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Widmung

 

Für die starken Frauen in meinem Leben:

Angelika, Mariza, Désirée und Anina.

Und für die starken Männer an unserer Seite.

 

 

 

Prolog

Gehüllt in einen dunklen Umhang eilte Arthano, Prinz von Kantú, über schwarzes Gestein hinauf zum Berg des Dämons.

Keine Wolke bedeckte den Himmel über ihm, nur die Sterne leuchteten ihm den Weg. Es war die Nacht des Monats, in der Monwym, die Mondgöttin, Herrscherin über das Wasser, ihr Gesicht verbarg. Nur in dieser Nacht, so hatte es die Priesterin gesagt, konnten sie den Dämon beschwören.

Bereits bei Sonnenuntergang war der Prinz aufgebrochen. Allein, gekleidet in das einfache Tuch eines Dieners, und hatte einen alten braunen Gaul aus den Stallungen geholt, statt seinen schwarzen Hengst Bergamon zu satteln. Es sollte niemand mitbekommen, was er in dieser Nacht vorhatte. Nur die Sterne waren seine Zeugen. Und die, so war er gewiss, würden ihn nicht verraten.

Das Pferd hatte er am Fuße des Berges zurückgelassen, die Zügel in Ermangelung eines Baumes oder Astes einfach am Boden mit einem schweren Stein fixiert. Das gemächliche Tier hatte sofort damit begonnen, an ein paar trockenen Grasbüscheln zu kauen. Arthano hoffte, sie würden es so lange beschäftigen, bis er zurückkam. Er hatte keine Lust, den staubigen Pfad nach Kantarra zurück zu laufen.

Nach der Hälfte des Weges war er nun schweißgebadet. Es war eine lauwarme Frühlingsnacht und der Aufstieg beschwerlich. Doch die Mühe würde sich lohnen.

Beinahe hätte er sie übersehen, die schmale Steinspalte, durch die man das Innere des Dämonenberges betreten konnte. Sie war gerade breit genug, dass er sich seitwärts hindurchzwängen konnte. Nach zwei Schritten hatte ihn die Schwärze des Berges umfangen. Er sah nichts mehr, konnte nur noch vorsichtig den Weg mit den Füßen ertasten und stützte sich mit den Händen an der scharfkantigen Steinwand vor seinem Gesicht ab. Der Felsen war warm.

Und dann, als er schon dachte, die Schwärze würde niemals enden und er würde einfach in ein endlos tiefes Loch stürzen, sobald der Durchgang zu Ende war, bemerkte er endlich ein sanftes Glühen. Das Glühen wurde heller, beschien orange und warm sein Gesicht. Gleichzeitig wurde der Fels unter seinen Händen immer heißer. Er musste die Hände sinken lassen.

Schließlich trat er aus dem Schacht. Die orangefarbene Hitze traf ihn so heftig, dass er fast taumelte. Er schloss die Augen, zwang sich, ruhig zu atmen und die Angst zu bekämpfen. Die Angst war der Feind.

Er presste entschlossen die Lippen zusammen, öffnete seine Augen und atmete langsam durch die Nase ... was sich als Fehler erwies. Die Luft war heiß, beißend und voller Schwefel. Rasch hob er die Hand und hielt eine Ecke seins Umhangs vor Mund und Nase.

Lange würde er es in dieser brodelnden Hölle nicht aushalten, trotz des magischen Trankes, den er vor dem Aufbruch zu sich genommen hatte.

Er stand auf einem Felsvorsprung, der sich weit oben über einem See aus Lava erhob. Eine Frau stand majestätisch am Rande des Vorsprungs, gekleidet in ein schwarzes Gewand aus fließendem Stoff, der sich jeder ihrer Rundungen zart anschmiegte.

Es war die Priesterin.

 

Der Schein der Glut ließ ihr hellgoldenes Haar leuchten wie die untergehende Sonne. Ihr schienen weder die Hitze noch der Gestank etwas auszumachen. Das Kinn stolz nach oben gereckt, lächelte sie ihm entgegen und breitete die nackten Arme aus.

»Willkommen, Prinz von Kantú. Willkommen im Berg des Dämons!«

Den Stoff seines Umhangs noch immer vor dem Gesicht haltend nickte er ihr zu. Es ärgerte ihn, dass sie sich hier gebärdete, als wären Hitze und Gestank nicht vorhanden, während er kaum atmen konnte. Und doch, wie er sie dort stehen sah, stolz und schön im Schein der Lava, spürte er ein heftiges Verlangen nach ihr.

Langsam schritt er auf sie zu, den Rand des Vorsprungs stets im Blickwinkel.

»Seid Ihr bereit, Prinz?«, verlangte sie zu wissen und er meinte in ihren Augen zu erkennen, dass sie auf ihn herabsah.

Er ließ den Zipfel seines Umhangs sinken. »Bereit für alles, was notwendig ist.«

Wenn er nur ganz flach atmete, nicht hinunter in die glühende Tiefe sah und sich allein auf die Priesterin konzentrierte, mochte er es hier oben eine kurze Weile aushalten.

Sie schloss die Augen, drehte sich langsam um, legte den Kopf in den Nacken und rief andächtig: »Oh Dämon, Sohn der Sonnengöttin Alanwy und des Herrn der Dunkelheit, höre mich, Deine getreue Dienerin Zelena! Höre mich, Kind des Feuers und der Dunkelheit! Bei mir steht demütigst Arthano, Prinz von Kantú, und erflehet Deine Gunst!«

Sie warf Arthano einen Seitenblick zu. Das war wohl sein Zeichen.

Er sank auf die Knie, die scharfen Gesteinsbrocken auf dem Boden drückten sich schmerzhaft durch den Stoff seiner Hose.

»Hier knie ich vor Deiner Priesterin und erflehe Deine Gunst«, sprach er die Worte, wie sie es ihm zuvor eingegeben hatte.

Sie griff nach dem Zeremoniendolch an ihrer Hüfte und hob ihn feierlich über den Kopf. »Oh Dämon, siehe hier stehen wir und erflehen Deine Gunst! Koste den Saft des Lebens! Unser Leben ist ganz Dein!« Grob packte sie nach Arthanos Handgelenk. Die scharfe Klinge ihres Dolches hätte selbst die lederne Haut eines Nashorns zertrennt. Sie hinterließ eine rote Linie in seiner Handfläche.

Blut tropfte auf den schwarzen Boden zwischen ihnen.

»Erhebe dich, Prinz, und schwöre deine Treue.«

Er tat wie ihm geheißen, während sie sein Handgelenk noch immer festhielt.

»Ich, Arthano, Prinz von Kantú, gelobe dem Dämon des Berges, Frucht des Leibes der Sonne und des Gottes der Dunkelheit, ewige Treue. IHM will ich huldigen. ER soll mich leiten und nur IHM will ich dienen. Möge ER durch meine Taten groß werden!«

Sie nahm seinen Arm und hielt ihn über den Rand des Vorsprungs. Sein Blut tropfte in die Tiefe.

Obwohl es eigentlich unmöglich war, meinte er, ein leises Zischen zu hören, als das Blut weit unten auf die Lavamasse traf.

Die Priesterin schloss erneut die Augen und hob die Arme. Den Kopf legte sie in den Nacken und atmete tief ein.

Arthano glaubte, ersticken zu müssen, wenn er diesen verdammten Berg nicht endlich verließ. Ja, er wollte die Gunst des Dämons. Und ja, er würde einfach alles dafür tun, endlich Herrscher über Kantú zu sein.

Er würde seinen schwächlichen Bruder in die Verbannung schicken. Seine Schwester, die Schlampe aus Alantua, würde er als Sklavin in den Süden verkaufen. Und unter ihm würde Kantú endlich wieder so mächtig werden, wie es vor tausend Jahren gewesen war. Arthano würde als größter König Kantús in die Geschichte eingehen.

Dies alles setzte jedoch voraus, dass er lebend aus dieser heißen, stickigen Hölle entkam!

Endlich ließ das Weib die Arme sinken. Aus glühenden Augen musterte sie ihn. Sie wirkte geradezu ekstatisch. Langsam schob sie die dünnen Träger ihres fließenden Gewandes über die nackten weißen Schultern. »Der Pakt muss besiegelt werden«, sprach sie feierlich und der dünne Stoff rutschte zu Boden.

Arthano hatte sie bereits begehrt, als sie in Zaroms Tempel zum ersten Mal auf ihn zugekommen war. Ihr helle Schönheit, die weiße glatte Haut und das glänzende Haar, das über üppige Brüste und eine schmale Taille zu ihren runden Hüften fiel. Der Stolz in ihrer Haltung und in ihren dunklen Augen reizte ihn noch mehr. So war er jetzt mehr als bereit, sie zu nehmen.

Sie vereinigten sie auf dem harten Gestein des Dämonenberges und Arthano stieß sie hart und unnachgiebig. Sie stöhnte – ob vor Lust oder vor Schmerz, vermochte er nicht zu sagen. Doch als er sich in ihr ergoss, beugte sie sich ihm verlangend entgegen und klammerte sich mit ihren Oberschenkeln an seine Hüften.

 

Als er seine Beinkleider wieder zuschnürte, hatte er das Gefühl, seine Lunge stünde genauso in Flammen wie sein Glied. Er wollte einfach nur noch raus aus dem Dämonenberg, hinaus an die frische Luft der Nacht.

»Dies ist der Beginn eines neuen Zeitalters«, sprach die Priesterin feierlich. »Der Dämon wird dich zu höchstem Ruhm tragen. Und durch dich wird der Dämon endlich zu dem, was Ihm bestimmt ist: Zu einem Gott. Jede Tat, die du in Seinem Namen begehst, jedes Opfer, das du Ihm schenkst, wird Seine Macht mehren. Und mit Seiner Macht wächst Seine Gunst und mit Seiner Gunst wächst dein Ruhm.«

Arthano nickte. Allmählich wurde ihm das pathetische Gerede der Priesterin zu viel. Sie hatten das Ritual durchgeführt. Sein Leben gehörte nun allein dem Dämon, reichte das nicht?

»Blut ist es, wonach es dem Dämon am meisten giert. Der Lebenssaft lässt ihn mächtiger und mächtiger werden. Schenke ihm reichlich davon, Prinz von Kantú.«

»Das habe ich vor«, antwortete er.

Sie hatte sich ebenfalls wieder angekleidet. Doch der glänzende Stoff betonte ihre Rundungen mehr, als sie zu verdecken. Da war er wieder, dieser herablassende Stolz in ihren dunklen Augen.

Das Glühen aus der Tiefe tauchte ihr Haar in rotes Licht ... rot wie Blut.

Arthano trat zu ihr, zog sie in die Arme und schenkte ihr einen leidenschaftlichen Kuss. Dann lächelte er.

»So soll er dieses Leben nehmen für den Anfang«, sprach er und stieß sie von sich.

Erst als sie bereits fiel, schien sie zu begreifen.

Der Stolz wich Entsetzen.

Sie schrie.

Und Arthano lächelte noch immer.

Der Dämon begrüßte das Opfer mit feurigem Brodeln.

 

1. Tallgard

Das Fleisch war noch warm und mir knurrte der Magen.

Ich kniete vor dem Kadaver, scheuchte die Fliegen weg und betrachtete im Schein meiner Fackel die Wunden des Tieres genauer, ohne es anzufassen. Es stank noch nicht nach Fäulnis, das Blut war kaum geronnen. Eine mächtige Pranke musste das arme kleine Lamm niedergestreckt haben. In der Wunde steckte eine Kralle. Mit den Fingern pulte ich das Ding hervor.

»Welches Tier kann das gewesen sein?«

Mein König stand neben mir und beobachtete, was ich tat. Ich richtete mich auf und reichte ihm die blutige Kralle. Neben ihm kam ich mir klein und zart vor, da er mich um die zweifache Haupteslänge überragte und vom steten Training mit Kriegshammer und Schwert eine kräftige Statur aufwies. Doch als Kriegerin konnte ich es im Zweikampf durchaus mit ihm aufnehmen.

»Ich weiß es nicht. Es muss mit riesigen Klauen ausgestattet sein. Mit einem Hieb hat es das Lamm getötet. Ich frage mich nur, warum es seine Beute nicht mitgenommen hat.«

Meine Augen suchten den Waldrand ab, dort wo Jarro nach weiteren Spuren suchte. Ganz in Schwarz gekleidet, hob er sich von Bäumen und Büschen ab.

Vor zwei Tagen waren wir ausgezogen, weil immer wieder von Überfällen auf kleine Dörfer und Farmen berichtet worden war. Seit Monaten schon herrschte Trockenheit in Tallgard. Die Menschen arbeiteten hart, um überleben zu können. Die nächste Ernte würde mager ausfallen. Und nun auch noch die Überfälle.

Wir waren den Räubern auf der Spur. Der König selbst hatte sich der Angelegenheit angenommen. Mit ihm kamen außer mir und Jarro auch Ires, die blonde Bogenschützin und Marek, der Heiler. Wir waren Teil der königlichen Leibwache, alle im Kampf geübt. Mein Instinkt sagte mir, dass wir unsere Fähigkeiten schon bald nutzen mussten.

Ires und Marek kümmerten sich um die Farmer, die es diesmal getroffen hatte. Der Vater der Familie war im Kampf gegen die Räuberbande schwer verletzt worden und war nicht ansprechbar. Er hätte uns sagen können, welche Bestie die Bande mit sich führte.

Die Räuber hatten den Großteil der Herde getötet und das Fleisch mit sich genommen. Außerdem hatten sie auch Getreide und andere Nahrung gestohlen. Die Farmer hatten nichts mehr außer diesem Kadaver.

Jarro kam mit finsterer Miene zu uns zurück. Sein blanker Schädel glänzte im Schein der Fackel. »Hoheit, die Männer sind noch nicht sehr weit. Sie sind ohne Pferde unterwegs. Wir könnten sie einholen, wenn wir sofort aufbrechen.«

Ich deutete auf die etwa zehn Zentimeter lange Kralle. »Welches Tier hat derart lange Klauen? Wir sollten vorsichtig sein.«

Er nahm die Kralle von unserem König entgegen, betrachtete sie und zuckte mit den Achseln. »Sie sind höchstens zu dritt, wir sind fünf, wir brauchen uns vor keinem Tier zu fürchten.«

König Berenbarr verschränkte die Arme vor der Brust. »Wenn die Räuber noch in der Nähe sind, können wir die Familie nicht allein lassen.« Er sah zurück zu den Menschen, denen sie gerade noch das Leben gerettet hatten. »Wir lassen Ires und Marek bei ihnen und folgen zu dritt den Räubern.«

»Zu fünft wären wir auf der sicheren Seite. Wir müssen die Räuber stellen, bevor sie sich andere Opfer suchen.« Jarro wirkte energisch, ja geradezu verbissen.

Doch ich musste ihm recht geben; wir mussten schnell handeln, bevor sie über den Fluss entkamen und damit den Boden des Gildenreiches betraten.

Doch der König schüttelte sein blondes Haupt. »Nein, nur du, Bromm und ich werden die Männer verfolgen.« Er hob das tote Lamm auf, um es zu der Kate zu tragen. Vorsichtig legte er es der Farmersfrau in die Arme. »Es wäre schade um das Fleisch...«

Die Frau nickte betreten.

Berenbarr deutete uns, bereits zum Wald vorauszugehen während er noch einige Worte mit Marek und Ires wechselte.

»Du solltest dich wandeln«, sagte ich am Waldrand zu Jarro. »So bleiben wir auf der Fährte.«

»Ich gebe dir ausnahmsweise Recht«, erwiderte er, bereits auf dem Weg tiefer in den Wald.

Ich wartete noch auf den König. Die Räuber waren mehr als nur hungrige Männer auf Beutezug. Sie kamen aus dem Gildenreich und überfielen seit Wochen unsere Dörfer und Farmen in der Nähe der Grenze. Sollte dies ein neuer Akt der Feindschaft sein? Eine Provokation?

Ich lockerte meine Dolche, die ich links und rechts an der Hüfte trug. Waren die Klingen scharf genug, um gegen das, was im Wald auf uns wartete, anzukommen?

König Berenbarr hielt seinen Kriegshammer locker in der Hand, als er zum Waldrand kam.

»Bereit?«, fragte er kurz.

Ein großer grauer Wolf trottete hinter den Bäumen hervor. Von allen Wolfswandlern, die ich bisher getroffen hatte, besaß Jarro wirklich die struppigste und verwahrloseste Wolfsgestalt. Er war ein einsamer Wolf ohne Rudel. Auch wenn ich ihn nicht leiden konnte, er war ein fähiger Krieger und damit ein wichtiger Teil der königlichen Leibwache. Als Wolf fiel es Jarro leicht, der Fährte zu folgen. Ich sah die Tritte ebenfalls, sie waren alle menschlichen Ursprungs. Von der Bestie fehlten die Abdrücke. Hatte die Bande also ebenfalls einen Wandler bei sich, der nun in Menschengestalt vor uns floh?

Es dauerte nicht lange, da hielt Jarro inne. Wir waren nun ganz nah. Berenbarr hielt seinen Hammer bereit und ich zog meine Dolche. Ich hörte das Rascheln der Blätter über uns, den seichten Frühlingswind der durch die Baumkronen fuhr. Doch da war noch mehr. Der Wind trug Worte zu uns, hastig gesprochen und voller Anspannung. Sie wussten, dass sie verfolgt wurden. Irgendwo vor uns plätscherte ein Bach. Ich hörte das Aufspritzen des Wassers und das Ächzen der Männer. Sie durchquerten gerade das Gewässer.

Das war unsere Gelegenheit! Berenbarr nickte Jarro zu. Der Wolf preschte vor, die Ohren angelegt, die Lefzen gebleckt. Wir folgten ihm Seite an Seite.

Ein lauter Schrei erfüllte den Wald, als Jarro über das steile Ufer sprang und auf einer der Gestalten landete. Eine zweite hatte ein Schwert gezückt, als wir die Uferböschung überwanden.

»Tallgard!«, schrie Berenbarr und schwang den Kriegshammer.

Wo war der Dritte? Ich blieb stehen, sah mich suchend um. Ich musste nicht lange warten. Das Knurren hinter mir kam nicht überraschend. Langsam drehte ich mich um. So also sah die Bestie aus. Sie hatte Ähnlichkeit mit einer Katze. Nur war sie viel größer. Das rostfarbene Fell war von breiten schwarzen Streifen durchzogen. Mit tiefem, kehligem Fauchen entblößte die Katze lange spitze Eckzähne. Auf riesigen Tatzen kam sie näher. Ich hatte noch niemals solch ein Tier gesehen. Meine Instinkte reagierten sofort. Mein Puls raste. Ich atmete schneller. Das Grollen der Bärin drang aus meinem Inneren. Ich hielt sie nicht zurück. Meine Sinne veränderten sich. Ich roch die große Katze ebenso wie den Schweiß der kämpfenden Männer in der Nähe. Noch während ich mich wandelte, stieß ich meine Wut in einem Brüllen aus. Das Brüllen verwandelte sich in das Knurren der Bärin. Die Katze hielt kurz inne, bevor sie vorsichtig näher kam.

 

Ich ließ die Bestie nicht aus den Augen. Sie schlug mit scharfen Krallen nach mir. Ich schwenkte meinen mächtigen Kopf und wich einige Schritte zurück. Ich stellte mich auf die Hinterbeine, so war ich größer als das Raubtier, ich brüllte und drängte die Katze kurzzeitig zurück. Doch als ich mich auf alle Viere zurückfallen ließ, war sie schon wieder da, schlug ihre scharfen Krallen in meine Schnauze. Der Schmerz war unerträglich, ich brüllte auf und schlug mit der Pranke gegen die Katze. Ich verfehlte sie. Blut tropfte mir aus der Schnauze. Ich konnte nicht mehr riechen, wollte weg von hier. Doch die Katze versuchte immer wieder, meine Flanke anzugreifen.

Und dann in einem Moment der Unachtsamkeit, ich war noch beeinträchtigt durch den Kratzer auf der Schnauze, sprang sie und ihre langen scharfen Zähne packten meine rechte Schulter. Ich brüllte. Mit aller Wucht drehte ich mich, riss mich los und verpasste der Katze einen schweren Hieb gegen den Schädel.

Die Bestie fiel zu Boden.

Ich zog mich zurück und wandelte mich.

Stöhnend sank ich ebenfalls zu Boden. Die Kratzer in meinem Gesicht brannten. Schlimmer war aber der Biss. Das Blut lief mir den ganzen Arm hinunter. Mir wurde übel und jedes Geräusch um mich herum klang dumpf und fern. Wo war die Bestie? Würde sie nun meine Schwäche ausnutzen? An Stelle der rostroten Bestie lag nun eine zierliche Gestalt. Sie war nackt – so wie ich selbst nach der Wandlung. Ich konnte kaum laufen, also robbte ich zu ihr. Es war nur ein Mädchen, ein Mädchen mit schwarzem Haar und schrägen Augen. Es atmete flach, Blut sickerte aus der Schädelwunde und färbte den Waldboden rot. Sie wirkte so jung ... so zerbrechlich.

Ich wurde wütend. Wieso hatte es zu diesem Kampf kommen müssen? Wieso musste man immer kämpfen? Was trieb ein Mädchen, fast noch ein Kind, dazu, mit einer Räuberbande Überfälle auf wehrlose Farmer zu begehen? Der Schmerz in meiner Schulter wich einem tiefen Stich in meinem Herzen. Ich hätte besser aufpassen müssen. Ich war eine erfahrene Kämpferin. Die Bärin hatte viele Zweikämpfe hinter sich. Ich hatte sie unter Kontrolle. Ich hätte meine Angst nicht überhand nehmen lassen dürfen.

Das Mädchen hob schwach die Augenlider. Seine Augen waren schwarz und in ihnen lagen die Qualen des Sterbens. Die Lippen bewegten sich tonlos. Ich verstand.

Meine Dolche lagen irgendwo weit weg an der Stelle, an der ich mich verwandelt hatte. Berenbarrs hohe Gestalt trat in mein Blickfeld. Mit wenigen Schritten war er bei mir. Er sprach hastig, beinahe besorgt. Seine Worte drangen nicht zu mir durch. Ich erreichte das Messer, das er im Schaft seines Stiefels trug.

Das Mädchen formte das Wort »Danke«. Blut lag auf ihren Lippen, zum Husten fehlte ihr die Kraft.

Ich hielt das Messer in der linken Hand. Mit aller Kraft, die mir geblieben war, stach ich zwischen die Rippen, dort, wo das Herz saß. Dann schwand mir das Licht vor Augen. Die Bewusstlosigkeit erlöste mich von meinem eigenen Schmerz.

 

Das nächste, woran ich mich dann erinnere, war Mareks warme Stimme, die sanft aber bestimmt zu mir durchdrang. Ich fühlte mich hinausgezogen aus der Schwärze, in der es weder Schmerz noch Schmach gab. Ich wehrte mich, wollte keine Qual spüren, keinen Gedanken verlieren an das, was ich getan hatte. Mareks Stimme und seine wohltuenden Salben verliehen der Schwärze jedoch nur ein warmes Licht und ließen mich im heilsamen Schlaf.

Viele Stunden später erwachte ich. Marek saß bei mir. Er wirkte müde, doch er lächelte erleichtert. Eigentlich war er erst in den Zwanzigern, wie ich selbst damals. In diesem Moment aber wirkte er viele Jahre älter. Marek war sowieso schon von hagerer Gestalt. Nun lagen dunkle Schatten unter seinen günbraunen Augen und eine tiefe Falte war auf seiner Stirn zu sehen. Sein hellrotes Haar stand zu allen Seiten ab. Er selbst hatte wahrscheinlich viele Stunden nicht geschlafen. Er wollte nach meiner Hand greifen, vermutlich um einen weiteren Heilzauber zu sprechen. Ich wich zurück, lächelte aber. Mein Kopf schmerzte, die Kratzer in meinem Gesicht brannten und meine rechte Schulter pochte. Aber ich lebte und die Wunden würden heilen, auch ohne Zauber.

»Wie schlimm war es?«, wollte ich mit rauer Stimme wissen. Meine Lippen waren trocken wie Sand.

»Du hast viel Blut verloren. Berenbarr hat dich noch rechtzeitig zu mir gebracht. Ich konnte die Wunde an der Schulter reinigen und nähen. Bisher liegt keine Infektion vor, aber du musst dich schonen, sonst brechen die Nähte auf. Und du musst sie mich kontrollieren lassen, damit auch wirklich kein Wundbrand entsteht.«

Wir befanden uns in meiner Kammer, ich lag in meinem eigenen Bett. Die Sonne stand tief und tauchte den kleinen gemütlichen Raum mit den hölzernen Wänden und der schlichten Einrichtung in warmes Licht.

Ires kam leise herein. Sie brachte einen Krug Wasser und etwas Brot. Sofort knurrte mein Magen. Dankbar trank und aß ich, bis ich mich gestärkt genug fühlte, um die nächste Frage zu stellen.

»Wo ist der König?«

»In der großen Halle. Lord Murro und Jarro sind bei ihm. Sie haben den Rat einberufen.«

Gut, man musste beratschlagen, wie auf die Überfälle weiter reagiert werden sollte. Und man musste untersuchen, welche Ursache ihnen zugrunde lag. Ich sollte an der Ratssitzung teilnehmen. Der Rat sollte hören, was ich zu sagen hatte.

Vorsichtig stand ich auf. Marek wollte Einspruch erheben, doch ich schüttelte den Kopf.

»Mir geht es gut genug. Nun ist es Zeit, dass du dich selbst ausruhst, Marek. Lass dich von Ires pflegen.«

Meine blonde Kampfgefährtin half mir beim Ankleiden. Ich trug meine weichen Lederbeinkleider, ein ungefärbtes Leinenhemd und ein ledernes Wams. Über meine Unterarme und damit über die Tätowierungen an meinen Handgelenken - einen einfachen Ring um mein rechtes Handgelenk und einige Schutzrunen auf der Innenseite meines linken Handgelenks - trug ich lederne Armschienen. Ires flocht meine braune Lockenmähne zu einem festen Zopf. Ich schaffte es, meine Stiefel alleine anzuziehen. Die Dolche ließ ich zurück. Im königlichen Rat waren Waffen verboten.

 

So verließ ich, noch etwas unsicher auf den Beinen, das Langhaus, das ich mit den anderen Mitgliedern der Leibwache bewohnte, und ging über den runden Platz zur großen Halle. Hier wurden Feste gefeiert, Ratssitzungen abgehalten und regelmäßig dem Volke die Gelegenheit geboten, vorzusprechen. Wie die meisten anderen Gebäude in Olthing, dem Hauptsitz des Königs von Tallgard, war die große Halle ganz aus Holz gebaut worden. Die Wände bestanden sogar aus ganzen Baumstämmen. Vor der mächtigen Eichentür standen Wachen, die mich ohne Zögern passieren ließen, da sie mich kannten.

Mein Erscheinen wurde kaum bemerkt. Der Rat war in eine hitzige Debatte vertieft. Alle Mitglieder waren erschienen: vier Frauen und die gleiche Anzahl Männer, darunter der Hohepriester Eldand und die Hohepriesterin Runa. Das Licht der Sonne fiel durch die Fenster weit oben in der Halle und spendete warmes Licht. Felle an den Wänden sperrten die teils noch frischen Winde des Frühlings aus. Doch es brannte kein Feuer in der Mitte der Halle, es war warm genug. Außer den Wachen vor der Tür gab es hier keine weiteren Bewaffneten.

Lord Murro, Befehlshaber der Leibwache, nickte mir von seinem Platz an der runden Tafel kurz zu. Ich schritt hinüber zu dem Podest, auf dem der hölzerne, mit Fellen belegte Thron des Königs stand. Berenbarr sah mir vorwurfsvoll entgegen. Erwartete er etwa, dass ich das Bett hütete, während hier Entscheidungen getroffen wurden? Ich neigte respektvoll den Kopf und nahm meinen Platz zu seiner Linken ein. Jarro, der auf der rechten Seite stand, sah mich böse an, was ich geflissentlich ignorierte.

Die Räuber waren tatsächlich Mitglieder einer Gilde aus dem Westen gewesen. Dort gab es immer wieder Unruhen. Weder König noch Königin regierten dieses Land. Die Menschen hatten sich in wilden Haufen zusammengefunden, die sie selbst Gilden nannten. Einige ähnelten wirklich Gilden, wie wir sie von Handwerkern kannten. Sie übten Berufe aus und boten sich gegenseitig Schutz und Unterstützung. Manche von ihnen waren Magiergilden. Andere aber waren bloß Räuberbanden größerer oder auch kleinerer Art. Die mächtigste Gilde zählte über zweihundert Mitglieder. Sie wurde angeführt von einer Gruppe mächtiger Krieger. Sie beanspruchten momentan die Vorherrschaft über das Gildenreich und mit ihnen würden wir uns auseinandersetzen müssen.

Nur der Fluss trennte dieses von Tallgard. Kriege zwischen den beiden Nachbarländern gab es seit der Gründung Tallgards immer wieder. Seit fünf Jahren herrschte jedoch Frieden.

Wie sollte Tallgard nun auf die zunehmenden Überfälle reagieren?

Einige Ratsmitglieder plädierten heftig dafür, die Grenzposten auszubauen und die dort stationierten Truppen aufzustocken. Andere baten um ein ruhiges Vorgehen, Tallgard dürfe sich nicht provozieren lassen. Ein weiterer Krieg musste vermieden werden. Die Diplomatie war gefragt, nicht die Kriegskunst. Von Männern und Frauen, die von Kriegern abstammten wie das Volk von Tallgard, war das viel verlangt.

Ich hatte genug gehört.

 

»Hohe Ratsmitglieder«, sprach ich so laut, dass alle mich hören konnten. Die Männer und Frauen verstummten allmählich. »Vergebt, dass ich das Wort ergreife. Hoheit, darf ich...?«

Der Rat von Tallgard stand jedem offen, der seine Meinung kundtun wollte. Der Form halber aber bedurfte es der Zustimmung des Königs, vorzusprechen.

Berenbarr nickte. Seine klugen blauen Augen ruhten interessiert auf mir. »Sprich, der Rat wird dich anhören.«

Ich trat hinunter von dem Podest des Königs, um an die runde Tafel des Rates zu gehen. »Das Mädchen, das ich tötete...«

»Sie meint wohl eher die Bestie«, warf Jarro ein.

»Das Mädchen«, sprach ich unbeirrt weiter, »war dünn und kaum bei Kräften.«

»Sie war stark genug, dich zu überwinden«, spottete Jarro.

»In ihrer Katzengestalt war sie es. Aber es reichte ein Schlag von mir, sie zu töten. Kann es nicht sein, dass die Gilden ebenfalls unter der Trockenheit der letzten Monate leiden?«

»Dann hätten wir bestimmt davon gehört«, meinte ein Ratsmitglied.

»Die größeren Gilden haben sicher die Macht und das Geld, die Trockenperiode zu überstehen. Die kleineren Gilden vielleicht nicht.«

»Was denn, sollen wir nun Almosen an unsere Nachbarn verteilen, damit sie uns nicht mehr überfallen?«

Die Ratsmitglieder brachen erneut in ein hitziges Streitgespräch aus.

»Die Gilden müssen das unter sich klären. Wir haben damit nichts zu tun! Sie sollen sich von unserer Grenze fern halten!«

»Tallgard liegt zwischen den Gilden und dem Meer zum Osten«, gab der König zu bedenken. »Das Reich der Gilden ist groß, einen Zugang zum Meer haben sie aber nicht. Und dadurch weder zum Fischfang, noch zum direkten Handel mit Alantua, Kantú und Südland.«

»Das darf uns nicht kümmern!«, warf einer der Lords ein. »Wann waren die Gilden uns gegenüber gnädig? Niemals! Erst mit der Hilfe Alantuas konnten wir unsere Grenzen sichern.«

»Das Volk will keinen neuen Krieg«, sprach Priesterin Runa besonnen.

König Berenbarr erhob sich. »Wenn wir einen Krieg verhindern können, sollten wir das tun. Lord Grandor, wählt einen Trupp Männer und Frauen aus, die Euch begleiten. Ich entsende Euch mit weißer Fahne zu den Gilden. Gleichzeitig werden wir die Truppen entlang des Flusses verstärken. Wir müssen unsere Bauern und Farmer schützen. Gibt es weitere Vorschläge?«

Die Ratsmitglieder sahen sich an. Warteten sie auf etwas? Sie sahen aus, als hätten sie etwas während unserer Abwesenheit besprochen, dessen Ergebnis sich nun niemand getraute, dem König mitzuteilen. Priester Eldand erhob sich schließlich.

»Es reicht nicht, nur mit den Gilden auszukommen. Wir müssen die Ursache für die Trockenheit herausfinden.«

»Die Ursache kennen allein die Götter.«

Genau darum schien es dem Priester zu gehen.

»Euer Hoheit, es gibt etwas, das uns schon lange beschäftigt. Ihr wisst, die Königshäuser von Tallgard, Alantua und Kantú stammen von den Göttern ab. Die Könige und Königinnen herrschen über unsere Länder im Auftrag der Götter ... seit Jahrtausenden. Doch mit der Zeit wird das göttliche Blut dünner. Und so gibt es bestimmte Rituale...« Der Priester hielt inne und schaute in die Runde. Doch er wagte es nicht, den König selbst anzuschauen.

Priesterin Runa ergänzte für ihn: »Das Land kann nur durch die Götter fruchtbar bleiben.«

Berenbarr wusste, wovon sie sprachen. Es herrschte Stille. Sie alle warteten auf seine Reaktion. Nach außen blieb der König ruhig. Langsam ließ er sich auf seinen Thron sinken.

»Die Hohe Hochzeit«, stimmte er leise zu.

Ich erstarrte. Wie konnten sie das von ihm verlangen?! Vor fünfzehn Jahren hatte er seine geliebte Frau und seinen Sohn an ein Fieber verloren. Berenbarr war damals noch sehr jung gewesen, gerade zwanzig Sommer. Der Kummer hatte ihn beinahe ertränkt. Ich lebte zu dieser Zeit noch nicht in Tallgard, doch ich hatte die Geschichte gehört.

Einmal im Jahr besuchte Berenbarr das Grab seiner Frau Beldra und des Säuglings. Oft hatte ich in gebührlichem Abstand Wache gehalten, wenn er zu dem Geist seiner Geliebten sprach. Sein Schmerz ist nie vergangen, und seither hat er keine neue Königin an seine Seite berufen.

Das Ritual der Hohen Hochzeit verlangte, dass sich ein Mann und eine Frau, beide königlichen Geblüts, vor den Göttern und in deren Namen vereinigten. Sie erneuerten damit den göttlichen Segen und brachten Frieden und Fruchtbarkeit über ihr Land.

 

Mir wurde kalt. Plötzlich fühlte ich wieder die Anstrengung der letzten Stunden. Meine Schulter schmerzte. Tallgard, Alantua und Kantú; drei Länder, eine Religion, ein Ursprung.

Weder in Tallgard, noch in Kantú gab es derzeit Töchter königlichen Geblüts.

Berenbarr hob den Blick. Seine blauen Augen richteten sich auf mich. Wir dachten dasselbe:

 

Alantua.

2. Sonnhafen

Sie fiel.

Unter ihr brodelte die heiße Lava.

Der Mann mit dem kurzen schwarzen Haar und der Narbe an der Unterlippe stand oben auf der Klippe und lachte.

Sie wollte schreien, doch kein Ton drang aus ihrer Kehle. Ihr Hals war trocken. Sie spürte die Hitze der Lava brennend auf der Haut, brennend überall. Ihr schönes schwarzes Kleid fing Feuer.

Sie würde sterben.

 

Anyún erwachte. Ihr dünnes Baumwollhemdchen klebte an ihrem schweißgebadeten Körper. Sie keuchte. Ihr Hals war trocken. Ihre Augen gewöhnten sich nur langsam an die Dunkelheit.

Sie saß auf ihrem Bett mit den strahlendweißen Laken. Dort, in der Ecke neben der Tür, stand die Truhe aus Dejia mit ihren Habseligkeiten. Unter dem Fenster stand der kleine Schreibtisch, den Vater ihr gezimmert hatte.

Sie war zuhause. Und sie lebte.

»Nur ein Albtraum«, keuchte sie. Egal wie echt er sich angefühlt hatte.

Noch immer meinte sie, die Hitze der Lava zu spüren. Das Gesicht des Mannes mit der Narbe war ihr ebenso gegenwärtig.

Sie stand auf, um die Fensterläden zu öffnen. Die Nachtluft war frisch und es tat gut, sie auf der erhitzten Haut zu spüren. Keine Wolke zeigte sich am Sternenhimmel über Sonnhafen und der Mond verbarg sein Gesicht, denn es war Neumond.

Leise schlich sich Anyún in das untere Geschoss des Hauses. Sie wollte ihre Eltern und ihre kleinen Geschwister nicht wecken.

In der Küche fand sie einen Krug mit Wasser. Sie schenkte sich einen Becher ein und trank ihn in hastigen Schlucken leer. Die Trockenheit in ihrer Kehle verschwand. Die Unruhe, die der Traum hervorgerufen hatte, blieb jedoch. An Schlaf war nicht zu denken.

Manchmal, so hatte es Vater sie gelehrt, schicken uns die Götter Träume, um uns etwas zu sagen. Sie wollen uns warnen ... oder etwas zeigen. Aber meistens verarbeiten wir im Traum Erlebtes, und das Geträumte hat nichts weiter zu bedeuten. Zu gerne hätte Anyún mit ihrem Vater über diesen Traum gesprochen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals dem Mann mit der Narbe begegnet zu sein. Und Lava hatte sie auch nie mit eigenen Augen gesehen, nur in Vaters Büchern davon gelesen.

Sie schlich zurück in ihr Zimmer, zog ein einfaches dunkelgrünes Gewand über und legte ihren erdfarbenen Umhang an. Als sie leise das Haus verließ, wusste sie noch nicht, wohin sie gehen sollte. Ein Blick zurück zeigte ihr, dass in dem zweistöckigen Gebäude kein Licht brannte. Niemand hatte ihr Verschwinden bemerkt.

Ihr Zuhause lag am westlichsten Rand von Sonnhafen. Sie entschied, nach Osten zu gehen, in die Stadt hinein und nicht weiter westlich über den kleinen Fluss und in den Wald. Keine Menschenseele war zu dieser Stunde unterwegs in der beschaulichen Hauptstadt der Magier. Der Marktplatz mit dem großen Brunnen bildete den Mittelpunkt Sonnhafens. Hier verkauften am Tag Bauern und Händler ihre Waren und Herolde verkündeten die offiziellen Neuigkeiten aus allen Ecken der Insel, während die Marktbesucher leise die Informationen austauschten, die eher inoffizieller Natur waren.

Einsam stand Anyún vor dem Brunnen der fünf Gottheiten. War der Traum womöglich wirklich der Versuch der Götter, ihr etwas mitzuteilen? Doch wieso ihr? Und wieso jetzt? Sie war erst sechzehn Sommer jung. Hier auf der Insel der Magier war sie eine von vielen, die versuchte, ihre magischen Fähigkeiten zu entwickeln. Und sie war wirklich nicht die Begabteste.

Ihr Vater übte jeden Tag mit ihr und gab ihr zahlreiche Bücher, aus denen sie Zaubersprüche und magische Gesten auswendig lernen konnte. Seit vier Jahren lebte sie bei ihm und seiner Frau, ihrer Stiefmutter. Anyún beherrschte die Grundbegriffe der Elemente. Sie konnte ein Licht auf ihrer Hand erscheinen lassen, einen kleinen Stein von der Stelle bewegen, mit einem Funken konnte sie ein Lagerfeuer entzünden, es mit einem Lufthauch höher fackeln lassen und es mit einem kleinen Schwall Wasser aus dem Nichts wieder erlöschen lassen. Das war genau das, was jedes Kind auf dieser Insel zustande brachte. In ihrem Alter aber sollte sie eines der Elemente voll und ganz für sich entdeckt haben. Vater tröstete sie damit, dass sie erst spät mit ihrer Ausbildung begonnen hatte. Es war ihr sehr bewusst, dass sie es schwerer hatte, als andere jungen Magier. Ihre leibliche Mutter besaß keinerlei magische Kräfte. Und so war Anyún nur zur Hälfte Magierin.

Sie sah auf zur Statue Alanwys, der Göttin der Sonne und des Lichts, Mutter aller Götter. Alanwy blickte weise von ihrer erhobenen Position auf sie herab. Die Zacken ihrer Krone waren wie Sonnenstrahlen geformt.

Zu Alanwys Rechten stand Monwym, die Mondgöttin, den Blick auf das Wasser im Brunnen gerichtet, das Haupt von einem weichfließenden Schleier umgeben. Sie war die Herrin über das Wasser.

Links von Alanwy saß Wenwym, der Abendstern und Herr des Windes, den Blick verträumt gen Himmel gerichtet.

Zu Alanwys Füßen saß Semja, Mutter Erde, Schöpferin aller Menschen, Tiere und Pflanzen. Sie trug einen Blumenkranz im gelockten Haar und hielt liebevoll ein Rehkitz in ihren Armen.

Etwas abseits der Gruppe stand Zarom in seinem Mantel der Nacht mit aufgesetzter Kapuze. Anyún hatte stets das Gefühl, er betrachte die anderen Götter mit Neid oder Eifersucht.

Semeros Tarzos, Anyúns Vater, war als Erdmagier der Göttin Semja verbunden. Doch Anyún hatte die ersten zwölf Jahre ihres Lebens in Dejia, der Hauptstadt Alantuas verbracht. Dort wurde besonders die Sonnengöttin verehrt.

Welcher der Götter sollte ihr einen Traum geschickt haben? Und warum?

 

Am Rande des Marktplatzes gingen zwei Frauen in hellen Umhängen entlang. Anyún erschrak, als sie bemerkte, dass sie nicht mehr allein war. Doch die beiden waren in ein leises Gespräch vertieft und beachteten das Mädchen nicht weiter. Sie gingen weiter ihres Weges. Dort, am östlichsten Rand Sonnhafens, erhob sich über kleinere Gebäude und Bäume hinweg die weiße Kuppel des Lichttempels.

Sonnaufgang musste nahe sein. Die Anhänger Alanwys fanden sich bei Sonnenaufgang im Lichttempel ein, um die Muttergöttin zu ehren.

Die Statue der Göttin lächelte aufmunternd auf Anyún herab. Das Mädchen atmete tief ein und folgte den Gläubigen.

Der Tempel war kleiner, als es der alte Tempel in Dejia gewesen war. Vor sechs Jahren war dieser durch ein verheerendes Feuer zerstört worden und seitdem war man mit dem Wiederaufbau beschäftigt.

Hier in Sonnhafen erhoben sich zwei weiße Säulen vor dem Eingang. Kein Tor verschloss jemals den Gläubigen den Eintritt. Jederzeit war so der Zugang gewährt.

Nur wenige Male war sie zuvor hier gewesen, die Sonnenmesse hatte sie aber nie besucht. Tausend Menschen hätten auf dem weißen steinernen Platz im Inneren Platz gefunden. Lebten überhaupt so viele Menschen in Sonnhafen? Im Moment waren nur die vordersten drei Reihen gefüllt. Sie sah die weißen, schmucklosen Gewänder der Priester, Magier und Novizen vermischt mit den ungefärbten Gewändern von Dienern und Handwerkern. Auf der Insel der Magier war das Gefälle zwischen Arm und Reich gering, gingen hier doch die meisten Menschen den Studien der Magie und der Lobpreisung der Götter nach.

Anyún nahm in der vierten Reihe Platz, etwas entfernt von einem der Novizen. Die Gläubigen hatten den Blick auf das runde Fenster gerichtet, dessen Rahmen golden schimmerte. Die Architektur des Tempels war so konzipiert, dass bei Sonnenaufgang das Licht genau durch dieses Fenster fiel.

Wollte Alanwy, die große Muttergöttin, ihr wirklich ein Zeichen schicken, wäre dieser heilige Moment der passende Zeitpunkt.

Der Himmel, der durch das Fenster zu sehen war, hellte bereits auf und die Sterne verblassten. Ein Priester hatte die Kerzen im Tempel gelöscht. Ein leises Summen wurde angestimmt. Von den steinernen Wänden zurückgeworfen, klang es wie das Summen eines Bienenschwarms.

Anyún summte nicht mit. Sie wartete.

Die Priester und die Gemeinde summten lauter. Und dann, als der erste Lichtstrahl die untere Kante des goldenen Rahmens berührte, wurde dieser reflektiert und badete das Innere des Tempels in ein goldenes Strahlen.

Der Sonnenpriester stimmte den zeremoniellen Morgengesang an, die Gläubigen stimmten ein. Sie dankten der Muttergöttin für die Wärme und das Licht auf Erden, für jeden Tag und alles Leben.

Anyún blieb still, obwohl sie die Worte des Gesangs kannte. In ihrer Kindheit hatte sie diese oft gesungen, gemeinsam mit ihrer Mutter.

Sie hatte gehofft, dieser Moment würde ihr eine Antwort bringen, ein kleines Zeichen, eine Botschaft der Göttin, wie sie den schrecklichen Traum der vergangenen Nacht zu deuten hatte. Zumindest hatte sie jedoch gehofft, der Aufgang der Sonne würde die Finsternis in ihrem Inneren vertreiben. Doch die Wärme und die Freude der anderen Anwesenden vermochten Anyúns Herz nicht zu erreichen. Sie spürte noch immer das Feuer, die Lava, die Finsternis und den Tod.

 

Vielleicht hätte sie bleiben sollen, um mit einem der Priester zu reden.

Doch was hätte man ihr schon zu sagen? Dass es nur ein Albtraum war, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte? Man würde sie nach Hause schicken, wie man es mit Mädchen in ihrem Alter tat. Unzufrieden erhob sie sich, noch bevor die Morgenandacht vorüber war.

Erst als sie die letzten Bänke passierte, bemerkte sie, dass dort hinten noch jemand saß, ein Mann, gehüllt in einen weißen Kapuzenumhang.

Ihre Blicke trafen sich. In seinen hellen Augen lag Neugier und gleichzeitig so etwas wie Spott.

Anyún senkte den Blick und beschleunigte ihre Schritte. Vor dem Tempel wandte sie sich sofort nach rechts, ging etwas weiter, fand eine steinerne Bank neben einer Birke und ließ sich darauf sinken. Tief atmete sie die frische Luft ein. Ihr Herz raste. Warum war sie nur so unruhig? Sie erkannte sich selbst kaum wieder. Wieso konnte ein dummer Albtraum sie derart aus der Fassung bringen? Und warum hatte sie angenommen, es könne mehr als ein verdammter Traum sein?

Jemand näherte sich. Sie hatte die Schritte seiner Stiefel auf den Pflastersteinen gehört. Kurz vor der Sitzbank blieb er stehen. Es war der junge Mann, der ganz hinten im Tempel des Lichts gesessen hatte. Missmutig sah sie in die entgegengesetzte Richtung und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie wollte ihn zu keinerlei Konversation ermutigen.

Sie hatte Glück und er ging weiter.

Doch als sie ihm vorsichtig nachsah, drehte er sich noch einmal um, lächelte spöttisch und ging weiter. Bei dieser Bewegung war kurz seine Kleidung unter dem cremefarbenen Umhang zu sehen gewesen. Er trug Schwarz, tiefstes Schwarz. Anyún stockte der Atem. Er war kein Gläubiger der Lichtgöttin. Nein, dies war ein Diener der Finsternis!

Ruckartig erhob sie sich und entfloh in die entgegengesetzte Richtung. Sie wollte diesen Moment lieber vergessen. Sie wollte den ganzen Morgen vergessen und ganz besonders diesen grauenvollen Traum.

 

Genau deshalb sprach sie in den folgenden Tagen mit niemandem darüber. Sie dachte, wenn sie nicht darüber redete, so würde ihr der Traum bald aus ihrem Bewusstsein schwinden, wie es mit schlechten Träumen immer geschah. Doch diesmal war es anders. Sie versuchte, ihre alltäglichen Pflichten zu erledigen, half ihrer Stiefmutter im Haus, spielte mit ihren Halbgeschwistern und studierte die Bücher ihres Vaters. Das Feuer war immer da: Wenn sie die Augen schloss, wenn sie in den Ofen sah, wenn sie die Kerzen am Abend entzündete.

 

Dann kam der Markttag und sie freute sich darüber, dass ihre Stiefmutter Melena sie mit einer Liste von zu erledigenden Besorgungen dorthin schickte. Genau das war die Ablenkung, die sie sich ersehnt hatte. Sie nahm ihren geflochtenen Korb mit sich und freute sich auf die verschiedenen Stände und die Waren der Händler. Da sie auf einer Insel lebten, kamen viele der Händler mit Booten aus Alantua und Tallgard. Sie brachten nicht nur ihre Güter und Handwerksarbeiten mit sich, sondern auch Neuigkeiten aus den beiden Königreichen. So vernahm sie am Stand eines Fischers, dass es in Tallgard Überfälle aus dem Gildenreich gegeben hätte und dass der Boden dort unter einer anhaltenden Trockenheit litt.

Bald hatte sie die Eier, den Met und das Salz besorgt, wie es Melena ihr aufgetragen hatte. Da vernahm sie eine junge Stimme am Rande des Marktplatzes.

Statt direkt nach Hause zu gehen und ihrer Stiefmutter bei den Vorbereitungen zu helfen, suchte sie sich einen Platz im Schatten einer jungen Birke, stellte den Korb mit den Einkäufen neben sich auf den Boden und versuchte zu erhaschen, was der junge Mann zu sagen hatte. Ein junger Novize der Göttin Alanwy appellierte unweit an die Marktbesucher. Die Insel der Magier war nicht nur ein Hort der magischen Studien, auch die gelehrtesten Priester der Königreiche waren hier zu Hause. Es war keine Seltenheit, dass Novizen auf der Insel spontane Predigten hielten. Sie schulten so ihre Redegewandtheit und pflegten den Kontakt zum Volk. Und genauso oft kam es vor, dass eine Gruppe Andersgläubiger hinzu kam und den Prediger provozierte. Zwischen den Zuhörern befanden sich drei oder vier schwarzgekleidete Anhänger Zaroms.

Der Novize sprach von der Wichtigkeit des Lichts, und dass es ohne Licht kein Leben gebe. Die Gläubigen Zaroms spotteten, dass es ohne Dunkelheit kein Licht gebe und dort wo Licht sei, gebe es auch immer Schatten. Sie provozierten und beleidigten ihn.

»Licht ist Frieden und Licht ist Glück. Jeder, der dem Licht folgt, wird das wahre Glück erfahren«, sprach der junge Mann in der weißen Robe.

»Sicher, denn Eure lichte Göttin ist nur ein schöner Schein«, meldete sich ein Schwarzgekleideter dreist zu Wort.

Die Zuhörer tuschelten. Manche verließen den Kreis, andere stießen neugierig hinzu.

»Licht ist Wahrheit«, fuhr der Novize unbeirrt fort.

»Licht ist nur Trug und zeigt nie die Wahrheit«, spottete ein anderer Mann in Schwarz.

Die Haltung des Novizen wurde steifer, auch wenn er den Blick tapfer, beinahe trotzig, in die Runde seiner Zuhörer gerichtet hielt.

»Die Dunkelheit ist bloß das Fehlen des Lichts. Dunkelheit kann niemals das schaffen, was das Licht bewirkt: Glück, Liebe und Frieden. Dunkelheit schafft nur Einsamkeit und Wut.«

»Oh, welch weise Worte aus so jungem Munde. Er vergisst nur, dass Dunkelheit so viel mehr kann: Die Dunkelheit bringt den Tod.«

Das Gemurmel wurde lauter. Bargen diese Worte eine Drohung? Weitere Menschen blieben stehen und gafften. Anyún war empört. Warum ließen die Schwarzgekleideten den Novizen nicht einfach in Ruhe? Er

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Die Benutzung des Liedtextes "Sauft Brüder Sauft" erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Band "Die Streuner".
Bildmaterialien: Cover: Jessica Bernett / "Fantasy Compass" © Dianne, Adobe Stock
Lektorat: Antje Adamson / Jean
Tag der Veröffentlichung: 10.08.2012
ISBN: 978-3-7309-6816-1

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für die starken Frauen in meinem Leben: Angelika, Mariza, Désirée und Anina. Und für die starken Männer an unserer Seite.

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