später auch farbige) war lange Zeit mein Hobby, bis die Digitalkameras qualitätsmäßig den traditionellen Kameras den Rang abliefen.
Unter anderem machte ich einen sehr großen Abzug von Peter, dem Kater, mit dem ich als Kind aufgewachsen bin. Er war schwarzweiß gefleckt, ähnlich wie Missi. Mit einem ganzen Stapel dieser frisch entwickelten Fotos saß ich dann im Bett und sah sie mir noch mal kritisch an, und Shadow hockte vor mir auf der Decke und guckte neugierig zu. Ich hob das Portrait von Peter hoch und hielt es ihm hin – wie schon erwähnt, er achtete manchmal auf Bilder, und dieses betrachtete er mit großer Aufmerksamkeit. "Na, erkennst du, dass das eine Katze ist?" fragte ich scherzhaft.
Und da malte sich derselbe Schrecken in Shadows Gesicht wie drei Nächte zuvor, seine Pupillen wurden groß und rund, und er warf einen schnellen Blick auf jenen Platz neben mir, auf dem Missi die Katze immer geschlafen hatte…..
Er sah ganz deutlich so aus, als hätte er gesagt: "Die Katze? Die vor ein paar Tagen da gewesen ist??"
Und da blieb mir wohl nichts anderes übrig, als es zu glauben.
Sie kam übrigens niemals wieder.
Tag der Veröffentlichung: 02.04.2010
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