Cover

Wenn alles mild und ruhig erscheint, dann ist es nur die Ruhe
vor dem Sturm.


Freunde, gebt Acht vor den Geboten des Schicksals, die immer
schwingenden Flügel, die ewige Kreise ziehen.


Der Strom, der dich fortreißt, fließt schon, wenn du erwachst …


Prolog




Die Nacht war voller Schatten, es waren vier Monde, die hinter dem Vorhang der Wolken verborgen waren. Nichts erinnerte daran, dass der vergangene Tag sonnig und mild war, dass die Sommerblumen blühten und der Himmel strahlend blau war.
Hier gab es nichts, außer einem langen Weg, trockene Gräser, verwelkte Blätter und den kalten Atem des nächtlichen Windes. Es war der Ort, der dieses Gefühl des Todes, des Dahinwelkens und des Endes mit sich brachte. Es war das verwunschene Stück Land, das die Kinder verzweifeln ließ, ihnen Angst machte und ihnen die Kraft raubte. Es war das Land, mit dem sagenumwobenen, gigantischen Tempel im Zentrum. Dieser Tempel war so alt, wie die Zeit und so gefürchtet und gemieden, wie der Tod selbst.
,, Wir sind da", flüsterte der Junge seiner Gruppe zu.
Er war der Wortführer unter den Kindern, obwohl er nicht einmal der älteste und stärkste von ihnen war, doch er war bei Weitem der mutigste.
Um ihn herum standen weitere Kinder. Es waren ein Junge und ein Mädchen, beide im Alter gleich und im Aussehen so ähnlich, wie Zwillinge es nur sein konnten, obwohl das Heranwachsen an beiden unterschiedliche Spuren hinterlassen hatte. Der vierte und letzte in der Gruppe, war ein hagerer, hochgewachsener Junge. Seine langen Haare fielen, wie ein Vorhang, über sein Gesicht, der mutlose Ausdruck in seinen Augen kam den der Zwillinge gleich. Der Anführer zeigte keine Spur von Angst oder Verzweiflung, seine Augen strahlten seinen Willen aus, den innigsten Wunsch, diesen Tempel endlich zu betreten, den bisher so viele Menschen gemieden hatten.
,, Er ist so unheimlich. Ich weiß nicht, ob es klug ist, auch nur in der Nähe dieses Schreins zu sein", hauchte der hagere Junge.
Vier Augenpaare wanderten die steilen, moosbewachsenen und verwitternden Mauern des Baus hinauf und blieben an den neun steinernen, gesichterlosen Schädeln hängen. Der eisige Wind fegte um die Beine der Kinder, wirbelte um die Steinköpfe und entlockte ihnen ein schrilles, kaltes Lachen. Ein Mond warf sein silbriges Licht durch die aufklaffende Wolkendecke und beleuchtete neun grinsende, unheimlich schielende Fratzen, deren Blicke das Herz der Kinder durchbohrten.
Alle Vier wichen erschrocken zurück, das einzige Mädchen in der Gruppe stieß einen Schrei aus, doch da erlosch das Licht des Mondes und da verstummte das Heulen des Windes und nun waren da wieder die neun Schädel, ohne Augen, ohne Mund und ohne Leben.
,, Wir werden langsam verrückt, Leute!", wimmerte der Zwilling.
,, Wir drehen durch! Wir dürfen nicht hier sein, wir dürfen nicht hier sein!"
,, Ruhe!", zischte der Anführer harsch und es klang kühner, als er sich fühlte.
,, Wir haben keine Wahl! Wir müssen hier hinein! Wir sind nun so weit gekommen, jetzt dürfen wir nicht aufgeben."
Das Mädchen, das ihr Gesicht an die Schulter ihres Bruders gedrückt hatte, nickte langsam.
,, Zat hat recht", flüsterte sie.
,, Das ist die einzige Möglichkeit Morsom zur Strecke zu bringen."
Der Anführer nickte und drehte sich wieder zu dem schattigen Tempel um.
,, Glaubst du denn, dass es überhaupt noch hier ist?", fragte der hochgewachsene Junge zögerlich.
,, Das Schwert in diesem Tempel ist die einzige Möglichkeit, um Morsom zu vernichten und wir wissen, wie stark er ist. Glaubst du nicht, dass er das Schwert bereits an sich gerissen hat? Lässt er es denn wirklich so lange hier, obwohl er fürchten muss, dass es gegen ihn verwendet werden kann?"
Der Anführer, Zat, schüttelte den Kopf.
,, Dies ist der sicherste Ort für das Schwert und das weiß Morsom auch. Er schätzt die Menschen genau richtig ein. Niemand wäre so verrückt, in diesen Tempel zu gehen und das Schwert an sich zu nehmen."
,, Wie gut, dass wir so verrückt sind ...", murmelte der Zwilling und man merkte es ihm an, dass er wirklich an den Verstand des Gruppenführers zweifelte.
,, Niemals würde er auf die Idee kommen, dass ein paar Halbwüchsige sich wagen, auch nur in die Nähe dieses Gemäuers zu gehen. Er rechnet nicht mit unserem Mut und mit unserer Entschlossenheit", erklärte Zat und abermals blitzte ein ungewöhnlicher Glanz in seinen blauen Augen auf.
,, Er rechnet nicht mit unserem Wahnsinn ...", zischte der Zwilling.
,, Ich hab mir nicht vorgestellt, dass es einfach wird, ganz und gar nicht, aber jetzt stehen wir hier vor diesem Tempel, in dem eine Magie verborgen ist, die wir niemals verstehen werden. Mein Gefühl hat mich bisher nie getäuscht und diesmal sagt es mir, dass wir verschwinden sollen, wenn uns unser Leben lieb ist!"
,, Feigling!", schleuderte Zat ihm entgegen und seine Worten knallten durch die Nacht, wie ein Peitschenhieb.
Der Zwilling schreckte zurück, ebenso, wie der hagere Junge.
,, Morsom drang in unser Land ein, er tötete unsere Eltern, unsere Freunde und Bekannte, er verwüstete unser Zuhause! Wir stehen da und wissen nicht weiter, wir haben nichts mehr, nur noch das Leben, das Morsom uns auch bald nehmen wird und nun haben wir endlich die Gelegenheit etwas zu tun, die Chance dieses Monster zu bekämpfen und nun willst du kneifen? In diesem Tempel befindet sich das Schwert der Unterwelt, eine Waffe, die selbst die Unsterblichkeit vernichten kann. Dies ist unsere einzige Chance!"
Auf Zats Rede folgte betroffenes Schweigen, bis sich das Mädchen von ihrem Zwillingsbruder löste und die Hand des Anführers ergriff.
,, Du hast recht!", flüsterte sie und schenkte ihm ein schwaches, aber liebevolles Lächeln.
,, Die Wahrscheinlichkeit, dass wir die Mächte dieses Tempels überleben, ist sehr gering, doch es ist zumindest nicht unmöglich. Und was bringt uns noch das Leben, wenn Morsom uns weiter unterdrückt."
Der hagere Junge nickte.
,, Was ist es für ein Leben, das wir jetzt führen? Unser Leben geht nur weiter, wenn Morsom besiegt ist!"
,, So ist es", sprach Zat und drückte die Hand seiner Freundin.
Der Zwilling schnaufte und schloss die Augen.
,, Na gut!", stieß er hervor.
,, Was soll´s? Wir sterben doch sowieso! Aber lass uns jetzt endlich reingehen, sonst drehe ich noch durch!"
Zat nickte.
,, Wir haben genug Zeit vergeudet. Lasst uns gehen!"
Die Kinder nickten, ein letztes Mal huschten ihre Augen über sie neun steinernen Schädel und dann schritten sie Zat hinterher, durch den alten bröckeligen Steinbogen.

Schon als sie nur einen Schritt in den Tempel gewagt hatten, umfing sie eine schmerzhafte Kälte, sie sogen die eisige Luft in ihre Lungen und mussten husten. Dichter Nebel schwebte über den Boden, kroch ihnen die Beine hoch, durchzog ihre Kleidung sofort mit einer eiskalten Feuchtigkeit, die sich in ihre Haut einzubrennen schien und sich bis in ihre Knochen durchfraß.
Es war unfassbar schwer zu atmen, und obwohl es so kalt war, trat den Kindern der Schweiß auf die Stirn, der in dieser Halle zu gefrieren schien.
Ihre Augen wanderten durch die große Halle, in der sie sich nun befanden. Sie war vollkommen leer und erdrückend finster, nur zwei bläuliche Flammen züngelten an der hintersten Wand und wiesen den Weg in einen engen Gang. Links und rechts in der Halle taten sich Reihen von riesigen Säulen auf.
Der Blick des hageren Jungen war auf die Flammen gerichtet und dem einzigen Weg, weiter in den Tempel hinein.
,, Was ist das für ein Feuer?", fragte er Zat.
Sein Atem ging stoßweise, seine Augen waren weit aufgerissen.
,, Das sind Irrlichter", keuchte das Mädchen ängstlich.
,, Unruhige Seelen, die die Menschen durch den Tod geleiten."
Zat schluckte, machte jedoch weitere Schritte auf die Lichter zu.
,, Sind sie gefährlich?", fragte er leise.
Sie schüttelte den Kopf.
,, Sie wollen uns den Weg weisen."

Als sie die Irrlichter erreicht hatten, spähten sie in den dunklen und engen Gang. Ganz am Ende und kaum zu erkennen, flackerten weitere Irrlichter und wiesen den Weg in den nächsten Raum.
Die Kinder atmeten tief durch, gingen an den Lichtern vorbei und betraten den Tempelgang. Das blaue Feuer der Irrlichter, erhellte die Gesichter der Gefährten, ließ sie leichenblass erstrahlen, warf tiefe Schatten um ihre Augen und dunkle Furchen um ihre Wangen.
Panisch keuchend riss das Mädchen sich von der Hand ihres Freundes los und stolperte von ihm weg.
,, Was ist los mit dir?", fragte ihr Zwillingsbruder, während sie Zat immer noch zitternd anstarrte.
,, Verzeih mir ...", murmelte sie.
,, Ich habe mich nur so erschreckt."
Zat sah sie eine Weile wortlos an, doch dann ging er weiter, tiefer hinein, in die Eingeweide des Tempels. Er führte seine Gruppe an, die Kälte ignorierte er, die Irrlichter machten ihm keine Angst. Er hatte nur noch ein Ziel, er hatte nur diese Chance und der Wille erfüllte sein Herz, der Wille, dieses Schwert zu erreichen. Er war ganz nah dran, das wusste er und nichts konnte ihn noch stoppen. Er schloss die Augen und sah die leblosen Körper seiner Familie, ihre weit aufgerissenen, starren Augen. Er wird sie rächen, Morsom wird fallen!

Der Gang war noch kälter und nebelverhangener, als die Eingangshalle. Es war so eisig, das jeder Atemzug schmerzte, der Nebel war dicht und legte sich hart auf ihre Brust, als wären sie unter einem Felsblock begraben. Luft holen war fast unmöglich geworden. Eine dröhnende Stille drückte auf ihre Ohren, die Irrlichter, am Ende des Ganges, zuckten und zitterten, als wären sie erregt und neugierig. Sie waren das einzige Licht in der alles umfassenden Dunkelheit und es brannte in den Augen der Kinder, ebenso wie es in ihrer Brust brannte, mit jedem Atemzug, den sie taten. Sie keuchten nur noch, das Mädchen stolperte hin und her, stützte sich an der Wand ab und wimmerte.
Zat hustete und ein schmerzhafter Stich durchfuhr seinen Körper. Langsam und mit jedem Schritt, den er tat, schien der Wille und die Entschlossenheit in einem Sumpf aus Kraftlosigkeit und Verzweiflung zu versinken. Schaffte er den nächsten Schritt noch? Waren die Irrlichter am Ende des Ganges zu erreichen? Waren sie überhaupt jemals in der Lage gewesen, diesen Tempel bis zu dem letzten Raum zu durchsuchen? Brachte es überhaupt noch etwas?
Er blinzelte und die Irrlichter schienen zu verschwimmen. Hektisch schüttelte er den Kopf. Er musste weitermachen.
Ein schwaches Stöhnen war zu hören, daraufhin folgte ein dumpfer Aufprall.
,, Velda!", keuchte der Zwillingsbruder.
Er ging in die Knie und rüttelte die leblose Gestalt seiner Schwester. Der hagere Junge kniete sich ebenfalls hin, der Nebel schien das Mädchen fast gänzlich zu verschlucken.
,, Velda! Nein! Bitte nicht, Velda!", jammerte der Zwilling.
,, Zat!", würgte der Hagere mühsam hervor.
,, Hilf uns! Wir müssen sie hier rausbringen!"
Zat machte sich nicht einmal die Mühe sich umzudrehen.
,, Nein!", sagte er.
Der Zwilling und der Lange starrten ihn an. Sie zitterten und keuchten nur noch, ihre eiskalten Hände umschlossen die Arme Veldas.
,, Zat! Velda ist zusammengebrochen. Wenn wir sie nicht rausbringen, stirbt sie! Das ist zu viel für uns! Das halten wir nicht aus!"
,, Aber das Schwert der Unterwelt!", zischte Zat, der sich immer noch nicht zu seiner ohnmächtigen Freundin umgedreht hatte.
,, Wir können doch nicht einfach abhauen! Wir sind doch schon ganz nah dran!"
,, Wir werden es niemals erreichen!", stieß der Hagere hervor, während der Zwilling versuchte, seine Schwester vom Boden hochzuziehen.
,, Zat! Begreif doch! Lebend kriegen wir das nicht! Dies ist kein normaler Tempel, dies ist der Eingang zur Unterwelt! Alles um uns herum ist tot und uns entzieht man ebenfalls jegliches Leben! Es war niemals möglich gewesen dieses Schwert zu bekommen, niemand ist stark genug dafür!"
,, Kain!", fauchte Zat und der Lange verstummte sofort.
Der Zwilling stöhnte und versuchte weiter verzweifelt seine Schwester über seine Schulter zu wuchten.
,, Kain, hilf mir bitte!", japste er.
,, Sie muss hier raus!"
Kain sah zu dem Zwilling und wieder zu Zat.
,, Ich werde nicht gehen!", sprach Zat mit einer festen Stimme.
Die Worte seines Freundes hatten ihn wachgerüttelt. Niemand konnte es schaffen? Er konnte! Er war bereit! Er wollte seine Familie rächen! Er wollte das Monster besiegen, das ihm Albträume bereitete, ihm seine Familie geraubt hatte!
,, Ich kann das Ziel erreichen. Ich werde Morsom vernichten, denn mir bedeutet mein Zuhause etwas und mir bedeutet meine Familie etwas!"
Während er das sagte, fasste er sich an seinen rechten Oberarm, kniff kurz hinein und schluckte schwer.
,, Sei nicht dumm!", rief Kain verzweifelt.
,, Sieh dir Velda an! Bedeutet sie dir nichts?"
,, Sie wusste, was sie tat! Uns war klar, dass wir es vielleicht nicht schaffen, aber wir wollten so weit gehen, wie wir können! Lasst ihr mich jetzt im Stich? Lasst ihr unsere Heimat Spes im Stich?"
,, Kain, bitte!", stöhnte der Zwilling kraftlos.
,, Hilf mir doch!"
,, Kain, Choppo...", flüsterte Zat.
Er biss die Zähne zusammen und ballte seine Hände zu Fäusten.
,, Wir habe uns etwas geschworen!"
,, Ich lasse Velda nicht im Stich!", fauchte Choppo seinen Anführer an.
,, Und Kain auch nicht, oder ?"
,, Komm mit uns!", bat Kain.
,, Das ist es nicht wert."
Er ging zu Choppo und half ihm, Velda vom Boden aufzuheben und auf seinen Rücken zu verfrachten.
,, Doch das ist es!"
Zat ging weiter. Seine Schritte waren fester als zuvor, sein Gang war schneller und energischer. Seine Wut fachte ihn an. Seine Wut und die Enttäuschung, über seine Freunde. Hatten sie nicht mit ihm gehen wollen? Bis zum Ende? Hatten sie nicht immer auch auf ihn zählen können? Und nun ließen sie ihn im Stich? Nun, da er sie brauchte, nach all den Versprechen, die sie sich gegeben hatten?
,, Zat!", rief Kain ihm hinterher.
,, Komm zurück! Das überlebst du nicht!
Zat ging schneller. Fast hatte er die Irrlichter erreicht, fast war er angekommen, an dem Ort, an dem die Waffe versteckt war, die Morsom besiegen konnte.
Choppo stolperte bereits, mit Velda auf dem Rücken, in die andere Richtung davon.
,, Zat!", rief Kain wieder.
,, Lass mich!", keifte er zurück.
Selbst seine Stimme war wieder fester geworden.
,, Das ist mein einziger Weg! Alles, was ich jetzt noch will! Wenn du nicht mit mir kommen willst, dann geh! Geh und komm mir nie wieder unter die Augen! Wir sind keine Freunde mehr! Unsere Allianz ist aufgelöst!"
,, Aber Zat..."
Sie hörten, wie Choppo stolperte und hinschlug.
,, Kain ...", rief er.
,, Bitte hilf mir! Ich schaff es nicht alleine!"
Kain drehte sich um.
,, Ich kann Velda nicht sterben lassen und ich verstehe nicht, wie du es kannst! Sie ist deine Freundin."
Zat hatte die Irrlichter erreicht und starrte in einen weiteren Gang, noch dunkler und noch nebliger. Gab es überhaupt ein Ende in diesem Tempel? War es wirklich hoffnungslos?
Er biss die Zähne zusammen.
Was kümmerte es ihn, ob es das Ende war oder nicht? Was war ein Leben in Unterdrückung schon wert? Dies war der einzig richtige Weg und er würde ihn auch alleine gehen.
,, Dann verschwinde!", brüllte Zat zurück und betrat den nächsten Flur.
,, Lasst euch doch unterdrücken und quälen! Ich werde mich nicht ergeben!"
Einige Sekunden war es still und Zat kümmerten die Worte nicht mehr, die sein Freund zu ihm sagen wird. Egal, wie er sich nun entscheiden wird, für Zat war alles nichtig, außer sein Ziel.
,, Vergib mir ...", schluchzte Kain auf und rannte zu seinem Freund Choppo, der in der Eingangshalle auf ihn wartete.


Ein Mädchen, ein Haus, eine besondere
Frau und ein schöner Traum




Wenn man mit seinem Leben zufrieden sein kann, wenn man denkt, dass man alles hat, was man braucht, wenn man seinen Weg geht und ein Ziel vor Augen hat, dann gehört man zu den Menschen, die es heutzutage nur noch seltener auf der Erde gibt. Man gehört zu den rundum glücklichen Menschen.
Diese Menschen versuchen nicht verzweifelt einem Ideal nachzueifern, das sie womöglich niemals erreichen können, sie sehen allem positiv entgegen und binden sich nicht an Leute, die ihnen nicht gut tun.
Nein! Sie gehen mit Überzeugung ihren Weg, versuchen das Beste zu erreichen, das in ihren Ermessen liegt, und ignorieren böse Blicke und falsche Zungen.
Das war das Vernünftigste, das man tun konnte, davon war auch Lelia Morgan überzeugt.
Sie war ein energischer, aber heiterer Mensch, dem vieles gelang, der gute Freunde hatte, ein hübsches Zuhause und eine liebevolle Großtante. Sie führte ein geordnetes und überschaubares Leben und war vollauf zufrieden damit.
Natürlich hatte auch das Leben der glücklichen Menschen seine Schattenseite, die gehört zum Ganzen einfach dazu, doch es war ausschlaggebend, wie der Mensch diese Dunkelheit bewältigen konnte.
Lelia verlor schon kurz nach ihrer Geburt ihre Mutter und ihren Vater, die bei einem schrecklichen Brand ums Leben gekommen waren, doch sie wurde von ihrem einzig noch lebenden Verwandten, ihrer Großtante, aufgenommen und lebte in ihrem Haus, solange sie denken konnte.
Sicherlich stellte sich Lelia schon mal die Frage, wie ihr Leben verlaufen wäre, hätten ihre Eltern diesen Unfall niemals gehabt, doch sie war nie der Typ gewesen, der sich mit den Fragen der Vergangenheit übermäßig beschäftigt hatte, sondern immer nach vorn geschaut hatte und dem nächsten Tag entgegen sah.
Warum sollte sie auch am Boden zerstört sein?
Sie war nun sechzehn Jahre alt, ihre Großtante hatte großartig für sie gesorgt, sie war wohlgenährt, gesund und zufrieden.
Sie konnte sich nicht vorstellen, was in ihrem Leben fehlte (außer natürlich ihre Eltern).
Leute, die nicht so dachten wie sie, die taten ihr leid. Sie kannte einige davon. Manche verloren ihre Eltern oder ein Elternteil ebenfalls viel zu früh, doch waren schon so alt, dass sie es begreifen konnten und daran zerbrachen. Andere waren unglücklich verliebt in einen Menschen, der viel zu gut für sie schien und sie fanden sich hässlich und waren unzufrieden mit sich. Ständig verflüchtigten sie sich in Wunschvorstellungen, hofften auf ein Wunder, wollten so sein, wie die Menschen im Märchen, für die es immer das absolute Happy End gab.
Doch daran glaubte Lelia nicht. Für sie war das Leben kein Märchen, für sie war es die Realität, das einzig Wahre.
Märchen mochte sie nicht. Sie waren gemalt in grellen Farben, ausstaffiert mit Liebe, Leid und Kitsch, doch mit einem unumstößlichen Happy End. Auch wenn Lelias Leben gut lief, es konnte nicht immer alles gelingen, nicht alles wendete sich letztendlich zum Guten und sicherlich siegte auch die Liebe nicht immer! Die Realität zeigte sich doch jeden Tag, mit einem schönen, aber auch mit einem hässlichen Gesicht. So war es eben, da konnte man nichts tun. Das persönliche Glück musste auf einem Mittelweg zwischen Traum und Alptraum gefunden werden, irgendwo in den Wirren der Existenz.
Lelias Ansicht war klar: Wer glücklich sein will, der hat das Leben realistisch zu sehen, der soll keine übermäßigen Ansprüche stellen und der soll mit sich, wie er eben ist, einfach vollkommen zufrieden sein. Man muss einfach auch auf die kleinen, scheinbar unbedeutenden Dinge im Leben achten und begreifen, dass selbst diese Dinge ausreichen können, um einen glücklich zu machen.


Der Winter hatte die Gegend lange im Griff gehabt, er war bis in den Februar hinein gegangen und hatte den Menschen viel Schnee und eine Rekordkälte beschert. Erst im März konnte sich das Grün wieder etwas durchsetzen und schwache Sonnenstrahlen bahnten sich einen Weg durch die Wolkendecke. Bald war der Frühling da, bald kamen die Blumen wieder, die Schmetterlinge, die Bienen, die Vögel.
Die Sonne kämpfte gegen die grauen Wolken an, zog am Himmel ihre Bahn und warf ihr warmes Licht durch die hohen Fenster eines großen, recht alten Hauses.
Die weiße Farbe an den Fensterrahmen war etwas abgeblättert, eine einsame Topfpflanze saugte dankbar das Sonnenlicht in sich auf, dünne dunkelblaue Gardinen hingen schlaff zu beiden Seiten des Fensters hinab, etwas Staub sammelte sich auf den leichten Stoff.
Das Licht fiel auf einen alten Holzfußboden, streifte einen kleinen, hellblauen Teppich, einen überfüllten Schreibtisch und beleuchtete ein zierliches, junges Mädchen auf einem breiten Einzelbett.
Die Bettdecke war zerwühlt, das Kissen zerknittert, langes goldblondes Haar war darauf ausgebreitet, es war nass vom Haarewaschen.
Das Mädchen lag fast bewegungslos auf dem Bett, fast hätte man denken können, sie schliefe, wäre ihr rechter Arm nicht seltsam nach oben gestreckt gewesen und würde ihr Finger nicht unentwegt, mit gleichbleibendem Rhythmus den Knopf der Fernbedienung drücken.
,, Kuckuck sagt die Uhr! Es ist wieder Zeit für unser supergeniales Gewinnspiel! Alles was Sie dafür tun müssen, ist ans Telefon zu gehen, wenn wir zufällig Ihre Nummer wählen, und uns folgenden Satz zu sagen: Gold- TV, schenkt mir eure exclusive Hawaiireise! Ohren auf beim Urlaubskauf!“
Der Moderator im fliederfarbenen Paillettenanzug lachte schallend, eine flotte Musik ertönte und die schlanken Assistentinnen ließen ihre Hüften kreisen.
,, Oh Gott“, sagte die gelangweilte Stimme Lelias und der Fernseher wechselte das Programm.
Eine pummelige Frau war zu sehen, die in die Kamera grinste. Zwei Töpfe wurden hochgehalten und ein Schwall von Erklärungen ergoss sich aus ihrem Mund.
,, Juhu! Eine Dauerwerbesendung …“, sprach das Mädchen tonlos.
Wieder ein anderes Programm.
Ein junger Mann stellte einen Plastikbernhardiner vor.
,, Sie können mir glauben, meine Damen und Herren, haben Sie erst dieses Prachtstück ergattert, dann bleiben Einbrecher und Diebe Ihrem Haus fern, dank des hochempfindlichen und zuverlässigen Bewegungsmelders an der Brust des Hundes, toll verarbeitet in einem schicken Halsband! Nur eine kleine Bewegung-“
Er wedelte kurz mit seiner Hand vor dem Halsband, doch nichts geschah.
,, Nur eine winzig kleine Bewegung-“
Er näherte sich dem Halsband und zappelte wild herum.
,, Hahaha … der Vorführeffekt!“, lachte er, schlug kurz mit der Handfläche auf das Halsband und ein blechernes „Wuff“ ertönte.
,, Läuft wie geschmiert!“
Es wurde umgestellt.
Ein junger Mann und eine junge Frau küssten sich wild.
,, Super“, brummte Lelia und wieder kam die Fernbedienung zum Einsatz.
Ein Schwein wurde geschlachtet.
,, Uäh!“
Ein Zeichentrickfilm.
,, Hilfe …“
Eine Dokumentation über eine Frau, die ein Kind bekam.
Lelia schüttelte den Kopf, als sie die wimmernde Frau betrachtete.
,, Müssen die denn wirklich alles im Fernsehen bringen? Da wird aber auch jede Art von Intimität zerschmettert!“
Das Bild der Frau im Kreissaal verschwand und eine Band mit bunten, langen Haaren und ganz in Leder gekleidet hüpfte auf einer Bühne auf und ab, brüllten einen wütenden Song in ihr Mikrofon.
,, Yeah!“, rief Lelia und machte lauter.
,, Deadmen!“
Sie sang das Lied mit Inbrunst mit, kannte jede Passage.
Als das Gitarrensolo kam, warf sie ihre taillen- lange, goldblonde Mähne vor und zurück und bespritzte die alten, weiß lackierten Holzwände mit Wasser.
,, Fuck it! Fuck it! Bullshit!“, donnerte sie, von dem Headbanging wurde ihr schwindelig und sie warf sich rücklings auf ihr Bett, ihre nasse Mähne klatschte ihr ins Gesicht.
,, Shut up and go away!“
Sie machte sich bereit für den Höhepunkt des Liedes, doch da verstummte der Ton, das Bild war schwarz.
,, Hey! Was soll-“, rief sie, aber da erblickte sie schon die große Gestalt ihrer Großtante, die neben dem Fernseher stand.
,, Ich hasse dieses dämliche Gekreische!“, sagte sie mit ihrer rauen, harten Stimme.
Lelia setzte sich auf und kratzte sich am Kopf.
,, Du bist schon zurück? Ich habe frühestens in einer Stunde mit dir gerechnet!“
,, Der Verkehr lief heute ganz flüssig“, krächzte die Großtante.
,, Keine dummen Omas, die sich in die überfüllten Busse quetschen und Leuten die Plätze stehlen, die noch fit genug sind, um zu arbeiten!“
Lelia kicherte.
,, Jaja … die alten Leute … verstehen die Jugend einfach nicht!“
,, Ich hab den Wink verstanden, Lily!“, schnarrte die Alte und ein Grinsen zeigte sich auf ihrem Gesicht.
,, Ich bin zwar nicht mehr die Jüngste, aber rüstig und agil! Dich und deinen Sauhaufen stecke ich noch locker in die Tasche!“
Sie lachte laut und kratzig, um ihre Augen zeichneten sich tiefe Falten. Lelia stimmte in dem Lachen mit ein.
Sie stellte die Worte ihrer Großtante nicht infrage. Sicher nicht.
Ihre Großtante, Lea Smith, war ihre einzig lebende Verwandte. Nachdem Lelias Eltern ums Leben gekommen waren, hatte sich Lea dem Mädchen angenommen.
Obwohl Großtante Lea nicht mehr die Jüngest war, so hatte sie nie ihre Energie verloren, war immer gut gelaunt und lachte viel.
Auch war sie eine äußerst beachtliche Erscheinung. Ihr graues Haar war dick und schwer und war fast so lang wie Lelias, unter ihren dicken Augenbrauen glänzten tief liegende, erstaunlich grüne Augen. Sie war groß und schlank, sah ungemein sportlich und fit aus. Mit Jeans und Sweatshirt bekleidet und mit einem dazu unpassenden, dicken Goldschmuck, darunter auch ihr hübsches Medaillon, war sie die coolste und untypischste Großtante in der ganzen Gegend.
Auch die Pfeife, die sie ständig in ihrem Mundwinkel bei sich trug, ließ sie einfach speziell wirken.
Lelia mochte sie, sie liebte sie. Sicherlich hatte sie ihre tiefe Zufriedenheit und ihre positive Ausstrahlung von ihrer Großtante und dafür war sie wirklich dankbar. Sie konnte sich keinen Menschen vorstellen, bei dem sie lieber sein wollte.
Auch das Haus, in dem sie wohnte, war erstaunlich und alles andere als gewöhnlich. Es war zwar alt und sah schon dementsprechend mitgenommen aus, aber es war groß, hatte viele, lange Flure und wirkte für Außenstehende immer, wie ein kleines Labyrinth. Es gab vier Schlafzimmer, von denen nur zwei benutzt wurden, vier Toiletten, eine riesige Küche, ein gewaltiges Wohnzimmer, mit Blick in den Garten und ein tolles Esszimmer. Jedes Zimmer hatte viel zu viele Türen und man kam durch kleine Nischen und Flure leicht in einen anderen Raum oder sogar in ein anderes Stockwerk.
All diese Nischen und Flure waren vollgestopft mit Büchern und Regalen mit jeder Menge Klimbim. Obwohl Lelia schon fast sechzehn Jahre in diesem Haus lebte, so hatte sie das Gefühl, noch längst nicht alles entdeckt zu haben.
Direkt neben dem Haus war ein kleiner, staubiger Laden, der ihrer Großtante gehörte.
Er hieß “ Lea´s white mind antiquies“ und umfasste alles, von Möbeln, bis zu kleinen Glasfigürchen, Krimskrams und Spieluhren. Mittlerweile verkaufte Großtante Lea dort schon Bonbons und kleine Cakes und immer wenn Lelia dort ausgeholfen hatte, hatte sie den Kindern, die dort einkaufen waren, versichert, dass sogar die Süßigkeiten mindestens zweihundert Jahre auf dem Buckel hatten.
Lelia arbeitete gerne in dem Laden. Sie half Großtante Lea, sooft sie konnte.
Ihr Leben lief gut. So, wie sie es wollte.

,, Hast du meinen Tabak gesehen?“, fragte Großtante Lea, die das Mädchen aus ihren Gedanken riss, und tastete ihre Hosentaschen ab.
,, Ich blöde Nuss. Ich hab ihn wahrscheinlich im Bus vergessen!“
Lelia prustete los.
,, Alzheimer lässt grüßen!“, lachte sie.
,, Na hör mal!“, blaffte Großtante Lea mit gespieltem Zorn.
,, Ich habe ein Hirn, wie ein Elefant, Fräulein! Also komm mir bloß nicht mit diesen ausgelutschten Sprüchen!“
Lelia kicherte immer noch.
,, Verzeihung. Wie konnte ich mich nur so erdreisten.“
Großtante Lea zog ihre buschige Augenbraue hoch.
,, Jaja … richtig so! Zeig schön Respekt! Man beißt nicht die Hand, die einen füttert. Hast du deine Hausaufgaben gemacht?“
,, Klar! Alles fertig.“
,, Du schreibst morgen Englisch oder?“
,, Ja!“
,, Dann geh früh ins Bett, damit du ausgeschlafen bist, und hör dir nicht immer diese Brüllaffen an!“, setzte sie hinzu und ruckte mit dem Kopf zum Fernseher hin.
,, Ach Tantchen! Deadmen sind keine Brüllaffen. Ihre Lieder sind cool!“
,, Pah! Die schimpfen doch nur! Wenn du gute Beleidigungen hören willst, dann kann ich dir auch mal ein Liedchen vorsingen. Und wie die aussehen!“
Großtante Lea schüttelte es.
,, Komm mir bloß nicht mit so einem Lederhannes nach Haus! Die denken, die wären die Besten und haben nix im Kopf und in der Hose schon gar nicht!“
Lelia errötete.
,, Hab´s kapiert!“, murmelte sie.
,, Weiß ich doch!“
Die Großtante schlenderte aus dem Zimmer und schloss die eine der drei Türen.
,, Ich hab dir übrigens Dingdongs mitgebracht!“, rief die noch, da ging sie schon die Treppen hinunter.
,, Danke!“
Lelia seufzte und kicherte, als sie sich wieder auf ihr Bett legte. Ihre Großtante war schon eine echte Rarität. Sie wäre sicherlich eine tolle Mutter und eine etwas eigenartige Oma geworden. Es war schade, dass sie keine eigenen Kinder hatte. Vielleicht hatten die Männer so ihre Probleme mit Lea. Sie war ihnen wohl einfach zu dominant, zu laut und zu energisch. Vielleicht fürchteten sie sich sogar etwas vor ihr.
Das konnte sich Lelia gut vorstellen, denn jeder Mann schien dazu verdammt, neben Großtante Lea wie ein Pantoffelheld auszusehen, egal, wie männlich und stark er auch aussah. Der Energie und Kraft, die Lea ausstrahlte, schien niemand gewachsen zu sein, der Erfahrung, die sich in ihren alten, grünen Augen widerspiegelte, konnte niemand gerecht werden und ihrem losen Mundwerk hielten nur wenige Menschen stand. Sie war eine seltsame Frau, eine besondere Frau, eine starke und kluge Frau und Lelia bewunderte sie.
Es war egal, was das Leben mit sich brachte, wie sich Lelia entscheiden wird und wie sie empfinden wird, wenn es irgendwann mal endete, aber es wäre ihr persönliches Happy End, wenn sie zumindest ein bisschen so wird, wie Großtante Lea.

Es war schon Abend und Lelia überflog nochmals ihre Englischaufzeichnungen, um für den morgigen Schultag gewappnet zu sein. Sie ging nicht ungern zur Schule, sie war zwar kein Streber, aber hatte immer zufriedenstellende Noten gehabt. Dennoch wurde sie bei anstehenden Tests immer etwas nervös.
Das Mädchen seufzte und fuhr sich durch ihr langsam trocknendes Haar. Kein schwerer Stoff, was der Lehrer von ihrer erwartete, doch sie hatte nicht wirklich große Lust, sich noch länger damit auseinanderzusetzen. Sie klappte das Heft zu, seufzte wieder und sah aus dem Fenster. Es regnete.
Die schweren Tropfen klatschten auf das Glas, der kräftige Wind heulte um das Haus herum, ließ einige Fensterläden wackeln und klappern. Lelia hörte ihre Großtante unten herumlaufen, hie und da vernahm sie Fluchen über das Wetter.
Nun konnte sie sich sowieso nicht mehr konzentrieren …
Sie packte ihre Schultasche, legte ihre Unterlagen auf einen wackeligen Stapel, verstaute die Bücher wieder in ihr Regal und ging schließlich zum Fenster, um hinauszusehen.
Der Regen war heftig, doch an einigen Stellen riss die Wolkendecke bereits auf und offenbarte einen tiefroten Abendhimmel.
Hoffentlich konnte sie heute etwas besser schlafen, überlegte das Mädchen, während ihre Augen über den Himmel huschten. Letzte Nacht war es ihr schwergefallen. Sie hatte einen Traum gehabt, was im Grunde nicht wirklich schlimm war, doch kaum war sie daraus erwacht, war es ihr unmöglich nochmals in den Schlaf zu finden. Sie dachte über den Traum nach. Im Grunde war nichts Schlimmes daran, er war nicht unheimlich oder besonders aufregend, es war kein Traum, der einen aufschrecken ließ.
Dennoch hatte das Mädchen die Bilder, die sie dort gesehen hatte noch so klar vor Augen, als ob sie in diesem Moment wieder davon träumte.
Während Lelia alles noch einmal in ihrem Kopf passieren ließ, musste sie feststellen, dass im Grunde eigentlich überhaupt nichts geschah. Es war nur eine Wiese, eine weite grüne Wiese, saftig, wild, kräftig, und so groß, dass man kein Ende erkennen konnte. Das Gras wurde sanft vom Wind hin- und hergeschaukelt, der Duft von Erde, von Blumen und vom Himmel war so klar und kräftig … Es war fast real. Vielleicht war es das, was Lelia so beschäftigt hatte, dass sie nicht wieder einschlafen konnte. Die Tiefe dieser Bilder, dieses intensive Gefühl und ihr energisch klopfendes Herz, das vor Glückseligkeit bei diesem Anblick fast schmerzte.
Lelia öffnete ihre Augen wieder und merkte, dass der Regen fast vollständig aufgehört hatte.
Sie öffnete das Fenster einen Spalt und ließ die feuchte, nach Regen duftende Luft in ihr Zimmer strömen. Dann lief sie ins Bad und machte sich für das Bett fertig.
Sie hätte gerne mehr solcher Träume gehabt, solange sie danach wieder ruhig schlafen konnte. Sie waren zwar ein wenig speziell, aber durchaus erfreulich, manchmal auch etwas wehmütig.
Normalerweise waren ihre Träume nie sehr spektakulär und sie hatte schon in ihrer Vergangenheit oft wogende Gräser und klare Seen im Schlaf besucht, doch das hatte sie nie für seltsam befunden, auch wenn sich ihre Freunde manchmal darüber wunderten und meinten, sie solle mal Urlaub in Irland machen. Nur Großtante Lea hatte immer zugehört, wenn Lelia darüber erzählt hatte. Die Alte hatte sich schon immer für Träume interessiert und in all den Jahren hatte sie sich immer gefreut, wenn das Mädchen über sie berichtet hatte, auch wenn sie immer gleich waren.
Der Traum letzte Nacht war jedoch anders, intensiver, lebendiger, umfassender …
Lelia seufzte und kämmte sich ihr Haar sorgsam durch, dann legte sie sich ins Bett, holte ihren MP3- Player hervor und steckte sich die Stöpsel in ihre Ohren.
Nun wollte sie den Traum vergessen und auf eine erholsame Nacht hoffen, damit sie morgen in ihrer Englischklausur alles geben konnte.
Ihre Großtante ging die Treppen hinauf und verschwand in ihrem Schlafzimmer, der Himmel war jetzt tiefschwarz und die Sterne kamen hervor.
Ein schöner Tag, dachte Lelia und war mal wieder vollauf zufrieden.


Einbildung




Es war schon tiefste Nacht, als Lelia endlich Ruhe fand. Es nervte natürlich etwas, dass Klassenarbeiten sie nervös machten. Sie drückte die Stöpsel ihres MP3- Players in die Ohren und lauschte den wütenden Klängen von Deadmen, die ihr immer in den Schlaf halfen.
Der Vollmond schien milchig weiß durch das Fenster hinein, genau in ihr Gesicht.
,, Super“, knurrte sie.
,, Jetzt kann ich wieder aufstehen.“
Sie wuchtete sich aus dem Bett, lief zum Fenster hinüber und zog die Vorhänge zu. Normalerweise ließ sie sie offen, um die Sterne vor dem Schlafengehen zu betrachten, auch das half bei Nervenflattern.
,, Dämlicher Vollmond! Darum kann ich nicht pennen!“
Die Vorhänge halfen nicht unbedingt, weil sie zu dünn waren, doch es war immer noch besser, als vorher.
Lelia seufzte und wollte gerade in ihr Bett gehen, als eine ihrer drei Zimmertüren langsam aufging.
Sie horchte auf.
,, Tantchen?“, fragte sie.
,, Bist du es?“
Nichts.
,, Hallo?“
Sie kam sich etwas doof vor, einfach so in die Nacht hinein zu rufen. Es schien niemand da zu sein, aber die Tür konnte doch nicht einfach von alleine aufgegangen zu sein. Lelia war sich sicher, dass sie sie richtig zugemacht hatte.
Etwas perplex tapste sie zu der Tür, zog sie langsam auf und lugte in einen engen, dunklen Flur, mit einer steilen Treppe nach unten. Links und rechts standen Regale mit alten Büchern.
Es war einer der Schleichwege zum Esszimmer.
,, Tantchen?“, fragte sie wieder.
Nichts.
Lelia zuckte mit den Schultern, wollte gerade die Tür schließen, als etwas dumpf zu Boden fiel und die Stufen hinabrutschte.
Das Mädchen fuhr heftigst zusammen. Schnell tastete ihre Hand nach rechts und drückte den Lichtschalter. Die Funzel ging an und beleuchtete die Treppe schwach. Ein Buch war hinuntergefallen.
Lelia atmete auf. Was für ein Schreck.
Sie ging die Treppe langsam hinunter und grapschte nach dem Buch.
“ Hexenverbrennung“ war der Titel, Lelia stopfte es wieder ins Regal zurück, ging die Stufen hinauf, knipste das Licht aus, schloss die Tür sorgfältig und stieg wieder zurück in ihr Bett. Ihr war kalt und ihr Herz schlug immer noch heftig von dem kleinen Schreck, doch nur wenige Sekunden, nachdem sie sich hingelegt hatte, war sie fest eingeschlafen.

Der Morgen kam viel zu früh. Der Himmel war in einem zarten Blau, ein rosafarbener Streif war am Horizont zu sehen und die Vögel zwitscherten schon eifrig.
Der Wecker klingelte und Lelia stöhnte auf.
,, Englisch …“, murmelte sie verschlafen.
Ihre Hand suchte nach dem Wecker und schlug zwei Mal drauf, bis er endlich verstummte.
Müde setzte sie sich auf, rieb sich die Augen und fuhr sich durch das Haar. Unten hörte sie ihre Großtante Lea in der Küche herumwerkeln, es roch wieder nach ihrem Toast und Rührei und nach ihrem speziellen Kräutertee.
Wenn die Alte unten zu Gange war, da durfte man sie nicht stören, außer man wollte Ärger haben.
Lelia stand auf, streckte sich, ging zum Kleiderschrank und suchte sich ihre Schuluniform heraus.
Sie duschte, um richtig wach zu werden, kämmte sich ausgiebig ihre lange Mähne und blickte zufrieden in den Spiegel.
Lelia war kein hässlicher Mensch und das machte sie glücklich. Sie hatte schönes Haar, große, tiefblaue Augen und einen blassen Teint, sie war mittelgroß und schlank, wenn auch etwas zart. Lelia mochte ihr Aussehen. Früher hatte sie sich immer als Prinzessin oder Ballerina verkleidet, wollte immer hübsche Kleider anziehen und herausgeputzt sein, doch ihre Großtante war ein praktischer Mensch, der mit Jeans und T-Shirt vollends zufrieden war und nach und nach schloss sich Lelia ihrer Meinung an. Sie wollte auch niemals so aussehen, wie eine Barbie.
Sie knöpfte ihre Bluse zu und zupfte ihren Rock zurecht, streifte sich ihren Haarreif über und hüpfte nun hellwach aus dem Badezimmer und die Treppen zum Esszimmer hinunter.
Das Klirren von Geschirr war zu hören, die Rauchschwaden und der Tabakgeruch erfüllten den Raum, ebenso wie das Lied, das Großtante Lea inbrünstig schmetterte:

Im sanften Licht des Mondenscheins,
Tanzte ich über den See.
Mein Herz war leicht,
Mein´ Seele rein,
Die Haut so weiß wie Schnee.

Da reichtest du die Hände mir,
Schwebtest über tausend Stern´.
Herz an Herz,
Ich gab meins dir,
In hoffnungsvolle Fern.

Schon kam der erste Sonnenstrahl,
Brach an des Wassers Herz.
Fort deine Hand,
Dort war die Qual,
Die Ewigkeit und Schmerz.

,, Morgen!“, sagte Lelia, als sie die Küche betrat.
,, Na? Singst du wieder Schlager?“
,, Ich gebe dir gleich Schlager!“, knurrte Lea und fuchtelte mit dem Pfannenwender.
Kleine Rauchkringel pafften aus der Pfeife und aus ihrem Mundwinkel.
,, Klopf keine blöden Sprüche und bring schon mal die Tassen ins Esszimmer!“
,, Zu Befehl!“
Lelia kicherte, schnappte sich das Porzellan mit den Sonnenblumen und trug es in den Nebenraum. Großtante Lea kam mit einem Korb Brötchen und Toast hinterher.
Sie summte immer noch und zog fröhlich an ihrer Pfeife.
,, Hast du heute nach der Schule etwas vor?“, fragte sie Lelia.
,, Nicht, dass ich wüsste …“
,, Hilfst du mir in meinem Laden aus?“
,, Aber sicher!“
Die Großtante lächelte sie an.
,, Gutes Kind!“, sprach sie ruppig.
Sie aßen ihr Frühstück und Lelia wurde nervöser. Die Englischarbeit rückte näher.
,, Du brauchst keine Panik schieben!“, meinte Lea, die den Gesichtsausdruck ihrer Nichte sofort richtig deutete.
,, Du kannst es doch! Englisch hat dir nie Schwierigkeiten bereitet!“
,, Ja, ich weiß“, entgegnete das Mädchen nachdenklich.
,, Aber man kann ja nie wissen …“
Sie biss ein Stück von ihrem Toast ab, kaute langsam und überlegte weiter.
,, Ich weiß nicht, ob ich mir alles merken kann, wenn ich erstmal an der Arbeit sitze!“
Großtante Lea nahm einen kräftigen Schluck von ihrem Kräutertee.
,, Ach was! Das ist dir ja noch nie passiert.“
Lelia schluckte ihr Toast runter, als sie plötzlich einen wütenden Stich in ihrer Brust spürte.
,, MHHHHHMM!“, machte sie erschrocken und hielt sich krampfhaft das Herz.
Ihre Großtante wurde blass und sprang auf.
,, Was ist?!“, fragte sie eindringlich.
Lelia hustete und rieb ihr Herz.
,, Verdammtes Toast!“, keuchte sie, als der Schmerz langsam verging.
,, Hab falsch geschluckt!“
Die Großtante ließ sich wieder auf ihrem Stuhl sinken, immer noch blass.
,, Lieber Gott!“, keuchte sie.
,, Erschreck mich doch nicht so!“
,, Sorry!“
,, Das kommt davon, wenn man sich so nervös macht, dass man nicht mal mehr richtig schlucken kann!“
,, Jaja …“
,, Du weißt, was jaja heißt!“
,, Schon gut, schon gut!“
Großtante Lea schüttelte den Kopf, nahm einen kräftigen Zug aus ihrer Pfeife und trank wieder einen Schluck Tee.
Lelia stopfte sich das letzte Stück Toast in den Mund, kaute bedacht und schluckte es vorsichtig runter, gerade rechtzeitig, als es klingelte, war sie mit dem Frühstück fertig.
,, Ah! Das ist sicher Holly!“, meinte das Mädchen, schnappte ihren Teller und sprang auf.
,, Lass nur! Ich räume schon ab!“, winkte Großtante Lea ab.
,, Geh schnell zu Holly und hab einen schönen Schultag und viel Glück in Englisch!“
,, Danke Tantchen! Bist ein echter Schatz.“
,, Und vergiss deine Lunchbox nicht!“
,, Nein!“
Lelia griff nach der Papiertüte mit ihrem Pausenbrot, eilte in den Korridor, schlüpfte in ihre Schuhe und riss die Haustür auf.
Ihre Schulfreundin lächelte sie an.
Holly Thompson war größer als Lelia, aber ebenso dünn. Sie war, mit ihrem kinnlangen, glatten, dunkelbraunen Haar und ihren schwarzen Augen eine unscheinbare Person, die in einer Menschenmenge eher verschwand, als auffiel.
Wer sich allerdings die Mühe machte und sie kennenlernte, der merkte sofort, dass sie ein zuverlässiges und liebes Mädchen war, das man einfach mögen musste. Stets gut gelaunt, etwas schüchtern, aber jederzeit zur Stelle, wenn man sie brauchte, hatte sie sofort einen Platz in Lelias Herzen erobert und war eine der Personen, mit denen Lelia am liebsten zusammen war.
,, Guten Morgen! Bereit für Englisch?“, fragte Holly freundlich wie immer.
,, Wir werden sehen. Und du?“
,, Ich denke, ich habe alles verstanden!“

Die Mädchen gingen den schmalen Weg durch die Einfamilienhäuserreihen, eine leichte, laue Frühlingsbrise wehte ihnen entgegen, die Bäume wiegten ihre Zweige, die Sonne warf ihr goldenes Licht auf sie.
,, Toller Tag heute!“, schwärmte Holly und breitete vergnügt die Arme aus.
,, Hätte ich nach dem Regen gestern nicht gedacht … Wollen wir ein Eis essen gehen?“
,, Sorry!“, sprach Lelia.
,, Ich helfe meiner Großtante heute im Laden!“
,, Das machst du sehr oft in letzter Zeit.“
Lelia nickte.
,, Das ist wahr …“, sagte sie.
,, Ich werde fast täglich eingespannt, aber ich mache es ja freiwillig. Mein Tantchen ist schließlich auch nicht mehr die Jüngste!“
Holly lachte.
,, Allerdings, aber fit, wie ein Turnschuh!“

Sie stiegen in den vollen Bus, die Schüler quetschten sich in den Gängen zusammen, riefen laut durcheinander, schubsten und ärgerten sich.
,, Weg da!“, fauchte Lelia energisch, fuhr ihre Ellenbogen aus und bahnte sich einen Weg durch die empörte Masse. Holly folgte ihr schüchtern.
,, Kaum zu glauben, dass jemand, der so zart ist, so herrisch sein kann!“, sagte sie lächelnd.
,, Was erwartest du denn?“, entgegnete Lelia.
,, Ich bin ja auch Rambos Nichte!“
Sie lachten beide, als sie sich weiter nach hinten kämpften. Dort erreichten sie einen Viererplatz, von dem schon zwei Sitze belegt waren. Zwei Jungen saßen dort.
Der blonde Junge hatte ein engelsgleiches Gesicht, rehbraune Augen, umrahmt von langen, dunklen Wimpern. Sein Haar war geschmeidig und sein Pony fiel verführerisch elegant über ein Auge. Der Junge hieß Oliver Brown. Er wohnte mit seinem Vater, einem paranormalen Ermittler, wofür sich der Junge immer schämte, seiner Mutter, einer Sekretärin und seinen zwei jüngeren Schwestern in einer kleinen, recht billigen Wohnung in der Stadt. Schon in der fünften Klasse wurden er, Lelia und Holly beste Freunde.
Neben Oliver Brown und nicht minder auffällig, hockte ein etwas korpulenter, schwarzhaariger junger Mann, mit südländischem Teint und einem runden Gesicht. Es war der gebürtige Spanier Malvin Esperano. Er war Einzelkind und lebte mit seiner Mutter in einem alten Bauernhaus. Mrs. Esperano war Witwe und hatte in ihren zwei Jobs immer eine Menge zu tun. Malvin kam erst in der achten Klasse auf die Highschool, die Lelia und ihre Freunde besuchten, doch kaum hatten sie den sanften und lieben Malvin kennengelernt, hatten sie ihn schon ins Herz geschlossen.
So wie Holly, waren auch die beiden Jungen Lelias beste Freunde. War die Viererclique zusammen, so hatten sie jede Menge Spaß und dachten sich die ulkigsten Dinge aus. Großtante Lea nannte sie immer die “Affenbande“.
,, Hey ho!“, sagte Oliver und hob die Hand zum Gruß.
Er und Malvin verfrachteten ihre Rucksäcke, mit denen sie die letzten zwei Plätze belegt hatten, zurück auf ihren Schoß.
,, Setzt euch.“
,, Morgen!“, sagten die Mädchen im Chor und nahmen ihre Stammplätze ein.
,, Geht’s euch gut?“
,, Ne …“, meinte Malvin missmutig und starrte aus dem Fenster, auf die wogenden Kornfelder.
,, Erst wenn Englisch vorbei ist!“
,, Blöd, dass es ausgerechnet die letzten beiden Stunden sind …“, stimmte Oliver seinem Kumpel zu.
,, Ich kann es kaum erwarten, diese Arbeit zu schreiben.“
,, Klar!“, sagte Lelia schmunzelnd.
,, Du bist Klassenbester in Englisch. Wenn ich deine Ideen hätte, dann könnte ich es auch nicht erwarten, sie loszulassen!“
Oliver grinste breit und war wunderschön.
,, Ich bin eben ein Gott!“, scherzte er.
,, Aber auch nur in dem Fach. In Geschichte muss ich mich anstrengen, um nicht durchzufallen!“
Lelia schüttelte den Kopf und seufzte.
,, Warum fragst du dann nicht Holly, ob sie dir hilft? Sie ist in jedem Fach spitze!“
Holly errötete schlagartig und sah aus dem Fenster.
,, Du übertreibst …“, murmelte sie.
,, Aber sicher kann ich helfen, Oliver …“
,, Ich komm darauf zurück!“, meinte er.

Die Freunde wechselten das Thema und redeten die ganze Busfahrt nur noch über Deadmen, dem neuen Kinofilm, der bald rauskommen wird und über die Comedy-Show, die gestern Abend im Fernsehn lief.
Die Fahrt verging wieder, wie im Flug, alle lachten und hatten Spaß, vergaßen für eine kurze Zeit die lauernde Arbeit und den langweiligen Unterricht.

Der Bus hielt am Rande eines langen Kornfeldes, ein kleiner Fußweg trennte die Schüler noch von ihrer Schule, einem riesigen dunkel gestrichenen Bau, mit zwei Schulhöfen und drei Parkplätzen.
,, Das Grab der Jugend …“, murmelte Oliver und sprang als Erster von den Freunden aus dem Bus.
Es roch nach Weizen, die Felder leuchteten golden im Licht der Sonne und es schien fast windstill.
,, Warum kriegen die Schulbusse und wir müssen latschen?!“, fragte Malvin beleidigt und deutete auf die kleinen Kinder, die genau vor der Schule abgesetzt worden waren.
,, Damit durftest du doch früher auch fahren!“, lachte Holly und klopfte ihrem Kollegen auf die Schulter.
,, Außerdem tut dir die Bewegung gut!“, fügte Oliver hinzu und musste sich einen missmutigen Blick von Malvin einfangen.
,, Guck nicht so! Du beklagst dich doch am lautesten über deinen Knabenbusen!“
Holly und Lelia prusteten los und Malvin zog die Nase kraus.
,, Knabenbusen? Klingt irgendwie pervers …“

Die Schule war langweilig, wie immer. Holly war die Einzige, die wirklich mitarbeitete. Oliver spielte mit Malvin “Daumenwrestling“ und Lelia schweifte oft mit den Gedanken ab. Ihre Brust schmerzte immer noch etwas von dem missglückten Schluckversuch am Morgen und nun überkam sie wieder die Müdigkeit, die sie überwunden geglaubt hatte.
Verträumt starrte sie an dem Lehrer vorbei in den blauen Himmel, sah die flauschigen Wölkchen vorbeigleiten und verlor sich in dem Bild.
,, Lelia!“, sagte plötzlich ein tiefes Flüstern zu ihr und sie schreckte zusammen.
Sie drehte sich zu Malvin und Oliver um, die immer noch vertieft in ihrem Spiel waren, dann sah sie nach vorne zu Holly, die dem Lehrer an den Lippen hing.
Sie runzelte die Stirn.
Da hatte sie doch einer angesprochen, oder?
Wieder huschte ihr Blick durch die Klasse.
Und dann auch noch mit Lelia. Eigentlich nannte man sie überall nur Lily, nur die Lehrer nutzten ihren richtigen Namen.
Lelia kratzte sich den Kopf und seufzte. Das hatte sie sich wohl nur eingebildet, so verpennt, wie sie war.

Die Englischarbeit ging erfreulicherweise gut von der Hand und erschöpft saßen die Freunde schließlich wieder im Bus, zurück nach Hause.
,, Ich hab sie verhauen …“, jammerte Malvin immer wieder.
,, Ich hab die Arbeit total vergeigt!“
,, Warte doch erstmal ab und mach dich nicht verrückt!“, sagte Lelia beschwichtigend.
,, Du hast sicherlich ein paar Volltreffer gelandet! Die Arbeit war leicht!“
,, Leicht?!“, keuchte er.
,, Pipi!“, stimmte Oliver dem Mädchen zu.
,, Vollkommen offensichtlich!“, sprach auch Holly.
,, Na danke! Was habt ihr denn bei dem Bildnis der Fledermaus geschrieben, in Bezug auf Don Juan?“
,, Jäger der Nacht …“, antwortete Oliver.
,, Im Sinne des Casanovas“, erklärte Lelia.
,, Auf nächtlicher Jagd nach Frauen. Heimliche Verführung, getarnt durch die Dunkelheit.“
,, Die Rosenbüsche eingeflochten, symbolisiert dies die heimliche Romantik zwischen dem Herzensbrecher und seinem “Opfer“, der Frau!“, ergänzte Holly.
,, Aha …“, sagte Malvin verwirrt.
,, Es hat also nichts mit Dracula zutun?“
Die Freunde starrten ihn an.
,, Dracula?!“
,, Naja … Fledermaus eben. Dracula verwandelt sich in eine Fledermaus und beißt schöne Frauen.“
Holly hob die Augenbrauen, Lelia kratzte sich am Kopf und Oliver verschränkte die Arme.
,, Nun gut …“, überlegte er.
,, Von dem Standpunkt der Erotik aus betrachtet, ist diese Idee gar nicht mal so dumm, allerdings etwas abwegig.“
,, Erotik?!“, fragte Malvin schockiert.
,, Dracula ist doch nicht erotisch!“

Holly und Lelia verabschiedeten sich von ihren Freunden und stiegen aus dem Bus. Der sonnige Tag wurde bereits wolkiger und dunkler und ein kräftiger Wind wehte ihnen entgegen.
,, So wie es aussieht, hätte es mit dem Eis essen eh nicht geklappt!“, bemerkte Holly, als sie in den Himmel schaute.
,, Es kommt heute sicher noch runter!“
Lelia nickte.
,, Glaub ich auch!“
,, Vielleicht komme ich gleich noch mit in den Laden. Meine Mom möchte Bundglaswindspiele kaufen und ich hab bei euch sehr hübsche gesehen.“
,, Klar!“, sagte Lelia.
,, Komm vorbei! Wir haben alles Mögliche bei uns. Tantchen kauft und kauft und kauft und es stapelt sich bei uns.“

Sie erreichten Lelias Zuhause, der Laden war bereits geöffnet.
Lelia schob die Tür auf und das kleine Glockenspiel ertönte. Der Laden war klein, etwas staubig und dunkel. Es war einfach ein typischer Antiquitätenladen, der durch den staubigen und alten Geruch seinen eigenen kleinen Zauber mit sich brachte. Obwohl der Platz hier begrenzt war, so wurde er doch optimal ausgenutzt. Alle Ecken waren vollgestellt mit schweren, alten und teuer wirkenden Regalen, Schränken, Tischen, Stühlen, Hockern und einer knubbeligen Couch. An den Wänden hingen alte Gemälde und Uhren, die den Raum mit ihrem Tick- Tack und Kuckuck und mit lustigen Melodien zu jeder vollen Stunde erfüllten, an den kleinen, staubigen Fenstern baumelten Traumfänger, Windspiele und zerbrechliche Kunstwerke aus Glas, und auf den Möbelstücken thronten alte Lampen, Kerzenhalter und eine kleine, engelsgleiche Figur, mit einem weißen, freilich schon etwas vergilbten Kleid. Ihr Gesicht war sanft und friedlich, scheinbar in tiefen Schlaf versunken und ihr Haar war lang und golden. Das war das seltenste Stück, dass Lea in ihrem Laden hatte und sie hatte es immer in ihrer Nähe stehen, weil es ihr so gut gefiel. Auch Lelia mochte die zarte, zerbrechliche Figur und fand es immer noch überaus faszinierend, dass sie sowohl als Spieluhr fungierte, als auch als Vase, auch wenn man nur eine einzige Blume in das tiefe Gefäß stellen konnte, das die Figur in ihren Händen trug. Fast immer stand eine Lilie in dem Wasser.
Lelia durchquerte den Laden, schlänge sich an den kleineren Möbelstücken vorbei und ging auf ihre Großtante zu, die rauchend und Zeitung lesend, hinter einer alten Theke auf einem antiken Schaukelstuhl saß.
,, Bin wieder Zuhause und hab Kundschaft mitgebracht!“, rief Lelia.
Schwaden des Pfeifenrauches hingen in der Luft und Holly musste husten.
,, Ach hallo ihr Beiden!“, krächzte Lea über die Ladentheke hinweg.
Sie war vollgestellt mit Bonbongläsern und Caketabletts.
,, Wie war Englisch?“
,, Ganz in Ordnung.“
Die Großtante erhob sich aus dem antiken Schaukelstuhl, drehte ihr zartes, goldenes Medaillon zwischen den Fingern und schlenderte zu den Mädchen rüber.
,, Wie kann ich dir helfen?“, fragte sie Holly.
Sie erklärte ihr Anliegen und Lea nickte.
,, Lily wird dich schon beraten!“
Sie wandte sich ihrer Nichte zu.
,, Du weißt ja, wo alles steht.“
,, Klar!“, sagte Lelia.
,, Die Windspiele hier hast du schon alle gesehen. Im Hinterzimmer haben wir auch nach ein paar echt schöne. Ich zeig sie dir, wir haben eine riesen Auswahl. Tantchen ist kaufsüchtig …“
,, Red kein Blech und zeig die Ware, du Quasselkopf!“, schnarrte Lea, ihre Nichte grinste, winkte Holly zu sich und ging durch eine Tür hinter der Theke.
Lelia nannte den Raum hinter der Tür immer Kramplatz, denn er war noch kleiner als das andere Zimmer, aber noch viel voller. Zahlloses Klimbim, von alten Spieluhren, bis Schmuckdosen, Porzellanpuppen, Blumenvasen, Bildern, die im anderen Raum keinen Platz mehr gefunden hatten, Holz- und Glasfiguren, Porzellanservice, Besteck und sogar alte Kleider waren hier vertreten. In diesem Zimmer konnte man sich kaum noch bewegen.
,, Setzt dich einfach hin und ich suche dir die Klamotten raus!“, sprach Lelia freundlich und deutete auf einen kleinen, wackeligen Schemel an einem Tisch, auf dem gerademal wenige Zentimeter Platz waren.
Lelia quetschte sich während dessen durch die Regalreihen und Tischchen mit Ausstellungsstücken, auf der Suche nach besonders hübschen Windspielen. Zum Glück kannte sie sich in dem Durcheinander so gut aus, dass sie nicht lange stöbern musste. Alles hatte hier seine ganz spezielle Ordnung, und wenn man sie erst durchschaut hatte, dann musste man sich nicht mit langem Suchen aufhalten.
Aus einem staubigen Regal holte sie schließlich einige, schmale Kartons, balancierte sie zu ihrer Freundin zurück und stellte sie, so gut sie konnte, auf den Tisch.
,, Mach sie offen und guck dir alles in Ruhe an“, sagte sie lächelnd und quetschte sich wieder durch das Labyrinth von Möbeln, um nach mehr Kartons zu suchen. Sie griff in das Regal und bekam etwas Anderes zu fassen.
Das Mädchen runzelte die Stirn und zog ein Buch hervor.
“Hexenverbrennung“ stand darauf.
,, Ähm, Tantchen?“, fragte Lelia verblüfft und ging wieder in den Vorraum, wo Lea gemütlich rauchte.
,, Hast du das Buch in das Regal mit dem Glas gepackt?“
Die Großtante runzelte die Stirn und griff nach dem Buch. Ihre Lippen formten die Worte “Hexenverbrennung“ und ihre Augenbraue zuckte.
,, Das Buch scheint mich zu verfolgen!“, scherzte Lelia und ihre Großtante sah sie weiterhin ernst an.
,, Gestern Nacht ist es aus dem Bücherregal gefallen!“
,, Ach so?“, meinte die Alte.
Sie schloss die Augen und atmete tief durch.
,, Dämliches Buch!“, sagte sie dann rau.
,, Hab es gelesen und konnte nur darüber lachen! So etwas Albernes versetzt niemanden in Angst und Schrecken!“
Lelia lächelte und da kam auch schon Holly in den Raum gewuselt. Sie hielt ein hübsches Windspiel in den Händen, grünes und blaues Glas hatte die Form von Blumen.
,, Das ist schön! Das nehme ich!“, sagte sie strahlend.
,, Super!“, meinte Lelia und drehte sich wieder zu ihrer Großtante um.
,, Was macht es, Tantchen?“, fragte sie.
Die Alte nahm einen tiefen Zug aus ihrer Pfeife und musterte das Windspiel.
,, Gar nichts!“, sagte sie dann und grinste breit.
,, Das ist ein Geschenk von mir, als Dankeschön, für die köstlichen Pasteten deiner Mom!“
,, Wirklich?“, fragte Holly glücklich.
,, Danke, Miss Smith! Das ist wirklich großzügig von Ihnen!“
Lea winkte ab und Holly packte es wieder in den Karton zurück, legte den Deckel wieder drauf und ging zur Ladentür.
,, Tschüss, Lily! Bis morgen und danke nochmals!“
,, Bis morgen!“, lächelte Lelia, die Tür fiel ins Schloss und Großtante Lea erhob sich.
,, Das reicht für heute!“, sagte sie dann und ihre Pfeife wanderte von einem Mundwinkel in den anderen.
,, Was?“, fragte Lelia perplex.
,, Aber wir haben doch eben erst angefangen!“
,, Ich weiß, aber ich habe vergessen, dass ich im Haus noch etwas zutun hab und ich brauche dich, damit du mir mit dem Staubsauger hilfst!“
Das Mädchen runzelte die Stirn.
,, Und das fällt dir jetzt ein? Hat das nicht Zeit?“
,, Keine Widerrede!“, donnerte Großtante Lea herrisch.
,, Du willst dich doch nicht drücken, oder?“
,, Nein …“
,, Na also!“
Lelia zuckte mit den Schultern. Es brachte nichts, mit Lea zu diskutieren. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann war die Sache schon so gut, wie erledigt.

So kam es dann.
Lelia half ihrer Großtante beim Vorhängeabsaugen, Staub wischen und saugen, sie schrubbte den Badezimmerboden und reparierte sogar den kleinen Couchtisch. Ihre Großtante wuselte ihr hinterher, summte und murmelte vor sich hin und wischte nochmals über alles drüber.
Sie und ihr Reinlichkeits-Tick!
Nachdem Lea endlich zufrieden war, machte Lelia ihre Hausaufgaben, brachte ihr Referat für morgen zu Ende, packte ihre Schultasche und warf sich todmüde in ihr Bett.
Was für ein Tag!, dachte sie, zog sich ihren Pyjama an, schloss alle Türen und ihr Fenster und rollte sich dann in ihrer Bettdecke ein.
Sie war so erschöpft, dass sie sofort einschlief und den Wecker, am nächsten Morgen, erst beim zehnten Mal Klingeln hörte.
Müde richtete sie sich auf und bemerkte perplex, dass die Tür zu der kleinen Treppe weit offen stand.


Puppenaugen




Nachdem sich Lelia für die Schule umgezogen hatte, lief sie die kleine Treppe hinunter, die direkt ins Esszimmer führte. Sie prüfte die Tür, die in der Nacht anscheinend wieder offen gegangen war, untersuchte das Holz und das Türschloss, musste sich aber eingestehen, dass sie ohnehin nicht erkannt hätte, ob das Schloss defekt war oder das Holz sich verzogen haben könnte.
,, Altes Haus …“, kommentierte sie die nervige Tür, lief ein paar Stufen hinunter und schloss den Zugang sorgfältig und so fest sie konnte.

Unten angekommen erblickte sie schon die Rauchschwaden, die am Boden waberten, und hörte ihre Großtante in der Küche summen und werken.
Sie betrat den sonnigen Raum, Teller mit Frühstück, Eier, Schinken und Brot standen bereit, Milch und Müsli und Großtantes Kräutertee.
,, Moin!“, sprach Lea rau, als sie Lelia erblickte.
,, Bist ein bisschen spät dran!“
Das Mädchen nickte, während sie sich schon einige Teller nahm und ins Esszimmer brachte.
,, Hab nicht gut geschlafen … Vollmond!“
,, Du bist empfindlich. Der Mond ist harmlos!“
Lelia verdrehte die Augen und kehrte in die Küche zurück, als ihre Großtante einen weiteren heftigen Rauchstoß auspustete und sie einen Moment die Orientierung verlor.
,, Du rauchst zu viel!“, sagte Lelia und wedelte mit ihrer Hand die dichte Nebelwand zur Seite.
,, Es fehlt nicht mehr viel und die Nachbarn rufen die Feuerwehr …“
,, Quatschkopf!“, blaffte Lea ihre Nichte an.
,, Wenn mir jemand meine Pfeife wegnimmt, dann werde ich zum Tier! Lass dir das gesagt sein!“
Lelia kicherte.
Als alles hinübergetragen worden war, saßen Großtante und Nichte am Tisch und aßen stumm. Lelia, die sich noch sehr gut an die Schmerzen ihres missglückten Schluckversuches erinnern konnte, mied das Toastbrot und aß mit unanständiger Begeisterung ihr Müsli.
Lea starrte sie dabei an. Ihre Hand griff wieder nach dem feinen Medaillon.
,, Brauchst dich gar nicht zu wunder, dass du dich dauernd verschluckst, so wie du dir das Essen runter knallst! Benimm dich mal wie eine junge Frau, immerhin wirst du bald siebzehn …“
Das Mädchen zuckte mit den Schultern und stopfte sich einen gehäuften Löffel in den Mund.
,, Was hat das Alter mit den Essgewohnheiten zutun? Es sieht mir doch ohnehin keiner dabei zu und außerdem benimmst du dich auch nicht immer sehr damenhaft …“, schmatzte sie.
,, Ich bin auch alt, ich darf das! Du musst schließlich irgendwann mal heiraten, da darfst du deinen Mann nicht so erschrecken, weil du frisst, wie ein Scheunendrescher!“
,, Wer sagt, dass ich heiraten will?“, mampfte Lelia.
,, Du hast auch nie geheiratet, so wichtig ist das nicht …“
Lea seufzte und schüttelte den Kopf.
,, Dann versuch wenigstens nicht zu ersticken“, meinte sie barsch und nahm einen tiefen Zug aus ihrer Pfeife.
,, Aber nun zu einem anderen Thema!“
Lelia sah auf.
,, Du hast in elf Tagen Geburtstag, möchtest du eine kleine Party geben? Deine Affenbande einladen? Ich kann einen Kuchen backen, wenn du willst!“
Das Mädchen sah die Alte nachdenklich an.
Tatsächlich? War heute schon der vierte März? Sie wusste zwar, dass der Frühling nun endlich Einzug nahm, aber in letzter Zeit hatte sie weniger auf das Datum geachtet, sie hatte viel in der Schule und im Laden zutun gehabt, dass sie einfach in den Tag hineinlebte, ohne auch nur einen Blick auf den Kalender zu werfen.
,, Klar … Ich könnte meine Kumpel einladen …“, sprach Lelia langsam.
,, Wird sicher lustig, aber du musst nicht extra einen Kuchen backen. Es reicht absolut ein gekaufter, wenn es überhaupt sein muss. Mach dir keine Arbeit.“
,, Unsinn!“, sprach Lea ruppig.
,, Siebzehn ist ein sehr wichtiges Alter, das verlangt ein schönes Fest!“
Lelia kratzte sich am Kopf.
,, Siebzehn ist ein wichtiges Alter? Seit wann denn das? Achtzehn oder einundzwanzig okay …, aber siebzehn? Das ist doch schnöde …“
Die Großtante seufzte wieder und nun sah sie sehr nachdenklich drein. Sie setzte sogar die Pfeife von ihrem Mund ab.
,, Lass mich dir einen schönen Geburtstag machen, Lily …“, sagte sie dann leise und Lelia hob verdutzt die Brauen.
,, Lass mir die Freude!“
,, Ähm … gut, okay …“
Lelia war etwas verwirrt von der Ernsthaftigkeit ihrer Großtante. Hatte sie sie mit ihrem Desinteresse etwa verletzt?
,, Mach, was du möchtest, ich will nur nicht, dass du dir zu viel Arbeit machst…“
Lea sagte nichts und blickte weiter aus dem Fenster, ihre Nichte war immer noch etwas verblüfft von dem plötzlichen Stimmungswechsel, doch weiter konnte sie nicht nachbohren, denn da klingelte es schon an der Tür.
,, Geh ruhig, ich räume ab!“, meinte Lea dann wieder mit ihrer normalen rauen Stimme.
,, Und vergiss dein Frühstück nicht!“
,, Alles klar! Danke!“, rief Lelia wieder etwas erleichterter und sprang auf.
,, Bis später Tantchen!“
Sie rannte zur Tür, wo Holly auf sie wartete.

,, Cool, eine Party!“, sagte Oliver, als sie im Bus über Lelias Geburtstag sprachen.
,, Was wünscht du dir denn?“
Das Mädchen zuckte mit den Schultern.
,, Überrasch mich! Hauptsache es kommt von Herzen!“
,, Nun … ich hab so meine Probleme mit Geschenken, das dürftest du doch noch wissen oder?“, redete Oliver weiter und verzog sein engelhaftes Gesicht.
Malvin und Holly prusteten los und auch Lelia begann breit zu grinsen.
Tatsächlich waren Malvin und Oliver immer vollkommen aufgeschmissen, wenn man ihnen keinen konkreten Hinweis geben konnte, was man zum Geburtstag haben möchte. Meistens retteten sie sich damit raus, dass sie ein Buch verschenkten, doch an Lelias sechzehnten Geburtstag wurde sie von Oliver mit einem Bettbezug überrascht, auf dem zwei Teddybären in vielfach variierenden, doch vollkommen eindeutigen Posen zu erkennen waren. Während Lelia sich vor Lachen schüttelte, Holly errötet war und Malvin das Bettzeug eifrig gemustert hatte, war ihre Großtante weniger begeistert.
,, Das war das erste und so ziemlich einzige Mal, dass mich ein Erwachsener “Drecksack“ genannt hat …“, murmelte Oliver, dessen Gedanken ebenfalls zu dem Tag zurückgekehrt waren.
,, Tja, mein Tantchen ist schon ziemlich speziell!“, lachte Lelia, während die anderen sich immer noch schüttelten.
,, Sie passt eben gut auf mich auf!“
Oliver knurrte.
,, Das sollte doch keine Anmache gewesen sein …“, sagte er, woraufhin das Mädchen noch lauter lachte und Malvin sich verschluckte.
,, Die wäre auch ziemlich danebengegangen … ganz so blöd bist du ja auch nicht!“

Der Schulbus fuhr seine Strecke und während des Restes der Fahrt blieb Oliver stumm und Malvin prustete immer wieder von Neuem los.
Lelia blickte aus dem Fenster und ihr Herz schlug erwartungsvoll, als sie an ihren großen Tag dachte. Sie fragte sich, ob es die Worte ihrer Großtante waren, aber nun fing sie plötzlich auch an, ihren siebzehnten Geburtstag sehr wichtig zu nehmen …

In der Schule war recht wenig los, der Unterricht war langweilig und Holly schien die Einzige zu sein, die wirklich aufpasste. Oliver und Malvin flüsterten leise und spielten “Hangman“ und Lelia starrte vor sich hin, kritzelte hie und da etwas auf die Ränder ihres Heftes und gähnte unentwegt.
,, Lelia!“, ertönte wieder ein überdeutliches Flüstern hinter ihr und abermals fuhr sie zusammen.
Sie drehte sich um, doch Malvin und Oliver redeten weiterhin intensiv miteinander und die anderen Schüler starrten gelangweilt vor sich hin.
Meine Güte!, dachte sich Lelia und rieb sich die Stirn. Vielleicht war es ihre innere Stimme, die zu ihr sprach und sie ermahnte, im Unterricht achtsamer zu sein. Sie wollte versuchen, dem nachzukommen.

Der Tag nahm seinen Lauf, die Schule war zu Ende und Lelia war mit Holly auf dem Heimweg.
,, Glaubst du Oliver?“, fragte Holly ihre Freundin plötzlich, nachdem sie eine Weile stumm nebeneinander hergelaufen waren.
,, Was glaube ich ihm?“
,, Naja … die Sache mit der Bettwäsche …“
Sie druckste und errötete leicht.
Lelia verstand nichts.
,, Was für eine Bettwäsche?“
,, Dein letztes Geburtstagsgeschenk! Die Bettwäsche!“, sagte Holly eindringlicher.
,, Was soll damit sein?“
,, Naja …“
Wieder druckste sie.
,, Es soll angeblich keine Anmache gewesen sein … sagte er …“, redete sie weiter und mit jedem Wort wurde ihr Gesicht dunkler.
,, Glaubst du ihm?“
Endlich begriff Lelia, worauf ihre Freundin hinaus wollte.
,, Natürlich glaube ich ihm!“, rief sie entrüstet und erschrocken zugleich.
,, Oliver würde nicht im Traum etwas von mir wollen, genauso wie umgekehrt auch! Er ist echt in Ordnung, aber auf so einen Typen stehe ich nun wirklich nicht!“
Holly nickte nur, sagte aber nichts mehr. Lelia seufzte.
,, Ich weiß, dass du ihn magst!“, sprach sie genervt und strich sich ihr blondes Haar aus dem Gesicht.
,, Warum sagst du es ihm nicht einfach? Er kann nicht mehr tun, als Nein sagen!“
Holly schüttelte unwirsch den Kopf.
,, Das verstehst du nicht, Lily! Er ist einer meiner besten Freunde, natürlich kann er Schlimmeres tun, als Nein sagen! Er könnte sich von mir fernhalten, unsere Freundschaft könnte kaputt gehen und das möchte ich nicht riskieren!“
Lelia atmete tief ein.
,, Bin ich froh, dass ich nicht solche Sorgen hab … Tja, was kann ich tun, um dir zu helfen?“
Holly zuckte mit den Schultern.
,, Da gibt es nichts. Das muss ich jetzt irgendwie durchstehen!“

Lelia kam nach Hause, wo ihre Großtante schon Essen gekocht hatte. Sie erinnerte sich an heute Morgen und hatte wieder ein schlechtes Gewissen, weil sie den Geburtstag, den Lea scheinbar so sorgsam geplant hatte, runtergemacht hatte.
Die Alte schien jedoch wieder ganz normal zu sein.
,, Na? Wie war die Schule? Geht’s der Affenbande gut?“, fragte sie, als die Nichte die Küche betrat.
,, Alles klar!“
,, Wasch dir die Hände und komm dann ins Esszimmer. Das Essen ist gleich soweit.“
,, Okay!“
Sie ging nach oben in ihr Zimmer, mit ihrem angrenzenden, eigene Badezimmer, warf der wieder einmal offen stehenden Tür zur kleinen Treppe einen genervten Blick zu und schnappte sich ihre Hausklamotten.

Das Essen ihrer Großtante schmeckte wie immer herrlich und so schlang das Mädchen wieder gierig, wobei sie die Blicke Leas gezielt ignorierte.
,, Soll ich heute wieder im Laden helfen?“, fragte sie, nachdem sie sorgsam runtergeschluckt hatte.
,, Ja, aber nicht lange! So viel Kundschaft bekommen wir ja nicht und du musst dich ja auch um deine Hausaufgaben kümmern.“
,, Wie du meinst. Morgen kommen in Erdkunde die Referate dran, ich hab meins so gut wie fertig.“
Lea zog an ihrer Pfeife.
,, Na immerhin … Es wundert mich aber schon, dass du es noch nicht ganz zu Ende gestellt hast. Normalerweise schiebst du es nicht so auf.“
,, Konnte in letzter Zeit nicht so gut schlafen, darum hatte ich nicht wirklich Lust zu arbeiten …“
Die Großtante sah auf und begegnete dem Blick ihrer Nichte.
,, Du konntest nicht schlafen? Wegen des Vollmondes oder warum?“
Sie fragte so beiläufig, dass es schon fast gezwungen beiläufig klang.
,, Hatte viele komische Träume und danach konnte ich nicht mehr schlafen!“
,, Ach so?!“
Die Großtante hob eine Augenbraue und Lelia fragte sich, was daran denn so interessant war.
,, Naja … jeder hat mal Träume …“
Ein paar Minuten Schweigen, dann sah Lea wieder auf.
,, Möchtest du deine Träume vielleicht erzählen?“
Da war sie wieder, die typische Frage. Schon als Lelia noch ganz klein war und mal einen ihrer Träume erwähnt hatte, hatte ihre Großtante immer gerne nachgefragt. Sie hatte einige Bücher über Traumdeutung und schien sich immer schon für dieses Thema interessiert zu haben, allerdings konnte Lelia nie etwas besonders aufregendes erzählen, im Gegensatz zu anderen Menschen, die den größten Kauderwelsch träumten. Holly hatte mal einen Alptraum von einem Monster gehabt, Oliver hatte geträumt er wäre nackt zur Schule gegangen und Malvin hatte geträumt, dass er Millionär war und eine in die Jahre gekommene Schauspielerin geheiratet hatte.
So etwas träumte Lelia nicht. Im Grunde waren ihre Träume immer gleich, unspektakulär und ruhig.
Mal sah sie im Schlaf eine weite Wiese, dann wogende Kornfelder, einen riesigen See, hohe, verschneite Berge, Wälder und Flüsse, Wüsten oder auch mal ein kleines trübes Sumpfgebiet. Mehr nicht. Es war immer nur der Blick auf eine gewisse Landschaft, still, leise, und ohne Kommentare.
Ihre Freunde hatten immer gesagt, sie hätte die langweiligsten Träume, die jemals jemand haben kann. Nur Lea hörte ihrer Nichte immer zu, egal, wie langweilig es auch war. Stets lächelte sie, als das Mädchen das Grün der Gräser beschrieb, das Blau des Himmels, den Duft der Blumen …
,, Ach, ich hatte jetzt zweimal den Wiesentraum …“, meinte Lelia nur.
Sie hatte all die Bilder schon so genau beschrieben, und da es immer dieselben waren, unterteilten Großtante und Nichte sie einfach nur noch in Überbegriffe.
,, Ah … und alles, wie immer?“, lächelte, Lea und das Mädchen nickte nur.
,, Obwohl es cool wäre, wenn mal etwas passiert!“

Der Tag nahm seinen Lauf, Lelia half im Laden aus, verkaufte einer älteren Dame eine Porzellanpuppe und einem kleinen Jungen einen Cake.
Ihre Großtante saß in ihrem Schaukelstuhl, rauchte ausgiebig und las Zeitung.
Als es vier Uhr war, erhob sich die Frau schließlich streckend und gähnend.
,, Ich denke, wir können jetzt Schluss machen. Danke für deine Hilfe, Lily. Mach jetzt am besten deine Hausaufgaben, ich sag dir bescheid, wenn es Abendessen gibt.“
,, Alles klar!“
Lelia schnappte sich ein Tablett mit Cakes, Lea das andere, während sie an ihrer Hosentasche fummelte und den Schlüssel hinauszog. Die Pfeife war sicher in ihrem Mundwinkel.
Nachdem der Laden abgeschlossen war, stapften Großtante und Nichte nach nebenan, luden die Tabletts ab und atmeten tief durch.
,, Ach Scheiße!“, meinte Lea plötzlich und wieder einmal strich ihre Hand über die Hosentasche.
,, Hab meinen Tabak im Laden liegen lassen, ich Dorftrottel!“
Lelia lachte.
,, Ich erwähnte mal etwas von Alzheimer…“, scherzte sie, doch ihre Großtante winkte nur ab.
,, Und ich sagte dir was Passendes dazu, du Klopskopf!“, knurrte sie mit gespieltem Zorn.
,, Ich kann es dir gerne noch einmal sagen, und wenn du nicht dein kleines Schandmaul hältst, dann vergesse ich auch mal, wie das Abendessen zubereitet wird!“
Das Mädchen lachte nur noch lauter.
,, Hab Erbarmen!“, rief sie aus und spielte die Unterwürfige.
,, Ich mache dir einen Vorschlag! Ich hole deinen Tabak und du erinnerst dich wieder an das Abendessen, okay?“
,, So ist es brav!“, lachte Lea und warf ihrer Nichte den Schlüssel zu.

Der Himmel zog sich zu und kaum war Lelia vor die Tür getreten, da klatschte auch schon der erste Regentropfen auf sie nieder und traf sie mitten auf der Stirn.
,, Ach … Kacke …!“, sagte sie etwas erschrocken, wischte sich das Wasser ab und eilte in den Laden.
Sofort erblickte sie den Tabak auf der Theke liegen, grinste über die Vergesslichkeit ihrer Großtante und ging auf die Theke zu.
Dann geschah etwas Seltsames. Als Lelia die Hand nach der Tabakpackung ausstreckte, ertönte ein so lauter Donner, dass sie fast einen halben Meter in die Luft sprang, weil sie sich so erschreckte, im selben Moment erklang eine langsame, sanfte, etwas traurige Melodie. Das erschrak Lelia noch viel mehr. Sie kannte dieses Lied zwar und konnte es auch sofort einordnen, doch konnte sie sich nicht erklären, warum es plötzlich zu spielen begann.
Sie drehte sich um und fasste die kleine engelhafte Figur ins Auge, die ruhig auf einem alten Tisch ruhte. Eine einzelne Lilie stand in dem Gefäß der Figur, die Musik spielte laut in einem Tempo, als hätte man sie eben erst lange aufgezogen.
,, Du liebe Güte …“, sprach Lelia immer noch etwas verblüfft und erschrocken und näherte sich dem kleinen Püppchen.
Der Regen prasselte laut auf die Fensterscheiben, die Dielen knarrten unter Lelias Füßen, doch die Melodie schien alles zu übertönen.
,, Wieso fängst du an zu spielen? Du bist doch nicht etwa kaputt, oder?“
Lelia schnappte sich den Tabak, ging hinüber zu der Figur und hob sie hoch. Genau in diesem Moment hörte die Musik auf.
,, Was zum-?“, sprach das Mädchen verwirrt, drehte das Püppchen hin und her, betrachtete den Stift der Spieluhr und drehte ihn langsam auf. Wieder erklang die Musik, doch diesmal viel lang gezogener und sie endete schnell.
,, Mhmm… Scheint nicht kaputt zu sein. Vielleicht war es die Vibration des Donners, die einen kleinen Fehler darin ausgelöst hat …“
Sie zuckte mit den Schultern und wollte die Figur wieder auf ihren Platz stellen, da erhellte ein Blitz für wenige Momente den Raum, die Lider der Puppe schienen zu flackern und offenbarten für weniger als eine Sekunde tiefblaue Augen.
,, Wuoh!“, schrie Lelia aus, ließ fast die Puppe fallen und stellte sie schnell wieder auf den Tisch.
,, Was war das?!“
Sie ging in sichere Entfernung, ihre Augen waren starr auf die Figur gerichtet und sie wartete auf einen weiteren Blitz. Ihr Herz schlug so heftig, dass es wieder zu schmerzen begann. Was für ein Schreck!
Es vergingen einige Sekunden, da zuckte wieder ein Blitz durch den Himmel, der Raum war wieder hell und Lelia starrte angestrengt auf die kleine Puppe. Sie stand dort ruhig und unschuldig, mit geschlossenen Augen, als würde sie schlafen, mit der Lilie in ihrer Hand.
Das Mädchen atmete erleichtert aus. Es war nur Einbildung durch die schlechten Lichtverhältnisse. Fast hätte es Lelia mit der Angst zutun bekommen. Sie lachte über ihre Schreckhaftigkeit, griff nach der Klinke und verließ den Laden.
Es wurde nun höchste Zeit, dass sie sich an das Referat setzte und es zu Ende brachte.


Legenden




Da sie wieder einen intensiven Wiesentraum hatte und daher schwerlich aus dem Bett kam, war schon etwas spät, als Lelia das Esszimmer erreicht hatte. Der Tisch war bereits gedeckt, die Rauchschwaden zogen durch das offene Fenster ab und ihre Großtante blätterte in der Morgenzeitung.
,, Dieser verfluchte Zeitungsbengel schmeißt die Zeitung immer in meine holländischen Tulpen! Es sind schon zwei Köpfe abgebrochen! Wenn ich den erwische, breche ich ihm auch mal den Kopf ab …“
Lelia ließ sich auf dem Stuhl gegenüber von ihrer Großtante sinken.
,, Dir auch einen guten Morgen!“, sagte sie und grapschte nach einem Brötchen.
Toast ignorierte sie weiterhin.
,, Irgendwas stimmt nicht mit meiner Tür!“, begann sie dann und Lea sah auf.
,, Die Tür zur kleinen Treppe! Die geht jetzt ständig von alleine auf. Das ist noch nie passiert!“
Tatsächlich hatte sie auch heute Morgen, als Lelia aus dem Bett stieg, weit aufgestanden.
Die Großtante atmete tief durch und pustete eine gewaltige Rauchwolke aus.
,, Das Haus ist alt …“, erklärte sie langsam.
,, Die Türen sind aus Holz und das kann sich bei den wechselnden Jahreszeiten irgendwann verziehen … Ich werde mir die Sache gleich mal angucken.“
Die Alte kaute auf ihrem Pfeifenstiel herum und befingerte ihr Medaillon.
,, Hast du heute etwas mit deinen Freunden vor?“, fragte sie dann.
Lelia schüttete den Kopf.
,, Bis jetzt noch nicht. Soll ich dir wieder im Laden aushelfen oder planst du nochmals eine große Aufräumaktion?“
,, Ich möchte dir etwas erzählen“, sprach die Großtante schlicht und nippte an ihrem Kräutertee.
,, Aber erst heute Abend. Ich bin den ganzen Tag unterwegs. Willst du nicht mal wieder Mrs. Thompson besuchen? Sie und Mr. Thompson würden sich freuen und Holly sowieso. Ich bin gegen sechs wieder Zuhause…“
,, Gut, okay …“
Lelia zuckte mit den Schultern.
,, Wo willst du denn hin, Tantchen? Gibt es wieder eine neue Lieferung für unseren Laden?“
Rauchkringel flogen in die Luft.
,, Ich fahre nur in die City … meine Beine vertreten.“

Das Wetter war schlechter, als gestern. Dicke graue Wolken überzogen den Himmel, der Wind war ungemütlich und feucht.
,, Meine Mom ist echt begeistert von dem Windspiel und ich soll deiner Großtante ein dickes Dankeschön ausrichten. Sorry, dass ich es nicht schon gestern gesagt hab!“, redete Holly, als sie mit Lelia zum Bus lief.
,, Schön, dass es ihr gefällt.“
,, Sie ist total happy. Cool, dass du heute zu mir kommst, da wird Mom dir sicherlich wieder etwas für deine Großtante mitgeben.“
,, Oje …“, lächelte Lelia.
,, Das soll sie doch nicht!“

Der Bus kam, Lelia und Holly quetschten sich nach hinten und Oliver und Malvin machten die Plätze frei.
,, Schön euch zu sehen!“, sagte Oliver und strich sich durch sein zauberhaftes Haar.
Einige Mädchen warfen ihm einen schüchternen Blick zu, doch er schien sie nicht zu bemerken.
Lelia fand es ulkig zu sehen, was für eine Wirkung Oliver auf die Mädchen hatte. Selbst einige Collegestudentinnen fanden ihn hinreißend.
Für Lelia war er nur ein Freund und nicht eindrucksvoller, als der dicke Malvin. Sie fragte sich, weshalb sie sich von dem Rest der Schule unterschied. Es war einfach ein Muss auf Oliver Brown zu stehen. Selbst Holly mochte ihn sehr, was Lelia schon seit der sechsten Klasse aufgefallen war.

Es war Referatetag in der Schule. Drei Stunden lang durften sie sich jetzt Vorträge über die langweiligsten Dinge, rund um Erdkunde anhören.
Oliver war einer der Ersten. Seine schöne Gestalt schwebte an Lelia und den anderen Schülern vorbei und er erklärte die Wetterbeschaffenheit in Kalifornien und die idealen Anbaumöglichkeiten für Zitrusfrüchte.
Die Lehrerin schien zufrieden, der Vortrag war lang und ausführlich und Lelia hatte Schwierigkeiten, nicht einzuschlafen.
Wenn alle Referate so lange gingen, da kam sie heute sicher nicht mehr dran. Sie beschloss, ihr Referat noch in ihrer Schultasche zu lassen.
Es folgten gute und weniger gute Referate, kurze und holprige, ellenlange und dröge. Lelia fielen andauernd die Augen zu.
Malvin ging nach vorn und erzählte über Shifting Cultivation. Waren sie schon in Afrika angekommen? Danach kam schon Asien. Darüber hatte Lelia etwas. Tourismus in Asien war ihr Thema gewesen. Vier Wochen hatte sie hart daran gearbeitet und hielt es für sehr passabel, aber sie war so schrecklich erschöpft, dass sie hoffte, heute noch damit verschont zu bleiben.
Die zweite Stunde neigte sich nun dem Ende zu und Malvin erklärte immer noch. Er nahm sogar ein Tafelbild zu Hilfe.
Lelias Augen taten ihr weh. Sie war so müde, dass sie Malvins Gerede nur noch als eintöniges Brummen wahrnahm. Sie sackte immer mehr in ihrem Stuhl zusammen, saß schon so verschränkt da, dass ihre Brust wieder schmerzte.
Sie rieb sich die Augen und unterdrückte ein Gähnen. Ihre Augen waren furchtbar schwer. Es war doch sicherlich nicht schlimm, wenn sie sie mal kurz ausruhte …

Malvin erzählte weiter und weiter, seine Hand fuhr erklärend über die Tafel, die Lehrerin machte ein zufriedenes Gesicht, Holly schrieb eifrig mit.
Lelia seufzte und schaute auf die Uhr. Ein Kichern ertönte neben ihr.
,, Andere Länder scheinen dich nicht zu begeistern, Lelia …“, sprach eine leise, kalte Stimme zu ihr.
Die hatte sie noch nie gehört … oder doch? Die Art und Weise, wie sie ihren Namen aussprach, kam ihr seltsam bekannt vor.
Verwirrt schaute sie zur Seite und erschrak so heftig, dass sie fast vom Stuhl fiel. Ein ausgemergeltes, bleiches Gesicht war nur wenige Millimeter von ihrem Gesicht entfernt. Tiefschwarze, aufgerissene Augen starrten sie an, eine dunkelrote Narbe zog sich über die Lippen, hinunter bis zum Kinn.
,, UAH!“, schrie sie auf, sie rutschte vom Stuhl und prallte hart auf ihren Hintern.
Benommen blickte sie sich um, sah nur die Beine des Tisches und hörte ein lautes Lachen in der Klasse. Sie war schläfrig und verwirrt, erschrocken und zittrig. Ihr Herz schlug so heftig, dass es fast unerträglich schmerzte, sie fasste sich an die Brust und kam langsam wieder auf die Beine.
Ein Mädchen stand vorne und starrte sie verwundert an, ebenso, wie die Lehrerin. Malvin musste mit seinem Vortrag schon lange fertig gewesen sein …
Oliver lag brüllend über seinem Tisch, Malvin wischte sich die Tränen aus den Augen und Holly schüttelte ahnungslos den Kopf.
Lelias Blick huschte über die Köpfe der Schüler hinweg. Die bleiche Fratze war nirgends zu sehen. Sie hatte geträumt. Sie war eingeschlafen und hatte geträumt. Und das war der erste Traum, der nicht von einer Landschaft handelte. Es wurde sogar mir ihr geredet! Das kam so unerwartet, dass Lelia noch viel verwirrter war.
,, Miss Morgan!“, fauchte die Lehrerin, das Lachen verstummte und Lelia zuckte zusammen.
,, Eine solche Dreistigkeit hätte ich nicht von Ihnen erwartet! Eine Respektlosigkeit Ihren Mitschülern gegenüber, einfach so einzuschlafen und mit ohrenbetäubendem Getöse aufzuwachen.“
,, Es tut mir leid, Mrs. Wellington …“, hauchte das Mädchen leise und ihr Gesicht wurde scharlachrot.
,, Wenn der Vortrag der Anderen so unglaublich langweilig für Sie ist, dann kommen Sie doch jetzt bitte nach vorne und halten Sie Ihr Referat. Sicherlich können wir noch eine ganze Menge von Ihnen lernen!“
Oje. Das war verflucht übel gelaufen. Lelia rieb sich verschlafen die Stirn und mit zitternden Händen und einer schmerzenden Brust wühlte sie in ihrer Tasche, nach ihrem Referat.
Sie fand es nicht.
,, Das kann doch nicht …“, murmelte sie leise und kramte weiter.
,, Ich hab es doch gestern noch eingepackt! Ganz sicher!“
,, Ich warte!“, sprach Mrs. Wellington scharf.
Lelia wurde nervös. Wo war es nur? Sie hatte es todsicher hinter ihrem Mathebuch gesteckt. Das Mathebuch war da, das Referat nicht.
Nacheinander legte sie nun Hefte, Bücher und Blöcke auf ihren Tisch, alle Blicke waren auf sie gerichtet.
,, Das darf doch nicht wahr sein!“, fiepte sie hilflos, als das letzte Buch aus der Tasche genommen war und es keine Spur von der Referat- Mappe gab.
,, Nun?!“, fauchte Mrs. Wellington.
,, Was ist jetzt?! Wir haben nicht ewig Zeit!“
,, Es tut mir leid“, erklärte Lelia immer noch fassungslos.
,, Ich habe es anscheinend Zuhause vergessen. Es ist nicht in meiner Tasche, dabei bin ich mir so sicher, dass ich es eingepackt-“
,, So?!“, schimpfte die Lehrerin weiter.
,, Erst machen Sie so einen Aufstand und dann können Sie nichts vorweisen?!“
Lelia wurde wütend. Schlimm genug, dass sie ihr Referat nicht finden konnte, und dass sie von dem Traum immer noch vollkommen aus der Bahn geworfen war, da wollte sie nicht auch noch als Idiot dargestellt werden.
,, Wollen Sie jetzt Ihre Zeit vergeuden, indem Sie mich runtermachen?!“, blaffte das Mädchen zurück.
,, Ich dachte, wir hätten nicht ewig Zeit!“
Wütend setzte sie sich auf ihren Platz und fuhr sich durch das Haar. Sie wusste, dass sie nun endgültig zu weit gegangen war, aber das war ihr egal. Sie konnte immer noch nicht begreifen, wo ihr Referat war.
,, Nun, Miss Morgan!“, zischte Mrs. Wellington mit hochrotem Kopf.
,, Ich werde mir aber die Zeit nehmen, Ihrer Großtante von Ihrem unmöglichen Verhalten zu erzählen!“
Die Glocke klingelte und die Schüler standen auf und stopften ihre Sachen in die Taschen.
,, Morgen geht es weiter!“, sagte die Lehrerin.
,, Miss Morgan hat aber ihre Chance vertan!“
,, Was?!“, rief Lelia aus.
,, Ich habe ebenso hart daran gearbeitet, wie alle anderen hier! Warum bekomme ich nicht noch eine Chance?!“
Die Lehrerin hob die Augenbrauen.
,, Die haben Sie durch Ihre Dreistigkeit vertan!“

Immer noch wutentbrannt saß Lelia mit ihren Freunden im Bus nach Hause. Sie sagte auch das Treffen mit Holly ab, weil sie sich erst einmal abregen musste und vor allem gucken musste, wo ihr Referat geblieben war.
,, Das hat aber auch ausgesehen …“, sagte Oliver und musste sich ein Lachen verkneifen.
,, Du hast da erstmal ganz normal gesessen, dann bist du auf einmal nach hinten gerutscht und dein Kopf fiel so auf die Seite.“
,, Mrs. Wellington hat schon so komisch geguckt, und als ich mich umgedreht hab, da sah es so aus, als wärest du einfach eingeschlafen!“, erklärte Holly und Malvin nickte eifrig.
,, Das sah aus, als hättest du das mit Absicht gemacht. Total provokant!“, erzählte er.
,, Das war aber nicht mit Absicht!“, entgegnete Lelia mürrisch.
,, Ich war so müde, dass ich total eingenickt bin!“
,, Klar hast du das nicht extra gemacht …“, sagte Holly.
,, So wie du geschrien hast“, stimmte Oliver ihr zu.
,, Hab ich echt so laut geschrien?“
,, Wie am Spieß!“, nickte Malvin.
,, Du bist ungefähr einen halben Meter in die Luft gesprungen, so zusammengezuckt bist du und du hast voll panisch gebrüllt. Dann bist du vom Stuhl gerutscht.“
,, Sorry, dass ich gelacht hab!“, meinte Oliver.
,, Aber das sah einfach zu komisch aus! Und wie Wellington geguckt hat! So etwas hat die sicherlich noch nie gesehen!“
,, Wie peinlich …“, murmelte Lelia und hielt sich den Kopf.
,, Ich hab geträumt, dass ein Monster neben mir saß, und hab mich total erschreckt!“
Holly, Oliver und Malvin sahen sie an und nach wenigen Sekunden brachen sie in ein lautes Gelächter aus.
,, Ich glaub´s nicht!“, schrie Oliver.
,, Du sitzt in der Schule und träumst von Monstern!“
,, Hoffentlich schlafe ich nie in der Schule ein!“, prustete Holly.
,, Nachher verprügel ich noch aus Versehen die Wellington!“, scherzte Malvin.
,, Hört auf!“, sagte Lelia und stimmte ebenfalls in dem Lachen mit ein.

Zuhause angekommen, verabschiedete sich Lelia von Holly und schloss die Haustür auf.
Immer noch wütend, schleuderte sie ihre Schuhe in die Ecke, zog sich ihre Jacke aus und stapfte energisch die große Treppe zu ihrem Zimmer hinauf.
,, Jetzt bin ich aber mal gespannt!“, zischte sie durch zusammengebissene Zähne und riss die Tür auf.
Abrupt blieb sie im Türrahmen stehen. Sie hatte zwar damit gerechnet, ihr Referat auf dem Schreibtisch vorzufinden, aber das, was sie jetzt sah, das ließ sie nun wirklich an ihrem Verstand zweifeln.
Die Mappe ihres Referats lag aufgeklappt auf dem Boden, die Blätter mit Texten und Diagrammen waren herausgerissen worden und lagen überall im Zimmer verstreut.
Das war unmöglich.
Lelia blieb eine ganze Weile vollkommen verdattert an der Tür stehen. Sie traute sich kaum ins Zimmer hinein. Irgendwer schien einen riesen Spaß mit ihr zu treiben. Ihre Großtante war es sicherlich nicht gewesen.
Während Lelia immer noch gebannt dastand und überlegte, sah sie im Augenwinkel, wie sich etwas bewegte.
Ein kalter Schauer erfasste sie und sie wäre fast schreiend weggerannt, aber da erkannte sie, dass es nur der Vorhang an ihrem Fenster war.
Sie atmete auf. Das Fenster war offen und der Wind war heute sehr heftig. Vielleicht hatte er die Mappe erfasst und vom Schreibtisch geweht. Vielleicht war sie gestern so verschlafen, dass sie die Blätter nicht richtig eingeheftet hatte und der Wind sie nun im ganzen Raum verteilen konnte.
Lelia war erleichtert. Sie hatte eine gute Erklärung gefunden, obwohl sie sich nicht daran erinnern konnte, das Fenster geöffnet zu haben …

Lelia hatte ihre Hausaufgaben schon erledigt, als ihre Großtante nach Hause kam. Ihr Summen erfüllte sofort das Haus, kaum war sie da.
Sie ging die Treppe hinauf, ihr Summen wurde lauter, sie schlenderte den Flur entlang und verschwand kurz in ihrem Zimmer.
Lelia musste grinsen, als sie den Geruch des Pfeifenqualms vernahm und Großtante Leas tiefe Stimme, die wieder inbrünstig Lieder trällerte.
Diese Frau hatte einfach immer gute Laune. Lelia sollte sich von ihr eine Scheibe abschneiden, besonders nach dem heutigen Tag.
Die Tür von Leas Zimmer schien sich zu öffnen, der Gesang kam näher und näher und schließlich klopfte es auch schon an Lelias Tür.
,, Komm rein, Tantchen!“, lachte sie.
Die Tür ging auf und die Frau trat ein.
,, Was machst du denn schon hier?“, fragte die Großtante zur Begrüßung.
,, Ich dachte, du wolltest zu Holly gehen!“
,, Ja schon …“, begann Lelia.
Sie erzählte die Geschichte über das Referat, über ihren Traum und über ihre Sechs in Erdkunde. Großtante Lea fiel fast die Pfeife aus dem Mund. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihre Nichte an.
,, Du wirst heute sicherlich noch einen Anruf von Mrs. Wellington bekommen. Ich wollte doch gar nicht einschlafen! Ich arbeite jetzt einfach hart und vielleicht bekomme ich dann noch eine Drei!“
Lea sah sie immer noch schockiert an. Ohne, dass sie es zu merken schien, fingerte sie wieder an ihrem Medaillon.
,, Das war doch keine Absicht …“
Die Großtante fing sich wieder, sie kaute auf der Pfeife herum und fuhr sich durch ihr dichtes, graues Haar.
,, Geh heute bloß früh ins Bett, damit das nicht noch einmal passiert!“, sagte sie langsam.
,, Und dann arbeite fleißig, damit du nicht durchfällst.“
,, Natürlich!“
Lea seufzte.
,, Du hast also das erste Mal nicht von Landschaften geträumt, sondern von einem … unheimlichen Mann?“, wollte sie ernsthaft wissen.
Lelia nickte.
,, War schon echt komisch. Darum hab ich mich wahrscheinlich auch so erschreckt. Das war echt eine Premiere für mich!“
,, Und geht es dir gut?“, fragte die Großtante dann und Lelia stutzte.
,, Ja schon …“, meinte sie.
,, Es ist nur einfach ärgerlich, weil ich echt lange an dem Referat gesessen hab und so ein blöder Traum alles verdorben hat, aber vielleicht kann ich die Wellington ja doch noch überzeugen, mir eine zweite Chance zu geben.“
,, Versuche einfach dein Bestes!“
Lea rieb sich die Stirn und wirkte plötzlich etwas erschöpft.
,, Reden wir nicht mehr davon! Ich wollte dir ja eine kleine Geschichte erzählen, weißt du noch?“
,, Klar!“, sagte Lelia neugierig.
,, Worum geht´s?“
Die Großtante setzte sich auf das Bett des Mädchens, tat einen sehr langen Zug an ihrer Pfeife und schloss die Augen.
,, Kennst du dich mit alten Sagen und Legenden aus?“, fragte sie ihre Nichte, die die Stirn in Falten zog.
,, Ähm … Ich hab mal ein paar gehört … aber ich würde jetzt nicht so weit gehen und sagen, dass ich sie kenne!“
Die Alte nickte kurz.
,, Schon mal was von Orpheus gehört?“, fragte sie weiter.
Lelia überlegte.
,, Sagt mir was … War das nicht so ein Sänger?“
Die Großtante pustete den Rauch aus und legte den Kopf schräg.
,, Na immerhin …“, kommentierte sie es.
Gerade wollte sie beginnen, als Lelia ihr jedoch ins Wort fiel.
,, Ähm … hat das denn einen bestimmten Grund, warum du mich nach Orpheus fragst? Willst du mir jetzt was von ihm erzählen?“
Lea zog an ihrer Pfeife.
,, Wenn du mich lässt, Quasselkopf!“, murrte sie und warf ihrer Nichte einen strengen Blick zu.
,, Ähm … klar!“, sagte Lelia immer noch etwas verwirrt.
,, Aber wie kommst du darauf?“
,, Nun …“, sprach Lea langsam und der Pfeifenrauch zischte aus ihrem Mund.
,, Ich weiß, dass du kein großartiger Märchenfreund bist, aber ich finde einfach, dass es manche Geschichten wirklich wert sind, sie zu hören. Auch wenn man mit beiden Beinen fest in der Realität verankert ist, so sollte man seinen Horizont auch mal in diese Richtung erweitern!“
Sie grinste, doch Lelia war weiterhin nachdenklich.
,, Okay … Wenn du meinst … Ich verstehe zwar immer noch nicht, was das soll, aber vielleicht ist es ja ganz lustig! Also dann erzähl mir von diesem Sänger!“
Lea rollte die Augen.
,, Orpheus war nicht nur ein Sänger“, erklärte sie kopfschüttelnd.
,, Er war der beste Sänger auf Erden. Apollon, der Gott der Musik, soll ihm höchstpersönlich ein Saitenspiel geschenkt haben. Orpheus´ Stimme war mit nichts zu vergleichen. Sie war samtener, als Samt, wärmer als die Sonne und leichter als Luft. In jedem Ton herrschte eine Magie, die die Herzen der Menschen eroberte, die die Tiere des Waldes herbeirief, die Löwe und Lamm, friedlich Seite an Seite dem Gesang lauschen ließ. Bäume wiegten sich zu seinem Gesang, leblose Steine wurden von der Zaubergewalt der Töne bewegt. Klingt ziemlich beeindruckend, oder?“
Lelia nickte.
,, Eine hübsche Geschichte, aber so etwas gibt es doch nicht …“
,, Mja…“, murmelte Großtante Lea und wieder pafften Rauchkringel aus ihrer Pfeife.
,, Lass mich trotzdem weitererzählen … Nun … Orpheus war ein gottgleicher Knabe, doch sein Herz war zerbrechlich und zart, wie das eines Menschen. Er hatte es einer jungen Nymphe geschenkt. Ihr Name war Eurydike. Die Liebe der Beiden kannte keine Grenzen, das Band zwischen ihnen war stark und unzerstörbar.“
,, Typisch …“, brummte Lelia und ihre Großtante sah auf.
,, Was ist typisch?“
,, Der Kitsch! Auf jeden Topf ein Decken, glücklich bis in alle Zeit. Ein typisches Märchen!“
,, Ach ja?“, grinste Lea ihre Nichte an.
,, Das findest du kitschig?“
,, Und wie! Und übertrieben. Die ach so große Liebe, das absolute Glück … Man sollte es vernünftig betrachten.“
Lea begann schallend zu lachen und fast wäre ihr die Pfeife aus dem Mund gefallen.
Lelia blickte ihre Großtante überrascht an.
,, Hat´s dich schon mal gejuckt, Lily?“, fragte die Alte das Mädchen.
,, Gejuckt?“
,, Ob du dich schon einmal für einen Jungen interessiert hast!“
Lelia blickte beschämt auf ihre Bettdecke.
,, Eigentlich nicht … Die Jungs hier in der Gegend sind irgendwie alle … dämlich …“
Die Alte lachte lauter und Lelia schämte sich noch mehr.
,, Das ist nicht komisch …“, knurrte sie.
Lea griff nach ihrer Pfeife und legte ihre Hand auf Lelias Schulter.
,, Du wirst noch anders denken, hast du erst einen Jungen gefunden. Es ist unglaublich, was die Liebe mit einem Herzen anstellen kann. Das wirst du erst verstehen, wenn du es wirklich erlebst! Dann findest du die Geschichte gar nicht mehr so abwegig!“
Das Mädchen blickte auf und sah in das schmunzelnde Gesicht ihrer Großtante. Schließlich grinste sie auch.
,, Wir werden sehen, aber jetzt erzähl weiter, ich will wissen, wie es ausgeht!“
Lea nickte, zog kurz an ihrer Pfeife und redete weiter:
,, Nun gut … Die Liebe zwischen Orpheus und Eurydike war unendlich groß und stark, doch selbst so eine Liebe sollte schon bald zerstört werden. An einem schicksalhaften Tag, an dem Eurydike mit ihren Freundinnen am Flussufer spielte, wurde sie von einer giftigen Natter in die Ferse gebissen und sank auf der Stelle sterbend zu Boden. Sie konnte nicht mehr gerettet werden, es war zu spät.
Eurydikes Tod riss ein großes Loch in Orpheus´ Herz, er konnte sich vor Schmerz nicht fassen. Vergeblich suchte er Trost in seiner Sangeskunst, vergeblich lockte er aus seinem Saitenspiel die schönsten Töne, sodass alle Wesen der Natur rings herum in seinem Wehklagen einstimmten: Weder sein Lied noch sein Gebet brachte die tote Gattin zurück.
Da fasste Orpheus einen Entschluss, den noch kein Mensch vor ihm auszuführen gewagt hatte. Er wollte in die Unterwelt hinabsteigen und den Herrscher des Schattenreiches bitten, ihm seine geliebte Gattin wiederzugeben.
Die Unterwelt war ein grässlicher Ort, die Schatten der Toten umschwebten ihn, es war dunkel und kalt, traurig und unheimlich, doch Orpheus´ Liebe trieb ihn weiter voran.
Schließlich stand er vor dem Thron Hades´.“
,, Und was hat er gesagt?“, fragte Lelia gespannt, als ihre Großtante eine dramatische Pause machte.
Die Alte lächelte.
,, Ist wohl doch ganz interessant für dich, was?“, meinte sie rau und die Nichte zuckte mit den Schultern.
,, Ich gebe zu, die Geschichte hat was … also was tat er denn jetzt genau?“
Lea blies einen Rauschwall aus.
,, Er sang. Er sang von dem unermesslichen Schmerz in seinem Herzen, von der Qual, seine Liebe verloren zu haben. Er trug seine Bitte vor, man möge ihm Eurydike wiedergeben, denn nur so könne er von dem unsäglichen Schmerz befreit werden.
Während er sang, passierte etwas Unglaubliches. Hades hatte so etwas noch nie gesehen: Die Schatten der Toten begannen zu weinen. Ruhelose Seelen, die zur ewigen Arbeit in der Unterwelt gezwungen wurden, ließen von ihrem Tun ab und lauschten dem Gesang und selbst die bösen Rachegöttinnen, die keiner Bitte jemals nachgegeben hatten, waren zu Tränen gerührt.
Der Herrscher der Unterwelt war von Trauer erfüllt, noch nie war ihm so etwas widerfahren. Er holte den Schatten Eurydikes zu sich und sprach zu Orpheus:
>> Nur weil deine große Liebe uns bewegt, erfüllen wir dir diese Bitte. Deine Gattin möge dir in die Oberwelt folgen! Aber wisse: Wenn du auf dem Weg den Blick zu ihr zurückwendest, bevor du das Tor durchschritten hast, so ist sie dir für alle Zeit verloren!<<
So schnell es ging, machte sich Orpheus auf den Weg in die Oberwelt, doch je länger er lief, desto mehr nagten die Zweifel an ihm. Folgte ihm Eurydike wirklich? Waren sie in der Oberwelt sicher wieder vereint?
Sein Herz war schwach, seine Kraft begrenzt, denn er war eben nur ein Mensch. Von Sehnsucht und Angst wurde er zerrissen und schließlich hielt er es nicht mehr aus. Er wandte sich zu Eurydike um.“
,, Oh nein …“, meinte Lelia grimmig.
,, Dieser Dussel!“
Großtante Lea nickte.
,, Ein liebendes Herz ist leicht zu brechen und schwer zu lenken. Man kann ihm keinen Vorwurf machen. Natürlich war seine Geliebte ihm gefolgt. Traurig und liebevoll sah sie ihn an, doch als er seine Hand nach ihr ausstreckte, sie noch einmal in die Arme schließen wollte, wich sie zurück und der verzweifelte Orpheus fasste ins Leere.
Von Panik ergriffen und von Angst übermannt, stürzte er zurück zu Styx, den Fluss der die Unterwelt durchfließt und abermals versuchte er den Fährmann durch seinen Gesang zu bitten, ihn über den Fluss zu fahren. Er tat es nicht.
Orpheus blieb sieben Tage und sieben Nächte in der Unterwelt, klagte und sang, bettelte und bat, doch die Götter blieben unerbittlich.
Alleine und von Verzweiflung und Trauer bezwungen, kehrte er in die Oberwelt zurück. Dort vergoss er eine Träne, nur eine einzige Träne.
Sie war erfüllt von aller Trauer der Welt, von aller Liebe und aller Wehmut, Angst und Einsamkeit …“
Lea endete und ihre Nichte blickte sie an.
,, Und?“, fragte sie.
Die Alte zog an ihrer Pfeife.
,, Und was?“, meinte sie ruppig.
,, Das war´s? Was ist denn aus Orpheus geworden? Was hat es mit der Träne auf sich?“
Großtante Lea kratzte sich am Kopf.
,, Die Geschichte schien dir wirklich gefallen zu haben … Schön zu wissen“, sagte sie rau.
,, Ich sag ja, dass solche Dinge wirklich unterhaltsam sein können. Nicht minder unterhaltsam, als der Quatsch der dauernd in der Glotze läuft.“
Lelia zuckte mit den Schultern.
,, Tja! Wenn du plötzlich die Anwandlungen hast, eine Märchenstunde zu gestalten, dann möchte ich auch alles ganz genau wissen!“
Lea grinste und nahm wieder einen tiefen Zug. Das Medaillon flutschte aus ihren Fingern und baumelte wieder an ihrem Hals.
,, Es heißt, dass Orpheus sich von der Liebe zu Frauen losgesagt hatte, sich sogar der Knabenliebe zugewandt hatte. Außerdem sollen Mänaden, Anhängerinnen von Dionysos, dem Gott des Rausches und ausschweifenden Tanzes und wilder Umzüge und Gesänge, von dem Orpheus sich immer entfernt hatte, den Sänger aus Lust und Leidenschaft zerrissen haben. Sein Kopf und seine Leier wurden in den Fluss Hebros geworfen und er sang immer weiter, bis Apollon ihn gebot zu schweigen.“
,, Uäh… Das ist ja pervers … Wer denkt sich denn so was aus?!“
Lea antwortete nicht, schaute verträumt aus dem Fenster und rauchte weiter.
,, Es heißt, er habe nie seinen Frieden gefunden, auch nicht, als er neben Eurydike in der Unterwelt ruhen durfte …“, meinte sie dann nachdenklich.
,, Sein Herz war zerstört. Die Qual zerfraß ihn auch nach seinem Tod.“
,, Und was ist mit der Träne passiert?“, fragte Lelia weiter.
Die Großtante erhob sich, stieß einen Rauchschwall aus ihrem Mund und streckte sich.
,, Das …“, sagte sie.
,, Ist eine andere Geschichte …“


Der Alltag in all seiner Nichtigkeit




Lelia lag im Bett und obwohl sie schrecklich müde war, fand sie keinen Schlaf. Es war eigenartig und etwas albern, wie sie fand, aber die Geschichte von Orpheus ließ ihr keine Ruhe.
Sie wälzte sich hin und her, immer, wenn sie die Augen schloss, da sah sie einen finsteren Ort vor sich, durchscheinende, traurig blickende Menschen schwebten umher. Es war so unsäglich kalt und schwarz.
Das Mädchen strich sich die Haare aus dem Gesicht. Wenn es so einen Ort wirklich gäbe, dann hoffte sie von ganzem Herzen, dass sie ihn niemals betreten braucht. Kein vernünftiger Mensch würde dort freiwillig hingehen wollen.
Ein liebendes Herz ist leicht zu brechen und schwer zu lenken.
Lelia schüttelte den Kopf.
Als würden Menschen die Welt anders sehen, nur weil sie liebten! Das musste einfach ein Märchen sein.
Während das Mädchen weiter überlegte, hörte sie plötzlich ein lautes Knarren. Sie zuckte zusammen und ihre Gedanken rissen ab.
Langsam setzte sie sich auf und blickte sich in ihrem Zimmer um. Schon wieder war die Tür zur kleinen Treppe aufgegangen. Das konnte doch einfach nicht wahr sein.
,, Das nervt echt tierisch!“, klagte Lelia, stieg aus dem Bett und ging zu Tür hinüber.
Als sie sie erreicht hatte und gerade die Hand nach der Klinke ausstrecken wollte, da ruckte die Tür zurück und fiel laut zu. Lelia fuhr zusammen. Ein kalter Wind strich um ihre Beine, ihre Füße wurden kalt. Ihr kam das unheimliche Gesicht aus ihrem Traum in den Sinn und ihr Herz klopfte schmerzhaft.
Langsam aber sicher machte ihr die kleine Treppe wirklich Angst. Sie war sich natürlich sicher, dass die Tür nur durch die Witterungen etwas verformt war und dadurch öfter aufging, doch mittlerweile fühlte sie sich immer unwohler.
Kurz entschlossen ging sie zu ihrem Schreibtisch, packte sich ihren Stuhl und stellte ihn direkt vor die Tür. Wenn sie noch mal aufgehen sollte, dann würde der Stuhl sie aufhalten.
Das Mädchen ging wieder in ihr Bett, zog sich die Decke über den Kopf und versuchte zu schlafen.

Es vergingen einige Tage, die Tür blieb zu, in Erdkunde konnte sie Mrs. Wellington doch noch dazu überreden, ihrem Referat eine Chance zu geben und sie bekam eine Zwei in ihrer Englischarbeit. Malvin freute sich riesig über eine Vier, Holly schaffte eine Eins minus und Oliver schoss den Vogel mit einer Eins plus ab.
Es war Wochenende und Lelia schlief sehr lange, ihre Tante bereitete das Frühstück vor, sang wieder ihr altes Lied und rauchte ausgiebig ihre Pfeife.
Die Vögel weckten Lelia schließlich aus ihrem Schlummer, sie duschte sich, zog sich an und lief die große Treppe hinunter (die kleine Treppe mied sie erstmal).
,, Na? Endlich auch mal ausgeschlafen?“, fragte Großtante Lea, als ihre Nichte das Esszimmer betrat.
,, Jep! Ich kann eben noch nicht mit den Hühnern aufstehen, Tantchen. Das bedarf viele, viele Jahre Übung …“
,, HA!“, machte die Alte und stieß einen Rauchschwall aus.
,, Ich bin eben eine alte Frau, aber die Jugend von heute ist eine Schande! Die können ja nicht einmal früh aufstehen, fauler Sauhaufen!“
Lelia grinste und schüttete sich Haferflocken in eine Schüssel.
,, Und die Alten können nur meckern!“, sagte sie und kippte Milch hinterher.
,, Das ist wahr … das ist wahr …“
Lea setzte sich zu ihrer Nichte und griff nach ihrem Kräutertee.
,, Schließlich haben wir euch doch zu dem werden lassen, was ihr jetzt seid …“, sprach sie nachdenklich und Lelia sah auf.
,, Wir dürfen uns nicht beklagen … wir haben schließlich die Fehler gemacht.“
Das Mädchen verzog das Gesicht.
,, Vielen Dank. Was bin ich nur für ein missratener, kleiner Zögling“, spottete sie, doch Lea reagierte diesmal nicht.
Sie sah stur aus dem Fenster und kaute auf ihrer Pfeife herum.
,, Nur noch sechs Tage, dann hast du Geburtstag …“, sprach sie dann unvermutet und Lelia blickte von ihrer Müslischale auf.
,, Die Affenbande kommt, nehme ich an?“
,, Sie haben zugesagt …“, erklärte das Mädchen und die Alte nickte.
,, Allerdings ist Oliver noch etwas ängstlich, weil ich ihm keine konkreten Wünsche zu meinem Geburtstagsgeschenk mitgeteilt habe!“
Sie lachte und etwas Milch schoss aus ihrem Mund. Lea verdrehte die Augen.
,, Altes Schwein …“, kommentierte sie es und nahm wieder einen tiefen Zug an ihrer Pfeife.
,, Dieser sauige Bettbezug passt zu dir!“
,, Ich hab mich darüber auch nicht aufgeregt.“
Die Großtante sah Lelia scharf an.
,, Ich finde einfach, dass man einem jungen Mädchen so etwas nicht schenkt!“, gab sie zurück, woraufhin Lelia ihre Augenbrauen hob.
,, Du bist doch sonst nicht so verklemmt!“, kicherte sie.
Rauch wurde ausgestoßen.
,, Du bist meine Nichte, Lily! Meine einzige Verwandte, mein kleiner Schützling. Ich möchte einfach nicht, dass dich dieser Brownbengel …“
Sie wedelte mit ihren Händen.
,, … irgendwie umgarnt …!“
Nun musste Lelia wirklich ihre Milch ausspucken, so sehr prustete sie los.
,, Ich glaube nicht, dass er mich mit diesem Geschenk besonders umgarnt hat!“, lachte sie.
,, Im Übrigen frage ich mich, was du gegen Oliver hast! Ich dachte du willst, dass ich unter die Haube komme. Wer ist denn hier eine bessere Partie als Oliver? Selbst ältere Mädchen vergöttern ihn!“
,, Ich habe nichts gegen den kleinen Drecksack!“, meinte Lea munter, die ihn seit einem Jahr immer so nannte.
Sie fingerte an ihrem goldenen Medaillon herum und schien etwas in Gedanken zu sein.
,, Ich finde einfach nur, dass er nicht zu dir passt! Natürlich kann ich dir nichts vorschreiben, aber du brauchst eine andere Art von Mann …“
Lelia hörte amüsiert zu.
,, Interessant, was du so denkst, aber Oliver und ich würden in 1000 Jahren kein Paar werden. Wir passen wirklich nicht zusammen und ich mag auch keine Schönlinge!“
,, Gut zu wissen!“
Das Mädchen seufzte.
,, Du machst dir echt Gedanken darüber, dass ich einen Freund bekomme, was? Ich bin sechzehn Jahre alt und hab noch keine ablaufende biologische Uhr.“
,, Nein … sicher …, aber so bin ich eben. Mit meiner Lily muss einfach alles gut gehen!“
Die Alte grinste und Lelia schüttelte belustigt den Kopf.
,, Darüber mache ich mir noch keine Gedanken …“

Das Frühstück war beendet, Lea summte vor sich hin und räumte den Tisch ab, Lelia half ihr, als plötzlich das Telefon klingelte.
Die Großtante ging ran, redete ein paar Worte und klang recht erheitert, dann drehte sie sich zu ihrer Nichte um.
,, Holly!“, meinte sie nur und reichte Lelia den Hörer.
,, Hey! Was gibt´s?“
,, Du, Lily? Hast du heute Zeit?“, ertönte die Stimme ihrer Freundin am anderen Ende.
,, Ich glaub schon, warum?“
,, Nun ja … ich hätte Lust in die Stadt zu fahren und ein Ballkleid zu kaufen. Bald ist ja der Frühjahrsball!“
Lelia zog die Stirn in Falten.
,, Der ist doch erst nächsten Monat.“
,, Ich weiß, aber ich möchte einkaufen gehen, bevor die guten Sachen vergriffen sind …“
,, Na meinetwegen!“, sagte Lelia und zuckte mir den Schultern.
,, Ich werde dich beraten!“
,, Dankeschön!“, jauchzte Holly.
,, Dann treffen wir uns um ein Uhr bei mir, okay?“
,, Alles klar, bis dann!“
Das Mädchen legte den Hörer auf die Gabel und seufzte.
,, Na? Was gibt´s neues?“, rief die Großtante aus der Küche.
,, Ich gehe mit Holly in die Stadt, sie möchte sich ein Ballkleid kaufen.“
,, Oh ja!“, polterte die Frau und kaum eine Sekunde später kam sie schon ins Esszimmer geschossen.
,, Bald ist ja der Ball, ich gebe dir Geld für ein Kleid!“
,, WAS?!“, rief Lelia aus.
,, Das musst du nicht! Ich brauche kein Kleid! Ich weiß ja nicht einmal, ob ich überhaupt auf den Ball gehe!“
,, Natürlich gehst du!“, bestimmte Lea und das Mädchen zog eine Schnute.
,, Du bist ein junges Mädchen und Bälle sind sehr wichtige Ereignisse im Leben einer Frau. Sie können wahrlich traumhaft sein!“
,, Das sagst du jedes Mal, Tantchen!“, redete Lelia genervt.
,, Doch bis jetzt waren sie Zeitverschwendung. Ich stand nur da herum und hab mit Holly, Oliver und Malvin geredet. Das kann ich auch so tun, dafür muss ich mir kein unbequemes Kleid überwerfen!“
,, Unsinn!“, sagte Lea ruppig.
,, Wenn du es so langweilig findest, dann tanz doch mal. Es ist wirklich sehr amüsant!“
,, Ich kann nicht tanzen und ich mag auch nicht! Das Fest, auf dem ich tanzen werde, das muss noch erfunden werden!“
Die Großtante seufzte.
,, Stures Ding! Du kaufst dir trotzdem ein Kleid, ich bestehe darauf, und dann wirst du nächsten Monat einen schönen Tag haben!“
Lelia rollte die Augen.
,, Keine Widerrede, du bist ja nicht alleine!“
,, Okay, okay!“

Holly wohnte in einem hübschen, freundlich gestrichenem Einfamilienhaus, mit einem süßen Garten und einer schönen Veranda.
Als Lelia klingelte, öffnete Mrs. Thompson die Tür. Sie war noch größer, als ihre Tochter, doch hatte sie ebenso dunkle Haare und schwarze Augen, wie Holly. Sie war eine gute Freundin von Großtante Lea und durch ihre Bekanntschaft, haben auch Holly und Lelia von klein auf zusammengefunden.
,, Lily!“, lächelte Mrs. Thompson und öffnete die Tür weiter, damit sie eintreten konnte.
,, Wie geht es dir? Läuft Zuhause alles gut?“
,, Alles bestens und hier?“
,, Ebenfalls!“
Das Innere des Hauses war genauso hell und freundlich und es roch nach der berühmten Fleischpastete, die Mrs. Thompson immer zubereitete.
Mr. Thompson, ein dunkelhaariger, bärtiger Ingenieur saß auf seinem Sessel und sah fern, auch Hollys älterer Bruder Sam, der ebenfalls nach seiner Mutter kam, war da. Es war eine perfekte Bilderbuchfamilie, dachte Lelia jedes Mal, wenn sie hier herkam. Alle waren immer gut gelaunt, freundlich und liebenswert. Das Mädchen war sehr gerne hier, denn immer hatte sie das Gefühl, dass es ihre zweite Familie war.
,, Hey, Lily!“, sagte Sam fröhlich und hob die Hand.
,, Hey!“
,, Holly kommt sofort, sie packt gerade ihre Tasche!“, meinte Mrs. Thompson freundlich.
Kaum war es ausgesprochen, da polterte es schon auf der Treppe und das Mädchen kam hinuntergehüpft.
,, Schön, dass du da bist! Ich bin schon so aufgeregt!“
Sie wandte sich ihrer Mutter zu.
,, Darf ich den Wagen nehmen?“
,, Aber fahr vorsichtig!“

Der Weg bis in die Stadt dauerte eine Weile, im Auto lief Deadmen, der Verkehr war nervig.
Lelia trommelte mit ihren Fingern auf ihre Oberschenkel und blickte aus dem Fenster. Ab und zu kamen sie an einem langen Korn- oder Maisfeld vorbei und das Mädchen starrte in die Ferne und sah das Gold im Wind wehen. Die Sonne schien auf sie hinab, es war ein schöner, angenehmer Frühlingstag.
,, Du bist nachdenklich heute …“, sprach Holly nach einer Weile.
,, Ich hoffe, dass ich dich nicht gegen deinen Willen zum Einkaufen schleife!“
,, Unsinn!“, sagte Lelia und wandte ihren Blick von den Feldern ab.
,, Ich gehe gerne in die Stadt und außerdem ist es mein Tantchen, das mich zum Kleiderkaufen zwingt!“
Holly kicherte.
,, Tja! Sie will einfach, dass du das Leben in vollen Zügen genießt.“
,, Wenn ich diese lauten und nervtötenden Bälle genießen könnte, dann wäre es schön. Ich wäre viel zufriedener, wenn ich einfach Zuhause sitzen könnte …“
,, Du bist wirklich ein komischer Kauz, Lily!“, meinte Holly amüsiert.
,, Hier hat aber auch gar nichts einen Reiz für dich!“
Lelia dachte über Hollys Worte nach. Sie klangen etwas seltsam, doch bei weiterem Nachdenken waren sie gar nicht mal so abwegig. Im Grunde stimmten sie.
Obwohl Lelia immer zufrieden war, und rundum glücklich, gab es nie eine Sache, auf die sie sich besonders gefreut hatte, oder auf die sie besonderen Wert legte.
Sie hatte gute Laune, wenn schönes Wetter war, sie hatte Spaß, wenn sie mit ihren Freunden zusammen war und sie fühlte sich wohl, wenn sie ihrer Großtante im Laden zur Hand gehen konnte. Sie war ein unkomplizierter Mensch und hatte immer das Gefühl, dass in ihrem Leben nichts fehlte. Dinge, die für ihre Mitschüler und Freunde besonders bedeutend waren, waren für sie eine überflüssige Sache. Lelia hatte keine Hobbys und keine Leidenschaften, nichts reizte sie. Damit unterschied sie sich sehr von anderen Menschen, doch davon ließ sie sich nicht verunsichern. Sie hatte alles, was sie brauchte, und sollte sie mal irgendetwas in ihrem Leben auch mal so beeindrucken, wie ein Ball ihre Mitschüler, dann war es auch in Ordnung. Sie war für alles offen.

Die Kleiderauswahl in den Geschäften war erstaunlich. Es gab alles, was das Herz begehrte, doch wieder einmal konnte Holly sehr lange Zeit kein passendes Kleid finden. Für Lelia, die sich mit dem ersten Kleid, das sie sah, sehr schnell anfreunden konnte, war das unverständlich. Kaum hatte sie den Laden betreten, da griff sie sich schon ein langes, smaragdgrünes Kleid und probierte es an. Holly war begeistert, Lelia fand es in Ordnung.
,, Glaubst du, dass Oliver jemanden gefragt hat?“, wollte Holly wissen, als sie sich, in einem weinroten Kleid, vor dem Spiegel drehte.
,, Keine Ahnung. Ich weiß, dass viele Mädchen ihn gefragt haben, aber ich glaube, dass er niemandem zugesagt hat!“
Holly schüttelte den Kopf und griff sich ein anderes Kleid.
,, Warum fragst du ihn nicht einfach, ob er mit dir zum Ball geht? Rein freundschaftlich …“, schlug Lelia vor.
,, Ich weiß nicht …“, kam es aus der Umkleidekabine.
,, Das ist doch auffällig. Nachher sagt er, ich solle Malvin fragen, wenn es nur freundschaftlich ist …“
Lelia kratzte sich am Kopf. Das waren Sorgen! Gut, dass sie die nicht hatte …
,, Lily?“, kam es dann aus der Umkleide und ein paar Sekunden später kam Holly wieder hervor.
Diesmal in einem süßen gelben Kleid.
,, Steht dir!“, sagte Lelia anerkennend.
,, Was ist?“
Holly druckste herum.
,, Lily, hör mal …“
,, … ja?“
,, Dir ist der Ball ja ohnehin nicht wichtig und du hast auch keinen Jungen, auf dem du ein Auge geworfen hast. Könntest du mir einen kleinen Gefallen tun?“
Nun wurde Lelia vorsichtig. Ihre Freundin hatte doch etwas vor.
,, … Ähm … kommt drauf an …“, sagte sie, um auf Nummer sicher zu gehen.
,, Ich habe mir gedacht … naja …“
Sie druckste wieder und Lelia hob die Brauen.
,, Spuck´s aus!“
,, Könntest du nicht, natürlich rein freundschaftlich, mit Malvin zum Ball gehen? Dann gehe ich mit Oliver … also einfach so als Clique, nur dass sie dann für einen Abend unsere Partner sind …“
Lelia schloss die Augen. Das hatte sie befürchtet.
,, Oh … Holly…!“, jammerte sie, doch die Freundin redete schon wieder auf sie ein.
,, Das ist vollkommen ungezwungen, keinerlei Verpflichtungen!“
,, Das will ich wohl meinen …“
,, Du musst auch nicht tanzen, Malvin hasst Tanzen auch!“
,, Wie gut für mich …“
,, Oh bitte, Lily! Das ist mir sehr, sehr wichtig!“
,, Ich weiß nicht …“
,, Es ist doch nur Malvin!“
,, Ja eben!“
,, Komm schon! Danach bitte ich dich nie wieder um irgendwas!“
,, Deine anderen Bitten waren zumindest besser …“
,, Bitte, bitte! Es ist doch nur für ein Mal!“
Lelia verdrehte die Augen, Holly setzte einen so herzerweichenden Blick auf, dass ihrer Freundin fast schlecht wurde.
,, Na schön! Ich mach es!“, knurrte Lelia dann und Holly quiekte vor Freude.
,, Aber nur dieses eine Mal!“

Als Lelia am Abend nach Hause kam, war sie immer noch wütend, weil sie nun mit Malvin zum Ball gehen musste, dennoch war ihr das lieber, als mit irgendeinem Typen zu gehen, der felsenfest glaubte, dass Lelia ihn fragte, weil sie ihn besonders mochte.
,, War´s schön?“, fragte Großtante Lea ihre Nichte, als sie das Wohnzimmer betrat.
,, Naja …“
,, Zeig mal dein Kleid!“
Lelia gehorchte und packte es aus.
,, Schon wieder grün!“, schnarrte Lea, als sie es sah.
,, Hast du wieder das Erstbeste gegriffen? Du hast schon drei in dieser Farbe!“
,, Echt?“
Die Alte verdrehte die Augen und ihre Hand griff wieder das Medaillon, um damit herumzuspielen.
,, Du bist wirklich unverbesserlich …“
,, Immerhin hab ich ein Kleid!“, sagte Lelia und zuckte mit den Schultern.
,, Und einen Partner hab ich wahrscheinlich auch!“
Nun wurde die Frau hellhörig.
,, Ach, tatsächlich?“, fragte sie verblüfft.
,, Wen denn?“
,, Malvin.“
Lea verzog das Gesicht und blies eine Rauchwolke aus ihrem Mund.
,, Warum das denn?! Was willst du denn mit der Butterflocke?!“
,, Es ist nicht so, wie du denkst!“
Lelia erzählte die ganze Geschichte von Hollys Plan und ihrer undankbaren Rolle darin.
,, Ach so …“, sagte Großtante Lea dann und nahm wieder einen kräftigen Zug.
,, Ich hab schon Angst bekommen!“
Das Mädchen seufzte.
,, Jetzt ist auch Malvin nicht gut genug?“, lächelte sie.
,, Ich dachte, ich sollte einen Partner haben.“
,, Mja…“, redete Lea.
,, Aber einen richtigen. Kein schönes Weichei und keinen ungezogenen Trampel! Versteh mich nicht falsch, Lily! Ich finde wirklich, dass das nette Jungen sind, aber nur als Schulkameraden. Du brauchst einen anderen Typ von Mann! Er sollte zielstrebig sein und ehrlich und er sollte dir immer beistehen!“
Lelia grinste.
,, Lieb, dass du dir solche Gedanken darum machst, welcher Kerl am besten zu mir passt, aber ich kenne niemanden, der da infrage kommt. Hier gibt es nur Trottel und Angeber und die kann ich nicht gebrauchen …“
Die Großtante zog verträumt an ihrer Pfeife.
,, Ja, vielleicht hast du recht. Vielleicht findest du sie wirklich nicht hier …“


Träume und Melodien




Lelia lag in ihrem Bett und starrte zum Fenster hinaus. Wie gerne hätte sie den Montag vor sich hergeschoben, den Tag, an dem sie Malvin fragen musste, ob er mit ihr zu Frühjahrsball ging. Doch wie es immer war, verging die Zeit besonders schnell, wenn etwas Unangenehmes anstand. Der Sonntag schien nur wenige Minuten gedauert zu haben und der Montag rückte laut tickend immer näher.
,, Es wäre so schön …, wenn Malvin eine Partnerin hätte …“, seufzte Lelia und schloss die Augen.
Die wogenden Felder leuchteten in einem saftigen Grün, die Vögel sangen, die Sonne schien auf sie hinab. Es war fast keine Wolke am Himmel zu sehen.
Wie schön es doch war, dieses herrliche Feld, so schön, dass es verletzte. Die Freiheit, die Einsamkeit, die Verzweiflung, all das Herrliche niemals begreifen zu können, nicht in sich aufnehmen zu können, all das brachte ihr Herz schmerzhaft zum Schlagen.
Mein Herr geht seinen Weg, die Stille ist sein Begleiter, dachte sie.
Etwas bewegte sie, rüttelte sie, doch sie war vertieft in ihren Gefühlen, sodass sie sich nicht von dieser erstaunlichen Landschaft losreißen konnte, von all den Qualen und Glücksgefühlen, die sie in ihr auslöste.
,, Lily! Wach auf, du Schlafmütze!“, sagte die vertraute Stimme ihrer Großtante und langsam schien die Wiese zu verblassen.
,, Kind! Mach schon! Du bist spät dran!“
Endlich schlug Lelia die Augen auf und erblickte die grünen Augen Leas und ihren schweren, grauen Haarschopf. Das goldene Medaillon baumelte von ihrem Hals und funkelte im Dämmerlicht.
,, Waaaaaaaas… iiiiiiiiiiiiisssssttttt….?“, gähnte das Mädchen todmüde.
Es war schon dämmerig in ihrem Zimmer, der Morgen schien bereits angebrochen.
,, Du liebe Güte! Ich wecke dich schon seit zehn Minuten, du Pofnase! Was ist denn los?! Dein Wecker klingelt und klingelt!“
Lelia richtete sich langsam auf und rieb sich die Augen. Sie war immer noch extrem verwirrt.
,, Muss ich denn schon aufstehen?“, nuschelte sie träge.
Lea seufzte.
,, Allerdings! In zehn Minuten kommt Holly schon und du bist weder fertig angezogen, noch hast du etwas gegessen!“
,, WAS?!“
Mit einem Sprung war Lelia auf den Beinen und hechtete zu ihrem Kleiderschrank.
,, Es ist schon so spät? Ich hab total verschlafen!“
,, Nun … das kannst du laut sagen …“, meinte Lea trocken, doch ihre Nichte war schon im Bad verschwunden.

Sie hatte sich sehr beeilt, trotzdem hatte sie sich nicht einmal mehr die Haare kämmen können, da klingelte es auch schon an der Haustür.
,, Ich komme!“, schrie Lelia, rannte die Treppe hinunter und fuhr sich unwirsch mit der Bürste durchs Haar.
,, Ich bin schon daaaa!“
Großtante Lea hatte die Tür bereits geöffnet und eine überraschte Holly stand im Flur.
,, Hallo, Miss Smith!“
Sie wandte sich ihrer Freundin zu.
,, Was ist denn mit dir passiert?“
,, Hab verschlafen!“, keuchte Lelia erschöpft und versuchte weiterhin ihre Haare zu entknoten.
,, Ich hab dein Fresspaket schon gepackt!“, sagte Großtante Lea kopfschüttelnd und stopfte das Frühstück in Lelias Rucksack.
,, Auf dem Weg zum Bus kannst du ein Sandwich nehmen.“
Sie hielt ihr eine kleine Papiertüte hin.
,, Wow, Tantchen! Das ist echt lieb …“

Auf dem Weg zum Bus mussten sie sich nicht mehr hetzen. Lelia kämmte sich im Gehen die Haare, ein Sandwich steckte in ihrem Mund. Holly beobachtete sie.
,, Das sieht wirklich ulkig aus!“, lächelte sie.
,, Ich könnte dein Sandwich solange tragen, wenn du möchtest, dann musst du es nicht im Mund behalten!“
,, Schong guf!“, murmelte Lelia und Holly musste kichern.
Eine Weile liefen sie stumm nebeneinander her, Lelia hatte sich zur Genüge gekämmt und aß nun mit Gusto ihr Sandwich und Holly warf ihr immer wieder Seitenblicke zu. Das Mädchen ahnte, weshalb.
,, Ähm …“, machte Holly dann und schien das auszusprechen, was sie schon eine ganze Weile beschäftigte.
,, Das mit dir und Malvin geht also klar?“
Lelia musste sich ein Augenrollen verkneifen.
,, Wenn er ja sagt, dann sind wir im Geschäft …“, entgegnete sie.
Holly seufzte und knetete ihre Hände.
,, Vielleicht sollte ich Oliver lieber doch nicht fragen“, meinte sie plötzlich und Lelia wirbelte zu ihr rum.
,, Holly Thompson!“, fauchte das Mädchen und wedelte so heftig mit ihrem Sandwich, dass sie ihre Freundin mit Salatsoße bespritzte.
,, Du Feigling! Ich möchte dich wirklich warnen: Wenn ich Malvin frage, damit du Oliver angeln kannst, und du letztendlich doch nicht den Mumm hast, dann … dann …!“
Sie ruderte mit ihren Armen.
,, … dann wird es dir wirklich leidtun!“
Holly stöhnte verzweifelt auf.
,, Ich weiß! Es tut mir auch leid! Das war alles eine blöde Idee! Olli hat bestimmt schon eine Partnerin … Ich mache mir doch nur was vor!“
Nun musste Lelia wirklich die Augen verdrehen.
,, Hätte Olli eine Partnerin, dann hätte er es uns sicherlich schon erzählt. Denk nach, wir sind seine besten Freunde.“
Holly sah immer noch nicht überzeugt aus.
,, Du musst dich jetzt entscheiden!“, sprach Lelia genervt und biss ein kräftiges Stück Sandwich ab.
,, Ich weiß …“
,, Er kann nur Nein sagen oder Ja!“
,, Ich weiß …“
,, Ich warne dich!“
,, Schon gut, schon gut! Ich frage ihn …“

Der Bus war voll, es war laut, die Kinder und Jugendlichen schrien durcheinander. Lelia, die ohnehin schon etwas genervt war, wurde bei der Lautstärke und Enge erst recht giftig.
,, Platz da!“, blaffte sie wie immer und fuhr ihre Ellenbogen aus.
,, Hey, pass auf!“
,, Klappe!“, fauchte sie zurück und der Junge verstummte sofort.
,, Manchmal kannst du beängstigend sein, Lily …“, hauchte Holly vorsichtig, doch Lelia reagierte nicht.
Nachdem sie zwei Mädchen zur Seite gedrängt hatte, konnte sie schon die seidigen Haare Olivers und die schwarzen Locken Malvins sehen.
Sie pustete missmutig.
,, Da seid ihr ja!“, lächelte Oliver, der die Mädchen zuerst erblickte.
,, Hey!“, sagte Lelia gestresst und wuchtete sich neben Malvin, Holly ließ sich gegenüber von ihr fallen.
,, Ich habe dir schon ein Geburtstagsgeschenk besorgt!“, grinste Malvin Lelia an.
,, Es dauert ja nicht mehr lange!“
,, Echt?“
Sie versuchte so normal wie möglich zu sein.
,, Cool.“
Holly gab ihr einen Tritt und Lelia knurrte.
Ich mach doch, nur die Ruhe!, dachte sie und teilte ihre Gedanken mit einem zornigen Blick deutlich mit.
,, Da wird selbst dein Tantchen nichts gegen haben!“
Es musste sein …
,, Mal?“, unterbrach Lelia ihn, die es endlich hinter sich bringen wollte.
,, Öhm … ja?“
Holly schluckte, Oliver sah gelangweilt aus dem Fenster.
,, Hast du Bock mit mir zum Frühlingsball zu gehen?“
Die Worte hatten eine gewaltige Wirkung.
Olivers Kopf drehte sich in Sekundenschnelle zu Lelia hinüber, Holly wurde dunkelrot und Malvins Kinnlade klappte runter.
,, W … Wie bitte?!“, fragten die Jungen gleichzeitig.
,, Du willst zum Ball gehen?“, hauchte Malvin.
,, Mit ihm?!“, keuchte Oliver.
Lelia verdrehte die Augen.
,, Mach mal halblang. Das hat nichts zu bedeuten!“, sprach sie so sachlich, dass es fast kalt klang.
,, Mein Tantchen nervt mich ein bisschen, dass ich mir einen Partner suchen soll und wenn ich irgendeinen Trottel frage, denkt er noch, dass ich mich an ihn ranschmeißen will. Du bist mein Kumpel, Mal. Du nimmst das nicht so eng und deshalb fühle ich mich mit dir am wohlsten!“
Malvin hatte immer noch den Mund offen stehen, Oliver hüstelte.
,, Wir gehen nur als Freunde dahin, glaub mir!“, sprach Lelia weiter und langsam nahm Malvins Gesicht wieder menschliche Züge an.
,, Ähm … Das kam jetzt irgendwie überraschend …“, flüsterte er und kratzte sich an seinem lockigen Kopf.
,, Das kann ich mir vorstellen!“, grinste Lelia hilflos.
,, Meinetwegen gehe ich mit dir zum Ball. Du bist ja wie ich. Du willst auch nicht tanzen, du bist cool.“
,, Supi! Dann hätten wir das ja geklärt!“
Sie wandte sich Holly zu und das schien ihr äußerst unangenehm zu sein.
,, Witzige Sache!“, lachte Oliver und schaute Lelia und Malvin amüsiert an.
,, Und keine schlechte Idee!“
Er blickte zu Holly.
,, Dann kannst du doch mit mir hingehen, wenn du willst!“, sagte er zu ihr, woraufhin Holly ihre Augen aufriss.
,, Ähm … klar! Gerne! Wird sicher lustig!“
Sie warf Lelia einen glückseligen Blick zu und diese lächelte. Schön, dass sie Holly helfen konnte.
,, Das ist echt super!“, meinte Oliver und streckte sich.
,, Ich kann sagen, dass ich schon mit jemandem gehe und die Mädels lassen mich in Ruhe. Tja … und der Ball wird ganz lässig, kein Druck. Das bist ja schließlich nur du, Holly…“
Lelia seufzte leise auf. Das Lächeln ihrer Freundin ist etwas steifer geworden.

Nach der Schule war Lelia sehr erschöpft. Sie hatte die letzte Woche schlecht geschlafen und heute wurde sie so plötzlich aus dem Tiefschlaf gerissen, dass die Müdigkeit sie immer wieder einholte.
,, Na? Wie war es in der Schule?“, fragte die Großtante, als Lelia ins Esszimmer getrottet kam.
,, In Ordnung.“
,, Du siehst müde aus.“
,, Ich schlafe in letzter Zeit nicht so gut, weißt du ja …“
Lea kam zu ihr und musterte sie besorgt.
,, Wie geht es dir?“, fragte sie und Lelia war wieder überrascht von der Frage.
,, Gut. Ich bin ja nur müde, nicht krank!“
Die Alte nickte.
,, Iss dein Mittagessen und geh etwas schlafen. Hast du viele Hausaufgaben auf?“
,, Nur Mathe für Mittwoch …“
,, Dann leg dich gleich hin!“

In ihrem Zimmer war es kühl, das Fenster stand offen, die Tür zu der kleinen Treppe war nur angelehnt und der Schreibtischstuhl war ein wenig weggeschoben.
Lelia hob die Brauen. Langsam kam ihr die Tür wirklich komisch vor … und das Fenster hatte sie doch auch nicht geöffnet.
Vielleicht war es Tantchen, überlegte sie, schloss die Tür wieder und stellte den Stuhl richtig davor, dann machte sie das Fenster zu und legte sich aufs Bett.
Es dauerte nicht lange und sie fiel in einen tiefen Schlaf.
Da war wieder die Wiese …
Der Wind war kräftiger und dunkle Wolken zogen auf, doch diesmal konnte sie nur wenig von der Landschaft erkennen. Sie war kleiner als sonst und etwas schien ihren Blick einzuschränken, als stünde sie irgendwo hinter.
Der Wind blies um sie herum, doch sie spürte weder Wärme noch Kälte, sie spürte nur den Wind. Tiefe Nachdenklichkeit hüllte sie ein, während sie sich holpernd fortbewegte. Noch immer war ihre Sicht versperrt, mal mehr, mal weniger. Sie roch das Gras, Blumen und Erde.
Ich sehe Blut, dachte sie dann.
Seit ich hier bin, sehe ich nur Blut. Mein Herr geht seinen Weg, die Stille ist sein Begleiter. Das Blut ist mein Begleiter … Blut und Schmerz … wo ist sie nur? Wo ist mein Schatz? Mein Herz? Wie viel Blut muss ich noch sehen, bis ich sie wieder bei mir habe?
Lelia schlug die Augen auf und fand sich in ihrem bereits dunklen Zimmer wieder. Ihre Ohren waren erfüllt von einer bekannten, wehmütigen und schönen Melodie.
,, Du liebe Güte …“, murmelte sie und setzte sich auf.
Im Raum war es eiskalt, das Fenster stand weit offen und die dünnen Vorhänge wehten im lauen Wind.
Die Melodie spielte weiter, so laut, dass Lelias Ohren schmerzten.
,, Das kann doch nicht sein …!“, zischte sie und sprang aus dem Bett.
War das etwa auch ein Traum oder war sie wirklich wach? Sie kniff sich und es schmerzte.
Anscheinend passierte das wirklich.
Sie schlich zum Fenster, es war so kalt, dass sie bibberte.
,, Ich hab dich doch zugemacht!“, meinte sie und fasste den Fenstergriff.
,, Und was soll die Musik?!“
Die Melodie erfüllte den Raum. Es war das Lied der schönen engelsgleichen Figur, die im Antiquitätengeschäft stand.
Lelia sah sich im Raum um. So wie das klang, müsste die Figur hier irgendwo stehen.
,, Was geht hier ab?“, fragte sie sich und rieb sich müde die Stirn.
Sie wollte das Fenster zu machen, als sie sah, dass im Laden Licht brannte. War ihre Großtante etwa dort?
Die Melodie lief weiter und langsam bekam es Lelia mit der Angst zutun. Sie schloss das Fenster und sah auf die Uhr. Es war Viertel nach Eins in der Nacht.
,, Verdammt!“, keuchte sie, als die Melodie immer weiter ging.
Ihr Herz machte unangenehme Schläge, halb panisch, halb erwartungsvoll. Was ging hier nur vor sich?
Sie eilte aus ihrem Zimmer, zu dem Raum ihrer Großtante.
Eigentlich wollte Lelia lauschen, ob die Frau in ihrem Zimmer war, aber das Lied der Spieluhr war einfach zu stark.
,, Das ist doch nicht normal!“, zischte sie und blickte sich im Flur um, doch dann schüttelte sie nur den Kopf.
Im Laden schien jemand zu sein, das hatte jetzt Vorrang. Zuerst musste sie sicher gehen, dass es nicht ihre Großtante war.
,, Tantchen!“, sprach Lelia und klopfte an ihrer Tür.
,, Tantchen, bist du da?“
Es dauerte keine zehn Sekunden, da ging auch schon die Tür auf und eine zerzauste Lea stand vor ihr, gehüllt in einem dunkelgrauen Morgenmantel.
,, Was hast du?“, fragte sie erschrocken.
,, Geht es dir nicht gut?“
Lelia schluckte. Die Tatsache, dass Lea hier vor ihr stand, war höchst beunruhigend. Es brach also gerade jemand im Laden ein.
,, Tantchen! Da brennt Licht im Laden! Hast du es angelassen oder ist da wirklich ein Einbrecher drin?!“
Die Alte blickte zu ihrer Nichte hinab, ihre Augen weiteten sich.
,, Was? Im Laden brennt Licht?“, fragte sie alarmiert und rannte zum Fenster.
Die Melodie hallte immer noch durch das Haus. Lelia wurde fast wahnsinnig, sie rieb sich die Stirn.
,, Tatsächlich!“, keuchte Lea und schritt vom Fenster weg um sich schnell Schuhe zu holen.
Ihre Nichte sah sich weiterhin zornig um und suchte nach dieser vermaledeiten Spieluhr.
,, Das darf doch nicht wahr sein! Warum spielt dieses verdammte Ding immer noch?!“, blaffte sie und Lea starrte sie erschrocken an.
,, Was?“, fragte sie, während sie sich Schuhe überzog und immer wieder einen Blick durch das Fenster warf.
,, Sag nicht, dass du das nicht hörst!“, meinte Lelia, die langsam fix und fertig war.
Sie konnte sich die Lautstärke und die lange Laufzeit dieser Spieluhr nicht erklären und das störte sie gehörig beim Nachdenken. Sie musste doch die Ruhe bewahren, immerhin wurde im Laden eingebrochen!
,, Die Spieluhr aus dem Laden läuft schon die ganze Zeit unerträglich laut. Hast du sie hier irgendwo stehen?“
,, Oh!“, meinte Lea schnell, die kreidebleich aussah.
Sie musterte ihre Nichte von oben bis unten. Diese starrte zurück. Sie fragte sich, warum noch nicht die Polizei verständigt wurde.
,, Ja! Natürlich höre ich die Musik … Weiß auch nicht, warum sie so laut ist.“
Lelia schüttelte verständnislos den Kopf, doch jetzt musste sie sich erst um den Einbrecher kümmern.
,, Wir müssen die Polizei rufen!“, sprach sie hektisch, während Lea an ihr vorbeizischte und die Treppe hinunter lief.
,, Nein!“, meinte sie bestimmt und Lelia riss die Augen auf.
,, Komm mit!“
Das Mädchen gehorchte und eilte ihrer Großtante hinterher.
Die Melodie spielte immer noch.
,, Tantchen! Du willst doch nicht auf eigene Faust gegen den Einbrecher vorgehen, oder?!“, wollte das Mädchen entsetzt wissen.
,, Dir wird nichts passieren!“, kam als Antwort.
,, WAS?!“
Die Melodie trieb sie noch in den Wahnsinn!
,, Was geht hier ab?!“, fluchte sie nur und hielt sich die Ohren zu.
,, Das ist doch nicht normal!“
,, Hab keine Angst!“, redete Lea energisch.
,, Ich bin bei dir! Dir wird nichts passieren!“
,, Wieso sollte mir etwas passieren?!“, rief sie aufgebracht, weil sie nun gar nichts mehr verstand.
,, Ruf doch einfach die Polizei, Tantchen! Dann passiert uns beiden nichts!“
Die Alte hörte nicht und trat vor die Tür, Lelia folgte ihr immer noch, obwohl sie am liebsten wieder ins Haus gegangen wäre.
Sicheren Schrittes marschierte Lea auf den Laden zu. Das Licht brannte noch immer.
Nun kam Lelia die ganze Sache eigenartig vor. Was für ein Einbrecher lässt das Licht so lange an? Irgendetwas stimmte da nicht.
Sie dachte und dachte, mit jedem Schritt, den sie über den Hof tat, bis ihr plötzlich etwas ganz anderes auffiel.
,, Die Melodie hat aufgehört!“, flüsterte sie mehr zu sich, als zu Lea, doch als die Alte das hörte, nickte sie.
Sie erreichten den Laden. Er schien nicht aufgebrochen zu sein, alles war noch abgeschlossen, die Fenster waren zu und unbeschadet.
Das alles wunderte Lelia so sehr, dass sie nicht einmal mehr Angst verspürte.
,, Aber …“, hauchte sie.
,, Wie geht so etwas?“
Lea antwortete nicht, ihre Hand bewegte sich zur Tür und Lelia sah, dass sie einen Schlüssel in der Hand hatte.
,, Bist du verrückt?!“, zischte das Mädchen schockiert, als die Alte ihn ins Schloss steckte.
,, Es sieht zwar nicht danach aus, aber es könnte ein Einbrecher im Laden sein!“
,, Schon gut!“, murmelte Lea dann und ihre Nichte stockte.
Sie schloss den Laden auf.
,, Bleib hier stehen!“, meinte sie zu Lelia und trat ein.
Das Mädchen gehorchte widerwillig. Was war nur mit dieser Frau los? Sie war vielleicht in großer Gefahr.
Vorsichtig und ängstlich lugte Lelia in den Laden hinein und das Erste, das sie sah, war die kleine engelhafte Figur auf dem Tisch. In der Hand hielt sie eine schlichte weiße Lilie.
,, Was geht hier ab …?“, hauchte Lelia und strich sich die Haare aus dem Gesicht.
,, Spinne ich jetzt …?“
Lea kam zurück, sie hielt etwas unterm Arm geklemmt, das Lelia nicht erkennen konnte.
,, Ich hab das Licht angelassen …“, sagte sie dann und der Nichte klappte der Mund auf.
,, WAS?!“
,, Tut mir leid, dass ich dir einen Schrecken eingejagt habe …“
,, Und das hättest du mir nicht vorher sagen können?! Weiß du, was für eine Angst ich hatte?!“
,, Entschuldige. Ich war nur etwas verwirrt … hätte nicht gedacht, dass ich das Licht vergesse, auszumachen. Tja … ich werde wirklich vergesslich …“
,, Prächtig!“, zischte Lelia und rieb sich die Augen.
Sie fühlte sich müde und aufgeregt auf einmal, ihr Herz pochte wie Donnerschläge, erwartungsvoll, neugierig. Es war ganz anders, als ihr Hirn, das nur noch voller Verwirrung war.
Wenigstens war kein Einbrecher hier. Das war schon mal sehr erleichternd, doch längst nicht alles, was Lelia beschäftigte.
,, Tantchen … Wie kann die Spieluhr, die hier im Laden steht so laut spielen, dass wir sie überdeutlich im ganzen Haus hören konnten? Und dann spielte sie noch so lange … Das ist unmöglich, wie geht sowas?“
,, Mach dir darüber keine Gedanken!“, sagte Lea.
Mit dieser Antwort hätte die Nichte nicht gerechnet.
,, Aber das ist doch komisch!“, rief sie aus.
Sie liefen zum Haus zurück.
,, Das ist unmöglich! Was ist das für eine Spieluhr? Erst dachte ich, sie macht die Augen auf, jetzt spielt sie so irre laut vor sich hin …“
,, Die Augen auf?“, fragte Lea laut.
,, Das hast du gesehen?!“
,, Ich weiß, es klingt dämlich. Wahrscheinlich war es nur eine optische Täuschung, aber irgendwie ist es doch komisch! Jetzt passiert schon zum zweiten Mal was mit dem Ding!“
,, Sie ist kaputt“, sprach Lea schlicht und das Mädchen hob die Augenbrauen.
,, Und dann geht die so ab?!“
,, Hast du ja gehört …“
Lelia schüttelte den Kopf.
,, Ich weiß nicht … das ist zu eigenartig …“
Doch was sollte es sonst sein?, überlegte das Mädchen.
Das war die einzige Erklärung.
,, Könntest du noch schnell zu mir ins Zimmer kommen?“, fragte die Großtante ihre Nichte, die sie wieder verblüfft ansah.
Sie kamen ins Haus und liefen die Treppe hinauf.
,, Okay …“, sagte Lelia und folgte der Alten.
Endlich konnte sie sehen, was die Frau da unterm Arm trug. Es war ein Buch. Lelia sah genauer hin.
Auf dem Einband stand “Hexenverbrennung“.


Unter einem anderen Himmel




Das Holz der Treppe knarrte unter ihren Füßen. Der Flur war hell erleuchtet, die Spieluhr war weiterhin stumm.
,, Warum möchtest du, dass ich in dein Zimmer komme?“, wollte Lelia wissen.
,, Es ist fast zwei Uhr. Bist du gar nicht müde?“
Lea öffnete die Tür zu ihrem Raum.
,, Es ist nicht für lange, schließlich musst du auch morgen wieder in die Schule gehen.“
Beide betraten das Zimmer.
Es war groß, hatte ein breites Bett, zwei Sessel, einen kleinen Tisch und einen riesigen Kleiderschrank. Auch eine Kommode stand neben der gemütlichen Sitzecke, auf der viele Fotos Platz hatten. Warme Farben herrschten in dem Raum, von einer terrakottafarbenen Tapete, über einen Boden aus Kirschholz und einem flauschigen, beigefarbenen Teppich, bis hin zu den großen Bildern mit goldenen Rahmen, die die Wände schmückten. Auf einem Bild war ein Weizenfeld mit Ölfarben gemalt worden, auf dem anderen Bild war ein See, umringt von saftigem Gras und bunten Blumen. Lelia mochte diese Bilder, sie erinnerten sie immer an ihre Träume und sie wirkten stets beruhigend auf den Betrachter.
Lelia schritt durch den Raum, sah sich die Gemälde an und nahm auf dem kuscheligen Sofa platz, Lea auf dem anderen.
Auf dem kleinen Tischchen lagen Pfeife, Tabak, Streichhölzer und eine leere Teetasse stand auch noch da.
Das Mädchen sah auf die Kommode und betrachtete sich die Fotos. Das tat sie immer, wenn sie in diesem Zimmer war. Sie waren faszinierend. Die Menschen darauf waren ihr völlig unbekannt, obwohl es ihre Eltern und Großeltern waren.
Sie erblickte ihren Großvater Jonathan mit ihrer Großmutter Elisabeth. Es war ein Hochzeitsbild, schwarz- weiß und wirkte etwas streng. Man konnte erahnen, dass Lelias Großvater blond war, wie sie, Elisabeth hatte dunkles Haar. Lea hatte mal erzählt, dass es dunkelrot war.
Neben dem Bild ihrer Großeltern war das Hochzeitsfoto von Lelias Eltern. Ihre Mutter Kathrine war wiederum blond, hatte blaue Augen, genauso wie ihre Tochter, doch sie hatte ein etwas runderes Gesicht. Lelias Vater, George, war sehr groß und dünn, hatte eine Brille und dichtes, braunes Haar. Er war nicht so ein Schönling, wie Lelias Großvater, doch er hatte etwas sehr Liebes und Herzliches in seinem Blick. Das Mädchen konnte verstehen, warum ihre Mutter ihn so geliebt hatte.
Lelia seufzte leise und ihre Augen huschten zu dem größten der Fotos. Es hatte einen glänzenden Silberrahmen und war wieder schwarz- weiß. Das Bild fand Lelia am schönsten. Immer, wenn sie es ansah, da musste sie mit den Personen mitlächeln. Es waren wieder ihr Großvater, Jonathan, doch diesmal mit Großtante Lea. Sie waren beide noch sehr jung, kaum älter als zwanzig Jahre, trugen einen hübschen Anzug und ein schickes Kleid und grinsten breit in die Kamera.
Sie sahen so glücklich aus, ausgelassen, unbeschwert … Sie mussten früher unglaublich viel Spaß zusammen gehabt haben. Der blonde Jonathan hatte seinen Arm um seine Schwester gelegt, diese strahlte in die Kamera.
Obwohl es ein schwarz- weiß Bild war, unbeweglich und schon etwas verblasst, so konnte man fast die strahlend grünen Augen Leas erahnen, ihr langes kastanienbraunes Haar … Und ihr Lächeln hatte eine solche Tiefe und Kraft, dass sie den ganzen Raum damit erfüllte. Sie hatte sich nicht geändert, noch immer war sie so stark und einzigartig, noch immer ließ ihr Lächeln alles erstrahlen.
,, Lily?“, fragte ihre Großtante und das Mädchen zuckte zusammen.
,, Bist du in Gedanken?“
,, Ja … Tut mir leid …“
Sie wandte ihren Blick von den Geschwistern ab und sah Lea an, die sie aufmerksam musterte. Wieder fingerte sie an dem goldenen Medaillon. Darin war ebenfalls ein Bild von Lea und Jonathan.
,, Hexenverbrennung …“, sprach Lelia plötzlich, der wieder einfiel, warum sie überhaupt hier war.
Die Alte hob die Brauen.
,, Wie kommt das Buch in den Laden? Du hast es mitgenommen, ich hab es gesehen …“, redete das Mädchen weiter.
Lea griff nach ihrer Pfeife, stopfte sich Tabak hinein, fasste ihre Streichholzschachtel, zündete ein Streichholz an und paffte kleine Rauchwölkchen hervor. Dann erst antwortete sie.
,, Ich hab das Buch im Laden vergessen … Hab ein bisschen darin gelesen …“
,, Aha … Ich dachte, du findest es dämlich!“
,, Das heißt nicht, dass ich es nicht mal lesen kann …“
Ein Zug an der Pfeife wurde getan.
,, Lily. Ich muss dich etwas fragen …“, begann sie dann und das Mädchen legte ihren Kopf schräg.
,, Was ist eben geschehen? Warum standest du um Viertel nach Eins am Fenster? War es die Melodie, die dich geweckt hat?“
Lelia zog die Stirn in tiefe Falten. Sie begriff nicht, warum die Alte so eigenartige Fragen stellte, sie sogar dafür in ihr Zimmer bestellte. Und wie merkwürdig sie die Fragen stellte … Was war denn so schlimm daran, dass Lelia nachts am Fenster stand? Dafür hätte es dutzende Erklärungen geben können.
Lea sah sie an. Das Mädchen überlegte. Eigentlich gab es viele logische Erklärungen dafür, doch der Grund, warum Lelia wirklich mitten in der Nacht am Fenster stand, war schon eigenartig. Sie fragte sich, ob die Großtante so etwas Ähnliches ahnte, sonst hätte sie doch nie so genau nachgefragt …
,, Was ist hier eigentlich los?“, entgegnete sie daher.
Ihre Großtante sah sie an.
,, Du willst mich doch nicht ernsthaft in dein Zimmer bestellt haben, nur damit ich dir erzähle, warum ich zufällig aus dem Fenster sah?“
,, Es interessiert mich eben …“
Lelia schnaubte.
,, Komm schon … Das könnte tausend Gründe haben …“
Die Alte sagte nichts.
,, Irgendwas ist hier los, oder?“, bohrte das Mädchen weiter.
,, Die laute Spieluhr, die Türen und Fenster, die offen stehen … Da ist doch was im Busch!“
,, Was sollte hier denn sein?“, meinte Lea gleichmütig und zuckte mit den Schultern.
,, Sag du es mir!“
Die Großtante seufzte.
,, Ich weiß nicht, was es mit der Spieluhr, der Tür und dem Fenster auf sich hat. Es sind dumme Zufälle, die sich etwas gehäuft haben, aber noch kein Grund, Verschwörungstheorien verlauten zu lassen.“
Lelia öffnete verärgert den Mund, doch ihre Großtante gebot ihr, zu schweigen.
,, Ich wollte nur wissen, warum du in der Nacht wach am Fenster stehst, weil du doch selber sagst, dass du in letzter Zeit Schlafprobleme hast und deshalb einige Schwierigkeiten in der Schule hast. Ich möchte dir doch nur helfen, diese Probleme in den Griff zu kriegen!“
Das Mädchen schloss den Mund wieder und seufzte.
Natürlich. Das hatte sie vergessen … Ihre Großtante machte sich nur Sorgen wegen ihrer Schlafstörungen, das hätte sie sich eigentlich denken können.
Sie rieb sich die Stirn. Die wirren Gedanken hatten sie wirklich gefangen gehalten …
,, Ich hatte einen Traum!“, erzählte sie schließlich und erst jetzt erinnerte sie sich wieder daran.
,, Er war anders als sonst …“
,, Ach so?“, fragte Lea nach und nahm noch einen tiefen Zug.
Lelia nickte.
Sie erzählte von dem merkwürdigen Blickwinkel, mit dem sie die Landschaft wahrgenommen hatte und sie berichtete über die seltsamen Gedanken, die ihr kamen.
,, Ich sagte immer, dass ich Blut sehe, doch ich sah kein Blut. Ich hab auch immer von einem Herrn gesprochen, aber ich weiß nicht, wer das sein soll … und ich war traurig. Ich habe auf etwas gewartet, aber es schien zu weit weg. Ach … es war ein blöder Traum!“
Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht und seufzte. Ihre Tante rauchte stumm ihre Pfeife.
,, Naja … Ich bin aufgewacht und hab die Melodie gehört und es war eiskalt in meinem Zimmer. Das Fenster stand offen, obwohl ich es zugemacht habe. Als ich es wieder schließen wollte, da sah ich das Licht, das im Laden brannte.“
Sie verschränkte ihre Arme und sah weiterhin ihre Großtante an, die immer noch still dasaß und an ihrer Pfeife zog.
,, Ist doch alles irgendwie komisch, oder?“
Lea pustete Unmengen an Rauch aus.
,, Klingt so, als wärest du ein kleiner Schlafwandler …“, meinte sie schließlich und Lelia riss die Augen auf.
,, Schlafwandler?“
Es dämmerte ihr, was Lea dachte.
,, Ach … Glaubst du, dass ich das Fenster aufgemacht habe?“
,, Klingt am plausibelsten …“
Darüber hatte das Mädchen noch nicht nachgedacht. Konnte das sein? War sie vielleicht ein Schlafwandler und sie wusste das nicht?
,, Dass du einen unruhigen Schlaf hast und ungewöhnliche Träume, ist schon lange klar. Wenn du auch noch ein Schlafwandler bist, hast du einen doppelt unruhigen Schlaf. Ist doch klar, dass du immer so erschöpft bist.“
Lelia nickte stumm. Vielleicht hatte ihre Großtante recht. Wenn das stimmte, dann konnte sie zumindest bei der Sache mit den offenen Türen und Fenstern beruhigter sein. Lea hatte sicher recht. Das war am plausibelsten …
Die Großtante erhob sich und strich Lelia über den Kopf.
,, Mach dich nicht gleich so verrückt, Lily!“, sprach sie sanft.
,, Gehe mit ruhigen Gedanken ins Bett, denke am besten an gar nichts und mach dir keine Sorgen. Ich bin auch noch da und wenn du Probleme hast oder wenn dich etwas beschäftigt, dann kannst du immer mit mir reden, in Ordnung?“
Das Mädchen seufzte leise. Die Worte ihrer Großtante machten sie ruhiger. Hier gab es nichts, wovor sie Angst haben musste.
,, Mach ich, Tantchen!“, sprach sie dann und stand ebenfalls auf.
,, Danke, dass du mir zugehört hast. Das war eben alles so komisch, dass ich … ach … ich weiß auch nicht, was ich eigentlich gedacht hab …“
Lea nickte.
,, Jetzt gehe aber wieder schlafen … morgen musst du früh raus!“
,, In Ordnung!“
Lelia stand auf, sie verabschiedete sich von ihrer Großtante und kehrte in ihr Zimmer zurück.
Das Fenster stand offen, der Vorhang wehte im lauen Wind. Ein leises Klicken war zu hören und die Tür zu der kleinen Treppe stieß sacht gegen den Schreibtischstuhl.
Lelia starrte sie an. Eine Gänsehaut erfasste sie. Sie rollte den Stuhl weg, schloss die Tür und drehte den Schlüssel um. Dann lief sie zum Fenster und machte es zu.
Sie kratzte sich am Kopf. Ganz fest war sie davon überzeugt, dass sie es bereits geschlossen hatte, aber vielleicht hatte sie sich auch geirrt …


Wolken zogen am Himmel umher, nur hin und wieder blitzten Sterne hindurch. Die Nacht war kühl und windstill.
Der Saal war gigantisch, weißer Marmor, soweit das Auge reichte, große Säulen, Statuen von Drachen mit Edelsteinaugen, seidige, hauchdünne Vorhänge wehten sacht umher. Sie hingen vor dem hohen Fenster und zu beiden Seiten einer mächtigen, weißen Flügeltür. Ein violetter Teppich, lang und breit, lag vor einem edlen Mahagonischreibtisch. Es war schattig in dem Saal, Kerzen leuchteten auf dem Schreibtisch und in Ständern an den Säulen, warfen flackerndes Licht über den Marmor, ließen den Schatten der Person, die gebeugt über dem Schreibtisch saß, zucken und zittern.
Es war eine Frau. Eine wunderschöne Frau, mit langem silbrigem Haar und einem feinen, sehr, sehr teuren, langen Kleid. Ein Diadem aus purem Gold lag auf ihrem Haar.
Schnell und fließend fuhr ihre zarte Hand über ein Bogen Pergament und kritzelte lauter seltsamer Zeichen darauf. Manchmal hielt sie inne, rieb sich die Augen oder seufzte leise, dann klopfte es an der Tür.
Die schöne Frau sah auf.
,, Bitte komm rein!“, rief sie durch den Saal.
Ihre Stimme war sanft und hell.
Die Tür ging langsam auf und eine weitere Frau steckte ihren Kopf durch den Spalt.
,, Ich hoffe, ich belästige Euch nicht, Prinzessin!“, sagte sie.
Die Schöne schüttelte den Kopf und die Frau trat ein. Sie trug ebenfalls ein teuer wirkendes Kleid. Es war fliederfarben und sah den Vorhängen erstaunlich ähnlich. Im Gegensatz zu der Frau am Schreibtisch war diese Person fast unscheinbar. Sie hatte langes braunes Haar und eine recht große Nase.
,, Was hast du mir zu berichten, Elga?“, fragte die Schöne und die Frau mit der großen Nase verneigte sich.
,, Hoheit! Der Trupp, der nach dem legendären Schwertkämpfer suchen sollte, ist zurückgekehrt!“, redete sie hastig.
Die Worte hatten Wirkung.
Die Prinzessin erhob sich, sie schien ganz Ohr.
,, Und? Ist er da?“, fragte sie aufgeregt.
,, Haben sie ihn gefunden? Ist er mit ihnen gekommen?“
Elga schüttelte den Kopf und die Schöne ließ sich enttäuscht in ihrem Stuhl fallen.
,, Hauptmann Arthur möchte mit Euch reden und bittet um Audienz. Er sagte, dass er mit dem jungen Schwertkämpfer gesprochen hat.“
Die Prinzessin sah wieder auf, ihre Hände waren gefaltet.
,, Bitte bring ihn zu mir!“
,, Jawohl!“
Elga machte auf dem Absatz kehrt und eilte aus dem Saal. Es dauerte kaum eine Minute, da kehrte sie auch schon zurück. Ein großer, breitschultriger Mann begleitete sie.
Er hatte strohblondes Haar und einen ebenso blonden Bart. Eine Narbe zog sich quer über sein rechtes Auge.
,, Prinzessin Aruna!“, sprach er mit einer tiefen, sonoren Stimme und sank hingebungsvoll zu Boden.
,, Es ist schön, Euch wohlbehalten vorzufinden …“
Die Prinzessin nickte.
,, Das kann ich nur zurückgeben, Arthur …“, entgegnete sie sanft.
,, Du hast mich um eine Audienz gebeten. Bitte erzähle mir, was du über den Schwertkämpfer herausgefunden hast.“
Der Mann nickte ergeben.
,, Kaum jemand kannte seinen Namen, obwohl er im ganzen Königreich eine Berühmtheit ist, doch wir fanden heraus, dass sein Name Zat ist und er aus einem Dorf im Nordwesten stammt“, berichtete er.
,, Meine Männer und ich hatten wenig Schwierigkeiten ihn aufzuspüren, denn wohin man auch ging, die Menschen sprachen von ihm, von seinen Heldentaten. Dieser Junge ist einfach erstaunlich! Er ist alleine unterwegs, doch er hat schon unzählige Dörfer verteidigt und Feinde in die Flucht geschlagen. Es heißt, dass er stärker sei, als ein Trupp unserer Soldaten.“
Die Prinzessin schluckte.
,, Bitte rede weiter!“, drängte sie und sofort gehorchte Arthur.
,, Ich habe es mit eigenen Augen gesehen! Meine Soldaten und ich begegneten ihm in Fischerstadt. Dieser Junge ist unglaublich! Er schlug sich mit acht Dunkelelfen, seine Art zu kämpfen ist unbeschreiblich, das Schwert hat einen würdigen Träger erwählt. Wir gingen zu ihm und legten ihm Eure Bitte nahe …“
,, Was sagte er?“, fragte Prinzessin Aruna und knetete nervös ihre Hände.
,, Er lehnte Eure Bitte ab. Er sagte, dass er niemals seine Fähigkeiten in königlichen Dienste stellen wird… und…“
,, Und was?“, drängte die Prinzessin.
,, Er sagte auch noch, dass er für das Wohl des Volkes von Spes kämpft und nicht als … Schoßhund einer verwöhnten Prinzessin enden möchte …“
Elga, die die ganze Zeit lang ruhig der Geschichte gelauscht hatte, keuchte auf und schlug sich die Hände gegen den Mund, Arthur biss sich auf die Lippen und Aruna schloss die Augen.
,, Ich drohte ihm an, dass er, wenn er nicht sofort mit diesen Hetzreden aufhört, wegen Hochverrats angeklagt und hingerichtet wird!“, grollte Arthur dann und streckte sein Kinn hervor.
,, Und ich habe ihm in Eurem Namen befohlen, sich hier einzufinden! Ansonsten wird es ihm leidtun!“
Die Prinzessin seufzte und rieb sich die Stirn.
,, Und damit hast du alles nur noch schlimmer gemacht!“, sprach sie und Arthur schnappte erschrocken nach Luft.
,, Aber Hoheit!“
,, Denk doch mal nach!“, meinte Aruna dann und stand von ihrem Stuhl auf.
,, Dieser junge Kämpfer ist der Hoffnungsträger für ganz Spes! Das Volk vergöttert ihn, er hat den Menschen hier große Qualen erspart und sie sind ihm unendlich dankbar! Was glaubst du wohl, was das Volk denken wird, wenn es hört, dass das Königshaus dem Helden von Spes mit solchen Drohungen entgegentritt? Wenn es hört, dass wir den einzigen Lichtblick für ein geplagtes Land wegen angeblichen Hochverrats hinrichten wollen?“
Arthur öffnete den Mund, bekam aber nur ein gurgelndes Geräusch heraus und schloss ihn wieder.
,, Die Soldaten von Spes sind tapfere Männer, die ihr Leben diesem Lande widmen, doch sie werden von den Gegnern an der Nase herumgeführt! Ich werde an der Nase herumgeführt! Unsere Niederlagen sind erschreckend, wir verlieren mutige und loyale Menschen, Tag für Tag. Das Volk beginnt zu munkeln, dass das Königshaus nur die Absicht hat, die Prinzessin zu schützen und nicht das gemeine Volk, das den Angriffen jeden Tag ausgesetzt ist! Das Königshaus will einen Schein aufrechterhalten, die einfachen Menschen kümmern die Prinzessin nicht! Ich kann verstehen, warum sie so etwas denken!“
,, Aber Hoheit!“, riefen Arthur und Elga erschrocken aus.
,, Ihr tut doch, was Ihr könnt! Die gegnerischen Mächte sind zu stark. Dieser Junge hat das Schwert! Das macht ihn stark, daher kann er sich so überheblich über Euch äußern!“, schimpfte Arthur weiter, doch Aruna schüttelte nur den Kopf.
,, Ich glaube nicht, dass es die Überheblichkeit war, die da aus dem jungen Mann gesprochen hat! Es war die Wut über meine Machtlosigkeit, über mein unüberlegtes Verhalten, das so vielen tapferen Männern das Leben gekostet hat.“
,, Aber Herrin …“
,, Ich schiebe die armen Wesen auf der Landkarte hin und her und selber sitze ich hier und kann meinem Volk nur mit bloßen Worten beistehen! Natürlich ist es wütend und verzweifelt!“
Sie verbarg die Hände in ihrem Gesicht und schritt in der Halle hin und her. Elgas und Arthurs Blicke folgten ihr.
,, Wenn wir jetzt auch noch Zat, die einzige Hoffnung, gegen uns aufbringen, dann dauert es nicht mehr lange und ein Aufstand wird uns erschüttern! Wir kämpfen doch schon gegen die Dunkelheit an … wir dürfen uns nicht auch noch gegenseitig bekämpfen.“
Auf Arunas Rede folgte betretenes Schweigen.
,, Wir konnten den Schwertkämpfer also nicht für unsere Sache gewinnen …“, redete sie dann weiter, trat zum Fenster und blickte in den Himmel.
,, Aber wir dürfen deshalb nicht aufgeben. Wir müssen der Dunkelheit weiterhin tapfer entgegentreten …“


Verrückt




Der nächste Morgen kam viel zu früh. In der Nacht hatte Lelia keinen Schlaf mehr gefunden, obwohl sie so müde war, dass es ihr kaum möglich war, sich zu bewegen. Sie dachte die ganze Nacht nur nach, sie dachte an die Worte ihrer Großtante, an all die Begebenheiten, die sich in letzter Zeit etwas gehäuft hatten.
Lelia war kein Mensch, der an ungehörige Dinge glaubte. Für sie war das Logischste, das Plausibelste und das Einfachste auch immer das Richtige, auch wenn es keine absoluten Beweise dafür gab. Die offenen Türen und Fenster konnten tatsächlich daher stammen, dass Lelia eine Schlafwandlerin war, das konnte man nicht ausschließen, denn sie war wirklich immer vollkommen erschöpft. Allerdings beschäftigten sie immer noch die Sachen mit dem Buch über Hexenverbrennung und die engelhafte Figur im Antiquitätenladen.
Sie hatte sich gefragt, warum das Buch einfach so aus dem Regal gefallen war und dann, einen Tag später, in einem Schrank gelegen hatte, wo es nichts zu suchen hatte und wo es sicherlich niemand hineingelegt hatte.
Das Mädchen seufzte schwer. Irgendjemand muss es ja dort hineingelegt haben, sonst wäre es nicht in diesem Schrank gewesen …
Lelia drehte sich auf die Seite und schloss die Augen. Nur noch eine halbe Stunde, dann musste sie aufstehen. Sie überlegte weiter.
Die Sache mit der Figur war am seltsamsten. War es wirklich nur ein Zufall, dass sie sich eingebildet hatte, die Puppe hätte die Augen geöffnet, und dass sie danach scheinbar so kaputt gegangen war, dass ihre Melodie grotesk laut spielte?
Es war das erste Mal in Lelias Leben, dass sie nicht an eine ganz normale Ursache glaubte. Eine normale Ursache war einfach nicht glaubwürdig. Gab es in diesem Sinne einen normalen Grund?
Das Mädchen atmete schwer. Sie durfte nicht so viel nachdenken, das hatte auch ihre Großtante gesagt. Mittlerweile nahmen ihre Überlegungen wirklich verschwörerische Formen an.
,, Ich werde noch paranoid …“, nuschelte sie in ihr Kissen hinein und schüttelte den Kopf über ihre Hirngespinste.
Sie musste sie vergessen. Sie musste jetzt wieder nach vorne schauen und die Dinge auf sich beruhen lassen. So etwas passierte sicher kein zweites Mal mehr…

,, Du siehst ja zum Fürchten aus!“, war die Begrüßung ihrer Großtante, als Lelia die Küche betrat.
Der Pfeifenqualm waberte, der Kräutertee dampfte, die Morgenzeitung lag auf dem Tisch und im Esszimmer war schon alles gedeckt.
,, Bin ich wieder so spät dran?“, fragte Lelia, die in der Küche nicht mehr helfen konnte.
Sie sah auf die Uhr. Eigentlich lag sie gut in der Zeit.
,, Ich bin heute ein wenig früher dran gewesen …“, meinte Lea.
Die Nichte sah sie an. Auch die Alte sah ungewöhnlich blass und müde aus.
,, Konntest du auch nicht schlafen?“, wollte Lelia wissen und die Großtante rieb sich die Stirn.
,, Die Sache mit dem Einbrecher hat mir wirklich einen kleinen Schrecken eingejagt“, erklärte sie.
,, Ich könnte mich immer noch wegen meiner eigenen Blödheit eins überbraten!“
Sie klang kraftloser, als sonst. Scheinbar hatte sie wirklich nicht gut geschlafen, obwohl sie normalerweise nichts so schnell erschütterte.
,, Wir sollten beide heute früh schlafen gehen!“, schlug Lelia vor und sah ihre Großtante besorgt an.
,, In deinem Alter ist es nicht gesund, so wenig Ruhe zu haben.“
Lea blickte ihre Nichte über die Zeitung hinweg an.
,, HA!“, meinte sie trocken.
,, Um mich brauchst du dir sicher keine Sorgen zu machen!“

,, Du siehst schrecklich aus …“
,, Entsetzlich!“
,, Was hast du nur getrieben?!“
Die Begrüßungen ihrer Freunde waren auch nicht freundlicher, als Leas. Das Mädchen hob die Brauen.
,, Ich freue mich immer über eure Komplimente, vielen Dank!“, gab Lelia trocken zurück, die sich auf dem Sitz im Bus fallen ließ und vorhatte, ihn nie mehr zu verlassen.
,, Hast du gestern gefeiert und uns nichts gesagt?“, fragte Malvin, der das Mädchen amüsiert ansah.
,, Was muss das für eine Feier gewesen sein …“, schwärmte Oliver.
,, Sicherlich mit viel Alkohol!“
Holly seufzte.
,, Sicherlich nicht! Lily geht nicht auf eine Party, wenn wir am nächsten Tag Schule haben und sicherlich trinkt sie keinen Alkohol, weil sie noch minderjährig ist!“
Lelia musste grinsen, als sie ihre Freundin hörte.
,, Oh ja! Holly hat vollkommen recht!“, redete Oliver eifrig und jedes Wort bebte vor Sarkasmus.
,, Alkohol ist nichts für Minderjährige und Gott sei Dank hält sich jeder Jugendliche in unserem Land an dieses sinnvolle Verbot!“
Malvin prustete los, ebenso wie Lelia.
Sie wusste, auf was Oliver anspielte. Es war an einem Tag in den letzten Sommerferien, als Oliver eine Flasche Scotch von seinem Onkel aus Texas geschenkt bekommen hatte und diesen sofort mit seinen Freunden geteilt hatte.
Zum Glück hatten sie an diesem Tag bei Malvin übernachtet, dessen Mutter nicht Zuhause war, denn dieses Getränk hatte seine Wirkung nicht verfehlt.
,, Ein Teufelszeug!“, lachte Malvin, der ebenfalls daran zurückdachte, und alle wussten, was er meinte.
,, Das war wirklich sehr gedankenlos von uns, dass wir die ganze Flasche ausgetrunken haben!“, sagte Holly reumütig.
,, Das sagst du doch nur, weil du die ganze Nacht davon gekotzt hast!“, redete Oliver amüsiert und das Mädchen lief rot an.
,, Du hast doch genauso gekotzt!“, entgegnete sie beschämt.
,, Und du hast das Badezimmer die ganze Nacht blockiert und auf den Fliesen geschlafen!“
,, Darum hast du ja auch aus dem Fenster gekotzt und wir mussten Malvins Mom erzählen, dass es ein besonders großer Vogel war, der die Hauswand als Klo benutzt hat! Ich bereue jedenfalls nichts!“, meinte er achselzuckend.
,, Immerhin sind wir nun um eine Erfahrung reicher“, lächelte Lelia, während Malvin immer noch in süßen Erinnerungen zu schwelgen schien.
,, Und ich weiß definitiv, dass ich dieses Zeug nie mehr trinken werde …“
,, Obwohl du es am besten von uns vertragen hast“, sprach Holly.
,, Du hast am meisten getrunken und hast dich nur ein Mal übergeben müssen. Das ist ziemlich gut …“
Lelia grinste und kratzte sich am Kopf. Durch das Gespräch fühlte sie sich wieder etwas wacher und lebendiger und sie war froh, dass es ihre Freunde vergessen ließ, zu fragen, was Lelia gestern eigentlich gemacht hatte.
Sie war froh, nicht mehr davon reden zu müssen, nachdem sie sich die ganze Nacht darüber den Kopf zerbrochen hatte.

Die Schule war heute besonders hart, denn obwohl sich Lelia fest vorgenommen hatte, wieder achtsamer zu sein, wäre sie fast drei Mal eingedöst. Der Lehrer ermahnte das Mädchen und sie riss sich wirklich sehr zusammen. Immer wieder musste sie an den bleichen Mann mit den schwarzen Augen und der Narbe denken, dem sie hier im Klassenraum begegnet war und die Angst allein ihn noch einmal sehen zu können, ließ sie dauernd zusammenschrecken.
In den letzten Tagen passierten wirklich einige komische Dinge.
Lelias Herz schlug laut und heftig, so heftig, dass es wieder etwas schmerzte. Sie hatte sich doch vorgenommen, nicht mehr an diese Begebenheiten zu denken!
,, Miss Morgan!“, peitschte die Stimme ihres Englischlehrers durch die Klasse und das Mädchen fuhr erschrocken zusammen.
,, Wie oft soll ich Sie noch aufrufen?!“
,, Verzeihung!“, murmelte Lelia zerstreut.
Sie kreuzte Hollys Blick, die verständnislos den Kopf schüttelte, und sah gleich wieder weg.
,, Ich habe gefragt, was wohl Shakespeares Intention zu … Miss Morgan!“, rief der Lehrer zornig, als Lelia plötzlich auf den Beinen war.
Da war sie wieder! Klar und deutlich! Die Melodie. War es ein Traum und sie war tatsächlich in der Schule eingenickt, oder wurde sie langsam verrückt?
Die Melodie war laut, die kleine Figur war sicherlich nicht hier, und egal, wie kaputt sie war, niemals hätte man sie bis hierhin hören können! Lelias Blick huschte über die anderen Schüler, die sie alle verdutzt ansahen. Sie hörten die Musik nicht!
,, Miss Morgan! Ich darf Sie doch sehr bitten! Nehmen Sie jetzt endlich Platz!“
Wach auf, Lily!, schrie sie in Gedanken.
Wach aus diesem dummen Traum auf!
,, Miss Morgan! Setzen Sie sich hin, oder ich schicke Sie zum Schulleiter!“
Die Musik hörte nicht auf, das Mädchen schüttelte den Kopf, blinzelte. Irgendwie musste sie doch wach werden.
,, Hey! Lily! Was soll der Blödsinn?“, sprach eine Schülerin, die einen Tisch neben ihr saß, und fasste sie ans Handgelenk.
Lelia sah sie an. Es fühlte sich so realistisch an. Warum? Das konnte doch unmöglich realistisch sein!
,, Was geht hier ab?“, fragte sie verwirrt.
Einige Schüler lachten verhalten, andere schienen entsetzt.
,, Setzt dich hin, Lily!“, murmelte Malvin hinter ihr.
,, Du führst dich auf, wie ein Trottel!“
War es wirklich echt, was hier passierte? Das konnte nicht sein! Das war unmöglich! Das musste ein Traum sein!
,, Miss Morgan! Das ist meine allerletzte Warnung! Setzen Sie sich hin, oder ich werde hier andere Seiten aufziehen!“
,, Aber Sir!“, rief sie dann verzweifelt aus.
Wieso nur wachte sie einfach nicht auf? Auch wenn es sich nicht so anfühlte, aber es konnte nur ein Traum sein!
,, Die Musik! Hören Sie denn nicht die Musik?!“
Sie war laut, sie erfüllte den Raum. Wenn das kein Traum war, warum konnte denn niemand etwas hören?
,, Miss Morgan, geht es Ihnen gut?“, fragte der Lehrer dann und beäugte sie misstrauisch.
,, Sie sehen blass aus. Und was reden Sie da über Musik? Hier ist keine Musik!“
Nun war es soweit. Lelia stand da, in ihren Ohren dröhnte das Lied der kleinen Figur, der Lehrer und die Schüler starrten sie an, als wäre sie vollkommen übergeschnappt. Das war kein Traum. Das passierte wirklich!
,, Oh … mein Gott!“, hauchte Lelia.
Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie hörte eine Melodie, die niemand hören konnte, sie stand da, wie eine Wahnsinnige. Was war nur los mit ihr?
,, Miss Morgan!“, sprach der Lehrer eindringlich und pirschte sie an sie heran.
Das Mädchen, das gerade noch ihre Hand berührt hatte, rutschte weg von ihr, Holly starrte sie erschrocken und ratlos an.
,, Wir werden Sie jetzt in das Krankenzimmer bringen. Mrs. Alberton wird sich gut um Sie kümmern.“
Die Blicke des Lehrers und der Schüler waren eindeutig. Sie hielten sie für verrückt.
Lelia war hilflos. Was war nur mit ihr los? Sie war bewegungslos, unfähig zu handeln. Die Melodie bohrte sich in sie hinein, machte sie wahnsinnig.
Der Lehrer hatte sie erreicht und griff nach ihren Oberarmen.
,, Kommen Sie mit mir, Miss Morgan!“, sprach er behutsam.
,, Bleiben Sie ganz ruhig, nichts wird Ihnen geschehen. Sie sind vielleicht etwas überarbeitet …“
Sie schüttelte den Kopf.
,, Hören Sie!“, flehte sie verzweifelt.
,, Ich bin nicht verrückt! Reden Sie nicht so mit mir, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank!“
,, Kommen Sie! Kommen Sie!“
Die Musik war penetrant, nicht abzuschütteln.
,, Ich bin nicht verrückt!“, meinte sie noch einmal, doch mittlerweile wusste sie nicht, ob das ganz stimmte.
,, Miss Morgan! Sie kommen jetzt auf der Stelle mit mir mit und legen sich erst einmal im Krankenzimmer hin. Wir werden Ihre Großtante benachrichtigen.“
Die Melodie bohrte sich in Lelias Gedanken, sie schüttelte unwirsch den Kopf, was der Lehrer scheinbar missverstanden hatte.
,, Sie werden meine Klasse sofort verlassen!“, sprach er eindringlich.
Die Schüler schienen langsam Angst zu bekommen, sie hielten Lelia anscheinend für unberechenbar.
Nun war es also soweit … Einfach so hatte sie nun den Verstand verloren, einfach so … Die Puppe, die die Augen geöffnet hatte, die Träume von dem bleichen Mann, die Fenster und Türen, die Musik … Es geschah nichts Merkwürdiges! Sie wurde einfach nur verrückt.
Die Musik tönte durch den Klassenraum, die Erkenntnis über ihren Wahnsinn erschütterte Lelia in Mark und Bein. Sie gab auf. Wie eine Gefangene, wie eine Geisteskranke ließ sie sich von dem Lehrer abführen.
,, Das kann doch nicht sein …“, hauchte sie.
,, Wie kann ich denn plötzlich so spinnen?“
Die Melodie schwebte umher, bestärkte sie immer mehr in ihrem Glauben.
,, Lass dich nicht zum Narren halten!“, ertönte plötzlich eine ganz andere Stimme in dem Klassenzimmer und sofort blieb Lelia stocksteif stehen.
Ihr Nacken kribbelte, ein kalter Schauer erfasste sie und ihr Herz machte einen sehr schmerzhaften Schlag.
Sie kannte die Stimme, dieses kalte Flüstern.
,, Du bist nicht verrückt! Mit dir wird ein übles Spiel gespielt!“
,, Miss Morgan!“, sprach der Lehrer drängend.
,, Kommen Sie!“
Doch sie hörte nicht. Langsam wandte sie ihr Gesicht zu der Stelle, an der sie das Flüstern gehört hatte. Schwarze Augen starrten sie an, das Lächeln war gemein, die Narbe hob sich dunkelrot von dem bleichen Gesicht ab, das weiße Haar war strähnig und dünn.
Das war der Ausschlag. Nun drehte sie völlig durch.
Noch bevor der Lehrer irgendwie reagieren konnte, schrie Lelia panisch auf, der Blick der schwarzen Augen schien sie zu durchbohren.
,, MISS MORGAN!“, brüllte der Lehrer schockiert.
,, NICHT!“
Manche Schüler sprangen auf, Holly schlug sich die Hand gegen den Mund.
Der Lehrer hielt Lelia fest, aber der Schreck über den bösartig amüsierten Mann, direkt neben ihr, brachte sie so in Rage, dass sie wild um sich schlug und schrie.
Er war so nah, sie konnte fast seinen Atem spüren. Er war viel zu nah!
,, GEH WEG!“, brüllte Lelia, ihre Hand konnte sich von der Umklammerung des Lehrers lösen und sie traf ihn mitten ins Gesicht.
Der Lehrer strauchelte zurück, einige Schüler keuchten auf, Oliver und Malvin hatten die Augen weit aufgerissen.
Nachdem Lelia endlich frei war, wollte sie so schnell wie möglich aus dem Klassenzimmer verschwinden, doch kaum hatte sie einen Schritt getan, da war alles aus. Ihr Körper spielte plötzlich nicht mehr mit, die Müdigkeit, unter der sie schon seit Tagen litt, kam plötzlich über sie eingebrochen, der Schreck, die Schmerzen in ihrer Brust.
Nun umfing sie nur noch die Schwärze und sie flog auf den leichten Schwingen der Melodie, die immer leiser wurde und schließlich erstarb.

Sie hörte Schritte auf einem Holzfußboden, es roch nach Desinfektionsmitteln. Leise Stimmen murmelten etwas, doch Lelia konnte es nicht verstehen. Jemand strich ihr übers Haar, doch sie konnte ihre Augen nicht öffnen, ihre Lider waren zu schwer, ebenso wie ihr Körper. Ihre Brust schmerzte, ihre Knie und ihr Kopf taten weh.
,, Sie sollten Ihre Nichte wirklich untersuchen lassen, Miss Smith!“, sprach die tiefe, knurrende Stimme des Schulleiters und wieder waren Schritte über dem Boden zu hören.
,, Wir haben ihr ein Beruhigungsmittel verabreicht“, sagte eine andere Stimme, die einer Frau.
,, Mr. Worthshire war schockiert über den plötzlichen Ausbruch Ihrer Nichte. Sind Sie sich sicher, dass sie Zuhause nicht ebenfalls irgendwelche Anwandlungen hatte?“
,, Natürlich bin ich mir sicher!“, fauchte dann die kräftige Stimme Leas und der energische Ton schien die Luft vibrieren zu lassen.
,, Meine Nichte ist ganz normal im Kopf! Sie hat nie Probleme gemacht, auch hier in der Schule nicht!“
,, Ich hörte von einigen Lehrern, dass Lelia in letzter Zeit oft geistig abwesend war, sogar einmal im Unterricht eingeschlafen ist. Ich weiß nicht, was sie Zuhause anstellt, aber wenn Sie und ihre Nichte Probleme haben, dann können wir Ihnen vielleicht helfen! Es gibt da wirklich sehr empfehlenswerte Beratungsstellen-“
,, Mit meiner Nichte ist alles in bester Ordnung und ich verbitte mir die Anschuldigungen, Lily würde überschnappen!“
Das Mädchen versuchte die Augen zu öffnen, doch immer noch fiel es ihr schwer. Sie war schlapp und alles fühlte sich schwer an, doch langsam kamen die Erinnerungen wieder. Sie wusste, dass sie die Melodie der engelsgleichen Figur gehört hatte, dass sie ihn wieder gesehen hatte. Sofort wurde ihr kalt, als sie an seine bösen schwarzen Augen dachte und ihr Herz schien zu zerspringen.
Sie erinnerte sich wieder daran, wie die Schüler und Mr. Worthshire sie angestarrt hatten, wie sie randaliert und ihren Lehrer sogar geschlagen hatte. Ihr Herz schien in den Keller zu rutschen. Was hatte sie nur getan? Sie hatte sich wie eine Irre aufgeführt!
Nun, wo sie im Krankenzimmer lag und alles noch einmal Revue passieren ließ, da konnte sie die Reaktion der Lehrer wirklich verstehen.
Sie atmete schwer, dachte an die Melodie und an den Mann zurück. Sie hatte es wirklich gesehen und gehört, und die Anderen nicht. Was hatte das nur zu bedeuten, war sie wirklich wahnsinnig?
Sie hatte in den letzten Tagen extrem wenig Schlaf bekommen, sie hatte nie Ruhe in der Nacht gehabt und hatte trotzdem immer hart für die Schule gearbeitet. Auch wenn sie sich so aufgeführt hatte, nun, da sie weder die Melodie hörte, noch den bleichen Mann sah, schlichen sich Mutmaßungen in ihren Kopf, die sie vielleicht doch nicht ganz verrückt erscheinen ließen.
,, Lily ist ein liebenswertes, aufgewecktes Mädchen!“, sprach ihre Großtante mit einer donnernden Stimme.
,, Sie war immer freundlich und niemals gewalttätig oder aggressiv. Das kann jeder bezeugen. In letzter Zeit hatte sie extreme Schwierigkeiten mit dem Einschlafen, daher war sie immer furchtbar übermüdet. Wir haben es versucht in den Griff zu bekommen, doch bis jetzt ohne Erfolg, daher ist sie oft sehr erschöpft und kraftlos. Außerdem ist der Druck in der Schule immer gegenwärtig. Ich glaube einfach, dass Lily ausgebrannt und erschöpft ist und daher diesen Zusammenbruch erlitten hat!“
Lelia war froh und erleichtert, dass ihre Großtante das sagte, denn zu dem Schluss war sie letztlich auch gekommen. Nun, da sie die Melodie nicht dauernd umfing und quälte, konnte sie wieder logisch denken und ruhig bleiben. Hätte sie in der Klasse auch erst nachgedacht, bevor sie in Panik geraten war.
,, Nun, Miss Smith …“, sprach der Schulleiter.
,, Ich halte es trotzdem für notwendig, dass Sie Ihre Nichte von einem Arzt untersuchen lassen. Außerdem finde ich es sinnvoll, dass Lelia bis nach den Frühjahrsferien vom Unterricht beurlaubt wird. Sollte ihr Verhalten wirklich auf eine Übermüdung zurückzuführen sein, dann soll sie sich die kommenden Wochen ausruhen und ihre Schlafstörungen in den Griff bekommen!“
Lelias Magen begann zu schmerzen. Sie musste beurlaubt werden? Sie konnte nicht in die Schule? Sie würde viel im Unterricht versäumen und sie konnte auch ihre Freunde nicht jeden Tag sehen. Ihr wurde übel.
Sicherlich dachten ihre Freunde nun ohnehin das Schlimmste von ihr. Ihre ganze Klasse hielt sie doch jetzt für geisteskrank und nach dem Urlaub käme sie dann zurück und alle würden munkeln, dass sie in einer Heilanstalt gebracht worden war.
,, Ich lasse Lily untersuchen!“, meinte Großtante Lea und das Mädchen spürte Leas Hand auf ihrer.
,, Und werde Ihnen die Ergebnisse zukommen lassen!“
,, Gut …“
Lelia atmete tief aus. Endlich war sie in der Lage dazu, die Augen zu öffnen.
,, Lily!“, sprach die Großtante und ihr blasses Gesicht schob sich ins Bild.
Sie wirkte besorgt und beunruhigt und das tat Lelia leid.
,, Sorry … für den Ärger …“, murmelte sie schwach, doch die Alte schüttelte nur den Kopf.
,, Unsinn!“, meinte sie und lächelte ein schwaches Lächeln.
,, Du hattest einen Zusammenbruch. Das kann jedem mal passieren!“
Lea schien wirklich voller Sorge und die Vorwürfe nagten an der Nichte.
,, Miss Morgan!“, sprach sie Schwester und wuselte auf das Mädchen zu.
,, Wie geht es Ihnen? Können Sie sich noch daran erinnern, was geschehen ist?“
Sie nickte. Der Schulleiter und die Krankenschwester warfen sich vielsagende Blicke zu, doch keiner war so intensiv, wie der, mit dem die Großtante das Mädchen bedachte. Der Druck auf Lelias Hand wurde fester.
Das Mädchen konnte sich nicht erklären, warum, aber es hatte fast den Anschein, als wolle Lea, dass ihre Nichte log. Schien sie zu wissen, was wirklich geschehen war?
Das bezweifelte Lelia. Sicherlich deutete sie den besorgten und gespannten Ausdruck der Alten falsch, schließlich war sie noch recht durcheinander.
Sie atmete tief durch. Tatsächlich war sie sich sicher, dass ihre Ausfallerscheinungen mit der Schlaflosigkeit zusammenhingen, doch wenn sie nun von dem bleichen Mann und der Melodie erzählte, dann vermittelte das gewiss einen ganz anderen Eindruck. Sie musste die Wahrheit etwas verdrehen, sie war sich ganz sicher, dass sie nicht verrückt war!
,, Ich fühlte mich plötzlich sehr elend …“, begann sie und alle lauschten gespannt.
,, Ich habe in letzter Zeit Probleme beim Einschlafen. Ich lerne viel und finde deshalb wenig Ruhe!“
Sie kam am besten auf dieser Schiene, das vermittelte den Eindruck, dass sie eine fleißige, ehrgeizige Person war.
,, Ich hab es in letzter Zeit übertrieben …“
Sie atmete tief ein. Immer noch fühlte sie sich benommen, doch ihr Verstand wurde klarer.
,, Was ist im Klassenzimmer geschehen?“, fragte die Schwester freundlich.
,, Mir wurde übel und schwindelig …“, erklärte sie und blieb nicht ganz bei der Wahrheit.
,, Dann hab ich kaum mehr etwas gehört, nur noch ein Brummen!“
So konnte sie die Melodie erklären, die sie erwähnt hatte. Sie war stolz auf sich und auf die cleveren Gedankengänge. Darin war sie schon immer gut. Sie konnte sich schnell auf eine Situation einstellen und sich dementsprechend gute Gedanken machen.
,, Ich verstehe …“, meinte der Schulleiter.
,, Bitte reden Sie weiter!“
,, Ich geriet in Panik. Irgendetwas stimmte nicht mit mir und ich wusste nicht, was. Dann wurde mir schwindelig und alles war schwarz, ich merkte nur, wie mich plötzlich jemand anfasste und ich habe mich erschreckt!“
,, Vollkommen verständlich!“, sagte Großtante Lea nachdrücklich.
Sie wirkte etwas entspannter.
,, Dann war alles aus. Ich war vollkommen weg, und als ich wach geworden bin, da war ich hier!“
Die Krankenschwester nickte, der Schulleiter räusperte sich. Lelia war zufrieden. Das klang glaubhaft und entschärfte die Situation ungemein.
,, Nun …“, sagte er schließlich.
,, Miss Morgan, Sie haben Ihrer Klasse und Ihrem Lehrer einen gehörigen Schrecken eingejagt. So wie Sie reagiert hatten, haben wir schon mit dem Schlimmsten gerechnet.“
,, Doch natürlich gerät man in Panik, wenn man nichts mehr hört und sieht, das ist vollkommen verständlich und hätte von Mr. Worthshire vielleicht ein wenig anders gehandhabt werden können!“, knurrte Großtante Lea und warf dem Mann einen zornigen Blick zu.
Der Schulleiter verzog sein Gesicht.
,, Sicherlich ist das Lehrerkollegium oftmals von solch heftigen Attacken erschrocken und im ersten Moment überrumpelt-“
,,- doch Gott sei Dank finanzieren unsere Steuergelder Kurse an der Schule, bei denen Lehrern der richtige Umgang mit solchen Situationen nahegelegt wird!“, schoss Großtante Lea zurück und in ihrer Stimme war eine Schärfe, die durch Mark und Bein ging.
,, Ich werde meine Nichte nun nach Hause fahren, wenn Sie keine Fragen mehr haben. Während ihrer Beurlaubung wird sie sich mit ihren Schlafproblemen befassen und sich ausgiebig untersuchen lassen. Nach den Frühjahrsferien kommt sie zurück und bis dahin werden Sie sicherlich in der Klasse richtiggestellt haben, dass Lily einen Zusammenbruch wegen Übermüdung erlitten hat!“
Die Großtante erhob sich und fixierte den Schulleiter mit einem Blick, der sagte: Wehe, wenn nicht! Der Mann schien etwas zusammenzusinken. Wieder einmal wirkte Leas Entschlossenheit und Sicherheit einschüchternd.
,, Kannst du aufstehen?“, fragte sie Lelia.
,, Ich denke schon!“
Langsam setzte sie sich auf, sie war immer noch ein wenig benommen. Ihre Großtante reichte ihr die Jacke und schulterte Lelias Rucksack.
Sie half ihrer Nichte auf die Beine und stützte sie. Das Mädchen seufzte, ihre Beine waren steif und zittrig.
Sie wandte sich dem Schulleiter zu.
,, Sollte ich während meines Zusammenbruchs extrem reagiert haben, dann tut es mir leid!“, sprach sie.
,, Sagen Sie das auch Mr. Worthshire.“
,, Natürlich!“

Langsam und ohne ein Wort zu reden, gingen Großtante Lea und Lelia durch das Schulgebäude. Der Unterricht schien noch im Gange zu sein, allerdings wusste das Mädchen nicht, wie spät es eigentlich war. Sie blickte auf ihre Uhr. Halb Drei.
In den Fluren begegneten sie niemanden, und als sie endlich das Hauptportal aufstießen und an die frische Luft kamen, da griff Großtante Lea erst in ihre Jackentasche, holte Pfeife, Tabak und Streichhölzer raus und tat einen tiefen Zug.
,, Wunderbar!“, sprach sie dann inbrünstig.
,, Darauf habe ich gewartet!“


Mondschein




Schweigend saßen Großtante und Nichte in Leas Jeep, starrten auf die Straße.
,, Tantchen?“, fragte Lelia dann nach einer Weile.
,, Hm?“
,, Danke, dass du gekommen bist …“
Die Alte sah sie an.
,, Natürlich bin ich gekommen! Ist doch klar!“
,, Und danke, dass du nicht geglaubt hast … ich sei verrückt!“
Ein hartes Lachen ertönte.
,, Natürlich bist du nicht verrückt! Bei so einer Übermüdung ist es doch ganz klar, dass der Körper irgendwann aufgibt … und wenn das passiert, dann kann man schon mal in Panik geraten“, redete sie sicher.
,, Die Lehrer heutzutage betreten die Klassen und denken nur noch das Schlimmste von den Schülern. Dieser Mr. Worthshire, oder wie der noch mal heißt, hat dich doch schon mit einem Messer auf sich zurennen sehen! Die Menschen sind misstrauischer geworden, das ist der Wandel der Zeit …“
Lelia atmete tief ein und sah wieder aus dem Fenster. Wandel der Zeit … Die Worte machten das Mädchen nachdenklich.
,, Ähm … Tantchen?“
,, Hm?“
,, Vielleicht hältst du mich doch für verrückt, wenn ich dir sage, was wirklich in der Klasse passiert ist …“
Die Alte wirkte nicht überrascht über Lelias Worte. Ihr Gesicht verzog sich kein bisschen.
,, Ich saß in der Klasse und hörte die Melodie der Spieluhr“, erklärte sie und die Großtante starrte weiter geradeaus.
,, Sie war so laut, wie letzte Nacht und hörte einfach nicht auf.“
Immer noch sagte Lea nichts. Sie hörte einfach zu.
,, Da hab ich an meinem Verstand gezweifelt und bin irgendwie in Panik geraten. Tja … und dann war da wieder der blasse Typ mit seinen schwarzen Augen!“
Lelia sah, dass ihre Großtante schwer schluckte, doch als sie antwortete, war ihre Stimme ruhig.
,, Das können alles Symptome deiner Schlaflosigkeit sein“, meinte sie und sah weiterhin geradeaus.
,, Du hast dich vielleicht in letzter Zeit so extrem damit beschäftigt, dass sie dir keine Ruhe ließen!“
Lelia nickte.
,, Du bist also wirklich sicher, dass ich keinen Schuss hab?“, fragte sie.
,, Ganz sicher!“
,, Was macht dich so sicher?“
,, Ich weiß es einfach!“
Sie hatten ihr Zuhause erreicht. Der Jeep fuhr auf den Hof, die Kiesel knirschten unter den Reifen.
,, Morgen gehen wir zu einem Arzt, damit die Idioten Ruhe geben. Das wird schon, mach dir keine Sorgen!“

Und so kam es auch. Lelia war schon seit Ewigkeiten bei keinem Arzt mehr gewesen, denn im Grunde fehlte ihr nie etwas. Sie schilderte dem Doktor alles, was geschehen war, erwähnte natürlich die Spieluhrmelodie und den bleichen Mann nicht explizit, doch um richtig behandelt zu werden, redete sie auch von Einbildungen und Phantomgeräuschen.
Es wurden einige Tests mit ihr durchgeführt, für einen besonderen Test musste sie sogar ins Krankenhaus fahren und immer wieder hatte Lelia Angst, dass die Ärzte doch etwas finden könnten, was auf einen Sprung in der Schüssel hindeuten könnte. Großtante Lea jedoch war entspannt und fuhr ihre Nichte hin und her. Sie schien sich keinerlei Sorgen zu machen.
,, Nun, Miss Morgan …“, sprach der behandelnde Arzt dann und blätterte in seinen Unterlagen.
,, Es wurde bei Ihnen nichts Gravierendes festgestellt. Ihre Reflexe sind etwas langsam und Sie sind schnell erschöpft, aber das sind ganz normale Symptome von Übermüdung und Überarbeitung. Ich verschreibe Ihnen ein Medikament, das Ihnen hilft, besser zu schlafen. Ruhen Sie sich gut aus und entspannen Sie sich. Vermeiden Sie Stress und harte Arbeit und essen Sie regelmäßig und gesund. Am besten nehmen Sie eiweiß- und kohlenhydrathaltige Nahrung ein und zusätzlich etwas Vitamin D. Sie müssen noch ein paar Tage auf Ihr Blutergebnis warten, aber ich denke einfach mal, dass sich da nichts Auffälliges herauskristallisieren wird!“
Lelia nickte und war mit jedem Wort, das der Arzt sagte, erleichterter. Zumindest hatte sie nun auch eine ärztliche Bestätigung, dass sie nicht verrückt war und das gab ihr zusätzlich Ruhe. Heute Nacht konnte sie sicherlich gut schlafen.

Am Nachmittag klingelte es an der Tür und Holly, Oliver und Malvin kamen zu Besuch. Lelia lag in ihrem Bett und sah fern.
,, Deine Affenbande ist da!“, meinte Großtante Lea, als sie ihren Kopf durch den Türspalt steckte.
,, Können sie reinkommen, oder bist du zu erschöpft?“
Das Mädchen ruckte hoch.
,, Ich bin nicht müde! Sie können gerne kommen!“, rief sie erfreut.
Sie war froh, dass ihre Freunde sie besuchen kamen. Das war ein gutes Zeichen. Scheinbar hielten sie sie auch nicht für durchgeknallt und hatten keine Angst vor ihr.
,, Hey Lily!“, sprach Holly besorgt, als sie das Zimmer ihrer Freundin betrat.
,, Wie geht es dir? Ist alles in Ordnung? Du hast uns wirklich einen wahnsinnigen Schrecken eingejagt!“
Malvin und Oliver hockten sich auf den Boden und Holly setzte sich auf Lelias Bett.
,, Mir geht es gut. Ich war nur übermüdet … Sorry, dass ich euch Angst gemacht hab!“
Malvin kicherte und Holly warf ihm einen warnenden Blick zu.
,, Ist schon gut …“, sagte Lelia, die das mitbekommen hatte.
,, Das muss wirklich seltsam ausgesehen haben!“
,, Nun ja … Seltsam nicht unbedingt“, redete Oliver und legte seinen zauberhaften Kopf schräg.
,, Im Nachhinein, da wir wissen, dass du wieder völlig okay bist, kann man zwar drüber lachen, aber als das passierte, da war es schon heftig!“
,, Olli!“, mahnte Holly sanft.
,, Lass gut sein!“
,, Unsinn!“, sagte Lelia.
,, Ist schon in Ordnung, was er da sagt. Außerdem interessiert es mich ja auch, wie ich ausgesehen hab. Ich habe sicherlich gewirkt, wie eine Irre, oder?“
,, Ja schon …“, sprach Malvin und musste sich wieder einen strengen Blick von Holly einfangen.
,, Aber man gerät eben in Panik, wenn der Körper nicht mehr mitspielt!“, meinte sie schnell, als wolle sie die Situation entschärfen.
Lelia sah das jedoch ganz locker.
,, Was hab ich gemacht?“, wollte sie wissen und war gespannt, wie Außenstehende ihren Zusammenbruch miterlebt hatten.
,, Naja …“, erklärte Malvin.
,, Erstmal hast du einfach nur so rumgesessen und scheinbar auf nichts mehr reagiert.“
,, Du warst quasi in deiner eigenen Welt!“, ergänzte Oliver.
,, Genau! Worthshire hat dir eine Frage gestellt und du hast überhaupt nicht reagiert. Dann hat er deinen Namen gerufen! Immer wieder!“
Malvins Lippen zitterten und Lelia wusste, dass er mit dem Lachen kämpfte. Sie verübelte es ihm nicht. Mittlerweile, da sie wusste, dass sie noch normal im Kopf war, konnte sie auch über diese Geschichte lachen, auch wenn sie sich etwas schämte, sich vor der Klasse so blamiert zu haben.
,, Worthshire ist fast durchgedreht! Der war so rot im Gesicht, das kannst du dir nicht vorstellen!“, meinte Oliver.
,, Und wie der geguckt hat, als du aufgesprungen bist!“, lachte Malvin.
Holly warf ihm einen strengen Blick zu.
,, Du bist doch auch total zusammengezuckt!“, sagte sie zu dem Jungen und dieser kratzte sich am Kopf.
,, Jeder hat sich erschrocken. Das kam verdammt unerwartet!“
,, Und wie du geguckt hast!“, rief Oliver aus.
,, Wir hatten echt Angst um dich! Du faseltest etwas von einer Melodie und sagtest immer, dass du nicht verrückt bist!“
,, Natürlich hast du dann noch mehr gewirkt, wie eine Wahnsinnige!“
,, Malvin!“, fauchte Holly, doch Lelia hörte weiterhin zu.
,, So schlimm?“, fragte sie.
,, Heftig!“, sprach Oliver.
,, Olli!“
,, Aber am coolsten war, als du Worthshire Eine reingehauen hast!“, lachte Malvin.
,, Wie das geklatscht hat!“
,, Und wie der geguckt hat!“, prustete Oliver.
,, Oje …“, sagte Lelia.
,, Und was haben die anderen über meinen Ausbruch gesagt?“
Diese Frage beschäftigte sie am meisten. Sie wollte nicht in die Schule zurückkehren und von jedem für verrückt gehalten werden.
,, Es gab ziemlich viel Getuschel!“, erklärte Holly.
,, Einige fanden es höchst amüsant, dass du Worthshire Eine geklebt hast!“, fügte Malvin hinzu.
,, Und sie waren ziemlich erschrocken, weil du ganz plötzlich zur Seite gestarrt hast und so heftig geschrien hast!“
,, Das hat mich so ein bisschen an den Exorzismus der Emily Rose erinnert!“, erklärte Oliver und Malvin fing an zu wiehern.
,, Oje …“, sagte Lelia wieder, doch Holly schüttelte den Kopf.
,, So schlimm war es auch nicht!“, sprach sie sicher.
,, Oh doch!“, entgegnete Oliver überzeugt.
,, Das war gruselig! Du wolltest so schnell weg und hattest richtige Panik! Als du dann umgekippt bist, da hab ich echt gedacht, du gibst den Löffel ab!“
,, Malvin!“
Lelia hörte gebannt zu. Ihr Optimismus schwand. Sicherlich hielten ihre Mitschüler sie für verrückt.
Holly schien die Gedanken ihrer Freundin zu verstehen.
,, Wir werden die Sache schon richtig rüberbringen!“, sagte sie beruhigend.
,, Vielleicht werden dich ein paar Schüler noch darauf ansprechen, aber die meisten denken, dass du einfach einen Zusammenbruch wegen Überarbeitung hattest. Erhol dich jetzt erstmal und mach dir keine Sorgen. Ich werde dir immer Hausaufgaben mitbringen und dich auf dem Laufenden halten!“
,, Wenn du die Hausaufgaben natürlich nicht machen möchtest, kann ich das sehr gut verstehen, immerhin darfst du dich nicht überanstrengen!“, murmelte Malvin dazwischen.
,, Was ist eigentlich mit übermorgen?“, fragte Oliver dann.
,, An deinem Geburtstag? Gibst du die Feier oder willst du sie verschieben? Schließlich brauchst du Ruhe!“
Lelia legte den Kopf schräg.
,, Also mein Tantchen sagt, dass es meine Entscheidung ist. Sie hätte alles vorbereitet und nichts dagegen, wenn ihr kommt, allerdings sagte sie, dass ihr nicht allzu lange bleiben könnt! Wenn das für euch in Ordnung geht, dann hab ich auch nichts dagegen. Wird sicherlich auch so ein schöner Tag!“
,, Wir kommen gerne!“, sagte Holly.
,, Aber sollte es für dich zu viel sein-“
Lelia seufzte.
,, Ich bin etwas übermüdet, aber nicht schwer krank. Ich weiß, was ich mir zumuten kann! Außerdem habe ich heute schon ein paar Stunden sehr gut und ruhig geschlafen, also geht es aufwärts mit mir!“
Oliver grinste.
,, Tja“, meinte er achselzuckend.
,, Lily haut nichts so schnell um!“


Wieder war es dunkel, die Wolken zogen davon und ein strahlender Vollmond stand am Himmel.
Der riesige Saal wurde von Kerzen erhellt, der große Stuhl hinter dem Mahagonischreibtisch war wieder von der schönen Aruna belegt.
Sie hielt ein Stück mitgenommen aussehendes Pergament in der Hand, las sich jede Zeile genau durch und schien mit jedem Satz mutloser zu werden. Ihre Dienerin Elga starrte in den Sternenhimmel.
,, Eine vernichtende Niederlage!“, hauchte die Prinzessin schließlich und Elga wirbelte herum.
,, Wir stehen einer gewaltigen Armee gegenüber, die immer mehr zu wachsen scheint. Die Population der Dunkelelfen steigt rapide an, immer wieder werden Menschen aus Dörfern entführt, und wenn sie zurückkommen, scheinen sie wahnsinnig geworden zu sein. Ich hörte, dass Sanguin Glad im Norden gesichtet wurde, in der Nähe von Elfenbeinstadt und eine schier grausame Verwüstung in einem Orakeltempel angerichtet hat… Die Nachrichten werden von Tag zu Tag erschreckender.“
Elga schluckte und schritt um den Schreibtisch herum.
,, Die Menschen leben in Angst und noch immer gibt es keine Möglichkeit über den Dämmersee zu gelangen. Die Schatten sollen sogar noch dichter geworden sein!“
Prinzessin Aruna ballte die Hände zu Fäusten.
,, Als wäre das nicht schon alles schlimm genug, sollen sich nun auch noch die Sümpfe eingeschaltet haben! Einige aus den Limeren-Stämmen sollen die Soldaten, die einen Posten am Vertera besetzt hatten, überfallen haben.“
Elga schüttelte den Kopf.
,, Auch das noch …“, hauchte sie verzweifelt.
,, Und das ist noch nicht alles!“, klagte die Prinzessin weiter.
,, Die Feinde haben fast alle Brücken über den Trahit zerstört und somit wichtige Verbindungen und Versorgungswege abgeschnitten! Die Lage wird langsam hoffnungslos, die Dunkelheit frisst uns auf! Wenn die Macht des Höllendeltas in dieser Geschwindigkeit weiter wächst, dann gebe ich unserem Königreich nur noch wenige Jahre …“
,, Aber Hoheit!“, rief Elga verzweifelt.
,, So dürft Ihr nicht denken! Wir müssen immer nach vorne schauen, nach jedem Lichtstrahl greifen. Wir müssen an die Götter glauben und zu ihnen beten! Ich weiß ganz sicher, dass sie Spes beschützen werden!“
Prinzessin Aruna nickte schwach.
,, Ja …“, sprach sie leise.
,, Wir können nur noch beten und auf die Hilfe der Götter hoffen … und auf die Stärke des Schwertkämpfers.“
,, Glaubt Ihr, dass dieser Zat sich irgendwann doch noch auf unsere Seite schlägt?“, wollte Elga wissen, doch Aruna schüttelte den Kopf.
,, Er kämpft für unsere Seite!“, sagte sie.
,, Ob er jetzt unter meinem Befehl seinen Dienst verrichtet, oder ob er als Einzelkämpfer durch Spes zieht … Solange er gegen die Schatten siegt und dem Volk damit Hoffnung schenkt, so werden wir immer an gleicher Front kämpfen.“
,, Doch wird er als Einzelkämpfer noch lange gegen die Schatten aufbegehren können?“, fragte Elga und sah wieder zum Mond hinauf.
,, Dieser junge Mann ist etwas Besonderes!“, redete Aruna überzeugt und erhob sich von ihrem Stuhl.
,, Wahrscheinlich besitzt er Kräfte, die anderen Menschen völlig fremd sind, sonst wäre es ihm nicht gelungen, heil aus dem Todestempel zurückzukehren.“
,, Glaubt Ihr, dass er ein Magier ist?“
Die Prinzessin schritt zum Fenster.
,, Nein, das glaube ich nicht, doch vielleicht ist gerade dies der Schlüssel zu Morsoms Verderben!“
,, Inwiefern?“
Aruna blickte in den klaren Mond.
,, Magier verlassen sich auf ihre angeborene Kraft, halten sich für erhaben und unbesiegbar, doch sie vergessen, ja verdrängen sogar die Mächte, die in ihrer menschlichen Seite verborgen sind. Im Grunde sind sie nur arme Marionetten, gelenkt von ihrem Wahn und ihrer Überheblichkeit!“
Das silbrige Mondlicht funkelte auf ihrer Haut.
,, Menschen, die keine Magie in sich tragen, lernen ihr Leben anders zu leben. Sie sind stark, weil sie die verschiedensten, aber durchaus edelsten Beweggründe dafür haben. Sie haben Vertrauen, sie besitzen Wärme, sie haben Mut und sind bescheiden. Sie kämpfen für Freundschaft und für die Liebe. Kein Magier in der Geschichte dieses Landes hat dies je gekonnt …“
,, Ihr glaubt also, Hoheit, dass selbst Morsom den Todestempel niemals hätte, betreten können?“
,, Davon bin ich überzeugt!“
Der Vollmond verschwand hinter einer kleinen Wolke.
,, Vielleicht hast du recht, Elga!“, sprach Aruna dann und ihre Dienerin warf ihr einen fragenden Blick zu.
,, Wir dürfen nicht aufgeben und denen das Königreich überlassen, die Marionetten ihrer eigenen Kraft sind. Wir müssen auf die Menschen bauen, die mit reinem Herzen ihrem Ziel folgen, die nach jedem Lichtstrahl greifen, auch wenn es noch so finster ist. Denen seien die Götter hold, denen reichen sie die Hand und schicken ihnen den Engel des Friedens!“


Wandel der Zeit




Heute war es wärmer, als die letzten Tage. Die Sonne schien, die Bäume bekamen ihre Knospen, die Frühlingsblumen bahnten sich ihren Weg durch die Erde, das Gras war grün und die Vögel sangen.
Nun merkte man langsam, dass es Frühling wurde.
Lelia lag in ihrem Bett, schlief tief und fest. Gestern hatte sie eine erholsame Nacht hinter sich gebracht, nun schien es ihr wieder zu gelingen.
Der Vogelgesang störte sie nicht, den köstlichen Duft aus der Küche nahm sie nicht wahr.
Heute war der fünfzehnte März, ihr Geburtstag. Sie hatte ihn sich etwas anders vorgestellt. Normalerweise sollte sie in der Schule sitzen und sich auf den Nachmittag freuen, den sie mit ihren Freunden gemütlich und lustig ausklingen lassen wollte, doch nun lag sie im Bett und wusste, dass noch viele ereignislose Stunden vergehen mussten, bis die Party endlich losgehen konnte. Leider konnten Holly, Oliver und Malvin auch nicht so lange bleiben, da Lelia strickte Ruhe verordnet worden war.
Es war fast zehn Uhr morgens, da öffnete Lelia endlich ihre Augen. Verschlafen drehte sie sich in ihrem Bett herum, streckte sich und gähnte laut. Der strahlend blaue Himmel leuchtete ihr entgegen und ihr Herz machte einen Hüpfer. Was für ein herrliches Wetter.
Gut gelaunt sprang sie aus dem Bett, streckte sich wieder und riss die Fenster auf.
,, Wow … schön warm …“, hauchte sie, als sie ihren Kopf an die Luft hielt.
Der warme, duftende Wind strich um ihr Gesicht.
,, Hammer Wetter!“
Angespornt durch den blauen Himmel und voller Energie, huschte sie durch ihr Zimmer und suchte sich Anziehsachen für heute heraus, dann stutzte sie.
Ihr Blick war genau auf den Spiegel gerichtet.
,, Wow …“, meinte sie wieder.
Heute sah sie wirklich extrem gut aus. Ihr Haar glänzte, ihre Augen strahlten, ihre blasse Haut sah weich und geschmeidig aus. Was war das heute nur für ein herrlicher Geburtstag!
Alles fing einfach perfekt an …
Das Esszimmer war sehr hübsch geschmückt. Eine große Vase mit Frühlingsblumen stand auf dem Tisch und drum herum war das Frühstück auf den besonderen Tellern serviert worden.
,, Guten Morgen, Geburtstagskind!“, sprach Großtante Lea und schritt aus der Küche, wo es herrlich nach Kuchen duftete.
,, Ausgeschlafen? Alles Liebe wünsche ich dir!“
,, Dankeschön! Mensch, Tantchen, das wäre doch nicht nötig gewesen!“
,, Natürlich ist es nötig! Man wird schließlich nur ein Mal siebzehn!“
Sie betrachtete das Mädchen und schüttelte leicht den Kopf.
,, Kaum zu glauben, wie du gewachsen bist. Es ist, als wäre es erst gestern gewesen … als du noch ein Baby warst …“
Lelia grinste.
,, Wirst du etwa sentimental?“
,, Unsinn!“
Sie setzten sich an den Tisch und aßen ihr Frühstück. Es gab Lelias Lieblingsbrötchen zum Aufbacken und selbst gemachte Marmelade. Es schmeckte einfach wundervoll.
Das Mädchen aß wieder mit unanständiger Begeisterung.
,, Fressen tust du wie ein Baby …“, meinte Lea dann, die ihre Nichte, mit der Pfeife im Mundwinkel, anschaute.
,, Nein … Babys essen manierlicher …“
Lelia zuckte mit den Schultern und grinste.
,, Sei lieb, Tantchen! Heute ist mein Geburtstag!“
,, Natürlich! Freust du dich schon auf deine Geschenke?“
Das Mädchen sah auf.
,, Geschenke?“
,, Selbstverständlich! Und nun tu nicht so, als ob du keine erwartest!“
Die Großtante erhob sich und schritt aus dem Zimmer in die Küche. Lelia sah ihr gespannt hinterher. Sie kam sich blöde vor, aber im ersten Moment hatte sie wirklich die Geschenke vergessen und nur an den leckeren Kuchen gedacht, den sie bald verspeisen durfte.
Lea kam zurück. In ihren Händen hielte sie ein großes, rechteckiges Päckchen.
,, Bitte sehr!“, rief sie und stellte es ihrer Nichte vor die Nase.
,, Cool! Danke! Was ist es?“
Die Alte hob eine Augenbraue.
,, Ich schlage vor, dass du es öffnest, wenn du es unbedingt wissen willst …“
Lelia musste grinsen und fing an, das Papier aufzureißen. Ein Karton kam zum Vorschein. Ein Schuhkarton.
,, Oh Mann!“, hauchte Lelia.
,, Ist es das, was ich denke, dass es ist?“
,, Mach auf!“
Sie klappte den Schuhkarton auf und ein hübsches Paar brandneuer, schwarzer Chucks kamen hervor.
,, Oh WOW! Danke, Tantchen! Ich liebe diese Schuhe!“
,, Ich weiß … Das hattest du einige Male erwähnt!“
,, Irre! Danke!“
Lelia sprang auf und fiel ihrer Großtante um den Hals. Diese verlor fast ihre Pfeife.
,, Gern geschehen, Kleine!“, sagte sie ruppig und tätschelte ihren Rücken.
,, Aber das ist noch nicht alles!“
,, Was?“
Lelia löste sich von der Alten und ließ sich wieder auf ihren Stuhl zurückplumpsen.
,, Noch eins?“
,, Eine Kleinigkeit!“
Sie langte in ihre Tasche und holte ein kleines, verpacktes Würfelchen hervor.
,, Bitte sehr!“
Das Mädchen nahm es perplex an. Langsam und vorsichtig öffnete sie das Geschenkpapier und ein kleines samtenes Schächtelchen kam zum Vorschein.
,, Oh!“, sagte Lelia und klappte es auf.
Ihre Augen weiteten sich überrascht, als sie ein feines, goldenes Kettchen erblickte, mit einem hübsch verzierten Anhänger zum aufklappen.
,, Aber das ist ja …“, hauchte sie erstaunt.
,, … das ist ja dein Medaillon!“
Die Großtante nickte und musterte ihre Nichte gespannt.
,, Ich hoffe, du freust dich!“
,, Klar!“
Sie öffnete es und die Bilder ihrer Großtante und ihres Großvaters kamen zum Vorschein. Das Mädchen schluckte. Sie waren so jung und hübsch und sie wirkten so zufrieden.
,, Aber ich kann es doch nicht einfach annehmen. Es ist doch dein Medaillon, Tantchen! Es hat dir doch immer so viel bedeutet!“
Die Alte legte den Kopf schräg.
,, Ich weiß schon, was ich tue, Lily! Nun gehört es dir und du kannst die Fotos gerne austauschen, wenn du es willst!“
Das Mädchen schüttelte wild den Kopf.
,, Nein! Ich lasse sie so, wie sie sind. Ich finde, dass diese Bilder einfach in dieses Medaillon gehören und dass man sie nicht herausnehmen sollte!“
,, Gut, wenn du meinst …“
Lelia sah ihre Großtante an, die einen tiefen Zug an ihrer Pfeife tat.
,, Warum schenkst du mir dieses Medaillon? Verstehe mich nicht falsch, ich finde es wirklich wunderbar, aber ich verstehe nicht …“
Lea zuckte mit den Schultern.
,, Du bist jetzt eine junge Frau und als Beweis dafür, dass ich dich für erwachsen und verantwortungsvoll genug halte, vertraue ich dir mein wichtigstes Schmuckstück an. Halte es in Ehren und passe gut darauf auf. Es wird dir Glück bringen, bestimmt!“
Das Mädchen lächelte.
,, Danke Tantchen! Das bedeutet mir wirklich sehr viel. Ich passe gut darauf auf. Versprochen!“

Der Tag verlief heiter und witzig. Ihre Großtante hatte zwei großartige Kuchen gebacken, das Wetter war einfach traumhaft und Lelia fühlte sich so gut, wie schon lange nicht mehr. Heute nahm sie die Sonnenstrahlen ganz anders wahr, hörte den Melodien der Vögel noch glücklicher zu als sonst, und ihr Herz pochte so erwartungsvoll und aufgeregt, wie das Flügelschlagen eines Schmetterlings. Mittlerweile stand sie ihrem siebzehnten Geburtstag auch anders gegenüber, als vor ein paar Tagen noch. Nun hielt sie ihn auch für etwas Besonderes, etwas Bahnbrechendes, etwas Anderes, als ihre anderen Geburtstage. Jetzt ist es soweit!, dachte sie immer wieder und konnte sich den Optimismus nicht erklären, der wie Lebenselixier durch ihre Adern floss.
Wundervolle, sonnige Tage warteten auf sie und sie wird ihnen frohen Mutes entgegengehen!

Am Nachmittag kamen schließlich Holly, Oliver und Malvin zu Besuch.
Gut gelaunt öffnete Lelia ihnen die Tür und die Freunde staunten.
,, Du siehst heute aber frisch aus!“, meinte Malvin anerkennend.
,, Du strahlst ja echt und bist richtig hübsch!“, sagte auch Holly.
,, Scheinbar bekommst du wieder genügend Schlaf“, überlegte Oliver und das Mädchen ließ sie eintreten.
,, Danke für die Komplimente! Ich fühle mich echt super!“
Sie betraten das Esszimmer, in dem Großtante Lea schon alles aufgebaut hatte.
,, Das Essen riecht köstlich, Miss Smith!“, schwärmte Malvin und hielt seine Nase in die Küche.
,, Und die Kuchen sehen fantastisch aus!“
,, Schön. Ich hoffe nur, dass sie auch so schmecken!“
Sie setzten sich an den Tisch und blickten sich in dem aufgemachten Esszimmer um.
,, Deine Großtante hat sich wirklich Mühe gegeben!“, lächelte Holly und schnupperte an dem Blumenstrauß.
Lelia nickte.
,, Siebzehn ist ein wichtiges Lebensjahr!“, grinste sie und die anderen sahen sie verdutzt an.

Das Essen war eine Offenbarung, fand Lelia und stopfte, bis sie fast würgen musste. Holly kicherte über die Gier ihrer Freundin und Malvin wollte sie nachmachen, wobei er sein gutes Hemd mit dicker Soße vollschlabberte.
Oliver verlangte mehr Püree und schwärmte von dem Putenfleisch. Großtante Lea wuselte von Raum zu Raum, rauchte Pfeife und summte ihre geliebten Lieder. Es ging heiter und laut zu. Fast wäre Malvin an einem Stück Brokkoli erstickt, aber als es ausgestanden war, lachte er am lautesten darüber.
,, Wenn ihr satt seid, dann räume ich ab!“, sagte Großtante Lea vergnügt.
,, In zwei Stunden gibt es Kuchen und Eis, also schafft Platz und verzupft euch jetzt!“
,, Zu Befehl!“
Laut lachend und schwatzend polterten die Freunde in Lelias Zimmer.
Es war nun an der Zeit, die Geschenke zu überreichen.
,, Mach meines bitte zuerst auf!“, rief Malvin und übergab dem Mädchen ein unförmiges, sehr ungeschickt verpacktes Etwas.
,, Hast du das eingepackt?“, fragte Oliver interessiert und amüsiert.
,, Warum hast du nicht deine Mom gefragt?“
Holly verdrehte die Augen und Lelia gab Oliver einen Schlag in den Nacken.
,, Es ist nicht wichtig, wie es eingepackt ist!“, meinte sie streng.
,, Genau!“, blaffte Malvin.
,, Meine Mom hat gesagt, dass ich nicht immer zu ihr rennen soll, besonders nicht bei Dingen, die sogar Affen können!“
Lelia, Holly und Oliver prusteten los.
,, Ich weiß …“, grinste Malvin verschmitzt.
,, Affen können es wahrscheinlich besser, aber für mein erstes Geschenk ist es gar nicht schlecht!“
,, Finde ich auch! Sehr anständig!“, lachte Lelia.
,, Tut mir richtig leid, dass ich es jetzt öffnen muss!“
Alle wieherten und das Mädchen riss das Papier ab. Ein kunstvoll geformtes Gestell mit einer Teelichteinbuchtung und einer Glasschale darüber war darin verborgen. Ein kleines Fläschchen rollte heraus und kullerte vor Olivers Füßen.
,, Duftöl?“, fragte er, als er das Fläschchen auflas.
,, Meine Mom meint, dass so etwas bei Mädchen total angesagt ist!“, entgegnete Malvin achselzuckend.
,, Es ist super, Dankeschön!“, lächelte Lelia und begutachtete das verschnörkelte Gestell.
Sie stand auf und platzierte es auf ihrer Kommode.
,, Das ist mein Geschenk!“, sagte Oliver und reichte dem Mädchen ein akkurat eingepacktes, rechteckiges Schächtelchen.
,, Cindy und Cecilia sagten, dass ich das kaufen soll! Es sei besser, als der Bettbezug vom letzten Mal und nützlicher für dich!“
,, Aha?“, machte Lelia und wickelte das Papier von der Schachtel.
Sie klappte sie auf und eine neumodische, coole Sonnenbrille kam hervor.
,, Oh! Das ist wirklich nützlich! Meine ist kaputt gegangen!“, freute sie sich.
,, Ich weiß …“, murmelte Oliver und wurde rot.
,, Ich hab sie letzten Sommer aus Versehen zertreten, als wir so betrunken waren!“
Wieder brach ein schallendes Gelächter aus.
,, Und ich hab gedacht, ich hätte sie selbst kaputt gemacht!“, prustete Lelia amüsiert.
,, Ehrlich! Ich konnte mich am nächsten Tag an nichts mehr erinnern!“
Das Lachen wurde lauter, Lelia setzte die Sonnenbrille auf und bekam Komplimente und Malvin machte sich mit vollem Körpereinsatz über Oliver lustig, dass er Lelia die neue Sonnenbrille fast vom Kopf schlug.
Als alle sich beruhigt hatten, überreichte Holly ihr Geschenk. Es war ebenfalls ordentlich eingepackt, aber Lelia wusste, dass ihre Freundin das auch alleine konnte. Der Größe, Form und dem Gewicht nach zu schließen, war es mit großer Sicherheit ein Buch.
Lelia riss das Papier ab und ihr Verdacht bestätigte sich. Sie hob die Augenbrauen, als sie es sah. Oliver und Malvin guckten dumm.
Auf dem Einband war eine schöne, vollbusige Frau in den Armen eines muskulösen, engelsgleichen, blond gelockten Mannes. Über die turtelnden Personen prangte ein verschnörkelter goldener Schriftzug, der die Worte “Der Kuss des einsamen Kriegers“ bildete.
Lelia starrte das Buch an, ihr Mund stand offen und sie schloss ihn schnell, damit sie nicht zu blöde aussah. Holly wurde rot, die Jungen schienen sprachlos.
,, Ich dachte, du könntest etwas Romantik vertragen …“, murmelte Holly.
,, Ich hab das Buch gelesen und fand es wirklich gut. Vielleicht änderst du danach ja deine Meinung über Jungen …“
Lelia nickte mechanisch. Sie starrte immer noch auf das Cover, war nicht imstande etwas zu sagen. Schon vom in der Hand halten, hatte sie das Gefühl, der Schmalz würde sie überschwemmen, doch sie wollte Holly ihre Abneigung nicht zeigen.
,, Ich … ähm … ich … ich … werde es auf jeden … Fall … lesen … Danke!“, brachte sie hervor und Holly nickte lächelnd.
Malvin riss Lelia das Buch aus der Hand.
,, Der Typ sieht fast aus, wie du, Olli!“, meinte er.
,, Unsinn!“, blaffte er zurück.
,, Ich hab nicht so eine weibische Frisur! Der sieht eher aus, wie eine männliche Lily.“
,, Genau!“
Lelia verzog das Gesicht und Holly wurde wieder rot.
,, Gebt Lily das Buch zurück. Ihr habt ja keine Ahnung von Romantik!“, nuschelte sie.
Oliver musste sich ein Lachen verkneifen.
,, Lily hat noch viel weniger Ahnung, als wir!“, grinste Malvin.
Er gab Lelia das Buch zurück, die es schnell auf den Boden legte.
,, Kannst du dir echt vorstellen, dass Lily diesen … Nackenbeißer liest?“
,, Klar werde ich ihn lesen!“, entgegnete Lelia und versuchte weniger missmutig zu klingen.
,, Wenn Holly sagt, dass er gut ist, dann glaube ich ihr!“
,, Aber verlieb dich nicht in Goldlöckchen hier!“, scherzte Oliver und alle brachen wieder in ein schallendes Gelächter aus, selbst Holly.

Der Kuchen und das Eis waren das Highlight an dem Tag. Alle schlemmten und stopften, Malvin bekleckerte sich und Lelia schlang, wie sie noch nie geschlungen hat.
Es war ein wirklich schöner und witziger Tag, Großtante Lea huschte hin und her und werkelte herum, Oliver hatte einige Male seltsame Anwandlungen, indem er aufreizende Posen nachahmte und jeden knuffte, der dann nicht sofort „ Nackenbeißer!“ schrie. Lelia tat schon der Bauch weh, sowohl von vielem Essen, als auch vom Lachen.
Später sangen noch alle ein Geburtstagsständchen und Großtante Lea machte ein hübsches Gruppenfoto.
Es war halb zehn, als sich die Freunde auf dem Weg nach Hause machten.
,, Vielen Dank für die Geschenke, die waren alle großartig! Danke, dass ihr hier wart!“, sagte Lelia, die ihre Freunde an der Tür verabschiedete.
,, Danke für die Einladung!“
,, Komm uns auch mal wieder besuchen! Meine Mom fragt immer nach dir“, fügte Holly noch hinzu.
,, Und danke für das köstliche Essen, Miss Smith!“, redete Malvin, der sich noch zwei Stücke Kuchen nach Hause mitnehmen wollte.
,, Wir kommen dich besuchen, Lily“, sprach Oliver und hob die Hand zum Abschied.
Sie stiegen alle in Malvins braunen, baufälligen Wagen und fuhren in die Nacht hinein.

,, Und? Hattest du Spaß?“, fragte Großtante Lea, als ihre Nichte wieder ins Wohnzimmer zurückkehrte.
Alles war schon wieder ordentlich weggeräumt worden, die Alte saß entspannt in ihrem Sessel, mit ihrem Tee und ihrer Pfeife.
,, Es war ein schöner Tag! Danke noch mal, Tantchen, für deine Mühe!“
,, Gerne, gerne! Was hast du denn geschenkt bekommen? Besonders von diesem kleinen Drecksack?“
Lelia kicherte.
,, Ich zeige dir die Sachen. Einen Moment, ich hole sie!“
Sie eilte die Treppe hinauf und trat in ihr Zimmer. Sofort sah sie, dass die Tür zu der kleinen Treppe weit offen stand, und blieb abrupt stehen.
Hatte sie sie nicht abgeschlossen? Das Mädchen überlegte. Vielleicht hatte sie sie ja wieder geöffnet, als sie schlafgewandelt war. Das wäre eine Erklärung … oder Großtante Lea hatte sie geöffnet. Lelia schluckte, schritt jedoch sicher durch das Zimmer, machte die Tür wieder zu und schloss sie ab.
Dann packte sie schnell ihre Geschenke und huschte aus dem Zimmer hinaus.
,, Oh!“, sagte Großtante Lea, als Lelia wieder das Wohnzimmer betrat.
,, Was ist das? Ein Buch, eine Sonnenbrille und … was ist das für ein Ding?“
,, Ein Duftölständer … keine Ahnung, wie das heißt. Ist doch ganz niedlich, oder?“
,, Mja… ich … was ist das denn für ein Buch?!“
Die Alte runzelte die Stirn und riss es ihrer Nichte aus der Hand.
,, Ach Gottchen …“, murmelte sie.
,, Ein Nackenbeißer …“
Lelia nickte missmutig.
,, Tja. Ich hab Holly mein Wort gegeben, dass ich ihn lesen werde …“
,, Der ist von Holly?“
,, Dachtest du, dass er von Oliver ist?“
Großtante Lea zog an ihrer Pfeife.
,, Möglich ist alles …“
Das Mädchen seufzte und starrte auf den Einband.
,, Holly meinte, dass ich mehr Romantik vertragen könnte, darum hat sie mir diesen Schmachtschinken geschenkt!“
,, Keine schlechte Idee“, entgegnete Lea und ihre Nichte warf ihr einen erschrockenen Blick zu.
,, WAS?!“
,, Die Zeiten ändern sich, Lily!“, sprach ihre Großtante dann und die Worte verblüfften das Mädchen.
,, Und die Stimme des Herzens wird dir mehr bringen, als das Flüstern deines Verstandes. Wer weiß? Vielleicht finden solch süßliche Fantasien ja bei dir Anklang?“
,, Ich glaube nicht … Und warum sollten sich die Zeiten ändern?“
Lelia begriff nicht, was die Worte der Großtante sollten.
,, Sie ändern sich immer, wenn man erwachsen wird …“


Der singende Engel




So wundervoll, wie der Tag war, so furchtbar war die Nacht. Kaum war Lelia eingeschlafen, da hatte sie wieder einen merkwürdigen Traum. Wieder war die Perspektive sonderbar, wieder war es so, als ob sie hinter etwas stand und nur ein wenig von der Landschaft erfassen konnte.
Mein armes Herz ist schwer … meine Gedanken wirr. Ich treibe in einem Meer aus Hoffnungslosigkeit und nur dein sanfter Herzschlag schenkt mir Ruhe. So ist es doch, als hörte ich ihn … so lange war er mir verwehrt. Doch das Blut rinnt weiter über unsere Körper, ein See aus Blut und Feuer … Ich wate durch Leichen. Mein Herr geht seinen Weg, die Stille ist sein Begleiter. Das Blut ist mein Begleiter … der Tod ist immerdar …
Ein zauberhafter Fluss war zu erkennen, das klare Wasser spiegelte den blauen Himmel, es glitzerte in der Sonne, doch alles, was Lelia empfinden konnte, war Traurigkeit und Wehmut.
Keuchend erwachte sie aus dem Schlaf. Es war kein beängstigender Traum, doch trotzdem zitterte sie und Schweiß stand ihr auf der Stirn.
,, Du liebe Güte …“, hauchte sie und drehte sich in ihrem Bett.
Sie blickte auf die Uhr. Es war kurz nach Drei und sie war hellwach. Leise stand sie auf und schritt zum Fenster, sah auf den abnehmenden Mond und hatte plötzlich das unbeschreibliche Verlangen, einfach nach ihm zu greifen. Das silbrige Licht fiel durch das Fenster und erhellte ihr Gesicht.
Wie wundervoll er doch war, doch leider so weit entfernt …

Sie hatte zwar nicht mehr schlafen können, doch hatte sie ihre Gedanken so weit geordnet, dass sie in einen erholsamen Dämmerschlaf fiel. Die Morgensonne weckte sie, die Vögel sangen, der Wind wehte sacht.
Lelia stand auf, reckte und streckte sich und ging ins Badezimmer, um sich umzuziehen.
Heute sah sie nicht schlimmer aus, als gestern, obwohl sie kaum geschlafen hatte. Noch immer war ihr Haar glänzend und geschmeidig, ihre Haut blass und zart und ihre Augen strahlend.
,, Kaum ein paar Tage aus der Schule und ich sehe aus, wie neu geboren!“, grinste sie und schritt gut gelaunt aus dem Bad heraus.
Da sah sie es, oder vielmehr hörte es zuerst. Es war ein leises Klick-Geräusch, das sich anhörte, als hätte sich ein Schloss geöffnet. Lelias gute Laune schwand, sie wirbelte herum und ihr Blick fiel auf die Tür zu der kleinen Treppe, die sich sehr langsam öffnete.
,, Was zum-?“, keuchte Lelia und schritt vorsichtig auf die Tür zu.
,, Ich hab dich abgeschlossen … wieso bist du gerade aufgegangen?“
Sie merkte gar nicht, wie dumm es war, mit einer Tür zu reden, die ohnehin nicht antworten konnte, doch sie war sich ganz sicher, dass sie das Klicken des Schlosses gehört hatte. Es konnte also im Grunde nur jemand in ihrem Zimmer die Tür aufgeschlossen haben.
Das war nun wirklich eigenartig und hatte auch sicher nichts mit Einbildung oder Schlafwandeln zutun. Irgendetwas ging doch hier vor!
Lelia schob die Tür langsam auf und lugte in den Flur. Die kleine Treppe lag verlassen da, links und rechts standen Bücher, die Tür am anderen Ende war zu. Unten hörte sie Großtante Lea werkeln und summen.
,, Das ist alles zu komisch …“, meinte Lelia nachdenklich, als sie die Tür wieder langsam zu schob.
,, Irgendwie glaube ich schon fast nicht mehr daran, dass alles nur ein Zufall ist…“
Aber das ist doch vollkommen logisch!, dachte sie.
Das kann nur Zufall sein! Was sollte es sonst sein?
Leise seufzend drehte sie den Schlüssel im Schloss herum, ruckte an die Tür, um ganz sicher zu sein, dass sie auch wirklich zu war, und ging dann zur anderen Zimmertür zurück.
Sie hatte gerade die Klinke berührt, als es wieder klickte. Stocksteif blieb das Mädchen stehen.
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie die Tür langsam wieder aufging.

,, Moin!“, rief Großtante Lea, die den Esstisch bereits gedeckt hatte.
Immer noch wirkte sie etwas angespannt, war blass und hatte Ränder unter den Augen.
,, Du siehst mir aber gar nicht gut aus, Tantchen“, meinte Lelia besorgt, als sie sich an den Esstisch setzte.
,, Du hast dich doch nicht mit der Planung zu meinem Geburtstag übernommen, oder?“
,, Unsinn! Ich habe mich überhaupt nicht übernommen. Ich weiß, dass ich bescheiden aussehe, aber ich fühle mich echt gut!“, entgegnete Lea ruppig und goss sich etwas Tee ein.
,, Du trägst das Medaillon, wie ich sehe?“, fragte sie dann, als sie über den Rand der Tasse zu ihrer Nichte blickte.
,, Klar! Ich halte es in Ehren, wie ich es versprochen hab!“
,, Sehr schön …“
Lelia aß ihr Müsli und starrte nach draußen in den wunderschönen Frühlingshimmel, dann wandte sie sich wieder ihrer Großtante zu.
,, Tantchen?“, fragte sie und die Alte blickte von ihrer Morgenzeitung auf.
Die Pfeife zuckte in ihrem Mundwinkel.
,, Da stimmt etwas nicht, mit meiner Tür … Es ist wirklich unheimlich! Ich habe sie abgeschlossen, aber heute hat sie sich quasi zwei Mal selbst aufgeschlossen und ging von alleine auf. Das ist doch seltsam, oder? Wie geht so etwas?“
Ein Dampfschwall wurde ausgepustet.
,, Du hast wohl nicht richtig abgeschlossen …“, murmelte Lea und blickte wieder schnell in ihre Zeitung, doch ihre Nichte ließ nicht locker.
,, Doch!“, sagte sie und guckte ihre Großtante nachdenklich an.
Fast war es ihr so, als wollte sie Lelia nicht anschauen.
,, Ich habe sogar daran gezogen und gerüttelt. Die Tür war zu und das Schloss hat gehalten!“
,, Aber das Schloss ist schon alt, vielleicht ist der Mechanismus schon defekt und löst sich nach einer Weile wieder“, redete ihre Großtante unbeirrt weiter, den Blick immer noch auf die Zeitung gerichtet.
,, Können wir ihn reparieren lassen?“, fragte Lelia sofort und die Pfeife zuckte wieder.
,, So schnell wie möglich? Ich fühle mich einfach besser, wenn ich weiß, dass die Tür zu bleibt … Ich weiß nicht, wie ich sagen soll, aber ich hatte gerade oben so ein komisches Gefühl. Ich finde es wirklich unheimlich …“
Nun sah Lea auf, ihr Blick war intensiv, durchdringlich.
,, Du findest es unheimlich?“, fragte die Alte.
,, So etwas habe ich ja noch nie von dir gehört … oder zumindest schon lange nicht mehr. Warum findest du so etwas Dummes denn unheimlich?“
Diesmal war es Lelia, die wegsah. Nun kam ihr das, was sie gesagt hatte kindisch vor, dennoch war es genau das, was sie fühlte.
,, Ich weiß, dass es dumm ist, aber ich fühle mich einfach nicht wohl, wenn es passiert!“, erklärte sie.
,, Es ist einfach seltsam. Es passiert in letzter Zeit so viel Zeug, so etwas ist in all den Jahren noch nie passiert und nun kommt alles auf einmal! Die Melodie, die Tür, das Fenster … und besonders schlimm ist es immer, wenn ich gerade so einen komischen Traum hatte. Auch die werden immer eigenartiger! Ich finde mittlerweile, dass es schon kein Zufall mehr sein kann …“
Dass sie das sagte, war wirklich ungewöhnlich, denn an etwas anderes, als an eine normale Erklärung hatte sie nie geglaubt, doch all die Dinge, die sie in den letzten Tagen so gehäuft erlebt hatte, ließen sie immer mehr zweifeln.
,, Ich wurde untersucht, Tantchen! Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich keinen Sprung in der Schüssel habe, trotzdem lässt mich das alles nicht los.“
Großtante Lea legte den Kopf schräg, immer noch musterte sie Lelia aufmerksam.
,, Was glaubst du denn, was hier geschieht?“, fragte sie dann und die Nichte hob die Brauen. Mit so einer direkten Frage hätte sie nicht gerechnet.
,, Ähm …“, murmelte sie dann.
Was dachte sie denn? Im Grunde war alles unwahrscheinlich, sowohl der Zufall, als auch die merkwürdigsten Verschwörungstheorien.
,, Ich weiß nicht. Ich habe so etwas schließlich auch noch nie erlebt. Leute wie Olivers Dad würden sagen, dass es spukt, andere haben noch seltsamere oder kompliziertere Theorien … und wieder andere Leute sagen …“
Sie stockte und Großtante Lea sprach weiter:
,, …, dass es ganz natürliche Gründe hat! Lily, ich möchte dich, mit der Frage, was du glaubst, was hier geschieht, nicht bloßstellen, ich möchte dich auch sicherlich nicht als Spinner darstellen, aber ich möchte einfach deine eigene Meinung hören, damit ich dir die Angst nehmen kann!“
Lelia seufzte.
Nun kam sie sich erst recht blöd vor. Sie hatte Angst vor einer Sache, die im Grunde vielleicht harmlos war, aber im Moment nicht erklärt werden konnte. Sie wusste wirklich nicht, was sie dachte.
,, Ich hab keine Ahnung, Tantchen …“, sprach sie dann verwirrt und rieb sich die Augen.
,, Vielleicht mache ich aus einer Mücke einen Elefanten … ich weiß es einfach nicht …“
Die Großtante schaute Lelia weiterhin ernst an, dann seufzte sie, die Pfeife wechselte den Mundwinkel und die Alte wandte sich wieder ihrer Zeitung zu.
Das Mädchen sah sie an. Sie konnte ihren Blick einfach nicht deuten …

Die Stunden zogen dahin, ereignislos und still. Es war nach dem Mittagessen, als Lea ihre Nichte fragte, ob sie heute etwas vorhat.
,, Nicht dass ich wüsste …“, meinte Lelia achselzuckend.
,, Wieso gehst du nicht die Thompsons besuchen? Miranda und Holly würden sich sicherlich freuen. Sie haben dich schon seit Ewigkeiten eingeladen, und immer, wenn ich sie besuchen komme, bist du nicht dabei!“, schlug die Alte vor.
Das Mädchen lächelte.
,, Ich kann sie besuchen … eine gute Idee!“
,, Schön!“, sprach die Großtante.
,, Ich werde in die Stadt fahren, hab noch ein paar Dinge zu besorgen.“
,, Welche denn?“
,, Das binde ich dir nicht auf die Nase, neugieriges Ding!“, sagte sie ruppig.
,, Mach dich am besten sofort auf zu den Thompsons, wer früher kommt, kann länger bleiben!“
Sie lachte kratzig und schnappte sich ihren Autoschlüssel.
,, Ach … Ich gehe lieber erst in einer Stunde. Letztens habe ich sie beim Mittagessen gestört. Sie essen immer später, als wir!“
Die Großtante drehte sich zu ihrer Nichte um.
,, Oh. Ach so.“
Der Autoschlüssel wurde wieder auf die Kommode gelegt und die Nichte bemerkte dies.
,, Das heißt nicht, dass du nicht in die Stadt kannst!“, sprach Lelia.
,, Ich komme auch alleine zu Holly, der Weg ist nicht weit. Du brauchst mich nicht fahren!“
,, Natürlich … ich habe nur vergessen … die Blumen zu gießen!“, kam als Antwort.
,, JETZT?!“
,, Heute Abend werde ich keine Lust haben!“
Die Großtante huschte an Lelia vorbei und ging ins Wohnzimmer. Lelia starrte ihr verdutzt hinterher. War sie heute etwas verhuscht?, fragte sich das Mädchen.
Sie lief der Alten nach.
,, Tantchen!“, sagte Lelia und betrat den schönen Garten.
Lea fummelte an einer Gießkanne.
,, Lass mich doch die Blumen gießen, dann kannst du in die Stadt fahren!“
Sie näherte sich der alten Frau.
,, Du bist nicht mehr raus gegangen seit … keine Ahnung! Und seit ich beurlaubt wurde, verlässt du das Haus kaum noch. Ich habe ein echt schlechtes Gewissen deshalb, darum amüsier dich in der Stadt und gönne dir mal was. Mir geht es gut, ich kann die Blumen gießen!“
Die Großtante wandte sich zu ihr um. Ihr Blick war weicher, als sonst.
,, Du bist ein liebes Mädchen, Lily!“, sprach sie sanft.
Lelia gefiel das nicht. Sie mochte die ruppige, herrische Lea lieber, die normale Lea.
,, Das ist eine sehr wichtige Eigenschaft! Wenn man auch mal an andere denkt und ihnen hilft und beisteht, dann wird man dir so etwas niemals vergessen. Du bist eine gute Seele und wirst sicherlich mal viele Freunde haben! Und diese Freunde hast du dann für immer!“
Lelia starrte die Frau an. Was redete sie da nur immer? In letzter Zeit hatte sie oft solch lehrreiche und tiefgründige Dinge erzählt, die im Grunde gar nicht zu ihr passten. Was war hier nur los?
,, Ähm … Tantchen?“, fragte das Mädchen vorsichtig.
,, Ist wirklich alles in Ordnung mit dir? Du kommst mir in letzter Zeit etwas … anders vor. Gibst es etwas, das du mir sagen willst?“
Die Miene der Frau war unergründlich.
,, Im Moment habe ich nicht viel zu sagen!“, lachte sie dann und wandte sich den Blumen zu.
,, Und anders bin ich sicher nicht! Du bist jetzt erwachsen, also kann man nun auch anders mit dir reden!“
,, Ich bin nicht anders, als vor ein paar Tagen noch!“, meinte Lelia, die langsam immer verdutzter wurde.
,, Nun lass mich ruhig die Blumen gießen und fahr in die Stadt etwas bummeln! Das wird dir gut tun, du siehst echt fertig aus!“
,, Schon gut, schon gut!“, brabbelte Lea scheinbar sehr beschäftigt.
,, Ich gieße schon. Machen wir es nicht unnötig kompliziert!“
Lelia hob die Augenbrauen.
,, Ähm … du müsstest mir doch nur die Gießkanne geben … da ist ja nix bei!“
,, Nun … ja! Du hast recht. Ich war etwas in Gedanken. Wenn du möchtest, dann gieße ruhig!“
Sie war wirklich verhuscht. Irgendetwas stimmte nicht und langsam aber sicher begann es dem Mädchen zu dämmern, dass das Verhalten ihrer Großtante vielleicht etwas mit den Veränderungen im Haus zutun hatte.
Lelia goss die Blumen, während Lea ins Haus verschwand.
Im Haus passierten Dinge., überlegte sie. Zur selben Zeit hatte Lelia diese seltsamen Träume und ihre Großtante schien anders zu sein. Langsam nahm die Sache wirklich unheimliche Dimensionen an.
Das Mädchen seufzte und schritt zu dem Rosenbusch.
Du übertreibst!, sprach der Verstand zu ihr.
Du verrennst dich! Mache nicht aus einer Mücke einen Elefanten und interpretiere nichts hinein, was du nicht beweisen kannst!
Wieder seufzte sie.
Der Verstand hatte recht.

Als Lelia wieder ins Haus kam, war Lea tatsächlich immer noch da. Wieder war es äußerst verdächtig, doch das Mädchen ging diesmal nicht darauf ein. Wieder machte sie von ihrem Talent gebrauch, schnell eine Lösung für ein plötzliches Problem zu finden.
,, Immer noch da?“, meinte sie dann ganz unbekümmert und schlenderte an ihrer Großtante vorbei.
,, Hab mich doch noch einmal umgezogen!“, sprach sie wahrheitsgetreu und deutete auf ihre neue Hose.
,, Hab mich beim Gießen eingesaut!“
,, Ach so!“
Lelia ging in den Flur und zog sich ihre besseren Schuhe an.
Ich muss mein Tantchen in Sicherheit wiegen, und wenn sie weg ist, habe ich genug Zeit, herauszufinden, was sie vor mir verbirgt.
Sie band sich die Schuhe zu, als sich ihr Verstand wieder einschaltete.
Das ist doch sinnlos!, sprach er streng. Das ist vollkommen kindisch! Was sollte denn deine Großtante vor dir verbergen? Willst du wirklich in ihrem Zimmer einbrechen und ihre Sachen durchsuchen? Was hat das für einen Sinn? Was erwartest du denn zu finden, in der Schublade einer fast achtzigjährigen Frau?
Lelias Mut sank. Ihre Vernunft hatte gesiegt. Sie dachte einfach viel zu verschwörerisch …

,, Wir sehen uns, Tantchen!“, rief Lelia der Frau zu, die in ihrem Wagen stieg, und bog aus dem Vorgarten.
,, Bis dann! Um sieben gibt es Abendbrot! Sei pünktlich wieder da!“
Der Jeep preschte aus der Einfahrt und fuhr in die andere Richtung davon.
Lelia dachte an heute Morgen zurück, an gerade, und immer noch war sie der Meinung, Lea hatte sich seltsam benommen. Sie konnte nur nicht sagen, warum.
Gedankenverloren lief sie den Weg lang, als sie nur nach wenigen Metern etwas hörte, das ihr das Herz in die Hose rutschen ließ. Da war sie wieder … die Melodie.
Erschrocken und alarmiert wirbelte das Mädchen herum. Wieder war das Lied so klar und deutlich, wie es im Grunde doch gar nicht sein konnte. Das Auto ihrer Großtante war fort, Lelia war nun alleine. Sollte sie nachsehen, was los war, oder sollte sie einfach weitergehen?
Ihr Verstand meldete sich wieder:
Du hast diese Nacht schlecht geschlafen!, meinte er.
Sicherlich ist es wieder nur eine Einbildung! Ignoriere sie und gehe weiter, sicherlich hört sie bald auf, immerhin bist du an der frischen Luft, die macht klar im Kopf!
Die Worte waren logisch, wie immer, beruhigend noch dazu, trotzdem blieb sie weiterhin stehen.
Im Grunde hätte das Mädchen sofort auf ihren gesunden Menschenverstand gehört, doch nun schaltete sich noch etwas anderes ein, etwas, das viel lauter zu sprechen schien.
Wie Paukenschläge donnerte ihr Herz. Jeder Schlag war kräftiger, eine Euphorie und Neugierde, die mit jedem Pulsschlag wuchsen.
Sieh nach!, schien es zu schreien.
Sieh nach, sieh nach, sie nach, sieh nach, sieh nach, sieh nach, sieh nach, sieh nach, sieh nach!
Lelia schluckte, die Melodie war allgegenwärtig, normalerweise müsste sie jeder hören!
Sie bog wieder im Vorgarten ein, huschte über den Kiesweg, zu ihrem Haus. Mit fahrigen Händen schloss sie die Tür auf, flitzte auf das Schlüsselbrett im Flur zu und griff nach dem Schlüssel für den Antiquitätenladen.
Die Melodie hörte nicht auf, ihr Herz schlug fester, es tat langsam wirklich weh, doch sie störte sich nicht daran. So schnell sie konnte, eilte sie zu dem Laden, sie schloss die Tür auf, griff nach der Klinke und- Lelia blieb abrupt stehen- die Musik erstarb.
,, Was geht hier nur ab?“, fragte sie sich aufgeregt und verständnislos zugleich.
Sie schob die Tür zum Laden auf und das Glockenspiel ertönte. Obwohl Lelia dieses Geräusch schon immer gekannt hatte, fuhr sie dennoch heftig zusammen.
,, Verdammte Scheiße!“, fluchte sie und hielt sich das Herz.
Alles war wieder leise und somit war jedes Geräusch scheinbar viel hörbarer, als es sonst gewesen wäre.
Das Mädchen betrat den Laden und sah sich im dunklen und staubigen Raum um. Die Spieluhr stand dort, ruhig und friedlich, wie immer. Die einsame Lilie in ihrer Hand ruhte im klaren Wasser.
Lelia trat näher heran und betrachtete die hübsche, kleine Engelsfigur.
,, Bist du wirklich hinüber oder bin ich einfach nur verschlafen?“, sagte das Mädchen unvermittelt zu ihr.
Wie dumm von ihr! Erst hatte sie mit einer Tür geredet und nun auch noch mit einer Puppe.
Sie war wirklich müde …
,, Oje …“, nuschelte sie und rieb sich die Augen.
,, Ich hoffe, heute kann ich wieder gut schlafen …“
Sie ließ die Hände sinken und wollte gerade aus dem Laden gehen, da sah sie es! Ihr stockte der Atem, ihr Herz schien stehen geblieben zu sein und die Panik wallte in ihr auf, wie sie es noch nie erlebt hatte. Da stand sie, die Figur mit dem goldenen Haar, dem weißen Kleid, der zarten Lilie und den weit aufgerissenen dunkelblauen Augen.


Wenn´s im Hause spukt …




Lelia bekam keinen Ton heraus. Sie stierte auf das Figürchen, das sie mit einem starren Blick zu durchbohren schien.
,, Was geht hier nur ab?!“, winselte das Mädchen.
Wie sehr hatte sie sich gewünscht, einfach umzudrehen und Reißaus zu nehmen, doch ihre Beine gehorchten keinem ihrer Befehle mehr.
,, Das ist nicht mehr normal! Ich will hier weg!“
Die Puppe starrte weiter, Lelia ebenfalls.
Fassungslos und ungläubig rieb sie sich die Augen. Das musste einfach eine optische Täuschung sein!
Ihre Hand fuhr durch ihr Gesicht, immer wieder sagte sie zu sich:
Wenn ich wieder hingucke, dann ist alles normal! Das Püppchen wird die Augen wieder geschlossen haben! Ich bilde mir das ein! Ich bin übermüdet!
Sie schlug die Lider wieder hoch und starrte auf das Tischchen, auf dem die engelsgleiche Figur ruhte, mit weit aufgerissenen, dunkelblauen Augen.
Das war zu viel! Selbst Lelias Beine waren wieder aus ihrer Trance erwacht.
,, UUUUAAAAAAAAAHHHHHHH!!!“, brüllte das Mädchen aus, stolperte rückwärts aus dem Laden, knallte die Tür zu, schloss sie panisch ab und spurtete über den Hof, als wäre der Teufel hinter ihr her.

Sie war schon weit weg, als sie endlich anhielt. Zitternd und außer Atem ließ sie sich auf einem Sitz an der Bushaltestelle nieder und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht.
Was war das eben?!, fragte sie sich ängstlich.
Das konnte einfach keine Einbildung gewesen sein! Die Puppe hatte sie wirklich und wahrhaftig angestarrt!
,, Oh mein Gott!“, hauchte sie völlig fertig und fuhr sich durch ihre blonde Mähne.
Die Sache geht zu weit! Das konnte einfach nicht mehr mit rechten Dingen zugehen, so etwas war absolut verrückt!
Was hatte das nur zu bedeuten?, fragte sich das Mädchen und lehnte sich gegen die gläserne Wand der Haltestelle.
Sie begriff es nicht! Sie hatte keine Ahnung und sie konnte es sich nicht erklären. Das machte ihr Angst. Ihr Herz schmerzte unangenehm und ihr war etwas übel.
Die Puppe, das Haus, die Träume, ihre Großtante, all das war so eigenartig, dass es einfach zusammenpassen musste. Die Frage war nur, warum Lea ihrer Nichte nichts davon sagte. Würde sie weiter fragen, dann bekäme sie keine Antwort, allerdings brachten sie keine zehn Pferde mehr nach Hause zurück, wenn sie nicht endlich erfuhr, was dort geschah.
Zitternd atmete sie ein und aus, der Schreck steckte ihr tief in den Gliedern.
Sie wandte ihren Kopf nach rechts und sah den Bus, der ihre Haltestelle ansteuerte.
Die Sache war nicht normal. Man konnte sie nicht logisch erklären, das musste sich das Mädchen nun eingestehen. Doch wenn es nicht normal war, was war es dann?
Lelia erhob sich, als der Bus zum Stehen kam.
Sie wusste nicht, was sie tun sollte, doch sie hatte eine Idee, wer ihr dabei vielleicht helfen könnte …

Der Bus ruckelte über die breite Landstraße auf den Stadtkern zu. Lelia schaute aus dem Fenster. Der strahlend blaue Himmel ging in einem wolkigen Grau über, hie und da platschten dicke Regentropfen auf das Glas, nur an wenigen Stellen riss die Wolkendecke auf. Lelia seufzte und lehnte ihren Kopf gegen das Fenster. Sie hatte Angst davor, nach Hause zu gehen, sie konnte die engelsgleiche Figur einfach nicht vergessen. Was, wenn noch mehr Dinge geschehen werden?, fragte sie sich.
Noch verrücktere Dinge, noch unheimlichere? Worauf lief das alles nur hinaus und wieso war all das von heute auf morgen geschehen? Wieso hatte sich das Haus plötzlich so verändert?
Die Stadt wurde größer. Eine graue Betonwüste erstreckte sich vor dem Mädchen, dicht aneinander gebaute Mehrfamilienhäuser, mit fast fünf oder sechs Etagen, eine gedrängt befahrene Straße, viele Fast Food-Ketten, Geschäfte und Bürogebäude und eine ganze Menge hektischer Menschen, die durch die Straßen zischten, in Läden einbogen und Tüten und Taschen mit sich herumtrugen. Der wolkige Himmel passte zu den eintönigen Bauten, zu dem schmutzigen Asphalt und zu den blassen, gestressten Leuten, die eifrig an ihren Handys telefonierten oder mit schreienden Kindern zu kämpfen hatten.
Der Bus hielt an einer vollen Haltestelle und Lelia quetschte sich hinaus, bevor die Leute hineinströmen konnten.
Vereinzelt fielen Regentropfen vom Himmel, Lelia beeilte sich, bevor es richtig losging.
Sie rannte die beengte Straße entlang, wäre fast mit einer Oma zusammengestoßen und über einen bissigen Hund gefallen, aber sie drosselte ihr Tempo nicht.
Der Spielplatz, an dem sie vorbeilief, war verlassen und wirkte etwas runtergekommen, die grauen Hochhausbauten mit den kleinen Balkonen kamen näher und näher.
Hoffentlich ist jemand Zuhause, betete das Mädchen.
Sie bog in eine enge und lange Seitenstraße ein, Autos parkten am Straßenrand. Endlich erreichte sie das graue Hochhaus mit der Nummer 7- 84 und drückte auf den zweitobersten Klingelknopf.
Bitte lass ihn da sein!, flehte Lelia in Gedanken.
Lass ihn Zeit haben, auch nur für ein paar Minuten!
Eine Stimme ertönte am Lautsprecher und das Mädchen atmete erleichtert aus. Es war genau der, den sie hören wollte.
,, Wer ist denn da?“, fragte die Stimme.
,, Mr. Brown!“, rief Lelia mit wild klopfendem Herzen.
,, Entschuldigen Sie die Störung! Hier ist Lily. Haben Sie vielleicht einen Moment Zeit?“
,, Lily?“, fragte Mr. Browns Stimme erstaunt.
,, Oliver ist leider nicht Zuhause! Er kommt erst am Abend zurück, es tut mir schrecklich leid!“
,, Schon gut!“, entgegnete das Mädchen, das noch erleichterter wurde.
,, Ich möchte eigentlich mit Ihnen sprechen, wenn Sie Zeit haben. Es ist sehr dringlich!“
Eine kleine Weile kam nichts.
,, … so?“, fragte die Stimme dann erstaunt.
,, Nun, dann komm nur hinein!“
Ein unschönes “Drrrrr“ ertönte und Lelia drückte die Tür auf. Der Flur war dunkel und kahl und er wirkte nicht sehr einladend. Das Mädchen ging zum Fahrstuhl, haute ungeduldig auf den Knopf und die Tür glitt auf.
Gut!, dachte sie, während der Lift nach oben ratterte. Mr. Brown hatte anscheinend Zeit und Oliver war glücklicherweise nicht da. So konnte sie den Mann in Ruhe nach den Begebenheiten in ihrem Haus fragen und musste sich keine Sorgen machen, mit ihrem Schulfreund in einen schlimmen Streit zu geraten.
Mr. Brown war ein paranormaler Ermittler, der sich seinem Hobby vollends verschrieben hatte. Die Suche nach Geistern und sein unerschütterlicher Glaube an das Unerklärliche waren so groß, dass eine vernünftige Arbeit für ihn nicht infrage kam.
Immer war er auf der Suche nach neuen, fantastischen Ereignissen, dass er keine Zeit für einen Job und kaum Zeit für seine Familie hatte. Obwohl seine Frau als Sekretärin nicht das meiste verdiente, kaufte er sich dennoch teure Hightech-Geräte und versuchte sie in seiner Freizeit auf paranormale Bedürfnisse abzustimmen. Er hatte schon viele Kameras umgebaut, experimentierte mit Wärmebildern und Infrarot und zimmerte sich sogar einen Geigerzähler zurecht. Oliver hatte die Leidenschaft seines Vaters niemals nachvollziehen können und reagierte immer äußerst aufgebracht, wenn das Thema Geister oder "Paranormal" angesprochen wurde.
Oliver machte seinen Vater persönlich dafür verantwortlich, dass die Familie in einer schäbigen Wohnung in einem Mehrfamilienhaus leben musste, nie in den Urlaub fahren konnte oder besondere Ausflüge machen konnte. Mr. Brown war in den Augen seines Sohnes ein egoistischer, nichtsnutziger Verlierer, der seinen Titel als Doktor der Physik und damit einen gut bezahlten Arbeitsplatz einfach so wegwirft, um einem dummen Hobby nachzugehen.
Lelia konnte nicht umhin, ihrem Kollegen recht zu geben, auch wenn sie Mr. Brown wirklich mochte und sie verstand Olivers aggressive Haltung gegenüber dem Paranormalen.
Umso erleichterter war sie nun, dass der Junge nicht Zuhause war und sie ihn mit ihrem Anliegen nicht auf die Palme bringen musste.

Der Fahrstuhl hielt an und die Tür öffnete sich. Das Mädchen stieg aus, ging den langen Flur entlang, an dessen Ende bereits die Wohnungstür offen stand. Ein dicker weißer Katzenkopf drückte sich durch den Spalt.
Lelia beeilte sich.
Sie lernen es einfach nicht!, dachte sie und verdrehte ihre Augen.
Dieser Kater war schon so viele Male abgehauen und sie hatte ihn mit Oliver, Holly und Malvin mehrfach durch das ganze Haus gejagt, bis er gefangen worden war.
,, Nicht so hastig, Käpt´n Brinks!“, rief das Mädchen, packte das dicke Tier geschickt und wuchtete es auf ihren Arm.
Der Kater miaute träge.
Schritte waren aus der Wohnung zu hören, ein Schatten erschien, und schon wurde die Tür aufgeschoben.
,, Lily!“, sprach Mr. Brown freundlich lächelnd und machte einen Schritt zur Seite, damit das Mädchen eintreten konnte.
,, Oh!“
Seine Augen weiteten sich.
,, Käpt´n Brinks! Wolltest du wieder verschwinden?“
Lelia lächelte und setzte den Kater wieder am Boden ab.
,, Nun, Lily! Wie kann ich dir helfen?“, fragte Mr. Brown und schloss die Tür hinter ihr.
Er war ein hagerer, zur Glatze neigender Mann mit einer dicken Brille und viel zu weiten Hemden. Er machte immer den Eindruck eines verrückten Professors und hatte nichts mit dem engelhaften Aussehen seines Sohnes oder seiner Töchter gemein, die allesamt nach der Mutter kamen.
,, Nun … erstmal Hallo, Mr. Brown und entschuldigen Sie bitte die Störung, aber es gibt da wirklich eine wichtige Angelegenheit, über die ich mit Ihnen sprechen muss.“
Mr. Brown hob die Augenbrauen.
,, Ach so?“, sprach er erstaunt.
,, Mit mir?“
Das Mädchen nickte, doch gerade, als sie beginnen wollte und in die Augen des verwunderten Mannes sah, da kam sie sich plötzlich dumm vor. Sie fühlte sich seltsam, ihre Gedanken zu äußern. Niemals hätte sie damit gerechnet, dass sie mal nach einem Gespräch mit Mr. Brown suchen würde.
Der Mann sah sie genauer an, was Lelia unangenehm war. Am liebsten hätte sie sich für die gestohlene Zeit entschuldigt und wäre gegangen. Sie kam sich einfach verrückt vor, überhaupt hierher gekommen zu sein, doch wenn sie nun nach Hause ginge, was wäre dann? Sie dachte an die Figur und ihr Magen zog sich zusammen.
,, Wie erkennt man …“, begann sie schließlich und Mr. Brown horchte auf.
,, …, dass es bei … jemandem Zuhause … spukt?“
Die Worte kamen nur schwer über ihre Lippen. Sie hatte das Gefühl, sich als verschwörerischen Volldeppen abgestempelt zu haben. Leute, die an Geister glaubten, waren immer Freaks für sie gewesen und die Tatsache, dass sie nun Olivers Dad aufgesucht hatte und mit ihm ein ernsthaftes Gespräch über das Paranormale führen wollte, ließ sie ebenfalls in diese Freakspalte rutschen.
Sie schluckte, als Mr. Brown ihr einen scharfen Blick zuwarf.
,, Nun …“, sagte er und kratzte sich am Kopf.
,, Ich muss zugeben, dass ich etwas überrascht bin …“
Er seufzte.
,, Damit habe ich nun wirklich nicht gerechnet!“
Er drehte Lelia den Rücken zu und ging den Korridor entlang.
,, Komm mit, Lily! Setzten wir uns in mein Arbeitszimmer!“
Beklommen folgte sie dem Mann. Sie hätte nicht gedacht, dass es so unangenehm war, Mr. Brown von ihrem Verdacht zu berichten. Sie kam sich so verrückt vor.
Das Mädchen lief durch den schmalen Flur, an der dunklen Küche vorbei, in das beengte, aber für die Verhältnisse recht gemütliche Wohnzimmer.
Sie bogen nach links und Mr. Brown öffnete sein Arbeitszimmer. Es war klein, unordentlich und vollgestopft. An allen Wänden waren Bücheregale, prall gefüllt mit Wälzern über Geister, aus dem mickrigen Fenster drang kaum Licht, die Funzel über den unordentlichen Schreibtisch war auch nicht hilfreicher. Überall lagen Zettel herum, stapelten sich auf einem wackeligen Haufen oder waren scheinbar wahllos an die Tür gepinnt. Alles war voller Kritzeleien, Zeichnungen und Rechnungen. In der Ecke standen große, schwarze Koffer und Kabelrollen.
Mr. Brown wuselte um seinen Schreibtisch herum und ließ sich nieder, dann bot er Lelia einen Stuhl an.
,, Nun gut, Lily!“, sagte er schließlich, als er das verlegene Mädchen musterte.
,, Du möchtest also von mir Einblicke in das Paranormale bekommen?“
Lelias Wangen färbten sich rot. Sie kam sich so lächerlich vor, doch da musste sie jetzt durch.
,, Naja … Ich möchte eigentlich nur wissen, woran man überhaupt erkennt, dass es … bei jemandem spukt …“
Mr. Brown legte den Kopf schräg.
,, Soso …“, murmelte er.
,, Darf ich fragen, warum? Es hat mir nie den Eindruck gemacht, dass du dich für diese Form von Wissenschaft interessierst.“
Dem Mädchen wurde immer wärmer. So etwas überhaupt Wissenschaft zu nennen, war lächerlich.
,, Ich interessiere mich nicht dafür!“, sagte sie deshalb, obwohl sie gar nicht so hart klingen wollte.
,, Es ist … im Grunde nur eine Frage. Es ist schwierig zu erklären …“
Sie druckste herum, wusste nicht, wie sie am besten erklären konnte, dass sie sich immer noch von ganzem Herzen von diesem Thema entfernte und sich keineswegs dafür begeisterte.
Mr. Brown lächelte dann.
,, Du musst dich nicht schämen“, sprach er sanft.
,, Das Paranormale wird von vielen Menschen nicht akzeptiert und die Arbeit von paranormalen Ermittlern findet in der Gesellschaft nur wenig Begeisterung und Interesse. Dennoch arbeite ich hart daran, die Menschen irgendwann von meiner Arbeit zu überzeugen und unumstößliche Beweise für Geister zu finden, weil ich ganz fest daran glaube, dass es etwas gibt, dass wir nicht erklären können. Die meisten Menschen sind Skeptiker, Lily! Oliver, meine Frau und die Mädchen sind es, du bist einer und viele andere auch, aber manchmal geschehen auch solchen Menschen mal Dinge, die sie sich unter normalen Gegebenheiten einfach nicht erklären können. Denen möchten wir helfen! Das heißt nicht, dass diese Leute plötzlich verrückt sind, auch wenn sie es denken, weil sie von anderen ausgelacht werden. Natürlich haben diese Menschen Hemmungen ihre Erlebnisse mitzuteilen, doch bis jetzt konnte ich noch jedem die Angst nehmen und jedem helfen, der um Hilfe gebeten hat.“
Er blickte weiterhin auf Lelia, die immer noch rot war und ihrem Gegenüber nur kurze, schnelle Blicke zuwarf.
,, Du glaubst vielleicht, dass diese Leute eine Meise hatten, und bei manchen dürftest du damit auch richtig liegen, doch es gab auch Leute, die haben rational gedacht, waren skeptisch und sehr überlegt, genau, wie du. Es ist also nicht nötig, dass du dich schämst …“
Er lächelte wieder.
,, Ich werde Oliver nichts davon erzählen!“
Endlich konnte Lelia das Lächeln erwidern. Mr. Browns Worte beruhigten sie etwas und machten sie sicherer. Es war nichts dabei, hier zu sitzen, dachte sie. Ihre Großtante hatte schließlich auch einmal gesagt, dass es durchaus lohnenswert sei, sich auch mal in anderen Gebieten Wissen anzueignen.
,, Also, Lily!“, redete der Mann und faltete seine Hände.
,, Wie kann ich dir helfen?“
So erzählte Lelia einen Teil der seltsamen Begebenheiten in ihrem Haus. Sie berichtete von der Tür und dem Fenster und von dem unguten Gefühl, das sich immer in ihr breitmachte, wenn sie in ihrem Zimmer war. Den eigentlichen Grund, nämlich die Figur, verschwieg sie. Selbst für jemanden wie Mr. Brown war das zu heftig.
,, Nun …“, sagte Mr. Brown, als Lelia geendet hatte.
,, Sicher können solche Dinge natürliche Ursachen haben. Die Sache mit dem verzogenen Schloss, das immer wieder offen geht, sollte auf alle Fälle erst untersucht werden, bevor man auf etwas Paranormales schließen darf.“
Lelia nickte.
,, Und sollte das Schloss in Ordnung sein? Sollte es wirklich ganz sicher sein, dass in meinem Haus etwas vor sich geht, was könnte man tun?“, fragte sie und hoffte inständig, dass der Mann ihre Dringlichkeit in der Stimme nicht bemerkte.
,, Um auf paranormale Aktivitäten zu schließen, müssen zunächst Beweise gesammelt werden!“, entgegnete er.
,, Das kann man auf verschiedene Arten machen!“
Er erhob sich und schritt zu den schwarzen Koffern, Lelia folgte ihm mit einem skeptischen Blick. Er öffnete einen Koffer, zog eine Kamera heraus, klemmte sie sich unter dem Arm und griff noch nach einem kleinen Bildschirm. Er verband die Kamera und den Bildschirm mit einem kleinen Kabel und drückte auf den Knopf.
Dann hielt er dem Mädchen den Winzmonitor hin, auf dem lauter bunter Farben zu erkennen waren.
,, Es gibt Wärmebildaufnahmen, auf denen man, wenn man Glück hat, etwas Spektakuläres erkennen kann!“
Er deutete auf eine Farbskala an der rechten Seite des Bildschirms.
,, Heiße Stellen sind gelb, orange, rot … weiß ist das Heißeste! Kalt wiederum sind Farben, wie Lila, Blau und Schwarz. Diese Kamera ist nicht einfach zu bedienen, jedoch sehr nützlich.“
Er machte die Kamera aus, packte sie in den Koffer zurück und holte danach ein schwarzes rechteckiges Gerät heraus, das wirkte, wie ein dicker Taschenrechner.
Er zeigte es Lelia. Ein Display mit digitalen Ziffern, sicherlich kein Taschenrechner.
,, Damit kann man EMF-Werte messen, was soviel bedeutet, wie elektromagnetisches Feld! Es heißt, dass EMF-Werte schwanken oder unvermutet in die Höhe schießen, sollte ein Geist anwesend sein, allerdings sollte man erst sicher gehen, dass keine Strahlung von undichten Kabeln oder Elektrogeräten ausgeht. Man ermittelt immer zuerst den Grundwert. Der kann zwischen 0,1 bis 0,7 Milligauß liegen.“
Er zeigte auf das Display, auf dem die Zahl 0,3 zu lesen war. Wieder schaltete er das Gerät aus und packte es in den Koffer, den er ordentlich verschloss.
Er räusperte sich und redete weiter:
,, Dann gibt es noch EVP´s. Das ist die Abkürzung für Electronic Voice Phenomenon. Das sind Tonbandstimmen. Es heißt, dass Geister auf einer Frequenz kommunizieren, die für das bloße Gehör nicht zu erfassen ist. Diese Frequenz kann jedoch von dem Tonbandgerät eingefangen werden. Man bringt die Geister durch gezieltes Fragen dazu, sich bemerkbar zu machen und wenn man Glück hat, bekommt man sogar eine direkte Antwort. Auch Kameras und Fotoapparate können Dinge festhalten, die mit dem bloßen Auge nicht zu sehen sind.“
Er erhob sich und schritt zu einem Bücherregal, aus dem er einen dicken Wälzer zog und auf den Schreibtisch klatschte.
Lelia sah es sich an. Es schien ein Fotoalbum zu sein.
,, Hier!“, meinte er und schlug es auf.
Das Mädchen hob die Brauen.
Die Bilder waren wahllos geschossen worden, so schien es. Der Hintergrund war dunkel, mal war ein Geländer zu sehen, dann nur eine Wand, doch immer war ein dicker, heller Punkt zu erkennen, manchmal sogar drei oder mehr als zehn.
,, So etwas wird häufig in einem Haus mit paranormaler Aktivität festgehalten.“
Er deutete auf die dicken Punkte.
,, Man nennt sie Orbs! Orbs sind Energieansammlungen und keine Geister und sind daher nicht sehr beeindruckend, doch manchmal deuten sie tatsächlich auf paranormale Aktivitäten hin, denn Geister benötigen Energie, wenn sie erscheinen. Es kommt sogar vor, dass sie die Energie aus Batterien oder Akkus ziehen, wodurch Kameras ausgehen oder Fotoapparate nicht mehr funktionieren!“
Lelia nickte langsam, den Blick immer noch auf das Foto gerichtet.
,, Und das ist also ein Orb? Ich habe solche Dinger auch mal auf Fotos gehabt … gibt es die überall?“
Mr. Brown schüttelte den Kopf.
,, Die Sache mit den Orbs ist recht kompliziert. Staub, an dem sich Licht bricht, Spiegelungen oder Insekten können das gleiche Phänomen hervorrufen, wie auf dem Bild hier.“
Wieder tippte sein Finger auf die helle Kugel.
,, Darum ist es kompliziert, einen echten Orb, zu erkennen! Das Auge wird auf eine harte Probe gestellt!“
Lelia nickte. Im Grunde waren diese Dinger auf den Fotos auch nichts anderes als Staub oder Käfer für sie.
,, Beim Erkennen von Orbs sollte man auf die drei Grundregeln zurückgreifen. Ein Orb sollte eine perfekte Kugelform besitzen, eigenständig Licht aussenden und eine individuelle Flugbahn besitzen! Trotzdem streiten sich Experten immer noch darum, was jetzt ein Orb ist, oder ein Käfer, und ob es Orbs überhaupt gibt. Eine schwierige Sache …“
Er seufzte und schlug das Album wieder zu.
Lelia starrte immer noch gebannt auf das Buch, sie atmete tief durch.
,, Können Geister gefährlich sein?“, fragte sie dann plötzlich und sah auf.
,, Und was können Geister alles bewirken?“
Sie konnte nichts dagegen tun, doch das Bild des bleichen Mannes mit den schwarzen Augen drängte sich in ihr Bewusstsein und ließ ihr Herz schmerzhaft schlagen.
Mr. Brown lehnte sich in seinem Stuhl zurück und musterte Lelia intensiv.
,, Was Geister bewirken können …“, seufzte er.
,, Da gibt es eine ganze Menge an Dingen: Sie können Gegenstände bewegen, Türen öffnen, sie lassen Kältequellen entstehen, sie können sogar einen Menschen berühren, ihn schlagen, kratzen oder schubsen. Manche Geister lassen einen Menschen besondere Gerüche wahrnehmen, oder spezielle Melodien hören.“
Lelia schluckte.
Einige Dinge waren äußerst treffend und passten perfekt zu dem Mädchen nach Hause. Langsam aber sicher bekam sie wirklich Angst und die Sache mit den Geistern kam ihr gar nicht mehr so albern vor.
,, Und was deine erste Frage betrifft …“, sprach Mr. Brown weiter.
,, Man unterscheidet gewisse Arten von Geistern. Es gibt menschliche Geister und nichtmenschliche Geister. Menschliche Geister unterscheidet man wiederum in ortsbezogene Geister und intelligente. Ortsbezogene Geister wiederholen immer zur gleichen Zeit immer dieselbe Aktivität. Sie gehen immer einen ganz gewissen Weg, egal, ob man eine Mauer hochzieht, oder das Haus bis auf das Fundament abreißt. Diese Geister bemerken die Menschen nicht, sie merken vielleicht nicht einmal, dass sie überhaupt tot sind. Mit diesen Geistern lässt es sich aushalten, sie sind nicht gefährlich. Die intelligenten Geister sind da anders. Sie bemerken die Menschen und interagieren mit ihnen. Sie können tatsächlich mit den Menschen in Kotakt treten, können sie berühren oder Gegenstände bewegen. Ich möchte nicht sagen, dass diese Geister gefährlich werden können. Es ist einfach wichtig, dass man sich nicht von ihnen verdrängen lässt! Man muss ihnen klar machen, dass das Haus nicht ihnen gehört, sondern uns und dass man für sein Zuhause kämpfen will. Man muss den Geist in seine Schranken weisen!“
Lelia nickte, ohne es zu merken, saß sie aufrecht und lauschte gespannt. Sie saugte jedes Wort auf, alles, was ihr helfen konnte.
Auch Mr. Brown setzte sich wieder gerade hin.
,, Gefährlich könnte durchaus eine andere Art von Geist sein!“, sprach er weiter und Lelia schluckte.
,, Nämlich der nichtmenschliche Geist, oder anders ausgedrückt: der Dämon!“
Das Mädchen merkte, wie eine Gänsehaut sie ergriff. Ihr Herz machte einen besonders schmerzhaften Schlag.
,, Nun … Dämonen sind besonders rätselhaft und ich hatte auch so gut wie nie einen Fall gehabt, in dem ein Dämon gewütet hatte. Sie greifen Menschen an, sie können einen erwachsenen Mann zu Boden werfen, sie können bis zu 150 Kilo bewegen, während ein menschlicher Geist höchstens 5 Kilo schafft. Es sind beängstigende Geschöpfe, die durch Segnung des Hauses und Austreibungen bekämpft werden können.“
Lelia nickte langsam. Das Bild dieses blassen vernarbten Mannes hatte sich in ihr Hirn eingebrannt, ließ ihr keine Ruhe. All die Dinge, die ihr geschehen waren. Könnten das Werke von Geistern gewesen sein? War so etwas möglich? Gab es das wirklich?
,, Wieso tun Geister so etwas? Wieso tauchen sie plötzlich auf?“, fragte das Mädchen leise.
Mr. Brown seufzte.
,, Wenn ich das wüsste, dann wäre ich schon berühmt …“, lächelte er.
,, Es gibt Geister, die sich an Gegenstände heften, weil sie eine besondere Beziehung dazu haben. Wenn man diesen Gegenstand aus dem Haus entfernt, dann ist es möglich, dass auch der Geist wieder verschwindet. Es kommt aber auch vor, dass sich ein Geist an eine Person haftet!“
Wieder wurde Lelia unangenehm kalt. Der bleiche Mann in ihren Gedanken grinste ihr böse zu.


Träume über Träume




Der Himmel war noch finsterer, als am Mittag, die Wolken erschienen schwer und das Wetter drückte auf das Gemüt des Mädchens.
Sie saß im Bus und war auf dem Weg nach Hause. Ihr Magen fühlte sich flau an, die Worte von Mr. Brown schwirrten in ihrem Kopf herum. Sie hatten einen wirklich bleibenden Eindruck hinterlassen. Das hätte Lelia niemals erwartet. Warum nur schaltete sich ihr rationales Denken nicht mehr ein? Weshalb wurde sie mehr und mehr von diesen unheimlichen Gedanken beherrscht.
Sie schluckte und blickte in den schwarzen Himmel.
Mr. Browns Beschreibungen passten sehr gut zu den Begebenheiten bei ihr Zuhause. Die Melodie der Figur, die Tür die immer aufging, und das ständige Gefühl jemandem, oder etwas ausgeliefert zu sein, all das passte einfach zu genau!
Lelia strich sich ihre goldenen Strähnen aus dem Gesicht, als sie merkte, dass ihre Hand zitterte.
Immer und immer wieder sah sie das bleiche Gesicht des Mannes vor sich, als hätte er sich heimlich in ihre Gedanken geschlichen, um sie zu beherrschen. Sie konnte es einfach nicht aus ihrem Kopf bannen.
Ständig wirbelten Mr. Browns Worte in ihr herum, es waren nur Bruchstücke, Schlagworte. Dauernd kam ihr Gefahr in den Sinn. Sie dachte an die Begebenheiten in ihrer Klasse, bei denen sie zwei Mal den blassen Mann gesehen hatte und schon hörte sie die Worte: Geister, die sich an Personen haften. Sie sah den starrenden Blick aus seinen tiefschwarzen Augen, sein unheimliches, bösartiges Lächeln, und eine Stimme in ihr schrie immer wieder: Dämon!
,, Was ist nur los …?“, hauchte Lelia und konnte einfach nicht glauben, dass sie von einer Angst beherrscht wurde, die sie sich niemals hätte vorstellen können.
Ihr wurde schlecht bei dem Gedanken, dass sie wieder nach Hause musste, obwohl es im Grunde doch unsinnig war, sich so verrückt zu machen. Es gab keine Beweise, ihre Großtante sagte nichts … Sie musste sich einfach wieder beruhigen.
Ihr Herz schlug wild und tat immer noch weh.

Es war noch Zeit bis zum Abendessen und Lelia wusste nicht, ob ihre Großtante schon Zuhause war. Sie hoffte inständig, dass der Jeep auf dem Hof stand, wenn sie ihr Haus erreichte.
Ein schwerer und kühler Wind blies dem Mädchen entgegen, wie ein kalter Atem. Sie seufzte.
Was sollte sie nur tun, wenn ihre Großtante noch nicht da war? Konnte sie einfach ins Haus hineingehen, ohne dass sie gleich Angstzustände bekam? Um zu den Thompsons zu gehen, war es schon zu spät und draußen bleiben wäre auch Unsinn, zumal es sicherlich bald zu regnen anfing.
Ich darf mich nicht so anstellen!, schalt sie sich.
Sicher hatte sie das Gefühl gehabt, dass ihre Großtante sie nicht mehr gerne alleine Zuhause ließ, doch das könnte wirklich andere Gründe haben. Sie redete sich einfach zu viel ein und das Gespräch mit Mr. Brown hatte sie noch zusätzlich aufgewühlt.
Lelia bog um die Ecke und konnte ihr Haus erkennen, sie ging etwas schneller und spähte auf den Hof. Es war kein Jeep zu sehen. Sie schluckte.
Sie wusste einfach nicht mehr, was sie denken sollte …

Nach ein wenig gutem Zureden steckte sie den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Haustür. Das ist mein Zuhause!, dachte sie energisch.
Was ist denn nur los mit mir?! Ich darf mich nicht so verrückt machen lassen! Ich darf mir nichts einreden und mich in irgendwelchen Horrorfantasien verlieren! Langsam muss wirklich Schluss sein!
Das Mädchen betrat den Hausflur. Er war dunkel und schattenhaft, doch sie ließ sich nicht von dieser unheimlichen Atmosphäre abschrecken. Sie war ein erwachsener Mensch und kein ängstliches Kindergartenkind!
Lelia zog sich ihre Schuhe aus, stellte sie in das kleine Regal und wanderte durch das Haus. Ich lasse mir keine Angst einjagen!, sagte sie immer wieder in Gedanken.
Ich muss mal wieder klar im Kopf werden!
Ihre Beine trugen sie ins Esszimmer, die Tür zu der kleinen Treppe, die in ihr Zimmer führte, war angelehnt. Lelia starrte sie an und eine Gänsehaut erfasste sie wieder.
All die Jahre war sie die Stufen dieser Treppe hinuntergestiegen, ohne sich auch nur den kleinsten Gedanken gemacht zu haben. Nie war etwas dort geschehen, nie hatte der Anblick dieses kleinen Ganges solch merkwürdige Gefühle in ihr aufsteigen lassen.
Ein Kribbeln war in ihrem Bauch und in ihrer Brust. Ihr Herz schien so aufgebracht, wie noch nie. Sie wollte sie beruhigen, doch sie wurde von ihren Gefühlen übermannt, beherrscht.
,, Schluss jetzt!“, zischte sie.
,, Langsam wird es albern!“
Sicheren Schrittes ging sie auf die Tür zur kleinen Treppe zu, schob sie weiter auf und blickte über die Stufen hinweg, auf ihre weit offene Zimmertür.
Sie biss die Zähne zusammen. Vielleicht hatte der Wind sie weiter aufgeschoben. Sie sollte wohl besser wieder den Schreibtischstuhl davor stellen.
Sie atmete tief durch und stieg ruhig und gefasst die Stufen hinauf.
Ich brauche mich vor nichts zu fürchten. Ich steigere mich jetzt nicht in irgendetwas hinein!
Sie ging weiter und spürte, obwohl sie sich wirklich zu beruhigen versuchte, dass ihr Herz immer schneller und heftiger schlug, mit jeder Stufe.
,, Das ist irre!“, hauchte sie und setzte ihren Fuß wieder höher.
Dann geschah es.
Sie blieb steif stehen, ein Kribbeln ging durch ihren Körper, wie sie es noch nie vorher erlebt hatte, eine angenehme Wärme breitete sich um sie herum aus, legte sich auf ihre Haut, schmiegte sich an sie, wie eine Umarmung. Es strich über ihre Arme, Schultern, über ihre Wangen und sie schien es einzuatmen, dieses unbeschreibliche Gefühl.
Angst war wie weggewischt, sie fühlte sich geborgen, ihr Herz schlug laut und verzückt.
Oh, meine Sehnsucht bringt mich um den Verstand! Meine Liebste, wie schmerzt mich dieser flüchtige Augenblick, bevor sich unsere Herzen wieder trennen. Warum möge er nicht ewig währen? Sei es mir vergönnt, dich zu berühren, bevor dich die Dunkelheit wieder verschlingt …
Es polterte und ein übler Schmerz zuckte durch Lelias Knie, riss sie aus diesem seltsamen Traum.
Zitternd schlug sie die Augen auf. Sie kniete auf den Stufen der kleinen Treppe, blickte sich verstört und hektisch um.
Was war das?!, fragte sie sich und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Ihre Beine zitterten, sie konnte einfach nicht aufstehen und sie begriff nicht, was eben geschehen war.
,, Himmel, war das komisch!“, keuchte sie.
Sie war außer Atem, als wäre sie gerade eine weite Strecke gerannt. Was war das?!
Schwerfällig schaffte sie es wieder auf die Beine, doch immer noch waren sie wackelig, ihre Knie schmerzten von dem Sturz, den sie kaum mitbekommen hatte.
Sie schluckte.
War das eben eine Ohnmachtsattacke?, fragte sie sich.
Warum hatte es sich so eigenartig angefühlt? So fremd, doch gleichzeitig so schön? Was hatte diese Stimme zu bedeuten und die Worte, die sie gesprochen hatte?
Sie klang so leise und sanft.
Lelia schloss kurz die Augen und schwankte noch etwas. Sie kannte die Stimme. Es war genau die Stimme, die in ihren Träumen sprach, quasi Lelias Stimme im Traum.
Was hatte das nur alles zu bedeuten?
Das Kribbeln war verschwunden. Die guten und beflügelnden Gefühle ebenfalls. Alles war wieder normal.
Ich lege mich am besten hin …, dachte Lelia und stieg die Stufen hinauf, doch da bemerkte sie, dass die Tür zu ihrem Zimmer geschlossen war.

Rücklings lag das Mädchen auf ihrem Bett, ihr Herzschlag hatte sich beruhigt, doch ihre Gedanken waren wie tausend tobende Stürme.
Alles wehte durcheinander, alle Empfindungen, alle Grübeleien, Bilder und Ideen und jede von ihnen schien in einem Strudel aus Ahnungslosigkeit zu verschwinden.
Lelia wusste nicht mehr weiter und das machte sie fast wahnsinnig. Was war hier los? Warum konnte ihr denn keiner helfen? Wieso konnte ihr denn niemand sagen, was geschah?
Sie drehte sich zur Seite und starrte aus dem Fenster, auf dem nun dickte Regentropfen prasselten.
Das Mädchen beschloss darüber nachzudenken, alles noch einmal genau zu analysieren. Sie wollte darüber schlafen, bevor sie sich in irgendetwas verrann. Sollte es so weitergehen, dann musste sie ihre Großtante einfach darauf ansprechen und sicherlich würde sie nicht locker lassen, bis sie eine vernünftige Antwort bekommen hatte. Fest stand zumindest eines: Lange machte sie das nicht mehr mit …

Als Großtante Lea nach Hause kam, hatte sich Lelia schon umgezogen und sah fern, auch wenn sie sich kaum auf das laufende Programm konzentrieren konnte.
Sie lauschte den Schritten ihrer Großtante, dem Summen, und wartete darauf, dass die Alte, wie immer, ihre Schuhe in die Ecke kickte.
Diesmal blieb das Geräusch jedoch aus. Auch das Summen erstarb plötzlich und ging in schnellen Schritten unter, die sich scheinbar auf die Treppe zubewegten.
Nanu?, dachte das Mädchen und runzelte die Stirn.
Wie untypisch für sie, einfach so mit Straßenschuhen durch das Haus zu laufen. Vielleicht musste sie ja dringend auf die Toilette.
Sie legte sich wieder zurück auf ihr Kissen und hörte das Poltern Treppe aufwärts.
Dann kam ihr ein anderer Gedanke.
Vielleicht …, überlegte sie, hatte sie meinen Schlüssel und meine Schuhe unten gesehen und läuft nun hoch, um nach mir zu sehen.
Nur warum?
Lelias Herz klopfte schneller.
Wer weiß, warum …
Wieder schossen ihr unheimliche Bilder im Kopf umher, Gefühle, Idee, doch sie wollte sich nicht wieder von ihnen beherrschen lassen.
Das ist doch Unsinn!, dachte sie unwirsch.
Sicherlich hatte sie ihre Notdurft zu verrichten, das hatte nichts mit mir zu tun. Sie geht sicherlich gleich in ihr Zimmer und-
Lelias Gedanken brachen ab, nun saß sie aufrecht, denn die Schritte entfernten sich nicht von ihr, sie kamen direkt auf sie zu!
,, Was zum-?“, keuchte sie auf, doch da klopfte es schon kräftig an die Tür.
,, Lily?!“, rief Leas Stimme.
,, Bist du da?!“
,, Ja!“, meinte das Mädchen verblüfft.
,, Komm rein!“
Die Tür schwang auf und die Alte trat ein.
,, Du bist schon zurück?“, fragte sie, kaum war sie über die Türschwelle getreten.
,, So früh?“
Lelia runzelte die Stirn.
,, Ist das ein Problem?“, entgegnete sie scharf und musterte Leas müdes Gesicht.
Die Alte seufzte.
,, Nein … Natürlich nicht! Ich dachte nur, dass du ein bisschen länger bei deiner Freundin bleiben möchtest. Ihr habt euch doch nicht gestritten, oder?“
Lelia schüttelte den Kopf.
,, Ich war gar nicht da.“
,, Nicht?!“
Langsam wurde es dem Mädchen zu viel.
,, Mir war nicht danach, Tantchen. Wo liegt das Problem? Kann ich nicht einfach Zuhause bleiben?“
Langsam ging ihr das Verhalten Leas auf die Nerven. Da stimmte doch etwas nicht, es war doch vollkommen offensichtlich.
,, Sicher kannst du das!“, knurrte die Alte zurück und wühlte in ihrer Tasche nach der Pfeife.
,, Ich dachte nur, dass es dir vielleicht nicht gut geht und du deshalb nach Hause gegangen bist!“
,, Mir fehlt nichts!“, kam als Antwort.
,, Aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass es dir nicht passt, dass ich allein Zuhause bin. Hat das einen besonderen Grund?“
Die Alte starrte ihre Nichte unverwandt an.
,, Was redest du denn da? Hast du nicht gut geschlafen, Lily?“
,, Doch! Mir kommt dein Verhalten nur seltsam vor. Ich denke schon fast, dass du mir etwas verheimlichst!“
Nun wirkte Lea amüsiert.
,, Ach so?!“, krächzte sie und grinste.
,, Was soll ich dir denn verheimlichen, Lily? Was glaubst du, will ich vor dir verbergen? Du darfst überall hin und überall dran.“
,, Ja schon!“, rief das Mädchen und rang nach Worten.
,, Es ist einfach … naja … die Gesamtsituation! Ich weiß nicht, wie ich sagen soll!“
Lea seufzte wieder.
,, Du kannst tun und lassen, was du willst!“, redete sie.
,, Mach dich mit so dummen Gedanken nicht so fertig. Du kannst mir alles erklären und alles sagen und dann werden wir zusammen nach einer Lösung suchen!“
Sie drehte sich um und ging einfach aus dem Zimmer.
Lelia starrte ihr nach.
Alles war komisch …

Es war noch recht früh, doch Lelia konnte ihre Augen kaum noch offen halten und fiel schnell in einen festen Schlaf.
Wieder war ihr Blickfeld seltsam eingeschränkt, ihr Herz klopfte leidenschaftlich, in süßen Erinnerungen schwelgend, dann wieder wehmütig und verzweifelt.
In tiefer Trance wandle ich umher, vom Tode umgeben. Ich sehne mich nach deinem süßen Blick, schreie nach Erbarmen, doch noch immer bin ich allein.
Mein Herr geht seinen Weg, die Stille ist sein Begleiter. Der Tod umhüllt uns mit undurchdringlichen Schatten …
Flammen loderten, Trümmer und Dreck taten sich auf. Nichts war zu sehen, außer Feuer.
Lelia schreckte aus ihrem Traum.
Es war tiefste Nacht, alles dunkel und still. Das Mädchen zog ihre Bettdecke höher, die Leere ihres Zimmers umfing sie, die Lautlosigkeit war unheimlich. Fast traute sie sich nicht einmal, sich in ihrem Bett zu drehen.
Der Mond schien auf sie herab, doch anders als sonst, war sein Anblick einschläfernd und beruhigend. Das Licht nervte sie nicht, sondern gab ihr Sicherheit und Zuversicht.
Ihre Augen fielen wieder zu, doch der Mond leuchtete weiter.
Er war ein strahlend heller Punkt, an dem tiefschwarzen Nachthimmel und erinnerte an die Fotos, die Mr. Brown Lelia gezeigt hatte. Der Mond sah aus, wie ein dicker Orb.

Erschaffer der Welt,
höret mein Flehen,
mein sehnlichster Wunsch
an Euch gericht´.
Ihr, die Ihr uns gebart,
uns beschenkt habt
mit Verstand,
mit Liebe und Freud.
Wir ersuchen Euch,
Eure Gunst,
Euer Erbarmen,
in schwerer Stund.
Errettet uns aus dieser Not,
Eure Kinder weinen,
Euer Werk zerrinnt.
Sendet uns voll Huld
und Milde,
ein Lichtstrahl aus Euren Königreich.
Leitet unseren Geist,
stärkt unser Herz,
bereitet uns ein ander´ Geschick.
Erschaffer der Welt,
sendet den Engel,
unser einzig Licht,
die letzte Hoffnung
eurer sterbenden Kinder…

Als Lelia die Augen aufschlug, war es schon Morgen. Sie bewegte sich nicht, starrte zur Decke hinauf.
In ihren Augenwinkeln brannte es und sie spürte, dass Tränen hinunter rannen.


Nichts gelingt




Die Tage vergingen und Lelia wurde nachdenklicher und schweigsamer. Oft hatte sie sich in ihrem Zimmer zurückgezogen, starrte zum Himmel, lehnte ihre Stirn gegen die Fensterscheibe.
Die Träume kamen häufiger als sonst, die Tür öffnete sich und schloss sich wieder, doch glücklicherweise hatte sie zumindest das Lied nicht mehr gehört. Selbst die Engelsfigur hatte ihre Augen geschlossen, was das Mädchen sehr beruhigte. Mittlerweile ging sie nur noch in den Laden, wenn auch ihre Großtante dabei war.
Allerdings schien es, als würde die Alte kaum noch dieses Grundstück verlassen.
Lelia sagte nichts mehr dazu. Sie hatte das Gefühl, als entglitt ihr alles. Die überschaubare Welt, das zufriedenstellende Leben und alles, was sie immer unter Kontrolle geglaubt hatte, schien fremdartiger und verzerrter.
Es war, als hätte sie als Einzige eine wichtige Erkenntnis versäumt, die das Leben hatte weitergehen lassen und alle anderen hätten sie gehört. Sie hatte das Gefühl, einfach stehen geblieben zu sein, blind und taub, während um sie herum Unglaubliches geschah.
Das Beängstigendste jedoch war, dass nicht einmal ihre Gedanken davor haltmachten, dem Mädchen zu entrinnen.
Immer wieder hatte sie dieses Licht vor Augen, die sanfte Stimme, die zu den Erschaffern der Welt sprach, auch wenn Lelia keine Ahnung hatte, was das zu bedeuten hatte.
Dieser Traum hatte sie aufgewühlt, getroffen und bewegt und sie konnte sich nicht erklären, warum. Was ging nur vor hier? Was geschah mit ihr?
Die Gedanken ließen ihr keine Ruhe, bereiteten ihr Kopfschmerzen und ihr kam jede Art der Abwechslung gelegen. Sie hatte sogar den Nackenbeißer von Holly gelesen: Der Kuss des einsamen Kriegers.
Der Romanheld war scheußlich, seine Geliebte war eine dumme Gans und Lelia fand das Buch zum Würgen.
Immerhin, dachte sie, als sie es angeekelt in ihr Regal stellte, bin ich noch nicht so verrückt geworden, dass ich es gut finde!

Der März ging langsam auf sein Ende zu, die Frühjahrsferien begannen bald, und der Ball rückte ebenfalls näher.
Hätte sie Holly nicht versprochen dort hinzugehen, dann hätte sie sich krank gestellt …
Die Sonne schien und der Himmel war wundervoll blau, Lelia saß wieder oben in ihrem Zimmer und machte Hausaufgaben, die Holly ihr vorbeigebracht hatte.
Glücklicherweise schienen Lelias andere Schulkameraden ihren Ausbruch in der Klasse nicht so eng zu sehen und schoben ihn auf den Stress, wegen der Vorbereitungen für die Prüfungen.
Viele seien schon in Ohnmacht gefallen, oder hatten angefangen zu weinen.
Das Mädchen kritzelte ihre Matheaufgaben nieder, schaute hin und wieder seufzend aus dem Fenster und versuchte aufkommende Gedanken zu verdrängen.
Leb dein Leben, Lily!, sagte sie sich immer zu.
Mach dich nicht verrückt und leb einfach dein Leben …
Es klopfte an der Tür und Großtante Lea kam hinein.
,, Na? Hunger?“, fragte sie und stieß einen gewaltigen Rauchschwall aus ihrer Pfeife.
Sie schien etwas dünner geworden zu sein und sah weiterhin so aus, als hätte sie in den letzten Tagen nicht den meisten Schlaf bekommen, selbst ihr Grinsen war nicht mehr so einnehmend herzlich wie sonst.
Lelia fragte sie nicht mehr danach. Sie bekam ohnehin keine Antwort.
,, Klar hab ich Hunger, du kennst mich doch!“, lächelte sie zurück und erhob sich von ihrem Schreibtischstuhl.
Sie fasste ihn, trug ihn zur Tür zur kleinen Treppe, und lehnte ihn dagegen. Lea folgte der Verrichtung mit einem müden Blick.

Es gab Lelias Lieblingsessen, Hamburger mit Pommes frites und sie haute rein. Ihre Großtante rauchte Pfeife, aß gekochten Kohl und trank ihren geliebten Kräutertee.
,, Du triffst dich morgen mit deiner Affenbande?“, fragte die Alte dann und Lelia blickte auf.
Sie biss gerade ein Stück von ihrem Hamburger ab und wollte antworten, aber Lea hob die Hand.
,, Wage es bloß nicht, jetzt zu sprechen! Du wunderst dich, warum du fast jeden Tag beim Essen erstickst?! Nicht einmal Schlangen schlingen so!“
Lelia verdrehte die Augen, kaute und schluckte runter.
,, Dass du immer gleich so ausfallend wirst …“, murmelte das Mädchen und blickte bockig drein.
,, Ich esse nicht, wie eine Schlage!“
,, HA!“, prustete die Alte los.
,, Ich sollte dich beim Essen mal filmen! Wenn du richtig in Fahrt bist, dann könntest du sogar einen ganzen Ochsen runterwürgen!“
Lelia errötete.
,, Schon gut schon gut … hab ja schon kapiert …“
Sie knabberte übertrieben affektiert an einem Pommes.
,, Ja, ich treffe mich morgen übrigens mit meiner Affenbande. Wir gehen in die Stadt und zur Eisdiele. Das Wetter ist echt herrlich und es ist so schön warm …“
Lea nickte und zog an ihrer Pfeife.
,, Allerdings. So ein Wetter sollte man ausnutzen! Du musst mal wieder an die frische Luft, Lily, und etwas Farbe bekommen!“
Das Mädchen legte ihren Pommes beiseite.
,, Du siehst auch nicht gerade aus, wie neu geboren, Tantchen. Gönne dir auch mal Ruhe und Entspannung, du siehst furchtbar aus!“
Es wurden Schultern gezuckt.
,, Das ist die Frühjahrsmüdigkeit! In fünfzig Jahren wirst du verstehen, was ich meine!“
Sie legte ihren Kopf schräg und musterte ihre Nichte.
,, Wie fühlst du dich?“, fragte sie dann.
Lelia sah auf ihren Teller. Sie hatte die Frage öfter zu hören bekommen, genauso wie die Frage, ob sie wieder etwas geträumt hatte, oder ob sie mit Lea über etwas reden möchte, doch immer wieder hatte sie die Fragen verneint.
Ihre Großtante sprach ja schließlich auch nicht mit ihr und Lelia war es leid … Sie hatte keine Lust mehr, sie war müde.
,, Mir geht´s gut!“, antwortete sie deshalb wieder.
,, Ich genieße das Wetter und mein Essen!“
Sie grinste und merkte, dass es etwas gezwungen war.
,, Na das hört man gern …“, lächelte die Alte und nahm einen Schluck von ihrem Tee.

Der Tag nahm seinen Lauf, Großtante Lea wollte für zwei Stunden in den Laden gehen und fragte ihre Nichte nach Hilfe.
Sie betraten das staubige Geschäft, das Glöckchen ertönte und Lelias erster Blick galt dem Figürchen mit der Lilie.
,, Findest du sie faszinierend?“, fragte die Alte, als sie Lelias Augen folgte.
Das Mädchen schluckte.
,, In gewisser Weise schon …“
,, Hatte sie mal wieder die Augen geöffnet oder ist es bei dem einen Male geblieben?“, redete die Frau weiter und die Nichte sah sie wieder an.
,, Warum fragst du?“, kam es sofort aus ihr heraus.
,, Macht sie die Augen öfter mal auf?!“
Die Alte lachte schallend, wand sich an den Möbeln vorbei und ließ sich auf ihren Schaukelstuhl fallen.
,, Ich hab es bis jetzt noch nicht erlebt!“, sagte sie amüsiert.
Lelia seufzte und schloss die Tür.
,, Es heißt, diese Figur sei der Schutzpatron der Liebenden …“, erzählte die Alte dann und das Mädchen horchte auf.
,, So?“
,, Hab es mal gehört, als ich sie erworben hab.“
,, Wo hast du sie denn eigentlich erworben?“, wollte Lelia wissen und die Großtante nahm einen tiefen Zug an ihrer Pfeife.
,, Hach … weiß nicht … Ist schon verdammt lange her … Es war sicherlich in einem Kramladen, wie hier. Dort findet man immer die wunderbarsten Dinge…“
,, Naja …“, platzte es aus dem Mädchen heraus und sie warf der Figur einen skeptischen Blick zu.
,, Ach, Lily …“, seufzte die Frau und streckte sich.
,, Der Schutzpatron der Liebenden ist doch etwas Wunderbares. Spürst du das denn nicht?“
,, Was soll ich spüren?“, entgegnete sie lustlos.
Rauch wurde ausgepustet.
,, Du solltest einfach mal auf dein Herz hören. In der Welt gibt es eine ganze Menge Gefahren, aber dieser kleine Engel hier gehört sicherlich nicht dazu.“
Lelia blickte ihre Großtante fragend an, die gemütlich auf ihrer Pfeife kaute.
Sie wusste nicht, was diese Worte sollten …


Diesmal war es das Sonnenlicht, das durch den gewaltigen, weiß marmorierten Saal flutete.
Die schöne Prinzessin Aruna saß wieder an ihrem Schreibtisch, eine breite Karte war vor ihren Augen ausgerollt, auf der sie mit einer Feder herumkritzelte.
Ihre Dienerin Elga war an ihrer Seite.
,, Nichts … weder im Süden, noch im Westen. Wir müssen auf die Gebiete um den Elfenbeinwasserfall hoffen, ansonsten habe ich keine Idee, wo sie sich zurückgezogen haben können.“
Die Prinzessin seufzte und wanderte mit ihren Augen die Karte ab.
,, Die Brutzeit ist fast vorüber …“, mischte sich Elga ein und auch ihr Blick war starr auf die Karte gerichtet.
,, Ich kann einfach nicht begreifen, warum alle Nistplätze verweist, sind…“
Aruna schloss kurz die Augen.
,, Wyvern sind sehr sensible Wesen. Sicherlich spüren sie auch die Ausbreitung der Dunkelheit über unser Land und sind zu anderen Plätzen gezogen. Vielleicht haben sie sich dieses Jahr nicht einmal mehr fortgepflanzt.“
,, Aber das wäre eine Katastrophe!“, rief Elga entsetzt.
,, Wir brauchen die Wyvern! Kein Wesen kann schneller fliegen und nichts ist besser für den Kampf geeignet! Die alten Wyvern bekommen wir nie zu fassen! Wir brauchen die Jungen oder zumindest die Eier!“
,, Ja … das weiß ich doch …“
Aruna erhob sich und schritt nachdenklich durch den Saal.
,, Ich werde die Suche nach den Nistplätzen auch keineswegs beenden, bevor ich nicht das ganze Königreich danach abgesucht habe. Ich weiß, dass die Wyvern ein wichtiger Punkt in unserer Kriegsvorbereitung sind …“
Elga sah der Prinzessin hinterher.
,, Was machen wir, wenn wir wirklich keine Wyvern mehr finden?“, fragte sie zaghaft, als wolle sie die Antwort eigentlich gar nicht hören.
,, Dann mögen uns die Götter beistehen …“
Gequält schloss sie die Augen.
,, Unser wunderschönes Land geht auf seinen Untergang zu, jeder Hoffnungsschimmer wird im Keim erstickt und alle Wege scheinen in eine Sackgasse zu führen … Es wird immer schlimmer …“
An der Flügeltür klopfte es und die Frauen blickten überrascht auf.
,, Tritt ein!“, rief Aruna.
Die Tür öffnete sich und der strohblonde, bärtige Ritter Arthur betrat die Halle.
,, Hoheit!“, sprach er inbrünstig und sank wieder zu Boden.
,, Arthur? Du bist zurück? Hast du etwa Wyvern ausmachen können?“
Sofort wurde die Prinzessin aufgeregt. Sie schritt schnell auf den Ritter zu.
,, Wir haben noch keine Nistplätze finden können …“, sagte er und die Frauen seufzten enttäuscht auf.
,, Ich habe Ritter Kahn die Führung meiner Truppe anvertraut, um Euch persönlich zu ersuchen. Diese Angelegenheit ist wichtig, zu bedeutend, um sie Euch per Brief mitzuteilen!“
,, So?“, fragte Aruna scharf.
,, Was hast du zu berichten?“
Arthur neigte sein Haupt demütig.
,, Meinen Männern und mir ist zu Ohren gekommen, dass die Nistplätze der Wyvern keineswegs grundlos verweist sind!“
,, Was willst du damit sagen?“
Arthur sah die schöne Frau durchdringlich an.
,, Jäger, Hoheit! Jäger!“, zischte er aufgeregt.
Aruna riss die Augen auf.
,, Es sind profithungrige Händler, die Jäger nach Nistplätzen der Wyvern schicken, um deren Eier zu rauben! Das Volk sieht harten Zeiten entgegen, der Handel gerät ins Stocken, viele Händler machen Verluste, auch wegen der zerstörten Brücken über den Trahit! Sie sehen ihre Gelegenheit nun im illegalen Handel mit Wyverneiern!“
,, Das ist eine Straftat!“, zischte die Prinzessin durch zusammengebissene Zähne.
,, Raub und Handel mit so kostbaren und seltenen Wesen, wie Wyvern wird hart bestraft! Wie nur konnten diese Menschen so weit gehen?“
Arthur nickte.
,, Sie verkaufen die Eier scheinbar zu einem sehr hohen Preis, besonders an Adlige, die sich weit von den Kriegswirren entfernen wollen!“
,, Ein sinnloses Unterfangen!“, sagte die Prinzessin bitter.
,, Diesen zerstörerischen Mächten kann man nicht entfliehen, egal, wie weit man geht! Die Schatten breiten sich über unser Königreich aus und zögern nicht, auch über dessen Grenze hinaus zu gehen. Anstelle vor dieser unaufhaltsamen Katastrophe zu fliehen, sollten sie diese Händler anzeigen und uns deren Namen nennen! Deren Profitsucht schadet den Plänen gegen Morsom und dem Höllendelta!“
,, So ist es!“, meldete sich auch Elga zu Wort.
,, Das Volk muss geschlossen zusammenhalten, nur so können wir die Dunkelheit bekämpfen!“
Arthur pflichtete den Frauen bei.
,, Wir haben bis jetzt noch keine Namen erfahren, doch wir geben nicht auf, untersuchen jeden Marktstand in den Städten und tun alles dafür, dass diese korrupten Händler aufgehalten werden. Ihr werdet von mir und meinen Männern hören, wenn es etwas Neues gibt!“
,, Ich danke dir, Arthur!“, sagte die Prinzessin.
,, Ich wünsche dir alles erdenklich Gute und pass bitte auf dich und deine Männer auf!“
,, Ja, Hoheit! Eure besten Wünsche werden mich begleiten …“
Er verbeugte sich nochmals tief und überschwänglich und entfernte sich schließlich aus dem Saal.
Die Prinzessin und Elga seufzten.
,, Die Händler erschweren unsere Pläne ungemein. Zu all den schlechten Nachrichten kommt das noch hinzu …“
Erschöpft ließ sich die schöne Frau wieder in ihrem Stuhl sinken.
,, Nichts gelingt … die Götter scheinen uns den Rücken zu kehren …“


Das Maß ist voll




Der letzte Märztag und gleichzeitig der erste Ferientag war warm, sonnig und schon fast wie im Sommer. Der Himmel war vergissmeinnicht- blau, kaum eine Wolke war zu sehen, der Wind war warm und angenehm, und viele Menschen holten schon ihre T-Shirts und Kleider aus den hinteren Gefilden ihres Kleiderschrankes.
Draußen war es laut, die Bäume hatten dicke grüne Knospen, die Bienen summten bereits und Schwimmbäder und Eisdielen waren brechend voll. Jeder wollte diesen herrlichen Sonnentag genießen, den heißesten Märztag seit fünfzehn Jahren.

,, Zieh ein Kleid an, ich hab dir doch eines gekauft!“, sagte Lea, die an ihrer Pfeife zog und im Schaukelstuhl auf der Veranda das Essen vorbereitete.
Ihre dicken grauen Haare waren hochgesteckt, ihre Hose war bis zu den Knien gekrempelt und ihre nackten Füße wurden von der Sonne gewärmt.
Der Kräutertee und die Zeitung durften nicht fehlen, auch nicht, beim Kartoffelschälen.
,, Ich weiß nicht …“, meinte Lelia, die neben ihrer Großtante hockte und ebenfalls sehr luftige Sachen trug.
,, Ich finde Kleider nicht sehr bequem, und wenn ich laufe, dann scheuern meine Oberschenkel immer so aneinander. Das nervt …“
,, Mit Kleidern siehst du aber aus, wie eine richtige Dame!“, knurrte Lea weiter und ließ eine Kartoffel ins Wasser plumpsen.
,, Du bist so ein hübsches Mädchen … Mach mal mehr aus dir und fang beim Essen gleich mal an!“
Lelia verzog das Gesicht.
,, Immer musst du an meinen Essgewohnheiten mäkeln!“
,, Essgewohnheiten? Das ist seelische Grausamkeit!“
,, Hahaha …“, machte die Nichte tonlos.
,, Das hat dich früher auch nicht gestört. Außerdem hast du damals immer, wenn ich ein Kleid wollte, gesagt, dass Hosen und T-Shirts viel praktischer sind! Das hab ich mir gemerkt und gebe dir vollkommen recht!“
Lea verdrehte die Augen und schälte eine besonders dicke Kartoffel.
,, Du hast dich als Kind auch schlimmer eingesaut, als ein Schlammcatcher. Natürlich waren da Kleider nicht unbedingt das Richtige … und dein gieriges Gefresse hat mich immer schon gestört, das weißt du!“
Auch diese Kartoffel fiel ins Wasser und ein dicker Rauchschwall wurde aus der Pfeife gepustet.
,, Du bist aber jetzt eine junge Frau und solltest dich auch so verhalten!“
Das ging dem Mädchen gehörig auf die Nerven.
,, Warum sagst du ständig so etwas?“, zischte Lelia und verschränkte ihre Arme.
,, Ich möchte mich so geben, wie ich mich am wohlsten fühle. In letzter Zeit redest du nur noch davon, was ich aus mir machen soll und welche Art von Mann ich mir suchen und von wem ich die Finger lassen soll! Kannst du mir mal sagen, was das soll?!“
Die Großtante legte den Schäler nieder, ihre Pfeife wechselte den Mundwinkel. Sie sah in den schönen, großen Garten und seufzte.
,, Du hast ja recht …“, sagte sie und pustete wieder gehörig viel Rauch aus.
,, Wenn du dich so einfach am besten fühlst, dann bleibe so, wie du bist. Ich möchte dir nur zeigen, dass das Leben ein so wunderbares Geschenk ist und dass man es in jeder Hinsicht einfach auskosten muss. Sitze nicht immer hier bei mir herum und helfe mir bei der Hausarbeit! Geh raus, triff dich mit Freunden und genieße einfach das Leben.“
,, Ich kann mich aber nicht mal eben kurz in irgendeinen Typen verknallen. Das geht nicht so einfach und es nervt mich, dass du mir das Gefühl gibst, dass meine biologische Uhr langsam abläuft! Ich bin siebzehn … ich hab noch Zeit!“
Die Alte nickte.
,, Natürlich … Ich möchte doch nur, dass du nicht alleine bist …“
Lelia sah ihre Großtante an, die wieder nach dem Schäler griff. Sie lächelte sanft.
,, Ach Tantchen. Mach dir mal keine Sorgen um mich“, sprach sie.
,, Ich fühl mich gut, es ist tolles Wetter und ich habe dich immer an meiner Seite! Mehr brauche ich nicht … außerdem helfe ich dir gern im Haushalt!“
,, Du bist unverbesserlich …“

Während das Mädchen vor dem Kleiderschrank stand und sich nicht entscheiden konnte, dachte sie wieder an alles und jeden.
Großtante Lea wurde immer ernsthafter und schien das Mädchen unbedingt aus dem Haus haben zu wollen. In dieser Nacht hatte sie wieder einen ihrer Träume gehabt und fast war es ihr so gewesen, als hätte sie im Augenwinkel ihren Schreibtischstuhl an der Tür wackeln sehen.
Von Tag zu Tag wurde sie ratloser und versuchte all ihre Gedanken in einer Flut von Gleichgültigkeit zu ersticken, doch das klappte nicht.
Wann endlich hörten all die Gefühle auf? Wann endlich hatte sie ihr altes Leben wieder?
Sie dachte an Großtante Leas müdes und besorgtes Gesicht, seufzte und holte sich das blaue knielange Kleid aus dem Schrank.

,, Hui! Chic!“, lobte die Alte ihre Nichte und deutete mit dem Daumen nach oben.
,, Und? Scheuern die Oberschenkel schon?“
,, Kommt noch!“, meinte Lelia und band sich ihre lange Mähne hoch.
,, Sei mir aber nicht böse, wenn ich nicht mit einem Typen am Arm nach Hause komme, okay?“
,, HA!“, machte die Frau und der Pfeifenqualm schoss hervor, wie bei einer Dampflok.
,, So wie du aussiehst, sind es sicher mehr als einer!“
Das Mädchen schüttelte den Kopf und errötete etwas. So etwas war ihr schon immer peinlich.

Holly holte ihre Freundin ab und zusammen wollten sie mit dem Bus in die Stadt fahren.
,, Mensch, Lily!“, staunte die Freundin, die ihr Gegenüber mit großen Augen betrachtete.
,, Du hast dich ja in Schale geschmissen!“
Etwas an Hollys Blick war eigenartig, überlegte Lelia, während ihre Freundin an ihr herunterblickte. Sie trug doch nur ein Kleid, wieso machte denn jeder so ein großes Theater darum?
,, Du siehst ja echt gut aus … Sicher fällst du sofort auf …“, meinte sie und Lelia wurde augenblicklich klar, wie sie den Blick zu deuten hatte.
Schon immer waren Hollys Minderwertigkeitskomplexe ein Problem. Sie hatte sich immer hinter Lelia versteckt, kam nie aus sich heraus und war nie zufrieden mit ihrem Äußeren.
Oftmals hatte sie dem Mädchen gesagt, dass sie sich neben ihr klein und hässlich fühlte.
Lelia betrachtete, das bewundernde und gleichzeitig etwas ängstliche Gesicht ihrer Freundin.
Sie hatte sich ebenfalls besonders gut angezogen, trug ein orangefarbenes Kleid und schicke Schuhe und hatte sich sogar geschminkt, wenn auch sehr blass und vorsichtig.
Sicherlich hatte sie geglaubt, dass sie Lelia, die niemals etwas Besseres, als eine alte Jeans und ein bequemes Shirt getragen hatte, endlich einmal ausstechen konnte.
Ihre Hoffnung schien mit einem Schlag geschwunden, das sah man ihr an, und Lelia tat das leid.
,, Nun guck mich nicht so an!“, blaffte sie Holly deshalb an.
,, Ich trage ein Kleid, na und?! Was ist dabei?! Mein Tantchen hat mich genervt, es ist heiß und da dachte ich einfach: Scheiß drauf! Dadurch sehe ich auch nicht besser aus!“
Die Freundin biss sich auf die Lippe.
,, Tu nicht immer so, als wäre ich der große Jungenmagnet! Das bin ich nicht! Hast du schon mal gesehen, dass mich ein Typ angequasselt hat?! Nein! Weißt du warum?!“
Holly zuckte mit den Schultern. Wie immer schien sie von Lelias Gezeter eingeschüchtert. Sie hatte nicht einmal abgestritten, was Lelia vermutet hatte.
,, Es gibt etwas, das sich Ausstrahlung nennt, kapiert?!“, schimpfte sie unbeirrt weiter.
,, Ich mag vielleicht ganz ansehnlich sein, aber ich habe die Ausstrahlung und den Charme, eines Pfannkuchens! Darauf stehen Typen eben nicht und ich habe auch keine Lust, mich für die zu ändern! Und weißt du, was dein Problem ist?!“
Holly schüttelte den Kopf.
Erst der Schreck über Lelias Outfit, dann auch noch das Geschimpfe … Ihr schien es die Sprache verschlagen zu haben.
,, Genau das ist dein Problem!“, fauchte ihre Freundin.
,, Du versteckst dich hinter meinen Rücken, bleibst immer im Hintergrund und machst nie deinen Mund auf! Ist doch klar, dass noch kein Junge mit dir gesprochen hat! Sie haben dich gar nicht bemerkt! Die Sache mit Oliver ist das perfekte Beispiel! Anstelle ihn einfach mal zu fragen, ob er mit dir zum Ball geht, schickst du mich vor, damit ich Malvin klar mache, das ist doch Kacke!““
Holly blickte zu Boden und schluckte schwer. Lelia schüttelte darüber den Kopf.
,, Ich kann eben nicht so sein, wie du…“, hauchte sie dann schwach.
,, Das musst du auch nicht“, entgegnete das Mädchen etwas sanfter.
,, Aber du musst einfach zu dir stehen. Du siehst hübsch aus, du hast ein tolles Kleid an und du bist ein lustiges, nettes und kluges Mädchen. Zeig den Jungen doch, wie du bist, sei nicht immer so schüchtern und wirf nicht dauernd diese Seitenblicke auf mich. Kümmere dich nur um dich und sorge dafür, dass man dir zuhört!“
Sie zwinkerte Holly zu.
,, Sicherlich würde Olli deine andere Seite sehr interessant finden. Ich mag sie auch, darum finde ich es schade, dass du sie anderen Leuten vorenthältst!“
Die Freundin schluckte nochmals und sah Lelia dann an.
,, Meinst du wirklich?“, fragte sie verunsichert und ihr Gegenüber nickte eifrig.
,, Du bist echt eine Marke, Lily …“
,, Wieso?“
Holly lächelte.
,, Naja … Du hast mir schon an der Nasenspitze angesehen, was mich bedrückt und hast alles getan, um mich wieder aufzubauen. Hast mich ganz schön erschreckt, als du plötzlich so herumgepoltert hast!“
Lelia grinste breit.
,, Aaaaaach!“, sagte sie abwinkend.
,, Du bist eben wie eine Schwester für mich und ich kenne deine teilweise echt blöden Gedanken und Sorgen schon. Manchmal muss man dir einfach in den Hintern treten und dich aus deinem Schneckenhaus holen!“
,, Danke …“
,, Keine Ursache. Dafür sind Freunde doch da!“
Holly kicherte, sie sah in den Himmel und guckte ihre Freundin dann wieder an.
,, Weißt du, warum die Jungen in unserer Highschool sich nicht an dich heranmachen?“, fragte sie jäh und Lelia warf ihr einen überraschten Blick zu.
,, Nö … Du etwa?“
Ihre Freundin nickte lachend.
,, Sag es mir!“
,, Sie haben Angst vor dir!“
,, Hä?“
Das Lachen wurde lauter, sie hatten die Bushaltestelle erreicht und setzten sich.
,, Naja … Du bist eben so energisch und selbstsicher, dass die Jungen kalte Füße bei dir bekommen. Sie haben Angst, dass du sie zu Hackfleisch verarbeitest, wenn sie dir widersprechen!“
Lelia starrte Holly verblüfft an.
,, Ehrlich …?“
Ihre Mundwinkel zuckten und da brach auch sie in ein lautes Gelächter aus. Schon lange hatte sie nicht mehr so befreit lachen können. In diesem Moment waren ihr Zuhause und all die seltsamen Dinge, die dort passierten, weit weg und die Sorgen schienen für ein paar Stunden gebannt.
,, Idioten!“, keuchte Lelia, die sich die Tränen aus dem Augenwinkel wischte.
,, Solche Weicheier haben es auch nicht verdient, dass ich mich um sie schere. Wenn es wirklich mal so weit kommen sollte und ich einen Mann haben werde, dann sollte er mir schon Paroli bieten können!“
Sie sah in den blauen Himmel und lächelte. Scheinbar war sie Großtante Lea bereits ähnlicher, als sie dachte …

,, Na ihr Hasen?“, grinste Malvin, als er die Mädchen an der Bushaltestelle empfing.
Oliver lehnte lässig gegen eine Laterne, die Sonne leuchtete auf ihn nieder und ließ ihn wie einen Engel aussehen.
,, Hasen?“, lächelte Holly und umarmte ihren Kollegen.
,, Denkst wohl wieder nur an Ostern, was?“, meinte Lelia kopfschüttelnd.
,, Und an die Ostereier …“, grinste Oliver, der sie in die Arme schloss.
Lelia löste sich von ihm und ging zu Malvin, Holly errötete heftig, als sie sich von dem schönen Jungen umarmen ließ.
,, Bereit fürs Eis?!“, rief Oliver dann und strahlte in die Runde.
,, So bereit, wie man nur sein kann!“, jubelte Malvin zurück und alle lachten.
,, Du hast ja heute eine irre Laune!“, bemerkte Holly und musterte ihren Schwarm.
,, Ich hab drei Tage sturmfreie Bude!“, grinste er und offenbarte seine perfekten Zähne.
,, Meine Eltern und Schwestern besuchen meine Tante in Lincoln und ich durfte Zuhause bleiben, weil ich sagte, ich müsse viel lernen. Ich Fuchs!“
,, Einstein!“, sprach Malvin und wieder brach Gelächter aus.

Es war sehr voll, doch sie konnten noch einen Tisch ergattern.
,, Ich kann mich nicht entscheiden …“, klagte Oliver, der die Karte ausgiebig studierte.
,, Ich könnte den Karamellbecher nehmen …, der Minzbecher ist auch nicht schlecht … oder doch lieber der Schwanenbecher?“
Lelia blickte über ihre Karte hinweg und hob die Brauen.
,, Solange du nicht anfängst Ballett zu tanzen, wenn du den Schwanenbecher bestellst, hab ich nix dagegen!“
Malvin lachte.
,, Er kann sich ja das Tutu seiner Schwester ausleihen!“
,, Sehr witzig …“, murmelte der Schöne.
,, Ich nehme Karamell!“
,, Ich nehme Erdbeere …“, seufzte Holly und schlug ihre Karte zu.
Malvin entschloss sich für den “ Garten-Eden-Becher “ und Lelia wählte sich die Obstbombe.
,, Wann kommt denn der Kellner …?“, murrte Oliver und reckte seinen Hals.
,, Der ging schon zwei Mal an uns vorbei und hat Leute bewirtet, die später kamen!“
Lelia lehnte sich zurück.
,, Der hat die Omas dahinten bedient …“, sagte sie und reckte sich etwas.
,, Du weißt doch, wie sie sein können, wenn sie zu lange warten müssen!“
Malvin schnaubte.
,, Wer zuerst kommt, malt aber zuerst!“
Wieder ging der Kellner an ihnen vorbei, ohne sie auch nur anzusehen. Er brachte einer kleinen Familie gerade ihre Rechnung.
Malvin schien langsam zu verzweifeln.
,, Du trägst da echt ein hübsches Kleid, Holly!“, sagte Oliver dann und sah an dem Mädchen herunter.
Sofort flammten ihre Wangen auf und Lelia verdrehte amüsiert die Augen.
,, Danke … das … hat mein Dad mir aus Rochester mitgebracht!“, lächelte sie verlegen.
Oliver nickte.
,, Sieht süß aus.“
Er sah zu Lelia herüber und hob die Brauen.
,, Allerdings haut es mich um, dass selbst du ein Kleid angezogen hast. Du läufst ja manchmal, wie ein Kartoffelbauer!“
Malvin prustete los, Lelia verzog das Gesicht und Holly schluckte.
,, Dieses Thema habe ich schon ausführlich mit Holly besprochen!“, blaffte sie dann den Schönen an.
,, Außerdem hab ich noch gar nicht gewusst, dass du anscheinend Mode studiert hast!“
,, Bleib ruhig!“, grinste Oliver und Malvin lag immer noch über dem Tisch.
,, Ich wollte dich doch nur ärgern!“
Der Kellner lief wieder an ihnen vorbei und bediente ein junges Pärchen, das gerade gekommen war.
,, Das gibt es doch nicht!“, zischte Lelia und wollte gerade nach dem Kellner rufen, als sich Holly zwei Finger in den Mund steckte und einen schrillen Pfiff auszischte.
Alle zuckten zusammen und blickten das Mädchen verblüfft an. Der Kellner drehte sich um.
,, Hey!“, rief Holly dem verwirrten Mann zu.
,, Was muss man tun, um mal bedient zu werden?!“
Oliver, Malvin und Lelia rissen die Augen auf und starrten ihre Freundin gebannt an.

,, Uns einfach dem Laden zu verweisen …“, knurrte Malvin, als sie an einer anderen Eisdiele vor ihren leeren Bechern saßen.
,, Frechheit!“, stimmte Oliver ihm zu.
,, Wir waren im Recht!“, sagte Holly energisch und Lelia lächelte zustimmend.
Sie fand den Auftritt ihrer Freundin grandios und sicherlich hatte er sie viel Überwindung gekostet. Lelia war stolz auf sie. Scheinbar hatte sie sich ihre Worte endlich zu Herzen genommen.
,, Was für ein irres Wetter …“, seufzte sie und reckte sich in dem Korbstuhl.
,, Endlich wird es wärmer!“
,, Jep!“, sagte Oliver verträumt.
,, Es ist erst März, aber ich schwitze, wie ein Schwein!“
Malvin setzte sich auf.
,, Ich habe eine Idee!“, sprach er und schob seinen leeren Eisbecher von sich weg.
,, Mein Auto steht vor Ollis Haus. Wie wäre es, wenn wir schwimmen gehen? Ich kann euch fahren und ihr holt eure Schwimmklamotten!“
Holly klatschte in die Hände.
,, Klingt toll!“, jauchzte sie.
,, Oh ja!“ , setzte Oliver hinzu.
,, Ich war schon so lange nicht mehr im Hallenbad!“
Sie wandten sich Lelia zu.
,, Wie sieht´s aus? Können wir mit dir rechnen, Lily?“
Das Mädchen grinste.
,, Worauf warten wir?“, fragte sie.

Sie gingen zuerst zu Oliver, damit dieser alles zusammenpacken konnte, dann stiegen sie in Malvins altes Auto und tuckerten zu seinem Haus. Großtante Lea hatte es nie gerne gesehen, wenn ihre Nichte damit fuhr, denn sie hielt es nicht für besonders vertrauenserweckend. Lelia war das egal, schließlich durfte sie nicht mit Leas geliebtem Jeep fahren.
Malvins Zuhause lag genau auf dem Weg von der Stadt zum Zuhause der Mädchen.
Es war ein heruntergekommenes, altes Bauernhaus, mit losen Dielen und undichten Fenstern, war aber von einem riesigen Grundstück umgeben.
Der Junge stieg aus dem Auto, ging den Weg zwischen den Blumen und Gemüsebeeten entlang und öffnete die klappernde Haustür.
Seine Freunde blieben im Wagen und betrachteten die hübsche Mrs. Esperano, wie sie die Wäsche an die Leine hängte. Malvin hatte nur die Locken von ihr geerbt, alles andere kam verblüffend genau von seinem Vater.
Er starb, als Malvin noch ein Baby war, fast zur selben Zeit, wie Lelias Eltern.
Mrs. Esperano schien den Tod ihres Mannes nie verkraftet zu haben, denn sie lächelte selten und lachte nie.
Malvin kam den Weg zurückgehechtet, winkte seiner Mutter schnell zu und wich seinem riesigen Dobermann Toby aus, der gemütlich auf der Veranda schlief.
,, Dann auf zu dir, Lily!“, rief er und trat auf das Gaspedal.
Sie fuhren ihren Weg, Malvin summte und Oliver sah aus dem Fenster.
,, Cool, dass ich auf die Idee mit dem Schwimmbad gekommen bin, was?“, meinte der Junge und trommelte auf sein Lenkrad.
,, Du bist ein Held, Alter!“, sagte Oliver.
,, Aber jetzt drück auf die Tube, ich kann es nicht mehr erwarten, meine Klamotten vom Leib zu reißen und meine Badehose überzuziehen.“
Holly wurde augenblicklich wieder rot, doch Lelia hörte kaum hin.
Die Tatsache, dass sie wieder in der Nähe dieses Hauses und dieser ganzen Begebenheiten sein musste, ließ sie nachdenklich werden.
War es jetzt wirklich schon so weit, dass sie sich fast fürchtete, nach Hause zu gehen? So konnte es doch nicht weitergehen. Mittlerweile hatte sie immer ein komisches Gefühl, wenn sie ihr Zimmer betrat, hatte fast Angst, dass sie etwas sehen könnte, das sie so erschreckt, dass sie sich gar nicht mehr davon erholen konnte.
Ihre Gedanken nahmen immer schlimmere Dimensionen an. Lange hielt sie es nicht mehr durch …
,, Lily? Schläfst du?“, sagte Hollys Stimme an ihrem Ohr und das Mädchen fuhr zusammen.
,, Wir sind da. Alles in Ordnung?“
,, Ja! Ja sicher!“, rief Lelia aus und fummelte an ihrem Sicherheitsgurt.
,, War in Gedanken …“
Holly sah sie komisch an, doch Lelia mied ihren Blick. Sie sah statt dessen nach draußen und ihr Herz rutschte ihr in die Hose. Leas Jeep war weg.
Die Alte war nicht da … Lelia musste alleine ins Haus.
,, Lily?“, fragte Holly zaghaft.
,, Alles klar? Du bist plötzlich kreidebleich geworden!“
Oliver und Malvin drehten sich auf ihren Sitzen um.
,, Ist dir schlecht?“, fragte Malvin besorgt.
Lelia schüttelte den Kopf.
,, Alles klar …“
Sie stieg aus und blickte an dem Haus hoch, das still und leise dastand, harmlos und unschuldig.
Ihr war mulmig zumute. Sie wusste nicht, warum sie von ihrer Furcht so überfallen wurde. Sie schluckte und drehte sich wieder zum Auto um. Sie kam sich blöd vor, doch sie wusste, dass sie das leere Haus alleine nicht betreten konnte.
,, Könnte vielleicht jemand mit reinkommen?“, fragte sie kleinlaut.
Die Freunde sahen sie verwundert an.
,, Wieso?“, fragten sie.
,, Habt ihr Besuch, den du nicht magst?“, wollte Malvin wissen.
,, Nein …“, sprach Lelia leise.
,, Es wäre mir wohler zumute …“
Die Freunde verstanden immer noch nicht. Hollys Augen verengten sich, huschten von Lelia zum Haus und wieder zurück.
,, Na gut!“, erbarmte sich Oliver schließlich.
,, Ich muss eh pinkeln. Dann komme ich mit rein!“
Er stieg aus und sie liefen über den großen Vorplatz zur Veranda. Lelia steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür.
,, Dieses Haus ist so cool!“, sagte Oliver.
,, Ich war schon so oft hier, aber krieg irgendwie nie genug davon.“
Das Mädchen lächelte, obwohl sie seine Meinung mittlerweile nicht mehr teilen konnte.
,, Das sagen viele! Holly verläuft sich hier immer noch andauernd.“
Sie stiegen die große Treppe hinauf, gingen nach rechts an einem Gästezimmer vorbei und kamen schließlich an Lelias Zimmer an.
,, Du kannst auf meine Toilette gehen, Olli!“, bot sie an und schob die Tür auf.
Ihr erster Blick fiel auf den Kleiderschrank, an dem alle Türen offen standen.
,, Was zum-?“, fragte sie schockiert und trat ins Zimmer.
Sie hatte es geahnt. Sie hatte es geahnt!
Oliver folgte ihr.
,, Was ist denn hier passiert? Ist eine Bombe eingeschlagen?“, wollte er wissen.
Lelias Herz raste. Es schlug heftig gegen ihre Rippen, dass sie nur noch keuchend atmen konnte. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie sich in ihrem Zimmer um, in dem ihr gesamter Kleiderschrankinhalt verteilt war.
,, Hast du alles so rumgeschmissen?“, fragte der Junge weiter, aber Lelia konnte nichts sagen.
Vom Entsetzen gepackt starrte sie auf die weit offenstehende Tür zur kleinen Treppe. Der Schreibtischstuhl lag umgekippt daneben.
,, Oh, mein Gott!“, rief sie.
,, Was ist hier passiert?!“
,, Ob es ein Einbrecher war?“, meinte Oliver, der bleich aussah.
,, Guck nach, ob etwas gestohlen wurde! War dein Fenster offen? Oder ein anderes?“
Lelia versuchte sich zu sammeln. Sie stieg über ihre T-Shirts, Hosen, Röcke und Blusen, als sie wieder etwas sah, das sie aus den Socken haute.
Zwischen ihrer Unterwäsche lag ein altes, abgegriffenes Buch, mit dem Titel “Hexenverbrennung“.


Hollys Plan




,, Das war kein Einbrecher!“, sagte sie panisch.
,, Das ist irgendwas Anderes!“
,, Was?“
,, Ich muss hier raus!“
,, Lily!“
,, Los, komm schon hier raus! Du kannst woanders pinkeln!“
,, Sollten wir nicht die Polizei rufen?“
,, Komm jetzt!“
Der verdutzte Oliver folgte dem Mädchen die Treppen hinunter. Lelia sah nicht zurück, denn sie war sich fast sicher, dass sie dann etwas erblickte, was sie vollkommen durchdrehen ließ. Das konnte doch alles nicht mehr wahr sein!
Das war zu viel.
Vollkommen entsetzt erreichte Lelia das Auto, in dem Malvin und Holly schon auf sie warteten.
,, Was ist los?“, fragte Holly sofort, als sie den Gesichtsausdruck ihrer Freundin sah.
,, Was hast du?“
,, Bei ihr ist eingebrochen worden.“
,, WAS?!“
,, Habt ihr die Polizei gerufen?“, wollte Malvin wissen.
,, Vielleicht sollten wir auch erstmal deiner Großtante Bescheid sagen!“
Lelia schüttelte den Kopf.
,, Das war kein Einbrecher …“, sagte sie kaum vernehmlich.
,, Aber wer sonst-?“
,, Denk doch mal nach, Olli!“, erklärte Lelia.
,, Ist dir nichts aufgefallen? Der Kleiderschrank wurde zwar vollständig ausgeräumt, aber ansonsten schien nichts aus dem Zimmer angefasst worden zu sein. Glaubst du nicht, dass ein Einbrecher, eher an anderen Orten nach wertvollen Gegenständen suchen würde? Und wenn er so vorsichtig vorgegangen wäre und seine Spuren verwischen wollte, denkst du, er hätte den Kleiderschrank auseinandergenommen?“
Oliver dachte nach.
,, Sicher nicht!“, sagte er.
,, Außerdem sind wir am Wohnzimmer und am Esszimmer vorbeigekommen. Dort sah alles normal aus. Wenn er wirklich etwas gesucht hätte, dann hätte er sicherlich ein Chaos hinterlassen.“
,, Aber wer war es denn dann?“, fragte Holly schockiert.
,, Wer tut denn so etwas?“
,, Oder was tut so etwas …“, sprach Lelia.
Die Freunde sahen sie an.
,, Wie meinst du das?“
Lelia atmete tief durch. Das war immer der letzte Ausweg gewesen, der ihr in den Sinn gekommen war. Sie hatte niemals auch nur ein Sterbenswörtchen über die Vorfälle im Haus ihren Freunden erzählt, aber nun war ihr alles egal. Das Maß war voll, sie konnte es nicht mehr in sich behalten, jetzt nicht mehr. Sie hatte keine Ahnung, was da vor sich ging, aber zumindest Oliver hatte es gesehen. Vielleicht war es so etwas glaubwürdiger.
,, Hört zu!“, sprach das Mädchen außer Atem und wusste einfach nicht, wie sie anfangen sollte.
,, Es klingt zwar bekloppt und ihr werdet mich für verrückt halten … ich tue es ja schon selbst, aber hier passieren in letzter Zeit echt komische Dinge.“
Die Drei lauschten, und das Mädchen begann, zu erzählen.
Sie schilderte die seltsamen Begebenheiten mit der Tür, die immer auf und zu ging, von dem Buch, das sie verfolgte, von dem Referat und schließlich (für Holly und Malvin) die Sache mit dem Kleiderschrank und dem Schreibtischstuhl. Dinge, wie den blassen Mann und die Spieluhr behielt sie weiterhin für sich, denn sonst hätten selbst die besten Freunde sie wahrscheinlich für übergeschnappt gehalten.
,, Und zwischen meiner Wäsche hab ich wieder das Buch über Hexenverbrennung gefunden! Ist doch alles irgendwie eigenartig, oder?“, schloss sie ihren Bericht.
Alle sahen sie fassungslos an.
,, … und was … willst du uns jetzt damit sagen?“, fragte Malvin vorsichtig und Lelia seufzte verzweifelt auf.
Was sollte sie denn sagen?! Sie hatte doch selbst nicht die leiseste Ahnung!
,, Du denkst, dass es … naja … keine natürlichen Umstände gewesen sein können?“, wollte Holly dann wissen und blickte Lelia so durchdringlich an, dass sie sich etwas schämte.
Sie merkte scheinbar, dass es dem Mädchen ernst war.
,, Natürliche Umstände räumen keinen Kleiderschrank aus … oder?“, fragte sie weiter und die Jungen sahen sich vielsagend an.
Lelia wusste, was in ihnen vorzugehen schien.
,, Ihr denkt, dass ich spinne, oder?“, meinte sie unverblümt und ließ ihre Kollegen zusammenzucken.
,, Das habe ich auch gedacht, glaubt mir! Doch ich kann nur sagen, was ich erlebt habe, ich übertreibe nicht und lüge auch nicht. Ich erzähle es so, wie es geschehen ist, und bin sehr dankbar für jede logische Erklärung!“
,, Es gibt tausend logische Erklärungen!“, sprach Oliver und an der Kälte in seiner Stimme konnte man erkennen, wie er zu dem Verlauf des Gespräches stand.
,, Dann sag sie mir!“
Oliver zuckte mit den Schultern, als hielte er die Worte seiner Kollegin für unnötig.
Holly öffnete die Autotür, stieg aus und ging zu Lelia hinüber.
,, Sollte es ein Einbrecher gewesen sein, dann ist er wahrscheinlich jetzt weg. Sicher ist er nicht so dumm und bleibt im Haus, nachdem Lily und Oliver dort waren!“, redete sie sicher und nachdenklich.
Die anderen lauschten.
,, Ich schlage daher vor, dass wir einfach mal nachsehen sollten. Wir achten auf aufgebrochene Türen und offene Fenster, wir untersuchen jedes Detail. Wenn wir nichts entdecken können, dann sehen wir weiter!“
Ihr Blick war entschlossen. Lelia war ihr dankbar. Sie hätte es nicht mehr über sich bringen können, in dieses Haus zu gehen.
Malvin stieg nun ebenfalls aus dem Auto aus. Sein skeptischer Gesichtsausdruck war unleugbar, vorsichtig sah er am Haus hinauf.
,, Ich weiß nicht …“, sagte er.
,, Sollten wir wirklich dort rein? Es ist doch besser, wenn wir die Polizei rufen … wir könnten Beweise vernichten, oder Spuren verwischen!“
,, Wir fassen eben nichts an!“, entgegnete Holly prompt.
,, Dann können wir auch nichts herausfinden!“, kam als Antwort.
Lelia verschränkte ihre Arme.
,, Ich sagte es bereits: Wenn es ein Einbrecher war, dann hätte er sicherlich nicht nur meinen Kleiderschrank ausgeräumt! Die klauen keine Kleidung, sondern wertvolle Dinge, daher müsste das Haus andere solch offensichtliche Spuren aufzeigen! Sehe ich das falsch?!“
Sie war wütend, als sie sprach. Natürlich glaubte ihr keiner, doch sie mussten doch sehen, wie verzweifelt sie war.
,, Ich bin Lilys Meinung!“, meldete sich Holly wieder zu Wort.
,, Einen Einbruch auf diese Art können wir sicherlich auch schnell in anderen Ecken des Hauses nachweisen. Da muss man nichts anfassen!“
Sie ging sicheren Schrittes auf das Haus zu.
,, Wir können jetzt noch bis morgen früh hier stehen und diskutieren … das hilft auch nichts!“
Lelia sah ihre Freundin an und ihr fehlten die Worte. Sie war ihr einfach dankbar.
Oliver knurrte etwas, doch er folgte den Mädchen, ohne zu zögern. Malvin brauchte seine Zeit, setzte sich aber schließlich auch in Bewegung.

Im Haus angekommen, übernahm Holly wieder das Wort.
,, Wir teilen uns am besten auf!“, sagte sie sicher.
,, Malvin und Olli bleiben unten und sehen genau nach, ob sie etwas Ungewöhnliches entdecken. Achtet auf alles!“
Sie nickten.
,, Lily und ich gehen nach oben, räumen deinen Schrank wieder ein und sehen nach, ob auch wirklich nichts gestohlen wurde!“
Oliver druckste.
,, Sollte euch nicht lieber einer von uns begleiten? Mädchen, Junge eben? Naja … ist doch sicherer … sollte der Einbrecher noch hier sein …“
Lelia blickte den Jungen überrascht an. Er konnte ja richtig tapfer sein. Das hätte sie nicht erwartet.
Holly schien das ähnlich zu sehen und man merkte ihr an, wie gern sie Oliver um den Hals gefallen wäre.
,, Schon gut …“, hauchte sie dann errötend und widerstand der Versuchung.
,, Ich kann mir nicht vorstellen, dass er noch hier ist. Wir sind ja zu zweit … wir bekommen das hin, außerdem hat Lily sicherlich etwas dagegen, wenn ihr ihre Unterwäsche anfasst!“
Sie grinste breit und schlagartig erröteten die Jungen.
Lelia lächelte.
,, Die sind ja sauber!“, meinte sie nur.

Oben angekommen blickten sich die Mädchen vorsichtig um. Nichts schien verdächtig.
Sie machten sich an die Arbeit, zählten jedes Wäschestück und räumten es wieder in den Schrank ein. Lelia war Holly unendlich dankbar. Alleine hätte sie es hier nicht ausgehalten.
,, Hast du es schon mal gelesen?“, fragte Holly jäh und hielt das Buch über Hexenverbrennung hoch.
,, Nein …“, sprach Lelia, huschte vorsichtig zur kleinen Treppe und stopfte es wieder ins Regal zurück.
,, Ich habe Angst, dass ich davon noch mehr Albträume bekomme.“
,, Du hast Albträume?“
,, Ach … Es ist schwer zu erklären. Meine langweiligen Landschaftsträume werden immer eigenartiger. Es ist schon etwas beängstigend …“
Holly sah sie nachdenklich an.
,, Wie lange geht das hier schon so? Mit der Tür und Ähnlichem …?“
,, Keine Ahnung …“, überlegte Lelia.
,, Noch nicht sehr lange. Höchstens drei Wochen … Nach meinem Geburtstag ist es schlimmer geworden, seitdem passiert quasi täglich etwas, immer und immer wieder!“
Sie blickte in Hollys ernste Augen.
,, Ich weiß, was das für einen Eindruck macht, doch langsam weiß ich nicht mehr weiter! Ich will es ja erklären, doch …“
Sie stockte und ihre Freundin legte den Kopf schräg.
,, Und was sagt deine Großtante dazu?“
,, Was soll sie schon dazu sagen? Sie hält es natürlich für einen Zufall und geht die Sache logisch an … so wie es auch vernünftig ist!“
Sie erwähnte nicht, dass sie selbst Großtante Lea verdächtigte, etwas zu verheimlichen. Sie konnte es einfach nicht sagen, schließlich hatte sie keine Beweise.
,, Lily …“, sprach Holly schließlich und faltete eine Bluse wieder auf.
,, Du machst dir wirklich große Gedanken darüber, oder? Das geht dir nicht aus dem Kopf, hab ich nicht recht?“
Sie sah ihre Freundin an.
,, Merkt man das? Ich habe immer versucht, es zu überspielen, weil ich aus einer Mücke keinen Elefanten machen wollte …, aber sicher hat es mich beschäftigt. Es ist frustrierend und beängstigend, wenn Dinge geschehen und man weiß nicht, warum …“
Holly nickte.
,, Ich glaube dir …“, meinte sie und Lelia lächelte dankbar.
Sie war wirklich erleichtert, dass sie sich endlich mal jemandem anvertrauen konnte … wenn auch nur in manchen Punkten.
,, Dich haut so schnell nichts um, Lily, aber in letzter Zeit warst du nachdenklich und still und dein Gesichtsausdruck, als Olli und du gerade aus dem Haus gerannt seid, der war schon erschreckend.“
,, Danke Holly! Ich bin froh, dass du mich nicht für bescheuert hältst!“
Das Mädchen lachte.
,, Du hast immer zu mir gehalten, egal, was auch war. Du bist eine tolle Freundin und ich helfe dir gern!“

Nachdem sie alles eingeräumt hatten, sich im Zimmer umgesehen hatten, ob wirklich nichts gestohlen worden war, gingen sie zu den anderen Räumen, überprüften Türen und Fenster und konnten nichts Besonderes erkennen.
,, Dieser Einbrecher muss schon ein absoluter Profi gewesen sein!“, sagte Holly, als sie aus dem letzten Badezimmer kamen.
,, Die Fenster sind von innen verschlossen, an den Türen ist nichts zu erkennen und nichts scheint geklaut zu sein!“
,, Genau!“, pflichtete Lelia ihr bei.
,, Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass er hier eingebrochen ist, um meinen Schrank zu durchwühlen, nichts zu stehlen und obendrein noch ausgerechnet das Buch über Hexenverbrennung in mein Zimmer zu bringen!“
Holly schüttelte den Kopf.
,, Das ist krass!“, flüsterte sie.
,, Das ist wirklich krass!“
Auf der Treppe war ein Poltern zu hören, die Mädchen zuckten zusammen.
,, Wir sind es nur!“, meinte Malvin und stieg die Stufen hinauf.
Oliver kam hinterher.
,, Nichts!“, erklärte er ohne Umschweife, als er oben ankam.
,, Die Fenster waren von innen verschlossen und an den Türen war nichts zu erkennen. Soweit ich und Malvin es beurteilen können, wurde nichts gestohlen, alles sah normal aus.“
,, Entweder …“, meldete sich Malvin zu Wort.
,, … war der Einbrecher extrem vorsichtig, oder er war ein Profi und wusste genau, wo er suchen musste.“
Holly nickte.
,, Und das können wir in jedem Falle ausschließen … Wir haben auch nichts entdecken können und aus Lilys Kleiderschrank wurde nicht mal eine Socke entwendet!“
Die Jungen hoben die Brauen.
,, Wirklich?“, fragten sie skeptisch und wieder nickte Holly.
,, Vielleicht war es deine Großtante …“, sagte Oliver und zuckte mit den Schultern.
Lelia schnaubte.
,, Weshalb sollte sie mein Zimmer verwüsten und dann noch ihr Buch zwischen meiner Wäsche legen?“
Wieder verschränkte sie ihre Arme.
,, Übrigens weiß sie auch ganz genau, dass ich immer die Tür zur kleinen Treppe mit einem Stuhl blockiere. Sie ist nicht der Typ, der die Tür auf schmeißt und meinen Stuhl umkippt!“
Oliver kratzte sich am Kopf.
,, Schön!“, blaffte er dann unerwartet.
,, Was denkst du dann, was es ist?! Ein Geist?!“
Malvin hüstelte und Lelia bäumte sich auf.
,, Sag du mir doch, was es ist und komm mal mit einer Idee, die nicht total bescheuert ist!“
,, Ach … und ein Geist ist natürlich total clever! Echt einleuchtend, warum bin ich nicht sofort darauf gekommen?!“
,, Ich habe nicht gesagt, dass es ein Geist ist, klar? Ich sagte nur, dass es kein Einbrecher und sicher auch nicht mein Tantchen war!“
Malvin seufzte.
,, Naja … das ist ja alles schön und gut …“, sprach er und man merkte ihm an, dass ihn das Thema nervte.
,, Aber was können wir jetzt machen …? Sollen wir jetzt zu Ollis Dad fahren? Sollen wir rumheulen, dass es hier spuuuuuuuuukt?“
Er hob die Arme und wackelte mit seinen Fingern, als wären sie ein flatternder Umhang.
Oliver zischte abfällig. Er reagierte wie immer äußerst empfindlich auf die Angelegenheit.
Lelia funkelte die Jungen an. Schön und gut, wenn sie ihr nicht glaubten, aber sie konnte es nicht haben, dass sie sich über sie lustig machten.
Gerade wollte sie etwas erwidern, als Holly wieder das Wort ergriff.
,, Ich weiß, dass es dämlich klingt, aber ich glaube Lily wirklich!“
Oliver verdrehte die Augen.
,, Nicht Holly…“, seufzte er.
,, Nicht du auch noch!“
,, Bitte höre mir erst mal zu!“, sagte sie sanft.
Lelia merkte, dass sie nun ganz behutsam mit dem Jungen sprechen wollte.
,, Es ist schon sehr außergewöhnlich, was passiert ist, und im Moment haben wir einfach keine Idee, wie das überhaupt geschehen konnte. Wir kennen Lily alle. Sie war auch immer ein Skeptiker, hat immer versucht alles logisch zu durchdenken und war kein Mensch, der an Wunder glaubte. Ich glaube, dass ihr mir da zu tausend Prozent recht geben könnt, oder?“
,, Ja, aber-!“, begann Oliver, doch er beendete den Satz mit einem genervten Pusten.
,, Ich weiß!“, sagte Holly.
,, Ich bin auch im Moment ratlos, doch wir müssen ihr helfen! Lily war immer für uns da, wenn wir Probleme hatten. Sie war immer zufrieden und wir brauchten ihr nie beizustehen, aber nun passiert hier etwas in diesem Haus und die Sachen machen ihr Angst! So darf es doch nicht sein! Das ist ihr Zuhause, da muss man sich wohlfühlen können!“
,, Schon gut, Holly…“, sagte Lelia leise und winkte ab.
Sie fühlte sich kraftlos und verzweifelt, ahnungslos uns ausgeliefert. Wie konnte sie sich nur helfen? Sie wollte nicht auch noch ihre Freunde gegen sich aufbringen.
,, Das ist doch krank!“, jammerte Oliver und verschränkte seine Arme so fest, dass er aussah, wie in einer Zwangsjacke.
,, Es gibt bestimmt eine million Erklärungen für alles hier! Glaubst du wirklich, dass ich mit den Schrottdingern meines Dads hier herumschleichen werde und Geister jagen werde?!“
Er ging zu Holly hinüber, die ihn jedoch sicher ansah.
,, Das kannst du nicht von mir verlangen!“
,, Das mache ich auch nicht!“, entgegnete sie und immer noch klang sie sanft und vorsichtig.
,, Es reicht doch, wenn Lily und ich es tun!“
,, WAS?!“, riefen alle im Chor.
Selbst Lelia starrte ihre Freundin fassungslos an.
,, Wie … meinst du das …?“, fragte sie argwöhnisch.
,, Wie ich es sage!“
Ihr Blick galt immer noch Oliver.
,, Deine Eltern sind doch für ein paar Tage in Lincoln, oder?“, erkundigte sie sich.
,, Ähm … ja! Was hat das denn jetzt-?“
,, Da fällt es doch sicher nicht auf, wenn wir die Geräte deines Dads mal für einen Tag ausleihen, oder?“
,, WAS?!“
Wieder starrten sie alle an, doch sie wirkte unbeirrt.
Oliver fing sich schnell wieder.
,, Dad bringt mich um, wenn ich an seine dummen Spielzeuge gehe!“, keuchte er.
,, Die sind scheiße teuer und wir haben keine Ahnung, wie wir damit umgehen sollen!“
,, Ähm …“, warf Lelia leise ein, die immer noch vollkommen geschockt war, von Hollys seltsamer Idee.
,, Ich weiß halbwegs, wie die Dinger funktionieren … ich hab mit deinem Dad darüber gesprochen!“
,, WAS?!“, schrien wieder alle, auch Holly.
,, Du hast mit meinem Dad darüber geredet?!“, rief Oliver und sein Gesicht nahm einen unschönen Rotton an.
,, Wie konntest du nur?! Du hast ihn doch in diesem Blödsinn noch bestätigt! Weißt du eigentlich, wie ich mich dabei fühle?!“
Er schnaufte und Lelia verdrehte die Augen. Sie hatte sicherlich keine Angst vor ihm.
,, Dein Dad ist mit oder ohne mein Interesse ganz sicher nicht von seinem Hobby abzubringen! Ich glaube nicht, dass ich ihn da noch unbedingt bestärkt habe!“
,, Soll das etwa heißen …“, redete Malvin wieder, der schon eine ganze Weile nichts mehr dazu gesagt hatte.
,,…, dass du echt glaubst, dass es bei dir spukt? Ich meine … naja … Mr. Brown ist schon eine ziemliche Adresse …“
,, Ich sage nicht, dass es hier spukt!“, sprach Lelia energisch.
,, Doch es war so eigenartig, was hier passierte, dass ich mal eine andere Meinung hören wollte …“
,, Von meinem DAD?!“, schrie Oliver und seine Augen kamen aus seinen Höhlen.
,, Ohne mir was zu sagen?!“
,, Drei Mal darfst du raten, warum ich meine Klappe gehalten habe!“, fauchte Lelia zurück.
,, Bitte streitet euch nicht!“, mischte sich Holly schließlich ein und hob beschwichtigend die Hand.
,, Lily hat dir sicher nichts gesagt, weil sie deine Meinung respektiert! Wenn du sagst, dass du damit nichts zutun haben möchtest, dann wollte sie dich auch nicht unnötig aufregen!“
Oliver schnaubte.
,, Und wahrscheinlich hätte ich auch einfach mal deinen Dad über solche Dinge ausgefragt.“
Der Junge funkelte sie an und sie setzte schnell hinzu:
,, Wir können uns nicht in Lilys Lage versetzen, Olli! Wenn solche Dinge immer passieren und man keine Erklärung findet, dann macht einen das verrückt! Sie hat nicht gesagt, dass sie daran glaubt, aber sie wollte nur eine andere Meinung hören!“
Er knurrte.
Holly rieb sich die Stirn und sprach weiter.
,, Da deine Eltern also in Lincoln sind, Olli, werden sie die Geräte nicht vermissen. Wir müssen auch nicht die teuren Teile nehmen … ich weiß gar nicht, was das überhaupt für Dinge sind …“
,, Ich will damit nichts zutun haben!“, keifte Oliver und verschränkte wieder die Arme wie ein bockiges Kind.
Lelia fand ihn albern.
,, Und was ist, wenn Lily und ich uns einfach etwas nehmen und es morgen wieder zurückbringen? Lily kennt ja schon ein paar Sachen, da weiß sie sicher, was wir nehmen können. Du hast nichts damit zutun, Olli! Wir respektieren deine Meinung und geben dir unser Wort, dass morgen alles wieder ordnungsgemäß im Zimmer deines Dads ist. Du kannst uns doch vertrauen!“
Oliver schluckte. Er schien immer noch wütend, sein Gesicht war weiterhin rot.
,, Ich hätte nicht gedacht, dass selbst du dich jetzt von dieser Scheiße mitreißen lässt!“, knurrte er Holly an.
,, Das tue ich nicht!“, gab diese klar zurück und zuckte mit den Schultern.
,, Aber ich verstehe Lily. Sie ist meine Freundin, sie war immer für mich da und ich helfe ihr nun auch! Wenn sie sich durch diese Sache wieder etwas besser fühlt, dann werde ich sie dabei unterstützen!“
Oliver seufzte jetzt, Malvin sah gespannt von Einem zum Anderen. Lelia fixierte den Jungen.
,, Schön …“, zischte er.
,, Ich leihe euch ein bisschen was … aber wehe ihr heult später rum, dass ihr von Frankenstein oder so angefallen wurdet!“
Holly prustete los.
,, Keine Sorge! Aber ich ruf dich an, wenn wir eine Mumie filmen!“
Oliver hob die Brauen, doch schließlich stimmte er in das Lachen ein, ebenso wie Malvin.
Lelia seufzte schwer und konnte sich dem Gelächter nicht anschließen. Sie war gespannt, was sie entdecken werden.


Geistersuche




,, Das wird was …“, sagte Holly und ließ sich auf Lelias Bett nieder.
Oliver und Malvin sind zu den Browns gefahren, um ein paar “Geisteraufspürer“, wie Holly meinte, zu besorgen.
Obwohl Oliver immer noch fuchsteufelswild war, hatte er sich bereiterklärt, Dinge wie den EMF-Detektor und ein Digitalthermometer vorbeizubringen, damit die Freundinnen diesen “Unsinn“ durchführen konnten.
Lelia lief im Zimmer auf und ab, ohne die Tür zu der kleinen Treppe aus den Augen zu lassen.
,, Ich hätte niemals gedacht …“, sprach sie und warf einen sehr schnellen Blick zum Fenster hinaus.
,, …, dass du dich so extrem dafür einsetzt, das Haus nach Geistern zu untersuchen!“
Holly folgte Lelias Blick.
,, Ich halte es eben für wichtig, alles hier in diesem Rahmen abzuchecken. Du hast mir wirklich Sorgen bereitet, mit deinem schockierten Gesicht. Wenn du schon so guckst, dann muss es echt was Dickes sein!“
Sie legte ihren Kopf schräg und seufzte:
,, Machen wir es einfach und gucken, was wir entdecken …“
Lelia lehnte sich gegen die Wand, den Blick immer noch starr auf die Tür gerichtet.
,, Glaubst du, dass etwas dabei herauskommt?“, wollte sie wissen und ihre Freundin lächelte.
,, Wenn ich ehrlich sein soll …“, entgegnete sie.
,, … nein …“

Die Jungen kamen wieder, hatten eine Tasche dabei und unterhielten sich eifrig. Holly sah aus dem Fenster und musterte den miesepetrigen Gesichtsausdruck Olivers.
,, Jetzt habe ich wohl meine einzige Chance bei ihm vertan …“, murmelte sie sehr leise, doch Lelia hörte es trotzdem.
,, Das glaube ich nicht!“, sprach sie daher sicher.
,, Wir haben viel von ihm verlangt, wir wissen ja schließlich, wie sehr er sich für das Hobby seines Dads schämt, aber die Tatsache, dass er extra gefahren ist, um die Sachen zu holen und schon allein zugestimmt hat, dass wir sie uns ausleihen…“
Sie redete nicht weiter und Holly blickte sie neugierig an.
,, Naja …“, sprach Lelia und zuckte mit den Schultern.
,, Ich glaube nicht, dass er das gemacht hätte, wenn ich ihn darum gebeten hätte!“
Die Worte ließen Holly kichern.
,, Du hättest ihn auch nicht gebeten, du hättest ihn bedroht!“, lachte sie.
Es hämmerte an der Tür und Lelia eilte hinunter.
Oliver schien bärbeißiger denn je und Malvin wirkte amüsiert und empört zugleich.
,, Hier kommen die Ghost Busters!“, trällerte er und wand sich an Lelia vorbei.
Lauthals sang er das Lied, während Oliver nur aufstöhnte.
,, Das hat er die ganze Fahrt über gemacht, danke Lily!“, fauchte er.

Die Jungen trugen die Tasche in Lelias Zimmer und verfrachteten sie auf das Bett.
Holly begutachtete die Rekorder.
,, Oh! Ein Tonbandgerät hast du auch mitgebracht?“, fragte sie und nahm es heraus.
,, Ja, aber das ist meines! Dad hat seine im Schrank verschlossen und trägt den Schlüssel bei sich, damit nicht ein weiterer verrückter Geisterjäger bei uns einsteigt und all die wertvollen Dinge klaut!“
Er hatte die Stimme schrecklich verstellt und machte eine affektierte Miene.
,, Und eine Kamera ist auch noch dabei …, aber die ist von mir!“, ergänzte Malvin und zog ein ramponiertes, mitgenommenes Etwas aus der Tasche.
,, Die ist zwar alt, läuft aber, wie eine Eins!“
,, Wow! Danke, Leute!“, sagte Lelia und nahm die Geräte entgegen.
,, Das ist nett, dass ihr so mitgedacht habt. Ich weiß, was ich da verlange, vielen Dank!“
,, Schon gut!“, brummte Oliver achselzuckend.
,, Aber lass das nicht zur Gewohnheit werden!“
Er legte sich auf Lelias Bett und verschränkte seine Arme hinter dem Kopf.
,, Du möchtest bleiben?“, fragte Holly freundlich.
,, Ich will sehen, wie ihr euch zum Affen macht …“, redete er tonlos.
Seine Augen huschten durch das Zimmer, er seufzte kurz und schien sich etwas zu überwinden, dann sprach er jedoch:
,, Stellt die Kamera da auf, wo am meisten passiert. Am besten mit dem Blick zur Tür. Lily hat doch auch noch eine Kamera, oder? Die kann dann am Fuß der kleinen Treppe aufgestellt werden … hoffen wir nur, dass Miss Smith sie nicht umhaut!“
Die Freunde blickten Oliver verblüfft an.
,, Hui!“, hauchte Malvin übertrieben begeistert.
,, Du hast ja richtig Ahnung!“
Ein böser Blick wurde zugeworfen.
,, Mein Dad erzählt ständig von seiner großartigen Arbeit … da schnappt man schon das Eine oder Andere auf!“
,, Gut, Lily, so machen wir das!“, rief Holly und klatschte in die Hände.
,, Gibt es sonst noch etwas, das wir besonders beachten müssen? Das Buch über Hexenverbrennung sollte auf jeden Fall besondere Aufmerksamkeit erhalten, aber ist noch etwas Anderes extrem auffällig?“
Lelias Blick huschte wieder zu der Tür. Ihr kam sofort eine Sache in den Sinn, die sie nicht losgelassen hatte.
,, Ich weiß nicht, ob es immer so ist … es ist mir auch erst ein Mal passiert und kann daher nur ein dummer Zufall gewesen sein, aber auf der Treppe … naja…“
Sie wählte ihre Worte sorgfältig.
,, Ich habe auf der Treppe ein echt eigenartiges Gefühl gehabt … es war … befremdlich … aber nicht unangenehm …“
Sie wedelte mit ihrer Hand und suchte weiter nach Worten.
,, Es kam ganz plötzlich und fing mit einem Kribbeln an … dann hat es mich umgehauen!“
Die Freunde starrten Lelia an.
,, Umgehauen?“, fragte Malvin und hob die Brauen.
,, Soll das heißen, dass du umgekippt bist?“
Das Mädchen nickte.
,, Ich habe wirklich gedacht, ich hätte meine Kniescheiben zertrümmert …“, meinte sie und versuchte zu lachen, doch die Erinnerung daran ließ sie erröten.
Es war ein so warmes und weiches Gefühl auf ihrer Haut gewesen …
,, Ach so?“, fragte Holly.
,, Und wann war das? Eher am Tag oder nachts?“
,, Am Tag.“
,, Passieren diese seltsamen Begebenheiten immer zu gewissen Uhrzeiten oder Tageszeiten?“
,, Sie passieren quasi ständig.“
,, Immer nur hier im Zimmer oder auch woanders im Haus?“
,, Immer nur hier …“
,, Wir können im Grunde also sofort anfangen?“
,, Ja!“
Oliver machte es sich gemütlicher.
,, Während der EVPs muss Ruhe herrschen!“, erklärte er noch gelangweilt.
,, Sonst können wir Hui Buh nicht verstehen. Außerdem schlage ich vor, dass ihr nach der Geisterbefragung ein neues Band ins Gerät legt und über Nacht ins Bücherregal legt. Die Kameras sollten auch genügen Saft haben, um sie über Nacht laufen zu lassen. EMF-Werte und Temperaturen-Check können sofort gemacht werden …“
Malvin lachte spöttisch.
,, Du bist ja ein echter Profi, Olli!“, scherzte er.
,, Willst du nicht doch mitmachen?“
Der Schöne hüstelte abfällig.
,, Eher spiele ich die Hauptrolle in der Verfilmung von Lilys Nackenbeißer …“
Malvin und Holly lachten, während Lelia die Tür zur kleinen Treppe öffnete.
Sie griff sich die Kamera, ging ein paar Stufen und sofort spürte sie wieder das Kribbeln in ihrer Brust.
,, Da ist es!“, rief sie aufgeregt und die Freunde zuckten zusammen.
,, Was?!“, keuchte Malvin und man hörte es ihm an, wie erschrocken er klang.
,, Das Kribbeln!“
Holly legte die andere Kamera zur Seite und huschte auf die Tür zu. Bedächtig ging sie die Stufen hinunter und streckte den Arm aus.
,, Tatsächlich!“, sprach sie und Lelia konnte ihr genau ansehen, dass sie nicht damit gerechnet hätte.
,, Zeig mal!“, donnerte Malvin, Holly ging zur Seite und der Junge hob ebenfalls seinen Arm.
,, Es kribbelt richtig!“, meinte er dann und wedelte mit seinem Arm hin und her.
,, Komisch!“
,, Und es könnte schon gleich wieder weg sein!“, redete Lelia eifrig.
,, Ich sagte ja, dass es eigenartig ist!“
Jemand drückte sich an Malvin vorbei und wieder wurde eine Hand ausgestreckt. Es war Oliver.
,, Das könnte mit elektrischer Spannung zusammenhängen!“, sagte er sachlich.
,, Vielleicht verlaufen in den Wänden oder in der Decke viele Kabel!“
,, Moment!“, rief Holly, und kaum eine Sekunde später kam das Mädchen angelaufen und reichte Malvin den EMF-Detektor.
,, In Lilys Zimmer hatte ich einen Grundwert von 0,3 Milligauß. Wie ist es hier?“
Der Junge hielt das Gerät weg von sich.
,, Mhm… 0,3 … 0,5 … 0,3 …“
Er ging noch eine Stufe tiefer.
,, Huh … das Kribbeln wird heftiger …, aber die Werte verändern sich nicht!“
,, Komisch …“, murmelte Oliver und ging auch eine Stufe tiefer.
Alle drängelten sich auf der Treppe, Lelia musste sich gegen das Bücherregal pressen.
,, Geh dahin, wo das Kribbeln am stärksten ist!“, schlug Holly vor, die über die Köpfe der Jungen lugte.
Malvin gehorchte und ging die Stufen hinab, das EMF-Gerät sicher in seiner Hand.
,, Woah!“, keuchte er dann und schüttelte sich.
,, Wie krass das kribbelt!“
,, Und noch keine Veränderung?“, fragte Lelia, die den Jungen gespannt musterte.
,, Nicht die Spur!“
Sie schluckte. Die Begebenheit machte ihr Angst, doch immerhin wusste sie nun, dass sie nicht übergeschnappt war. Ihre Freunde spürten das auch.
Schnell hüpfte Malvin die restlichen Stufen hinunter und lehnte sich gegen die Tür.
,, Das war ja nicht auszuhalten!“, pustete er.
,, Und das soll angenehm gewesen sein?!“
Lelia nickte.
,, Es war ein warmes Gefühl …, wie Sonnenschein. Es fühlte sich so an, als … naja …“
Wieder errötete sie.
,, … als hätte mich jemand umarmt …“
Malvin starrte zu ihr hoch, Olivers und Hollys Augen weiteten sich.
,, Ich weiß … es klingt verrückt, aber es hat sich eben so angefühlt! Ich kann ja auch nichts dafür …“
,, Schon gut. Ich verstehe schon!“, sagte Holly, drängte sich an Oliver und Lelia vorbei und ging ebenfalls zur Mitte der Treppe.
,, Du liebe Zeit!“, hauchte sie.
,, Das Kribbeln ist ja furchtbar!“
Oliver ging zu ihr.
,, Das ist sicher nicht angenehm …“, murmelte er.
,, Und ich habe schon oft jemanden umarmt … das fühlt sich sicher ganz anders an!“
Lelia biss sich auf die Lippe und beobachtete ihre Freunde, die schnell die Stufen hinabstiegen.
Ob ich es auch noch mal versuchen sollte?, fragte sie sich und ihr Herz klopfte wieder laut, heftig und erwartungsvoll.
Einerseits hatte sie nichts dagegen, dieses Gefühl wieder zu haben, doch sie wusste nicht, ob sie dann wieder das Gleichgewicht verlor und die Treppe hinabfiel.
Sie dachte und dachte, doch plötzlich war das Kribbeln weg. Erschrocken sah sie auf.
,, Nanu?“, meinte auch Malvin und streckte seinen Arm von sich weg.
,, Spinne ich, oder hat es aufgehört?“
,, Ich merke auch nichts mehr!“, sagte Holly.
,, Das ist ja wirklich komisch!“
,, Tja, wenn selbst Olli der Sache auf den Grund gegangen ist, dann war das sicherlich schon eine Begegnung der dritten Art …“, scherzte Malvin und Oliver warf ihm einen bösen Blick zu.
,, Das kann viele Gründe haben!“, erklärte er.
Er schritt die Treppe hinauf und an Lelia vorbei.

Nachdem beide Kameras aufgestellt wurden, wanderten Holly und Lelia mit einem Tonbandgerät durch den kleinen Flur.
,, Ist hier jemand, der mit uns sprechen will?“, fragte das Mädchen und lauschte stumm einer Antwort.
,, Wenn hier jemand sein sollte, dann mache dich bitte bemerkbar …“
Malvin, der scheinbar großen Spaß zu haben schien, wanderte mit einem Thermometer hin und her und untersuchte jede Stelle nach Kältequellen.
Oliver lag auf Lelias Bett und hatte seine Augen geschlossen.
,, Ich lege eine neue Kassette ein und packe das Tonbandgerät ins Regal, okay?“, fragte Holly schließlich.
,, Schon gut, das mache ich, bevor ich schlafen gehe …“, erklärte Lelia nachdenklich.
,, Ansonsten haben wir nur die Stimme meines Tantchens drauf!“
,, Da hast du auch wieder recht!“
Oliver setzte sich auf und half Malvin, die Geräte wieder einzupacken.
,, Das war doch echt cool!“, redete er und jede Silbe bebte vor Ironie.
,, Wieso wollten wir auch ins Schwimmbad? Das war ja wirklich ein rundum gelungener Tag!“
Lelia verdrehte ihre Augen, doch Holly hob beschwichtigend die Hand.
,, Solange Lily jetzt etwas beruhigt ist und vielleicht ein wenig Klarheit von den Videobändern und Tonbändern bekommt, dann hat sich die Aktion doch gelohnt!“
Oliver schnaubte.
,, Dann gehen wir eben morgen ins Schwimmbad, okay? Außer Malvin ruft an und erzählt, dass seine Mom zum Vampir geworden ist!“
,, Das wäre was …“, murmelte Malvin und machte die Tasche zu.
,, Sollen wir mal checken, ob was auf Band ist?“, schlug Holly Lelia vor und wieder verdrehte Oliver die Augen.
,, Du kannst ja weiterschlafen!“, sagte Malvin zu ihm.
,, Aber mach Platz, ich will mich auch hinlegen!“
,, Such dir doch ein eigenes Bett, du Mädchen!“

Holly spulte die Aufnahmen zurück und drückte dann auf Play. Die Mädchen lauschten.
,, Das bin ich …“, meinte Holly, als ein Geräusch ertönte.
,, Bin gegen meine Kette gekommen …“
Sie lauschten weiter. Die Aufnahmen wurden schnell gemacht, waren nicht besonders geschickt und wurden auch recht früh beendet.
Als nichts zu hören war, überraschte es Lelia kaum. Wenn sie etwas aufnehmen sollten, dann allerhöchstens in der Nacht.
,, War das spannend …“, gähnte Oliver und drehte sich genüsslich.
,, Ich kann Dad vollkommen verstehen!“


Was willst du hören, Lea?




Schweigend lümmelten die Freunde in Lelias Zimmer herum, tranken etwas Limonade oder spielten mit dem Tonbandgerät.
Lelia wusste nicht, was in ihren Köpfen gerade vorging und vielleicht wollte sie es auch nicht wissen.
Sicherlich war sie erleichtert, dass alle dieses seltsame Kribbeln gespürt hatten, doch dass weder der Temperaturenmesser, noch das EMF-Gerät angeschlagen hatten, war schon seltsam.
Es konnte nicht normal sein, was hier passierte … vielleicht war es auch nicht übersinnlich. Was war es aber dann?
Ein lautes Poltern ertönte unten, Holly fuhr schrecklich zusammen und Malvin hätte fast das Tonbandgerät fallen lassen.

Schweigende Herzen, blinder Verstand,
Blutende Hände, brennendes Land!


Lelia grinste.
,, Tantchen ist nur zurückgekommen, keine Panik!“
,, Hab ich nicht!“, keuchte Malvin und rieb sich das Herz.
Holly schluckte und selbst Oliver war in seiner Bewegung erstarrt.
,, Singt sie immer so laut?“, fragte er und fuhr sich durch sein samtenes Haar.
,, Noch lauter …“, kommentierte Lelia.

In Zeiten der Angst reichtest du mir die Hand,
Schenktest mir Hoffnung, unsere Seelen verwandt.

Sie stapfte die Treppe hoch, der Rauch aus ihrer Pfeife flog voraus, durch die Tür zu Lelias Zimmer, strich um die Köpfe der Freunde und schwebte aus dem offenen Fenster.

Berühre mich, halte mich, erkenne mich, heile mich!
Rette mich vor Einsamkeit, ich bitte dich, ich bitte dich!

Der Gesang stoppte jäh und Lelia war sich sicher, dass Lea die offene Zimmertür ihrer Nichte bemerkt hatte.
Schon polterte die Alte die Treppen hinauf und steuerte auf den Raum zu.
Das Mädchen schluckte. Wieder einmal hatte sie das Gefühl, als hätte ihr frühes Auftauchen die Alte aus dem Konzept gebracht.
Was war hier nur los?
Lelia warf einen verstohlenen Blick zu ihren Freunden, doch da sie Großtante Lea nicht so genau kannten, störte sie ihr Verhalten nicht.
Als die Alte schließlich vor der Tür stand, da weiteten sich ihre Augen.
,, Du bist hier? Und deine Affenbande auch?“, fragte sie verblüfft und ihre Pfeife rutschte von einem Mundwinkel in den anderen.
,, Wolltet ihr nicht in die Stadt gehen?“
Oliver verzog sein Gesicht.
,, Eigentlich schon … aber manchmal hat man was Besseres zu tun!“
Malvin und Holly warfen sich einen schnellen Blick zu, Lelia grinste die Großtante an.
,, Kaffeekränzchen beendet?“, wollte sie wissen.
Sie wollte sich so normal wie möglich geben. Ihre Freunde waren bei ihr, sie durfte nicht mit Fragen über ihre Großtante herfallen.
Lea knurrte und stieß einen weiteren Rauchschwall aus.
,, Ich besaufe mich wenigstens nicht, wie die bekloppten Blagen!“
Ihr Blick fiel auf die Tasche und auf das Tonbandgerät in Malvins Hand. Ihre Augen huschten zu Lelias Kamera, die auf dem Schreibtisch aufgebaut war und sie zog die Augenbrauen hoch.
,, Was ist das denn?“, erkundigte sie sich und ruckte unwirsch mit dem Kopf dorthin.
Die Freunde sahen sich an und schluckten.
,, Bitte erzählen Sie nichts meinem Dad!“, sprach Oliver sofort.
,, Ich bring die Klamotten sofort wieder zurück. Es ist auch nichts kaputtgegangen!“
Lelia sah ihren Kumpel strafend an.
,, Sie würde niemals so etwas verraten!“, meinte sie schlicht, Lea aber wurde blass.
,, Geisterschrott? Hier?“, fragte sie scharf und ihr Blick wanderte von einem Gesicht zum anderen.
Er blieb schließlich an Lelia hängen.
,, Wie kommt ihr dazu, so einen Blödsinn zu verzapfen?“
,, Wir wollten nur etwas ausprobieren!“, mischte Holly sich ein.
,, Wir sind vorsichtig und gewissenhaft mit den Apparaturen umgegangen!“
Leas Blick war immer noch starr auf Lelia gerichtet.
,, Das bezweifle ich auch gar nicht …“, sagte sie sehr langsam.
,, Aber warum habt ihr sie benutzt? Ihr glaubt doch nicht an so einen Unsinn.“
,, Natürlich nicht!“, entgegnete Oliver und Lelia setzte hinzu:
,, Es war nur ein blödes Experiment!“
Da sie mit der Sprache herausrücken musste, weil ihre Freunde anwesend waren, erzählte sie ihrer Großtante von dem Kleiderschrank, von dem umgekippten Schreibtischstuhl, von der offenen Tür zur kleinen Treppe und schließlich von dem Buch, das zwischen ihrer Wäsche lag.
Lea schloss die Augen, griff nach der Pfeife und nahm sie aus dem Mund. Die Freunde sahen die Alte gebannt an. Ihr Kiefer malmte etwas, ihre Gesichtsfarbe war weiß.
,, Alles klar, Tantchen?“, fragte Lelia aufmerksam.
Was dachte sie wohl gerade?, überlegte das Mädchen. Was ging nun in ihr vor? So hatte sie Lea sicher noch nicht gesehen.
,, Wir dachten-“, setzte das Mädchen hinzu, doch da warf Lea den Kopf in den Nacken und stieß ein brüllendes Lachen aus.
Die Freunde machten große Augen.
,, Miss Smith …?“, fragte Malvin vorsichtig.
,, Alles klar?“
Die Alte schlug mit der Faust gegen den Türrahmen, lachte immer lauter.
,, Kind!“, brüllte sie aus.
,, Ich kann nicht mehr!“
Lelia kratzte sich am Kopf.
,, Oje …“, seufzte sie.
Irgendwie konnte sie das Lachen ihrer Großtante einfach nicht, wie sonst auch immer, anstecken. Was kam jetzt?, fragte sie sich immer wieder.
Was sagt sie wohl jetzt? Wie konnte sie in so einer Situation lachen?
,, Tut mir leid! Ich kann die Sache erklären!“, grölte sie.
Lelia hob die Brauen. Da war sie aber gespannt.
,, Moment! Ich krieg mich gleich ein!“

Es dauerte noch einige Minuten, bis sie sich wieder vollständig beruhigt hatte. Lelia und ihre Freunde schauten sich immer wieder verwirrt an, zuckten die Schultern und hoben die Brauen, da begann Lea endlich, zu erzählen:
,, So etwas Blödes! Die Sache mit dem Kleiderschrank war meine Schuld!“
,, Was?“, fragte Lelia perplex.
Nun war sie wirklich gespannt.
,, Wieso das? Du warst an meinem Kleiderschrank?“
Die Alte nickte und sah an Lelia vorbei, aus dem Fenster.
,, Als du zu deiner Affenbande gegangen bist, da wollte ich mich, für mein Treffen mit Mrs. Thompson, noch umziehen. Ich ging zum Kleiderschrank, holte mein Shirt raus und was sah ich? Motten!“
Lelia hob die Augenbrauen.
,, Motten?“, fragte sie.
,, Du hattest einfach so Motten im Schrank?“
,, Das kann schon mal passieren! Besonders in ländlichen Gegenden!“, entgegnete die Großtante ruppig. Sie steckte sich wieder ihre Pfeife in den Mund und erklärte weiter:
,, Ich hab sofort meinen ganzen Schrank ausgeräumt und ihn mit meinem Anti- Motten-Zeug bearbeitet! Da dachte ich, so nett, wie ich bin, mach es doch auch gleich hier! Nur zur Vorsorge! Ich räumte also deinen Schrank ebenfalls leer, sprühte alles ein und legte die Sachen ausgebreitet überall hin. Damit alles einwirken konnte, wollte ich erst zu den Thompsons gehen und dann alles wieder ordentlich einräumen, bis du wiederkommst! Dumm gelaufen! Tut mir leid, dass ich dir Angst gemacht habe!“
Oliver, Holly und Malvin lachten.
,, Was hab ich gesagt?“, rief der schöne Junge und gab der Tasche seines Vaters einen leichten Tritt.
,, Eine ganz logische Erklärung!“
Lelia stimmte in dem Lachen nicht mit ein.
,, Und was ist mit der Tür zur kleinen Treppe, dem Stuhl und dem Buch?“, fragte sie.
Wie wollte sich die Alte nun aus der Affäre ziehen?, fragte sie sich und schämte sich fast für ihr mangelndes Vertrauen in ihre Großtante.
Sie verdrängte ihre Scham. Das mit den Motten klang einfach zu komisch …
Lea legte den Kopf schräg und zog an ihrer Pfeife. Es dauerte etwas, bis sie antwortete:
,, Ich wollte mir das Buch noch einmal durchlesen, also ging ich von hier aus in den kleinen Flur und hab es mir geholt. Ich legte es hier hin, damit ich es nicht vergesse, nachdem ich deinen Schrank bearbeitet hab. Es ging das Telefon, ich lief runter und hab es natürlich vergessen! Den Stuhl habe ich aber nicht mit Absicht umgeworfen. Hab ihn wahrscheinlich schräg hingestellt und dann ist er einfach umgefallen … Tut mir leid, dass ich so ein Chaos hinterlassen hab!“
Das Lachen von Oliver, Holly und Malvin wurde lauter. Lelia seufzte.
,, Klingt irgendwie total eigenartig, wenn man das so hört …“, überlegte sie und warf der Frau einen so intensiven Blick zu, dass ihr fast die Augen schmerzten.
Die Großtante erhob sich und mied den Blick.
,, Darum habe ich eben auch so gelacht!“, meinte sie dazu.
Sie lief zur Tür und nahm einen tiefen Zug aus ihrer Pfeife.
,, Ich räum jetzt meinen Schrank ein!“, sagte sie.
,, Und ihr macht mir keine Scheiße, Affenbande!“
Gerade wollte sie in den Flur verschwinden, als Lelia ihr hinterher rief:
,, Dein Schrank ist eingeräumt, Tantchen! Holly und ich sind durch alle Zimmer gegangen, weil wir dachten, dass ein Einbrecher etwas gestohlen haben könnte. Dein Schrank war normal verschlossen … seltsam oder?“
Nun nahm ihre Stimme einen scharfen Ton an, die Freunde stoppten mit dem Lachen und Lea blieb abrupt stehen.
Was nun?, dachte Lelia und starrte ihre Großtante an.
Die Alte seufzte.
,, Stimmt … hab ihn schon eingeräumt … bis ich deine ganzen Klamotten herausgeholt habe, ist dieses Spray schon eingezogen.“
Wieder seufzte sie.
,, Ich werde alt!“
Lelia biss die Zähne zusammen und die Alte verschwand um die Ecke.
Das Mädchen konnte sich nicht helfen, aber sie glaubte ihr nicht …

Nachdem die Freunde nach Hause gegangen waren, legte sich Lelia auf ihr Bett und starrte zur Decke. Immer wieder dachte sie nach.
Es herrschten seltsame Begebenheiten hier und dann kam ihre Großtante und konnte zu allem eine absolut präzise und vollkommen logische Erklärung abgeben.
Das Mädchen biss sich auf die Lippe.
Es war schon fast zu logisch, überlegte sie.
Außerdem hatten die Erklärungen ihrer Großtante einige Schwachstellen.
Sie drehte sich in ihrem Bett und sah zum Fenster hinaus. Sollte Lea wirklich gelogen haben? Nur warum? Was war der Grund der Alten, Lelia nicht alleine im Haus zu lassen? Hatte sie Angst, dass sie etwas anstellen konnte? Nur weshalb? Hielt sie ihre Nichte vielleicht doch für ein wenig verrückt?
Ärgerlich schlug Lelia auf ihre Bettdecke. Warum konnte ihr denn keiner etwas erklären?!

Als es Abendessen gab, duftete es herrlich nach Sandwiches und Kakao, der Esszimmertisch war bereits gedeckt, der Kräutertee Leas stand schon parat und die Alte brachte die letzten Teller.
,, Tantchen!“, sprach Lelia streng.
,, Ich hätte dir doch helfen können! Du musst hier nicht immer alles alleine machen!“
Die Frau grinste und wuselte an Lelia vorbei.
,, Ich klappe nicht zusammen, wenn ich einen Teller tragen muss, Lily!“, sagte sie ruppig und ließ sich auf dem Stuhl fallen.
Lelia nahm gegenüber Platz.
Sie musterte ihre blasse, müde Großtante aufmerksam, befingerte ihr Sandwich und versuchte ihren Gesichtsausdruck zu deuten.
,, Komische Sache heute, was?“, fragte sie dann und versuchte so ungezwungen wie möglich zu klingen.
,, Allerdings!“, brummte die Frau ohne ihren Blick vom Essen abzuwenden.
,, Weißt du, was noch komisch ist?“, bohrte Lelia weiter und merkte, wie ihre Großtante hellhörig wurde.
,, Du hast mir nie erzählt, wie gerne du dieses Buch über Hexenverbrennung liest, zumal du doch erstmal meintest, dass es dämlich und albern ist. Vor ca. zwei Wochen hattest du es schon gelesen und wieder ins Regal gepackt und nun liest du es noch einmal? Ist es auf einmal so gut?“
Lea sah immer noch nicht auf.
,, Es ist wirklich ziemlich interessant …“, sprach sie schlicht.
,, Manche Bücher muss man erst mehrmals lesen, um es zu merken …“
,, Worum handelt es?“, fragte Lelia gnadenlos weiter.
,, Wäre es auch was für mich?“
Die Alte nahm einen Schluck Tee, ihr Blick war weiterhin nach unten gewandt.
,, Nun … wenn du Hexenverbrennungen magst, dann kann ich es dir empfehlen.“
,, Und wer ist deine Lieblingsfigur?“
,, Ach … ich und Namen …“
,, Dein Lieblingskapitel?“
Endlich sah Lea auf.
,, Was soll das, Lily?“, fragte sie rau und griff nach ihrer Pfeife.
,, Was soll was?“, verteidigte sich das Mädchen und setzte die beste Unschuldsmine auf, die sie beherrschte.
,, Ich frage doch nur! Wenn du es so toll findest, dass du es schon gar nicht mehr aus der Hand legen kannst …“
,, Das scheint dich ja sehr zu kümmern!“, redete Lea tonlos.
,, Reines Interesse!“
Die Alte sagte nichts und Lelia starrte sie weiter an. Langsam platze ihr der Kragen.
Als sich Lea schließlich wieder ihrem Essen zuwenden wollte, da hielt es das Mädchen nicht mehr aus.
,, Was habe ich dir getan?!“, blaffte sie.
,, Du lässt mich nicht mehr alleine Zuhause, du weichst meinen Fragen aus, du stürmst die Treppen hinauf, wenn du merkst, dass ich ohne dein Wissen in meinem Zimmer bin … Das Schlimmste ist aber, dass dein Verhalten so auffällig ist, dass es selbst einem blinden Schimpansen aufgefallen wäre! Du wirkst müde, hier passieren komische Dinge, aber niemand will mir sagen, was los ist! Es wäre ja alles nur halb so schlimm, aber mir geschehen all diese Dinge! Habe ich nicht ein Recht darauf zu erfahren, was hier abgeht?“
Als sie geendet hatte, schnaufte sie wütend. Lea sah immer noch auf ihr Essen und das machte das Mädchen fuchsteufelswild.
,, Tantchen!“, rief sie hilflos und endlich sah sie wieder auf.
,, Was willst du hören, Lily?“, fragte sie barsch, doch ihr Blick hatte etwas Durchdringliches.
,, Was soll ich dir sagen? Was glaubst du, was hier geschieht?“
Das Mädchen stöhnte verzweifelt auf.
,, Ich weiß nicht, was hier los ist! Darum frage ich dich doch! Und was ich hören möchte, ist die Wahrheit! Ich will nur die Wahrheit hören, nicht mehr und nicht weniger! NUR DIE WAHRHEIT!“
,, Was ist denn die Wahrheit?“, wollte sie wissen und das Mädchen starrte sie ungläubig an.
,, Was ist für dich die Wahrheit, Lily? Die Wahrheit ist etwas, das man beweisen kann, das man bezeugen kann. Das ist für viele Menschen Wahrheit. Wenn im Wald ein Baum umgefallen ist und niemand dort war, der es gesehen und gehört hat, ist er dann wirklich umgefallen? Was ist Wahrheit? Was ist Realität? Was ist Traum? Weißt du es?“
Lelia fixierte ihre Großtante gebannt und ungläubig. Sie konnte nicht glauben, was sie da zu hören bekam.
,, Willst du mich irgendwie verwirren?“, fragte sie schließlich verzagt.
,, Willst du mich so in die Irre führen, dass ich mich selbst für bescheuert halte? Wenn dem so ist, dann gratuliere! Du hast es geschafft!“
,, Du bist nicht bescheuert!“
,, Dann sag mir, was hier los ist und kontere nicht mit noch mehr Fragen!“, fauchte Lelia.
,, Sag mir doch einfach, was du denkst, was hier geschieht, Lily!“
,, Aber was willst du denn hören?!“
,, Die Wahrheit!“
,, Jetzt komm mir bloß nicht so!“
Die Alte erhob sich.
,, Hier geht etwas vor, das hast du richtig erkannt …“, sagte sie dann und sah Lelia fest in die Augen.
,, Und ich will herausfinden, was es genau ist!“
Das Mädchen starrte zurück.
,, Ich verstehe das nicht … Es geht einfach nicht in meinen Kopf!“, hauchte sie und die Großtante nickte nur.
,, Ich weiß. Darum will ich dich nicht mit einer Wahrheit quälen, die niemals eine gewesen ist!“


Der Fluch




Großtante Leas Worte gingen dem Mädchen nicht aus dem Kopf, egal was sie auch tat. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte, immer wieder suchte sie das Gespräch mit ihr, doch mehr sagte sie ihr einfach nicht.
Lelia war verzweifelt. Immerhin, dachte sie ständig, weiß ich, dass ich nicht bescheuert bin. Großtante Lea hatte schließlich bestätigt, dass im Haus etwas vor sich ging … nur was? Was war nur hier los? Wie konnte man das nur herausfinden? Wie konnte man es stoppen?
Das Mädchen schlief wieder schlechter in der Nacht, ihre Träume waren trauriger und schmerzender, manchmal weinte sie ohne Grund. Mittlerweile konnte sie es nicht mehr ertragen.
Die Kameras, die Lelia für die Geistersuche aufgestellt hatte, hatten keine Beweise geliefert, auf dem Tonbandgerät war nichts zu hören. Die Ungewissheit und Ahnungslosigkeit war das Schlimmste an allem, und am letzten Ferientag kam Lelia zu dem Schluss, dass nur sie selbst für Aufklärung sorgen konnte. Sie durfte sich nun nicht mehr von ihrer Angst lähmen lassen, egal wie unheimlich die Dinge waren, die um sie herum passierten. Sie musste ihnen auf den Grund gehen … was es auch zu bedeuten hatte …
Die Entscheidung dazu war schwierig gewesen, denn das bedeutete, dass sie dem Geheimnis des Engelsfigürchens auf den Grund gehen musste und nicht weglaufen durfte, wenn sie nochmals den bleichen Mann zu sehen glaubte.
Doch im Grunde trieb die Verzweiflung Lelia voran, ließ ihr keine andere Wahl mehr. Wenn es nämlich so weiter ging, dann wusste das Mädchen nicht, wie lange sie wirklich noch bei Trost bleiben wird.

Es war April. Die Sonne schien, die Bäume waren endlich grün, die Ferien waren vorbei und Lelia durfte endlich wieder in die Schule gehen.
Vielleicht machte sie das etwas mutiger, überlegte das Mädchen, während sie sich am frühen Morgen umzog.
Wenn sie Ablenkung hatte, sicher war, dass das normale Leben weiterging, dann konnte sie auch die Hoffnung haben, dass auch ihr Leben bald wieder in die gewohnten Bahnen geriet.
Sie blickte in den Spiegel, knöpfte ihre Bluse zu und strich sich die Haare glatt.
,, Meine Fresse …“, hauchte sie nur.
,, Ich sehe ziemlich gut aus, dafür, dass ich nicht geschlafen habe …“
Wirklich! Ihr Spiegelbild zeigte ein hübsches Gesicht, glänzendes Haar, strahlende Augen und reine Haut. Schon eine lange Zeit sah sie nicht mehr müde aus.

Lea stand unten in der Küche und summte vor sich hin. Das Mädchen betrat das Esszimmer. Sie war sogar die kleine Treppe hinunter gegangen, um alles genau unter die Lupe zu sehen, doch alles schien normal, nicht einmal das Kribbeln war da.
,, Oh! Morgen! Bereit für deinen ersten Schultag?“, fragte die Großtante, als sie mit einem Brötchenkorb in den Händen und ihrer Pfeife im Mundwinkel angetrabt kam.
,, Joah… Wird sicher lustig!“
Die Alte ließ sich nieder und goss sich Kräutertee ein, dann schnappte sie sich ihre Zeitung.
,, Und Tantchen?“, fragte Lelia, wie jeden Morgen.
,, Schon etwas Neues herausbekommen, was das Haus hier angeht?“
Es folgte die gleiche Reaktion wie immer.
,, Ich weiß, dass du dir Gedanken machst, aber noch kann ich dir nicht helfen. Halte noch etwas durch …“
Das Mädchen biss in ihr Brot.
,, Wieso soll ich durchhalten? Ich finde es gemein, dass du mich nicht aufklärst!“, fauchte sie.
,, Ich habe echt Panik vor manchen Dingen hier, weil ich sie mir nicht erklären kann und weißt du eigentlich, wie das für mich ist, wenn du sagst, hier sei etwas, mir aber nicht sagen willst, was es ist?!“
,, Es wird sicher bald aufhören!“
Lelia funkelte sie an.
,, Wieso bist du dir da so sicher? Das heißt doch, dass du genau weißt, was hier abgeht. Glaubst du, ich kann es nicht verkraften?!“
,, Nun … im Augenblick glaube ich das … ja!“
Die Alte sah auf und musterte Lelias empörten Gesichtsausdruck.
,, Du musst es begreifen können … und das kannst du noch nicht! Du musst es selbst verstehen und fühlen können, ungeachtet von dem, was ich sage … Du bist noch nicht soweit!“
,, Woher willst du das wissen?“
,, Ich kenne dich!“
Das Mädchen erhob sich vom Tisch und ballte ihre Hände zu Fäusten.
,, Warum machst du das mit mir?“, fragte sie verzweifelt.
,, Diese Dinge hier machen mich fertig! Willst du mir denn nicht helfen?“
Großtante Lea stand nun ebenfalls auf. Ihr Körper schien eisern, ihr Blick war entschlossen.
,, Das aller Wichtigste ist, dass du mir nun vertraust, Lily!“, redete sie sicher.
Sie nahm ihre Pfeife aus dem Mund und legte sie nieder, dann schritt sie auf Lelia zu.
,, All diese Begebenheiten sollen dich aus der Bahn werfen! Alles, was geschieht, will dich dazu bringen, zu verzweifeln und zu leiden! Deine Aufgabe ist es jetzt, dem zu widerstehen!“
Sie fasste Lelia fest an die Schultern. Das Mädchen starrte sie an, wusste nicht, was sie davon halten sollte.
,, Lasse dich nicht verunsichern, lasse dich nicht ängstigen! Bleibe standhaft, vertraue dich mir an, erleichtere dein Herz und lasse all das an dir abprallen!“
Lelia sah zu ihrer Großtante auf.
,, Tantchen, verdammt …!“, hauchte sie verzweifelt.
Sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte, was sie sagen sollte, was sie fühlen und denken sollte.
,, Warum begreife ich denn nicht, was hier abgeht?“
Die Alte sah sie fest an, drückte ihre Schultern.
,, Vertraue einfach deinem Tantchen!“, entgegnete sie sicher.
,, Du bist ein starkes und kluges Mädchen, dem wirklich übel mitgespielt wird, aber halte noch etwas aus! Frage nicht immer so viel und mache dich nicht so verrückt! Lebe dein Leben, gehe mit Freunden aus, lasse diese Sachen hier nicht an dich heran! Es wird nicht ewig so weitergehen, das verspreche ich dir!“
Das Mädchen starrte weiter zu ihrer Großtante hoch. Was sollte sie nur tun?, fragte sie sich.
Sollte sie den Worten Leas vertrauen? Konnte sie es denn schaffen, sich von all den Dingen, die sie um den Schlaf brachten, loszusagen? Konnte sie ihrer Großtante glauben?
Sie blickte in die erstaunlich grünen Augen der Frau und schluckte.
Die Alte hatte immer gut für sie gesorgt, war immer für sie da und hatte sie nie belogen. Sie war es der Frau schuldig, ihren Worten zu gehorchen. Immer hatte sie sich auf Lea verlassen können, ihrer einzigen Familie.
,, Wenn ich das mache, was du mir sagst …“, begann Lelia schließlich und sah immer noch fest in die Augen ihrer Großtante.
,, Dann sagst du mir auch irgendwann, was hier abgeht, ja?“
Die Alte nickte.
,, Du kannst mir vertrauen, Lily! So wie ich dir immer vertraut habe. Lebe dein Leben, ignoriere und bekämpfe deine verwirrenden, quälenden Gedanken, bis es soweit ist. Ich mache das nicht, um dich zu ärgern, sondern nur, um wirklich herauszufinden, was hier los ist!“
Die Nichte atmete tief ein.
,, Und es wird auch nichts geschehen …?“, fragte sie schließlich.
,, Ich kann einfach die Dinge ignorieren und das ist in Ordnung?“
Lea nickte.
,, Das ist sogar notwendig. Dein starker Charakter und dein sonniges Wesen sind wichtige Begleiter in deinem Leben. Die darfst du niemals verlieren.“
Lelia dachte nach.
Sie musste ihrer Großtante nun einfach vertrauen. Sie musste es versuchen!
,, Gut …“, sprach sie letztendlich.
,, Ich gebe mein Bestes und lasse mich nicht fertigmachen! Aber irgendwann muss ich die Wahrheit erfahren … das bist du mir schuldig!“
,, Ich gebe dir mein Wort!“
Sie standen sich noch einige Sekunden schweigend gegenüber, schauten einander in die Augen.
Es fiel Lelia sehr schwer all diese Dinge zu versprechen, die sie doch so dringend wissen wollte. Die Worte ihrer Großtante machten ihr Angst und dagegen konnte sie nichts machen. Es war unbeschreiblich, was in ihr vorging. Etwas Großes schien hier im Gange zu sein, etwas so Offensichtliches, das Lelia trotzdem nicht begreifen konnte. Warum war es so?
Wann würde sie es erfahren?
Es brachte nichts, jetzt darüber zu sinnen und sich verrückt zu machen. Sie musste jetzt versuchen, dem Wunsch ihrer Großtante nachzukommen. Sie musste ihr jetzt vertrauen.
In Moment schien das vielleicht wirklich der einzige Weg zu sein …

Die Mädchen und Jungen in der Schule begrüßten Lelia fröhlich und fragten sie, ob es ihr wieder besser ginge.
,, Du siehst wirklich total erholt aus!“, sagte ein Junge.
,, Wie das blühende Leben!“, meinte ein Mädchen.
Die Lehrer waren freundlich wie immer, niemand schien ihr ihren Ausraster im Klassenzimmer noch nachzusehen und darüber war sie froh und dankbar.
Nun musste sie es nur noch schaffen, all diese Gedanken aus ihrem Kopf zu bannen und die Schule mit ihren Lehrern und langweiligen Fächern zu genießen.
Der normale Alltag fing wieder an und sicherlich war ihr das eine Hilfe, all die merkwürdigen Begebenheiten zumindest in der Schule zu vergessen.

,, Kaum einen Tag Schule und die Lehrer brummen uns schon Hausaufgaben auf!“, blaffte Oliver, als sich die Clique auf ihrem angestammten Viererplatz setzte.
,, Und dann auch noch Englisch …“, heulte Malvin und fuhr sich wild durch seinen Lockenkopf.
,, Eine ausführliche Analyse und Interpretation zum Charakter der Lady Macbeth!“
Wieder heulte er laut auf und einige Umstehende warfen ihm einen vorsichtigen Blick zu.
,, Das kann ich nicht!“
Holly sah ihn mitleidig an, doch Oliver schnaubte nur.
,, Das geht locker von der Hand … mich nerven die verdammten Hausaufgaben in Geschichte. Diese verfluchten Revolutionen, diese dämlichen Parlamente, erlassene Gesetze und ständig wechselnde Könige … wer kann sich das merken? Gott selbst blickt da schon nicht mehr durch!“
,, Das ist alles gar nicht so schwer, wenn man sich markante Stichworte herausschreibt“, meinte Holly dazu.
,, Wenn du erst mal eine gewisse Ordnung und Übersicht gewonnen hast, dann kannst du eine gut gegliederte Hausaufgabe verfassen!“
Der Junge stöhnte und lehnte seinen zauberhaften Kopf gegen die Fensterscheibe.
,, Vielleicht muss ich dich wirklich um Nachhilfe bitten, Holly…“, sprach er seufzend und das Mädchen wurde augenblicklich rot.
Lelia grinste verhalten.
,, Ich helfe dir gerne, Olli!“, sprach sie so fest sie konnte.
,, Und was ist mit mir …?“, quengelte Malvin.


Es war ein lauer, sonniger Abend und das rote Licht des Himmels funkelte wie tausend Sterne auf dem weißen Marmor.
Der Schreibtisch aus Mahagoni war vollgepackt mit Pergament, Federn, einer Landkarte, Briefen und Dokumenten, Erlassen und scheinbar wichtigen Notizen.
Der Stuhl war jedoch verweist.
Die schöne Prinzessin Aruna stand an ihrem gigantischen und hohen Schlossfenster und blickte auf die untergehende Sonne.
Ihre Dienerin Elga stand ihr wie immer zur Seite.
,, Ich bekam heute einen Brief von der Amethystgarde“, sprach Prinzessin Aruna, ohne ihren Blick von der Sonne zu wenden.
Das sanfte Licht ließ das Kleid der schönen Frau wie fließendes Gold aussehen.
,, Die Amethystgarde?“, fragte Elga erstaunt.
,, Sind sie nicht in Fortun stationiert?“
,, So ist es …“
Die Prinzessin atmete tief ein und aus.
,, Sie sagen, die Tempeldiener seien in Aufruhr.“
Die Dienerin hob die Brauen.
,, Wirklich? Das ist schon eine lange Zeit nicht mehr so gewesen … sicher schon seit vier Jahren. Bedeutest das also … naja …“
Aruna nickte und endlich wendete sie sich vom Fenster ab.
,, Das bedeutet, dass das Orakel bereit ist, eine Prophezeiung zu verkünden.“
Elga schluckte aufgeregt.
,, Herrin!“, rief sie.
,, Das letzte Mal haben sie über Jenen verkündet, der das Schwert an sich nehmen konnte! Vielleicht prophezeien sie uns diesmal wieder Hilfe!“
Die Prinzessin ging zu ihrem Schreibtisch zurück.
,, Nicht jede Prophezeiung enthält gute Nachrichten …“, entgegnete sie.
,, Wenn ich ehrlich sein soll, dann fürchte ich mich sogar etwas vor dem Tag, an dem das Orakel für die Ankündigung bereit ist!“
,, Aber Hoheit …“
,, Ich weiß …“, lächelte die Prinzessin.
,, Solange nur eine Seele meines Volkes noch Hoffnung besitzt, solange werde auch ich daran glauben, dass es noch Rettung gibt. Das Schicksal dieses Königreiches ist noch nicht besiegelt!“
Die schöne Frau griff nach der Landkarte.
,, Es ist uns immerhin gelungen die Dörfer im Süden zu evakuieren und wir konnten den Angriff der Sümpfe erfolgreich zurückschlagen! Der Kampfgeist von Spes ist noch nicht erloschen!“
Elga nickte heftig.
,, Und sicherlich werden Arthur und seine Soldaten bald schon einige Händler mit Wyverneiern ausfindig machen! Sie suchen gewissenhaft nach den Schuldigen und durchstreifen jedes Dorf!“
,, So ist es.“
Die Sonne sank weiter zum Horizont. Es pochte wild an der Tür. Die Frauen fuhren zusammen.
,, Wer ist da? Tritt ein!“, rief Aruna, die Tür schwang auf und ein schmutziger, bärtiger Soldat stolperte herein.
Zwei von Arunas Wachposten eilten ihm hinterher.
,, Verzeiht, Hoheit!“, keuchte einer von ihnen.
,, Er ist einfach auf Euer Zimmer zugestürmt.“
,, Verzeiht unsere Unachtsamkeit!“
Der Soldat fiel auf die Knie, er schien etwas verletzt, Elga, die einen Dolch gezogen hatte, beäugte den Mann und steckte ihn wieder zurück.
Die Prinzessin jedoch rannte auf den Soldaten zu.
,, Was willst du? Rede!“, sprach sie fest und herrisch.
,, Hoheit!“, keuchte der Mann.
,, Verzeiht mein eiliges Auftreten, aber wir haben einen Gefangenen hierher gebracht! Es ist kein normaler Gefangener … er ist gefährlich!“
Er japste und hielt sich die Seite, die zu bluten schien.
,, Elga!“, rief Aruna, die es sah.
,, Versorge seine Verletzung!“
Die Dienerin gehorchte sofort, eilte zum Schrank, holte dort ein kleines Kristallfläschchen heraus, rannte zum Soldaten und beugte sich über ihn.
Vorsichtig zog sie den Stoff seines Gewandes auseinander und träufelte die klare Flüssigkeit auf seinen langen Schnitt. Es dauerte keine Sekunde und die Verletzung schien wieder zusammenzuwachsen.
,, Habt Dank, Hoheit!“, sprach er demütig, doch die Prinzessin winkte nur ab.
,, Bitte erkläre mir, was geschehen ist!“, befahl sie und der Soldat nickte schnell.
,, Ich stamme aus der Rubinkerntruppe, die in Holzstadt patrouilliert ist. Während unseres Dienstes ist uns ein junger Mann aufgefallen, der randaliert hat und scheinbar gewalttätig war. Dies erinnerte uns an die Geschichte über die Menschen, die entführt wurden und einige Tage später wieder auftauchten … allerdings ohne Sinn und Verstand!“
Aruna hob die Brauen.
,, Bitte rede weiter!“, sprach sie angespannt.
,, Wir beschlossen diesen jungen Mann festzunehmen … wir wollten ihn befragen …“
Es fiel ihm schwerer zu reden, ständig schluckte er, er zitterte und keuchte.
,, Was ist geschehen?“, fragte die Prinzessin und ging zu dem Soldaten in die Knie.
,, Bitte sage mir, warum du so verängstigt bist!“
Elga starrte den Mann an, die Leibwachen ebenso. Wieder schluckte der Soldat, atmete zitternd aus und redete weiter:
,, Dieser Junge schien zu verwirrt, um irgendetwas erzählen zu können, ständig faselte er etwas über seine Schwester … er schrie und weinte, als litte er Qualen. Wir beschlossen ihn zu Euch ins Schloss zu bringen, damit Ihr vielleicht mehr herausfinden könnt. Wenn wir wüssten, wo er sich während seiner Abwesenheit aufgehalten hat, könnte es uns vielleicht helfen, dachte ich …“
Wieder keuchte er, schluckte, und schien sich dann etwas zu sammeln.
,, Der Transport des Gefangenen verlief problemlos … bis gestern Abend … Meine drei Soldaten und ich waren nur noch wenige Meilen von der weißen Stadt entfernt … da geschah es …“
Nun zitterte es so stark, dass es ihm die Sprache verschlug.
Aruna schluckte, Elga knetete ihre Hände.
,, Bei den Göttern …“, hauchte die Prinzessin.
,, Was ist denn nur so Schreckliches geschehen?“
Der Mann schluchzte auf.
,, Er … ist … zu einem Monster geworden …“, keuchte er und die Umstehenden rissen die Augen auf.
,, Es kam so plötzlich … wir haben es nicht kommen sehen … Er hatte diese … unglaublichen Kräfte …“
Er atmete schwer und berichtete weiter:
,, Er zerriss seine Fesseln … seine Augen … sie waren weiß … und aufgerissen … er brüllte, wie ein … rasender Stier … er war nicht aufzuhalten! Sofort stürzte er sich auf meine Männer … einen tötete er …“
Ein erschrockenes Keuchen ging um. Aruna hielt sich das Herz.
,, Diese Kraft!“, schrie der Soldat aus und Tränen tropften von seiner schmutzigen Nase.
,, Er riss ihm den Arm aus … einfach so … er zerfetzte einen meiner Männer … mit bloßen Händen … Nur wir zusammen konnten ihn aufhalten … wir konnten ihn nicht töten, da er unbedingt von Euch befragt werden muss, doch … nichts konnte ihn stoppen … dieser Blick in seinen Augen … ich werde … es nie … vergessen …“
Er schlug mit der Faust auf den Boden und schluchzte weiter. Er dämmerte in der großen Halle und wie von Zauberhand gingen die Kerzen an.
,, Wo ist er?“, fragte Aruna entschlossen und erhob sich.
,, Ich will ihn sehen!“
Ein Leibwächter ergriff das Wort.
,, Er wurde sofort in den Kerker gesperrt, das habe ich so veranlasst, Hoheit!“
,, Was ist mit meinen übrigen Männern?“, schluchzte der Soldat und wieder antwortete der Diener:
,, Sicherlich werden sie von den Leibwächtern befragt!“
Aruna nickte.
,, Ich danke dir, für dein mutiges Handeln, tapferer Soldat! Nimm bitte mein herzlichstes Beileid für deinen gefallenen Kameraden an.“
Sie legte ihre Hand mitfühlend auf den schluchzenden Soldaten.
Ihr Blick huschte zu ihren Dienern.
,, Kümmert euch bitte gut um ihn und seine Männer. Stellt ihnen ein Gemach zur Verfügung und kommt ihren Wünschen nach. Sie brauchen jetzt Ruhe und Erholung … gebt ihnen ein Elixier für einen ruhigen Schlaf!“
,, Ja, Hoheit!“
Die Diener halfen dem zitternden Soldaten behutsam auf die Beine.
,, Ich werde mit dem Gefangenen sprechen!“, sagte Aruna unerschrocken und schritt aus der Halle, Elga folgte ihr.
Schweigend und angespannt gingen sie durch die gigantische, ebenfalls weiß marmorierte Eingangshalle, von dort aus durch eine unscheinbare und unpassende Holztür, die finsteren Steinstufen des Kerkers hinunter.
Schreie waren bereits zu hören, die den Frauen das Blut in den Adern gefrieren ließ, mit jeder Stufe wurden sie lauter.
Aruna beeilte sich, stieg schleunigst hinab und huschte den feuchten, mit Fackeln beleuchteten Kerkergang entlang.
Sie erblickte zwei Wachen, die an einem Kerkergitter standen, die Schreie waren nun unerträglich laut.
,, Hoheit!“, rief eine Wache über das Brüllen hinweg.
,, Er ist kaum ansprechbar! Er schreit nur!“
Die Prinzessin nickte und schritt zum Gitter. Elga folgte ihr.
Auf dem steinernen Boden kniete ein junger Mann, der kaum zwanzig Jahre alt schien. Sein hellbraunes, schulterlanges Haar hing ihm stumpf und schmutzig über das Gesicht und seine ebenso hellbraunen Augen starrten panisch ins Leere.
,, Ich will nicht!“, brüllte er.
,, Mach, dass es aufhört!“
Aruna trat näher.
,, Sage mir deinen Namen!“, befahl sie mit lauter Stimme, doch der Junge reagierte nicht.
,, Schwester!“, schrie er, hielt sich seinen Kopf und stieß ein qualvolles Brüllen aus.
,, Schwester!“
,, Was ist mit deiner Schwester? Was ist mit ihr geschehen?“, fragte Aruna weiter, doch wieder kam keine Reaktion.
,, Schwester!“
Er zitterte und warf sich vollends auf den Boden. Sein Schreien wurde zu einem Wimmern, Tränen rannen über sein dreckiges Gesicht.
Die schöne Frau warf Elga einen kurzen Blick zu, fingerte an einer Brosche, die sie an der Brust trug, nahm sie in die Hand und streckte sie durch das Gitter.
Sie sah den jungen Mann fest an.
,, Ich bin Aruna, Prinzessin des Königreiches Spes!“, sprach sie laut und deutlich.
Der Junge zuckte etwas zusammen.
Elga nickte langsam.
,, Schwarzmagie …“, hauchte sie.
,, Sage uns, wer du bist und was mit dir geschehen ist! Wir können dir und deiner Schwester helfen!“
Der Atem des jungen Mannes wurde ruhiger, die Prinzessin hielt die Brosche noch immer fest in ihrer Hand.
,, Tötet mich, Hoheit …“, keuchte der Junge dann und die Frauen blickten sich angespannt an.
,, Ich will niemanden mehr wehtun …“
,, Wir können dir helfen! Du wirst niemanden mehr verletzen … wir werden dich von deinen Qualen erlösen, aber bitte sage uns, was mit dir geschehen ist!“
,, Charlotte …“, hauchte er verzweifelt und sein Körper begann wieder zu beben.
,, Meine Schwester … wo ist sie?“
,, Wir werden sie finden und retten! Dann bist du wieder mit ihr vereint!“, redete Aruna sicher, die Brosche war immer noch auf den Jungen gerichtet.
,, Doch dafür musst du uns sagen, was geschehen ist!“
Der Junge hielt sich den Kopf, sein Blick war auf das Schmuckstück gerichtet.
,, Wir … haben Holz gesammelt … Feuerholz … Es war schon spät … es war in der Nacht … wir wollten nach Hause gehen …“
Seine Augen schweiften über die Brosche, sein Atem ging ruhiger.
,, Wir haben ihn nicht kommen sehen … er war da … er nahm meine Schwester … er nahm Charlotte … dann kam er zu mir …“
,, Was hat er getan? Konntest du ihn erkennen?“, fragte Aruna aufgeregt weiter, doch der Junge stöhnte auf.
,, Ich erinnere mich … an nichts … ich wachte auf … ständig sehe ich die Dämonen … sie recken ihre Arme nach mir aus … mein Herz ist kalt … alles ist dunkel … ich verletze andere Menschen … ohne es zu wollen … doch die Dämonen sagen es mir … sie sind in meinem Kopf … sie tun mir weh …“
Er schrie wieder, hielt sich den Kopf. Die Dunkelheit breitete sich in der Zelle aus, nur das silbrige Mondlicht leuchtete durch das Fenster.
Aruna riss die Augen auf, schnell zuckte ihre Hand zurück und sie drückte die Brosche wieder an ihre Brust.
Der Junge gab keinen Ton mehr von sich. Sein Atem war tief und kontrolliert, er lag vollkommen bewegungslos da.
,, Was ist geschehen, Hoheit?“, fragte Elga erschrocken, als die Prinzessin zurückstolperte.
,, Die Schwarzmagie!“, entgegnete sie keuchend.
,, Sie hat zugenommen! Es ist so viel!“
Die Dienerin und die Wachen schluckten. Immer noch bewegte sich der Mann nicht, doch seine langsamen Atemzüge wurden zu einem lauten Hecheln.
,, Was geschieht da?!“, fragte Elga und stolperte zurück.
,, Was hat er?!“
Aruna starrte ihn gebannt an. Sein Gesicht verzog sich, seine Muskeln spannten sich an, immer noch hatte er einen lauten, hechelnden Atem.
Er stieß einen Schrei aus, einen, der das Blut der Anwesenden zu gefrieren schien. Mit Angst in den Augen starrten sie auf den Jungen, der seinen Mund weit aufgerissen hatte.
Mit einem Satz sprang er auf die Beine und stürzte sich auf das Gitter des Kerkers. Ein lautes, ekelhaftes Knirschen und Knacken ertönte, der junge Mann riss seine Augen auf und sie waren weiß, wie zwei Vollmonde.
Alle stolperten zurück, ein Diener strauchelte und fiel zu Boden.
Mit einem wahnsinnigen Blick und grässlichen Schreien streckte der Mann seine Arme nach der Prinzessin aus. Er wirkte bleich und ausgemergelt, mehr tot als lebendig.
,, Ein Fluch …“, hauchte Aruna und sah betroffen auf den zügellosen Jungen.
,, So etwas habe ich noch nie gesehen …“
Elga wimmerte, der Mann schrie wie am Spieß, laut und tief, wie ein riesiges Monster.
Die Prinzessin faltete ihre Hände, schloss entsetzt die Augen.
,, Und so geht es allen Menschen, die nach ihrem seltsamen Verschwinden plötzlich wieder auftauchten. Es waren nur Männer … junge Mädchen, die verschwunden sind, sind bis heute noch nicht wieder zurückgekehrt … wer weiß, was mit ihnen geschehen ist …“
Der Junge schlug gegen die Gitterstäbe, seine Hände waren blutig, doch das machte ihm nichts aus, er wirkte irrer, denn je.
,, Es ist noch schlimmer, als ich dachte …“, sprach Aruna leise.
,, Viel schlimmer …“


Der Besuch des bleichen Mannes




Die Hausaufgaben waren schwierig, da Lelia die neu angefangenen Themen noch nicht richtig begriffen hatte. Normalerweise hätte sie Holly um Hilfe gebeten, aber die Freundin hatte ihrem Schwarm Oliver bereits zugesagt und Lelia wollte ihnen die gemeinsame Zeit sicher nicht verderben. Sie hatte zwar wenig Ahnung von Romantik, doch immerhin besaß sie ein wenig Taktgefühl.
Es war Mitte April, es regnete und stürmte, wie es in diesen Monat normal war. Lelia konnte bei diesem Unwetter das Zimmer nicht verlassen, was sie wieder in die Gedanken um das Haus trieb.
Es war schwerer, als sie ohnehin schon geglaubt hatte, der Bitte Leas nachzugehen und die Begebenheiten vorerst zu ignorieren, doch sie tat wirklich ihr Bestes.
Leise summte sie ein Lied und betrachtete den wolkenverhangenen Himmel draußen, sie kritzelte die Ränder ihrer Biologiehausaufgaben voll.
Das Türschloss knackte, sie fuhr zusammen und drehte sich um. Schon öffnete sich die Tür zu der kleinen Treppe wieder. Lelia schluckte und versuchte ihren Blick von dem Geschehen abzuwenden.
Nicht daran stören!, befahl sie sich.
Nicht beachten! Einfach damit leben …
Seufzend wandte sie sich wieder ihren Hausaufgaben zu. Andere Menschen hätten so etwas nicht unbedingt ignorieren können und blind einem anderen Menschen vertrauen können, doch solange es nicht drunter und drüber ging, die Spieluhr nicht lief und das Kribbeln nicht allgegenwärtig war, dann konnte sie es noch gerade so aushalten.

Mit einer Regenjacke, nassen Schuhen und schlechter Laune, stiegen Lelia und Holly in den Bus zur Schule ein. Sie wurden wie immer von ihren Freunden erwartet.
,, Stinkendes Wetter, was?“, fragte Malvin tonlos, als sich die tropfende Lelia neben ihn setzte.
,, Allerdings …“
,, Die Pfützen sing gigantisch!“, kommentierte Oliver den Wortwechsel.
,, Meine Schuhe sind vollkommen nass, aber ich hatte noch Glück. Meine Schwester Cindy ist gestolpert und in eine echt tiefe Pfütze gefallen!“
Er grinste schadenfroh.
,, Da musste sie noch mal nach Hause gehen und hofft jetzt, dass Dad sie fährt!“
,, Das hätte ich gerne gesehen …“, seufzte Malvin verträumt.
Holly schüttelte streng ihren Kopf und Lelia blickte aus dem Fenster. Heute konnte sie wieder nicht raus, überlegte sie.
Sie musste sich also abermals darauf konzentrieren, die Dinge in ihrem Haus zu ignorieren.
Es war zum Mäusemelken.
,, Aber wisst ihr was?“, meinte Holly, die scheinbar die allgemeine Regenstimmung heben wollte.
,, In knapp einer Woche haben wir endlich unseren Frühjahrsball! Das wird sicherlich ganz große klasse!“
Oliver nickte lächelnd.
,, Das Komitee ist schon ganz aufgeregt. Sie sagen, sie haben den besten Ball aller Zeiten auf die Beine gestellt. Heute werden auch die Flyer verteilt!“
,, Die sagen doch jedes Mal, dass das der beste Ball wird …“, gähnte Malvin.
,, Und bis jetzt war da wenig Spektakuläres bei.“
Er blickte müde zu Lelia.
,, Hast du was dagegen, wenn ich im Jogginganzug komme …?“
,, Interessiert mich nicht … mach, was du willst!“, entgegnete sie achselzuckend.
Holly schüttelte pikiert den Kopf.
,, Leute!“, rief sie.
,, Wir sind nur ein Mal jung! Lass uns doch diese Feste genießen! Ich verstehe dich nicht, Malvin!“
Der Lockenkopf blickte erstaunt auf.
,, Du hast doch in Lily echt eine hübsche Partnerin gefunden. Da kannst du dich doch wirklich mal etwas zurechtmachen!“
Malvin verdrehte die Augen.
,, Ich hab nicht gesagt, dass Lily hässlich ist … Sie ist nur eben nicht unbedingt mein Traum-Date …“
Oliver hob die Brauen, Hollys Augen weiteten sich. Nur Lelia ließen seine Worte vollkommen kalt.
,, Wenn du mit einer Anderen zum Ball gehen willst, dann hast du meinen Segen … vielleicht lässt mich mein Tantchen dann Zuhause bleiben!“
Noch während sie das sagte, musste sie sich eingestehen, dass selbst der Ball besser war, als die unheimlichen Dinge Zuhause.
,, Mein Traum-Date ist schon vergeben …“, knurrte Malvin und blickte beleidigt aus dem Fenster.
Oliver seufzte auf.
,, Marion Osterfield ist seit gut zwei Jahren vergeben!“, meinte er.
,, Sie und Josh Cartwright sind das Traumpaar schlechthin. Ich verstehe einfach nicht, was du auch von einer Cheerleaderin willst … die angeln sich doch ohnehin nur die Sportler!“
,, Ich weiß ja!“, rief Malvin theatralisch.
,, Doch sie ist eben der Traum eines jeden Jungen …“
Holly, Oliver und Lelia verdrehten die Augen, sie ignorierten Malvin und redeten weiter über den Ball.
,, Welche Farbe hat dein Kleid eigentlich?“, fragte Oliver Holly plötzlich, die sofort höchst nervös schien.
,, Ähm … gelb, wenn es für dich in Ordnung ist.“
,, Sicher!“, sagte der Junge schulterzuckend.
,, Ich möchte es nur mit meiner Kleidung abstimmen!“
Holly warf ihm einen so warmherzigen und bewundernden Blick zu, als hätte er soeben eine Niere gespendet.
Lelia war das zu blöd und sie blickte ebenfalls aus dem Fenster.
Der Bus hielt an einer Ampel, der Regen wurde stärker und der Verkehr kam nur langsam voran.
,, Hoffentlich kriegen wir keine Wirbelstürme …“, sprach Malvin, der aus seiner stillen Trauer endlich wieder erwacht schien.
,, Oder Überschwemmungen!“
,, Ich hoffe einfach, dass es bis zum Ball wieder etwas freundlicher ist!“, sagte Oliver.
Lelia sagte nichts dazu. Die Müdigkeit machte sich wieder bemerkbar und sie hoffte, dass sie nicht wieder von Hirngespinsten, wie dem blassen Mann heimgesucht wurde. Das Letzte, das sie gebrauchen konnte, war ein weiterer Anfall in der Klasse.
Obwohl sie alles versuchte, was ihre Großtante ihr aufgetragen hatte, nahmen ihre verwirrenden Träume weitere Dimensionen an. Die Traurigkeit und der Schmerz, die Sehnsucht und die Hoffnungslosigkeit, die sie im Schlaf immer verspürte, ließen sie einfach nicht los. Es war, als wären sie zu einem Teil von ihr geworden.
,, Du pennst mit offenen Augen, Lily!“, sagte Oliver plötzlich und fuchtelte mit seiner Hand vor dem Gesicht des Mädchens herum.
Sie zuckte zusammen.
,, Ist alles in Ordnung?“, wollte Holly wissen.
,, Klar!“, entgegnete sie schnell.
Lelia rieb sich die Augen.
,, Tut mir leid. Hab nicht so gut geschlafen …“
Oliver sah sie prüfend an.
,, Das fängt ja echt gut an. Ich dachte, du hättest deine Schlafprobleme endlich im Griff. Schließlich kannst du ja nicht ewig beurlaubt werden!“
Das Mädchen funkelte ihr Gegenüber an.
,, Ich will auch gar nicht beurlaubt werden!“, zischte sie wütend.
,, Aber ich kann auch nichts für meine-!“
Sie stockte.
Malvin und Oliver sollten lieber nichts von ihren Träumen erfahren, Lelia kannte sie gut genug und wusste, dass sie sich nur darüber lustig machten.
,, Ich kann nichts für meine Schlafprobleme!“, blaffte sie stattdessen.
,, Die hören schon irgendwann auf!“
Der Junge seufzte, als hätte er persönlich mit Lelias Schlafstörungen zu kämpfen. Das machte sie noch wütender.
,, Hey! Wenn es dich nicht interessiert, dann frag auch nicht!“
Malvin schaltete sich ein.
,, Vielleicht kannst du nicht gut schlafen wegen der … naja … wegen der Geisterrrrrrrrr!“, meinte er, setzte eine vielsagende Miene auf und ruderte langsam mit den Armen.
,, Du meine Güte bist du heute wieder witzig! Hast wohl Juckpulver geschnupft, was?!“
,, Hey! Keinen Streit, Leute!“, sagte Holly beschwichtigend.
,, Seid froh, dass ihr gut schlafen könnt! Sicher wird sich das Schlafverhalten von Lily auch wieder richten können. Sie ist ja auch noch mitten in der Umstellung, da nun wieder Schule ist.“
Sie sah besonders Malvin mit einem bösen Blick an.
,, Ich bin mir sicher, dass du auch nicht die beste Laune hättest, wenn du müde wärest!“
,, Lily ist nicht müde, sie ist komisch!“, meinte Malvin daraufhin ungerührt und zuckte mit den Schultern.
,, Erst pennt sie in der Klasse ständig ein, dann kriegt sie ihren Kreischanfall und dann sieht sie auch noch Gespenster in ihrem Zimmer.“
,, Ich habe nicht gesagt, dass ich Gespenster gesehen hab!“, fauchte Lelia den Jungen an.
,, Wenn du meinst, mich hier als bescheuert hinstellen zu müssen, dann kannst du mich mal am Hintern lecken!“
Sie war sichtlich gereizt. Dieses Thema beschäftigte sie ohnehin sehr, da konnte sie auf solch dumme Kommentare verzichten.
,, Malvin…, Lily …!“, redete Holly ruhig und mit sanfter Stimme, doch Oliver verschränkte seine Arme und meinte:
,, Aber langsam wird es echt albern … Du hast ja quasi jeden Tag ein anderes Problem …“
Lelia starrte den Jungen an und hatte das Gefühl, ihr Blut würde sieden. Sie hätte es wissen müssen, von Anfang an. Sie hätte ihnen niemals von den seltsamen Begebenheiten bei sich Zuhause erzählen sollen.
,, Das mit dem Kleiderschrank war aber auch komisch!“, sagte Holly, die die Situation immer noch retten wollte.
,, Wer hätte denn gedacht, dass es Miss Smith war?“
,, Jeder logisch denkende Mensch!“, schoss Malvin sofort zurück.
,, Stimmt! Darum hast du diesen Verdacht auch sofort geäußert, Einstein!“, blaffte Lelia und hatte ihre Hände zu Fäusten geballt.
,, Du hattest doch die meiste Panik! Als wir sagten, dass wir uns trennen, da hast du dir doch fast in deine übergroße Hose gemacht!“
Oliver, Malvin und Holly starrten Lelia an, die ihre Wut nicht mehr kontrollieren konnte.
,, Du hast keine Ahnung!“, zischte sie.
,, Aber du redest nur Blech!“

Den Rest des Tages versuchte Holly vergebens, den Streit zwischen Lelia und den Jungen zu schlichten.
Lelia war immer noch gallsüchtig und so schnell konnte sich das auch nicht legen. Sie wusste noch genau, wie sie sich gefühlt hatte, als sie den Zusammenbruch in der Schule hatte, wie sie geglaubt hatte, sie wäre verrückt, nachdem sie die Spieluhr gehört hatte. Diese Gedanken hatten sie gequält, die Ahnungslosigkeit hatte ihr keine Ruhe gelassen. Sie war immer ein rational denkender Mensch gewesen, ebenso, wie ihre Freunde.
Sie hatte keine Ahnung, was auf sie zukommen wird, noch was ihre Großtante ihr irgendwann erzählen wird, und das machte sie zusätzlich rastlos und unsicher.
Wenn jetzt auch noch ihre Freunde meinten, sie wegen der Geistersache aufzuziehen, dann wusste sie wirklich nicht, was sie noch machen sollte.
Sie hätte die Dinge im Haus niemals mit ihren Freunden besprechen dürfen, sie wusste, wie allergisch sie darauf reagierten.
Tolle Freunde!, dachte sie bitter.

Zuhause angekommen warf sie ihren Schlüssel auf die Kommode und kickte ihre Schuhe in die Ecke.
Großtante Lea summte in der Küche.
,, Oh! Miese Laune?“, fragte sie forsch und rührte in dem Suppentopf.
,, Willkommen im Club … Ich hab den Apfelkuchen im Ofen vergessen und jetzt ist er nur noch ein verdammtes Stück Kohle!“
Der Pfeifenrauch zischte aus ihrem Mund, sie schöpfte Suppe auf zwei Teller.
,, Und was war bei dir?“
Immer noch zornig schmiss sich Lelia auf ihren Stuhl.
,, Oliver und Malvin halten mich nur für eine Psychopathin … nix Schlimmes also!“, knurrte sie.
Die Großtante stellte ihr den Teller hin und zog die Stirn kraus.
,, Wie herrlich … Es geht doch nichts über eine Prise Ironie!“
Sie setzte sich Lelia gegenüber.
,, Warum halten sie dich denn für eine Psychopathin?“, wollte sie wissen und rührte in der Suppe herum.
,, Ach …“, murmelte das Mädchen und senkte ihren Blick.
,, Du weißt doch … in den Ferien. Die Sache mit dem Kleiderschrank!“
Der Löffel wurde niedergelegt.
,, Ich verstehe …“
Lelia seufzte.
,, Dazu kommen eben noch die Sachen mit der geistigen Abwesenheit, der Übermüdung und den Schlafproblemen und schließlich mein grandioser Auftritt vor Mr. Worthshire. Das ist zu viel für normale Menschen. Jetzt denken sie, ich steigere mich in etwas hinein und mache Theater!“
Lea blickte ihre Nichte ernst an.
,, Die Sache ist meine Schuld!“, sprach sie dann und das Mädchen sah auf.
,, Ich hätte dir schon viel früher die Sache mit dem Haus nahelegen sollen, dann hättest du dich nicht ausgerechnet an diese starrköpfigen Bengel wenden müssen!“
Sie nahm einen tiefen Zug an der Pfeife.
,, Trotzdem bin ich mir sicher, dass ihr euch wieder vertragen werdet. Ihr braucht nur etwas Zeit.“
Sie sah Lelia scharf an.
,, Und was ist mit Holly? Hält sie denn zu dir?“
,, Ja! Sie hat mich in Schutz genommen …“
,, Das ist die Hauptsache!“

Lelia erledigte ihre Hausaufgaben und beschloss dann, früh ins Bett zu gehen. Noch immer konnte sie den Streit mit den Jungen nicht vergessen und ärgerte sich darüber, dass noch eine Sache dazu kam, die ihre Gedanken beherrschte.
Wie immer stellte sie den Schreibtischstuhl vor die Tür zur kleinen Treppe, zog sich ihr Nachthemd über und legte sich hin.
Sie starrte zur Decke oder aus dem Fenster zum Mond hinauf. Sie liebte seinen Anblick mittlerweile und konnte es nicht mehr über sich bringen, ihn mit den Vorhängen zu verdecken.
Leise seufzte sie, schloss die Augen und fiel in einen tiefen Schlaf.

Ein Scharren ließ sie zusammenschrecken. Es war, als ob etwas über den Boden geschoben wurde. Für einen Augenblick wusste Lelia nicht, was sie da dachte und wie sie das Geräusch zuordnen konnte, doch als sie den kalten Luftzug spürte, der an ihr vorüberging, da wusste sie, dass sich in ihrem Zimmer etwas getan hatte.
Schnell öffnete sie ihre Augen, wandte sich nach links und bekam einen schmerzhaften Stich in ihrer Brust, als sie sah, dass der Schreibtischstuhl verschoben war und die Tür zur kleinen Treppe offen stand.
,, Oh Gott!“, hauchte sie und ihr Herz tat unangenehme Schläge.
Sie wollte aus dem Bett springen, die Tür wieder zuschieben, doch da sah sie im Augenwinkel jemanden an ihrem Fußende stehen.
Schnell wirbelte sie herum und erblickte den bleichen Mann mit dem weißen Haar, den tiefschwarzen Augen und der Narbe.
Er sah sie fest an, stand bewegungslos da, als wäre er eine Statue.
Die Panik überfiel Lelia. Sie wollte schreien, doch jegliche Luft schien aus ihren Lungen entfleucht zu sein, sie wollte wegrennen, doch ihr Körper war erstarrt.
Das war das aller Schlimmste, das sie je erlebt hatte.
,, Wie erfreulich, dass du nicht schreist …“, sprach der Mann mit leiser, tiefer Stimme.
,, Du scheinst dich wohl an mich gewöhnt zu haben.“
Immer noch brachte das Mädchen keinen Laut über ihre Lippen. Sie starrte den Mann nur an, von Panik gelähmt.
Das ist ein Traum!, sagte sie sich immer wieder.
Das ist ein Traum oder Einbildung! Das ist niemals real!
,, Du denkst zu viel!“, sagte der Mann, als hätte er Lelias Gedanken erahnt.
,, Viel zu viel! Du willst immer alles erklären und erklärt bekommen …, aber manche Dinge sind den menschlichen Kleinhirnen einfach zu hoch.“
Das Mädchen keuchte leise auf. Endlich schien sie wieder Luft zu bekommen.
,, Wer sind Sie?“, fragte sie ängstlich und drückte sich gegen das Kopfende ihres Bettes.
,, Warum belästigen Sie mich ständig?!“
Der Mann legte seinen Kopf schräg, seine Augen waren kalt und bösartig und ließen Lelia einen Schauer über den Rücken jagen.
,, Du empfindest meinen Besuch als Belästigung? Wie überaus kränkend …“
Er sagte es tonlos, fast gelangweilt und das Mädchen schluckte.
,, Machen Sie die Geräusche hier im Haus?“, fragte Lelia schließlich und hoffte inständig, dass sie bald aus diesem Alptraum aufwachte.
,, Deine Großtante will es dir noch nicht erklären?“, meinte er dann und schritt zum Fenster.
Lelia starrte ihn an. Es widerstrebte ihr, noch weiter zu träumen, sie konnte diesen Mann nicht länger ansehen, er machte ihr eine ungeheure Angst, dennoch war sie gefesselt von den Worten, die er zu ihr sagte.
,, Nun … ich kann die Gute verstehen …“
,, Wieso?“, wollte Lelia sofort wissen.
Die Fragen kamen einfach aus ihr heraus, sie konnte sie nicht zurückhalten.
Der Mann sah gen Himmel.
Seine langen, weißen Finger fuhren sanft über den Stoff der dunklen Vorhänge.
,, Der Mond hat etwas Mystisches an sich, hab ich nicht recht?“, meinte er plötzlich zu dem Mädchen, das wieder schluckte.
,, Er stellt das emotionale, weibliche Selbst dar. Wusstest du das? Romantik, Liebe, Zärtlichkeit … und er ist so rein, wie ein Kristall …“
Er blickte wieder zu Lelia, die ihn anstarrte.
,, Was reden Sie da?!“, keuchte sie.
Sie verstand ihn nicht, sie wollte, dass er geht. Sie wollte aufwachen.
Eine sanfte, weiche und schöne Melodie ertönte und das Mädchen zuckte zusammen. Auch das noch!, dachte sie verzweifelt, als sie das Lied der Spieluhr erkannte.
Der Mann horchte ebenfalls auf.
,, Wie bedauerlich …“, sagte er.
,, Ich habe nicht viel für diesen Gesang übrig!“
Er ließ die Vorhänge los, schritt von dem Fenster weg und an Lelia vorbei. Diese drückte sich gegen sie Wand und blickte ihn panisch hinterher.
Er ging auf die kleine Treppe zu und griff nach dem Türknauf.
,, Auf bald …“, sagte er sanft, und zog die Tür hinter sich zu.
Lelia zuckte zusammen. Das Lied tönte in ihren Ohren, doch ihre Augen waren zu, sie lag eingerollt in ihrem Bett und hatte die Decke über ihren Kopf.
War es also doch nur ein Traum gewesen? Noch ein Traum, der nichts mit einer Landschaft zu tun hatte?
Lelia setzte sich auf und rieb sich die Augen. Sie war definitiv jetzt erst richtig wachgeworden und hatte geträumt, allerdings erfüllte das Lied der Spieluhr immer noch ihr Zimmer.
Das machte sie nervös.
Etwas schlaftrunken, doch gleichzeitig aufgeregt, wollte sie sich in ihrem Zimmer umsehen, als ihr auffiel, dass die Tür zu der kleinen Treppe zwar zugezogen war, doch ihr Schreibtischstuhl fortgeschoben war.
Die Musik der Spieluhr verstummte, alles war ruhig …


Fortsetzung




Der nächste Tag war auch nicht besser. Oliver und Malvin wandten Lelia immer noch den Rücken zu und das Mädchen hatte auch keine Lust, mit ihnen ein klärendes Gespräch zu führen.
Ganz zum Leidwesen von Holly.
,, Vertrage dich doch wieder mit ihnen, Lily! Zeig, dass du die Vernünftige bist!“, sagte sie zu ihrer Freundin, doch diese schnaubte nur.
,, Ich? Die Vernünftige? Ich bin doch die Psychotante!“
,, Sicherlich tut es ihnen leid …“
Lelia wandte sich ihrer Freundin zu.
,, Hör mal, Holly! Ich weiß, dass die Dinge in letzter Zeit etwas blöde liefen und mich verunsichert haben, aber ich habe es nicht nötig, mich von diesen beiden Idioten anmachen zu lassen. Vielleicht habe ich in manchen Dingen überreagiert und ich weiß, dass der Schlafmangel mir manchmal etwas zusetzt, doch sicherlich werde ich nicht angekrochen kommen und mich bei denen entschuldigen! Wenn sie meinen, sich über die Probleme anderer Leute lustig machen zu müssen, dann sollen sie es tun! Ich werde es aber nicht über mich ergehen lassen!“
,, Sicher war das nicht toll von den beiden, aber du weißt doch, wie sie auf so abgedrehte Themen reagieren“, redete Holly sanft.
,, Sie können damit nicht umgehen … das konntest du doch auch nie und ich glaube ja auch nicht daran. Trotzdem müsst ihr euch aussprechen. Es kann doch nicht ewig so weitergehen!“
Lelia verschränkte ihre Arme. Es schien alles aus dem Ruder zu laufen, in letzter Zeit. Sie kam einfach nicht mehr mit ihrem Leben klar und niemand kam mehr mit ihr klar.
Der bleiche Mann, der ihr gestern im Traum erschienen war, belastete sie zusätzlich. Sie hatte einfach wahnsinnige Angst davor, dass sie noch einmal von ihm träumte.
Wann endlich konnte Großtante Lea ihr sagen, was vor sich ging? Das Mädchen kam sich veräppelt vor, konnte sich nicht vorstellen, was die Alte für einen Grund hatte, es nicht einfach zu sagen.
Der Grund, den sie genannt hatte, schien sich in Lelias Kopf nicht zu realisieren. Sie begriff überhaupt nichts mehr …
,, In ein paar Tagen ist schon der Frühjahrsball! Den wollen wir doch alle zusammen verbringen!“, flehte Holly ihre Freundin an.
,, Komm schon, Lily! Entschuldige dich bei Malvin und Oliver. Ich möchte nicht zwischen zwei Fronten stehen!“
Lelia blickte auf und musterte Hollys Gesicht.
Natürlich!, dachte sie. Der Ball! Das hätte ihr doch schon gleich auffallen sollen. Nun, da Lelia mit Malvin sicher nicht mehr zum Ball ging und Holly sowohl zu ihrer Freundin, als auch zu den Jungen hielt, hatte sie Angst, dass Oliver ihr absagen könnte. Sicherlich glaubte sie, dass der Junge nicht mit ihr gehen wollte, weil Holly nicht vollkommen auf seiner Seite stand und Malvin auch keinen Partner mehr hatte.
Lelia hob die Brauen.
,, Oliver wird dir sicherlich nicht absagen, okay?“, sprach sie zu ihrer Freundin.
,, Mit dir hat er doch kein Problem!“
Sie verschränkte ihre Arme und fügte hinzu:
,, Außerdem haben die Idioten mich mit ihren Worten echt wütend gemacht und das kann ich nicht so schnell vergessen! Ich habe mich ihnen nicht aufgedrängt und habe sie nie mit meinen Problemen genervt. Wenn es ihnen also zu viel ist, dass ich im Moment Probleme habe, dann brauchen sie auch gar nicht mehr zu kommen!“
,, Aber was hast du denn für Probleme?!“, rief Holly verzweifelt.
,, Die Schlafstörungen lassen sich sicherlich bald beheben, die Sache mit dem Kleiderschrank hat sich aufgeklärt! Was hast du denn noch?! Was bedrückt dich denn die ganze Zeit so?!“
Sie musterte Lelias Gesicht genau.
,, Warum willst du es mir nicht sagen?“
Das Mädchen seufzte und blickte Holly müde an.
,, Ich kann dir nichts sagen, weil ich selbst nichts weiß …“

Holly und Lelia schwiegen auf ihrem Heimweg. Der Himmel zog sich zu, es begann zu nieseln.
,, Bis morgen!“, sprach Holly und bog in ihre Straße ein.
,, Bis dann …“
Ein unangenehmer Wind blies über Lelias Kopf hinweg und ließ sie bibbern. Sie hoffte inständig, dass das Wetter bald besser wird, denn das drückte noch zusätzlich aufs Gemüt. Das Mädchen sah in den Himmel und ließ die trüben Wolken über sich hinweggleiten. Selbst die Wolken schienen etwas gegen sie zu haben …
Lelia schüttelte den Kopf.
,, Ich klinge schon fast etwas depressiv“, sagte sie und schalt sich für ihre finsteren Gedanken.
,, Ich brauche einfach wieder genug Schlaf und muss auf die Worte meines Tantchens vertrauen. Irgendwann wird sich alles wieder zum Guten wenden … es ist nur eine schwierige Phase …
Das Mädchen betrat den Vorplatz und das Erste, was sie sah, waren zwei riesengroße LKW´s.
,, Was zum-?“, fragte sie und rannte über den Platz, doch kaum war sie an den Lastwagen vorbei, da blieb sie stocksteif stehen.
Die Tür zu “ Lea´s white mind antiquies“ stand weit offen, Schränke, Tische, Vitrinen und sogar Großtante Leas geliebter Schaukelstuhl standen auf dem Hof oder wurden von Männern mit Overalls in die LKW´s getragen.
Die Fahrzeuge waren schon voll mit Möbeln und Kartons.
,, Hey!“, rief Lelia und rannte auf einen jungen Mann zu, der sich gerade Großtante Leas Schaukelstuhl griff.
,, Was machen Sie denn da?! Stellen Sie den wieder zurück!“
Der Mann sah das Mädchen verständnislos an.
,, Gehen sie aus dem Weg, Miss! Wir müssen die Sachen schnell einladen, sonst werden sie durch den Regen noch zerstört.“
Lelia traute ihren Augen und Ohren nicht.
,, Hier wird nichts eingeladen! Was soll das überhaupt werden?! Wo ist meine Großtante?!“
,, Lily!“, ertönte es auf einmal und das Mädchen wirbelte herum.
Da kam Lea schon, mit einem breiten Grinsen und der Pfeife in ihrem Mundwinkel.
,, Tantchen! Was soll das?! Tu doch irgendwas!“, flehte Lelia, doch die Alte hob nur die Hand.
,, Es ist in Ordnung, was hier passiert. Ich habe entschlossen, mich aus dem Leben der Arbeitenden zurückzuziehen und den Laden zu verkaufen.“
,, WAS?!“
Das Mädchen sah ihre Großtante fassungslos an.
,, Aber-“
,, Ist doch super!“, lachte Lea und stieß wieder eine Unmenge an Rauch aus.
,, Hab ne nette Summe Geld bekommen und weißt du was? Wir können das alte Ding abreißen und einen schönen Kräutergarten anlegen, toll oder?“
Lelia konnte immer noch nicht glauben, was sie da hörte.
,, Du hast es aber nicht mal für nötig empfunden, mir das zu erzählen, was?“, fauchte sie die Alte an.
,, Du verkaufst einfach so deinen Laden, ohne mir auch nur ein Wort zu sagen?! Ich komme hier hin und guck mir an, wie die schönen Sachen einfach in LKW´s gepackt werden, und konnte mich nicht einmal wirklich darauf vorbereiten? Weißt du, wie verarscht ich mich gerade fühle?!“
Die Nichte war den Tränen nahe, aber Lea blieb ganz locker.
,, Es war kein feiner Zug von mir, aber ich dachte einfach, dass es leichter für dich ist, wenn die Trennung kurz und schmerzlos erfolgt. Du hättest dich in die Sache einfach zu sehr reingehangen und das wollte ich nicht.“
Lelia atmete ruckartig ein und aus. Ihr Herz schmerzte nun so sehr, dass ihr fast schwarz vor Augen wurde.
,, Aber warum hast du denn den Laden verkauft? Du hast ihn doch auch immer so geliebt!“
Ihr kam ein schrecklicher Gedanke.
,, Hat das etwa was mit den Sachen zutun, die hier passieren?“, fragte sie und atmete keuchend.
,, Verkaufst du den Laden deshalb?“
Lea kaute auf ihrer Pfeife.
,, Das ist nicht der Grund. Ich gebe es ja nicht gerne zu, aber ich bin auch nicht mehr die Jüngste. Ich muss der Wahrheit einfach ins Gesicht sehen. Man kann nicht alles ewig behalten … irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem man sich von etwas trennen muss …“
Lelia war immer noch vollkommen fassungslos und die Worte ihrer Großtante verpassten ihrem Herzen einen regelrechten Messerstich.
Betäubt und erschüttert ging Lelia an den Möbeln und Packern vorbei, schloss die Haustür auf, zog ihre Schuhe aus, trottete die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf und legte sich auf ihr Bett.
Ihr war so schlecht, dass sie kaum atmen konnte. Sie wollte keinen Blick aus dem Fenster riskieren, sie wollte nicht sehen, wie ihre geliebten Antiquitäten in den Wagen verstaut wurden, einfach fortgebracht wurden. Die nächsten Tage würden genug schmerzen, wenn sie den leeren Laden anschauen wird. Der Schock wird noch tief sitzen.
Es war erschreckend und nun viel deutlicher als vorher: Ihr Leben änderte sich.
Es änderte sich auf die schlimmste Weise …

Am Abend kam Ihre Großtante schließlich in Lelias Zimmer. Das Mädchen hatte die ganze Zeit über fast bewegungslos in ihrem Bett gelegen.
Lea seufzte, als sie es sah. Sie ging zu ihrer Nichte und setzte sich auf ihr Bett.
,, Ich weiß, dass es ein großer Schock für dich war, Lily“, begann die Großtante dann.
,, Aber der Tag musste irgendwann kommen. Der Laden ist mir etwas über den Kopf gewachsen und ich kann nicht dauernd von dir verlangen, dass du mir aushilfst, schließlich musst du auch an deine Ausbildung denken und an deine Affenbande. Ich hielt es für das Beste, dir einfach nichts zu sagen. Mit großen Ankündigungen hätte ich dir keinen Gefallen getan. Das hätte dich sonst die ganzen Tage mitgenommen. Schließlich hast du schon mit genug Dingen zu kämpfen.“
,, Der Schock ist auch nicht besser …“, entgegnete Lelia tonlos.
,, Doch ist er! Der Schmerz ist dann nicht so langanhaltend und du brauchtest den heutigen Tag nicht zu fürchten. Ich weiß, dass du das Geschäft sehr gemocht hast, aber es ist besser so! Wir kommen da schon drüber hinweg!“
Das Mädchen nickte langsam.
,, Warum ändert sich das Leben so plötzlich …?“, fragte sie dann auf einmal.
,, Warum ist von einem Tag auf den Nächsten alles anders? Erst die Begebenheiten hier im Haus, dann der Laden …“
Lea seufzte. Sie wirkte immer noch erschöpft und hatte leichte Schatten unter den Augen. Sie rieb sich die Stirn.
,, Veränderungen sind notwendig, damit man auf das Vergangene zurückblicken kann und sich mit dem Kommenden entwickeln kann. Das Leben ändert sich … die Menschen auch …“
,, Wirklich …?“, fragte Lelia dann.
,, Alle Menschen? Das glaube ich nicht …“
Lea sah das Mädchen an.
,, Warum nicht?“
,, Weil ich das Gefühl hab, gleich geblieben zu sein …“
Sie wollte nicht mehr weiterreden. Eigentlich wollte sie ihre Großtante fragen, warum alles um sie herum plötzlich anders wirkt, doch nun fand sie einfach keine Worte mehr, um ihr Problem auszudrücken. Sie kam mit den Veränderungen einfach nicht mehr zurecht.
Ihre Sprache schien für heute verschwunden.
Die Großtante machte einen tiefen Zug an ihrer Pfeife, schaute an die Decke und seufzte leise.
,, Es wird Zeit, sie dir zu erzählen …“, sprach sie dann.
,, Was?“
,, Die Fortsetzung.“
Lelia runzelte die Stirn.
,, Welche Fortsetzung?“
,, Vergessliches Kind!“, donnerte die Großtante und Lelia zuckte zusammen.
,, Hast ein Gedächtnis, wie ein Sieb! Und zu mir sagst du, ich hätte Alzheimer, unverschämtes Ding!“
Endlich konnte Lelia wieder etwas lachen.
,, Ich hab dir doch letztens die Geschichte über Orpheus erzählt! Weißt du noch?“
Das Mädchen überlegte.
,, Oh! Ja klar! Die Träne! Und der Kerl wurde doch nachher von Frauen zerfetzt! Jetzt weiß ich es wieder …“
,, Na immerhin …“
Lelia setzte sich auf.
,, Warum erzählst du mir so etwas? Hat das einen Grund? Kannst du mir nicht lieber erzählen, was hier abgeht?“
Es wurde wieder ein langer Zug aus der Pfeife getan.
,, Nun sei mal nicht so frech!“, sagte die Alte ruppig.
,, Ich hab dir doch schon mal gesagt, dass es sehr nützlich ist, sich auch in diesen Bereichen weiterzubilden … und was das Andere angeht … dazu habe ich dir schon genug erklärt!“
Lelia seufzte, doch die Großtante warf ihr einen strengen Blick zu.
,, Höre mir einfach zu … mehr verlange ich nicht. Höre mir einfach zu.“
Die Nichte zuckte mit den Schultern.
,, Meinetwegen, Tantchen. Wenn du es willst … ich brauche ohnehin etwas Ablenkung, sonst drehe ich noch durch!“
,, Mja!“, machte die Alte und ihre Pfeife wackelte.
,, Dann beginne ich mal!“
Sie holte Luft und erzählte:
,, Die heutige Geschichte spielt viele hundert Jahre später und ist fast gänzlich unbekannt. Sie handelt von einem jungen Mann, etwa in deinem Alter. Er lebte in einem kleinen Dorf, zusammen mit seinem Vater und seinem älteren Bruder, in einer Mühle. Sein Name war Dareon. Dareon war kein glücklicher Mensch, er arbeitete Tag und Nacht mit seinem Vater zusammen in der Mühle, hatte keine Bekannten und Freunde und war immer alleine mit seinen Gedanken. Der Vater war nicht immer der beste Zeitgenosse, denn er war stets launisch und schien mit allem überfordert zu sein, egal, wie sehr man ihm unter die Arme griff. Er vermittelte sehr oft das Gefühl, dass er glücklicher gewesen wäre, hätte seine Frau ihm keine Kinder geschenkt.“
,, Wow … Eine echt depressive Geschichte … aber du hast recht: Ich hab noch nie irgendwas von einem Dareon gehört“, meinte Lelia, die ihrer Großtante wieder zuhörte.
Ihr war einfach alles recht, damit sie die Sache mit dem Antiquitätengeschäft erstmal vergaß.
Lea nickte, zog wieder an ihrer Pfeife, stieß einen Dampfschwall aus und erzählte weiter:
,, Gute Laune bekam er meistens nur, wenn sein älterer Sohn in die Mühle kam. Dareons älterer Bruder Caperion nahm die Arbeit in der Mühle weniger ernst. Er war lieber draußen, trank etwas in der Schenke oder traf sich mit Freunden und seinem Mädchen. Er arbeitete kaum, doch er hatte immer Geld. So gut es ihm aber zu gehen schien, wenn er Dareon und seinen Vater besuchte, so fand er doch immer wieder Dinge, die er in seinem Leben beklagen konnte. Dareon wollte davon nichts hören. Was gab es denn für Dinge zu beklagen, wenn man doch ein schier perfektes Leben hatte? Oftmals zog sich Dareon zurück, nahm sein altes, geliebtes Messer und schnitzte. Das war der Einzige, was ihn wirklich von seinen finsteren Gedanken ablenken konnte und die Geschichten seines Bruders ignorieren konnte.
Der Vater aber lauschte Caperions Geschichten immer mit großem Mitgefühl und einer immensen Nachsicht. Niemals wäre er auf den Gedanken gekommen, seinen Sohn zurechtzuweisen. Niemals hätte er ihm gesagt, dass er sich glücklich schätzen kann, die Jugend, die Freiheit und Freunde zu besitzen, anstelle immer nach neuen Dingen zu suchen, die ihn in seine Opferrolle pressten. Schließlich war der Vater mit Dareons Selbstmitleid nie besonders nachsichtig gewesen. Die Dankbarkeit für Dareons ständiger Hilfe und seiner Zuverlässigkeit zeigte der alte Mann nur, wenn Caperion nicht anwesend war. Kaum aber betrat der ältere Bruder die Mühle, so war Dareon vergessen.“
,, Wie gemein!“, sagte Lelia.
,, Klingt irgendwie ein bisschen wie das Gleichnis vom verlorenen Sohn, nur etwas extremer.“
,, HAH!“, machte die Alte.
,, Kommt darauf an, wie man das Gleichnis betrachtet. Viele denken, dass der verlorene Sohn bevorzugter behandelt wurde, als sein Bruder, aber der Kerninhalt ist ja im Grunde ein anderer!“
Lelia seufzte.
,, Ja klar. Aber für mich galt auch immer > gleiches Recht für alle Der Schutzpatron der Liebenden




Lelia konnte immer noch nicht fassen, dass ihr geliebter Laden tatsächlich nicht mehr da war. All die alten Möbel, die Puppen und kleinen Schätze, die sich dort in staubigen Regalen versteckt hatten, hatten sie stets erfreut und fasziniert.
Es war schrecklich, dass sie sich nicht davon verabschieden konnte.
Das Mädchen konnte nicht mehr schlafen und machte sich, eine Stunde früher als notwendig, für die Schule fertig.
Sie war erleichtert, dass der blasse Mann in der Nacht nicht wieder an ihrem Bett stand und dass die Spieluhr nicht wieder ertönt war.
Während Lelia sich vor ihrem Spiegel die Haare kämmte, dachte sie unentwegt nach. Nun, da der Laden und all seine Kostbarkeiten nicht mehr da waren, war auch die Spieluhr logischerweise über alle Berge. Bedeutete das etwa, dass Lelia ihr Lied nie wieder hören wird? Obwohl ihr nie wohl dabei war, wenn der kleine Engel sein Lied spielte, vermisste sie sogar das. Konnte das wirklich sein? Ihr kamen die weit aufgerissenen tiefblauen Augen des Engels in den Sinn und ihr Herz machte einen übel schmerzenden Schlag. Auch damit schien es nun vorbei…

Viel zu früh kam Lelia nach unten und steuerte das Esszimmer an. Ihre Großtante war nicht da, die Küche war leer, nirgendwo war ein Summen oder Pfeifenqualm.
Vielleicht schläft sie noch, überlegte das Mädchen und betrat das Wohnzimmer, da allerdings fiel ihr die Gartentür auf, die weit offen stand.
Neugierig ging sie dorthin und lugte hinaus. Großtante Lea lief auf dem Rasen umher, prüfte ihre Topfprimeln und zupfte braune Blätter von ihren Ampeln.
,, Na du bist ja schon früh am ackern“, sagte Lelia und betrat die Veranda.
Die Alte drehte sich zu ihr um und grinste sie an. Die Pfeife steckte wie immer in ihrem Mundwinkel.
,, Und du bist scheinbar aus dem Bett gefallen“, meinte sie ruppig.
,, Soll ich dir Frühstück machen?“
,, Quatsch! Das kann ich auch … ich hab ja jetzt eine Menge Zeit. Wenn du willst, kann ich dir auch deinen Tee aufsetzen!“
,, Schön! Ich komme gleich rein, mache nur meine Arbeit hier zu Ende …“

Lelia werkelte in der Küche herum, ihre Gedanken waren immer noch weit weg. Verträumt schmierte sie sich ihre Brote, kochte den Tee für Großtante Lea und goss sich etwas Kakao ein.
Alles stellte sie auf den Esszimmertisch, als auch die Alte eintrat, mit der Morgenzeitung unter dem Arm.
,, Gutes Kind!“, brummte sie, als die den gedeckten Tisch vor sich erblickte.
Lelia setzte sich und biss in ihr Brot. Ihre Gedanken waren immer noch bei dem Laden und sie fühlte sich schrecklich.
,, Ich weiß, dass es nicht leicht ist!“, sprach Lea schließlich, die ihre Nichte beobachtet hatte.
,, Aber lasse dich davon nicht fertigmachen. Früher oder später hätten wir ihn sowieso verkaufen müssen …“
,, Ja … ich weiß …“, murmelte das Mädchen und starrte auf ihren Kakao.
,, Ich brauche einfach noch ein bisschen Zeit, um das zu verdauen. Es passiert so viel in letzter Zeit … und irgendwie nichts Gutes … Das ist ein bisschen zu heftig für mich …“
Die Alte nickte.
,, Das verstehe ich, Lily! Gedulde dich noch ein wenig und stärke deinen Geist. Bald wird sich alles aufklären. Darauf gebe ich dir mein Wort!“
Lelia seufzte.
,, Ich hoffe wirklich, dass es bald soweit ist … das alles ist nicht hilfreich.“
Sie biss wieder ein Stück Brot ab, kaute nachdenklich und sah ihrer Großtante dabei zu, wie sie die Morgenzeitung aufschlug.
,, Tantchen!“, sagte sie dann, da sie es nicht mehr aushalten konnte.
,, Ja?“
,, Du hast doch gesagt, dass ich dir erzählen soll, wenn etwas Ungewöhnliches mit mir passiert, oder?“
Die Alte sah auf.
,, Richtig. Was es auch ist …“
,, Naja …“
Lelia druckste herum.
,, Ich hab so Einiges erlebt, aber hab es dir nicht erzählt, weil ich schon ziemlich wütend auf dich war. Du verheimlichst mir etwas Dickes und deshalb habe ich nicht eingesehen, warum ich dich an allem teilhaben lassen musste. Ich war … ach ich weiß auch nicht …“
,, Völlig verständlich!“, sprach die Alte jedoch und ließ Lelia verblüfft aufsehen.
,, Ich kann deine Gefühle verstehen, trotzdem bin ich sehr erleichtert, dass du dich mir nun anvertraust!“
Das Mädchen nickte.
,, Naja … Es sind schon einige Hammer passiert“, begann sie.
Sie erzählte von dem Lied der Engelsfigur, das sie in letzter Zeit oft gehört hatte, von den tiefblauen Augen der Puppe, die sie angestarrt hatten, von dem merkwürdigen Gefühl auf der kleinen Treppe, dass sogar ihre Freunde gespürt hatten und schließlich von dem bleichen Mann, der vorgestern an ihrem Bett stand.
,, Das war mein erster richtiger Traum … naja … Alptraum!“, redete das Mädchen hektisch.
,, Kein Traum von Landschaften, obwohl ich trotzdem der Meinung bin, dass … der Typ wirklich da war …“
Sie blickte in das ernste Gesicht ihrer Großtante und hob die Hand.
,, Verstehe mich jetzt nicht falsch!“, meinte sie schnell.
,, Ich will jetzt nicht sagen, dass ein komischer Monstermann in meinem Zimmer herumgegeistert ist, aber der Stuhl war verschoben, obwohl die Tür zu war. Das war so passend!“
Als sie geendet hatte, merkte sie, wie der Kiefer der Großtante wieder malmte. Es war genauso, wie bei der Begebenheit, wo ihr ganzer Kleiderschrank ausgeräumt wurde.
,, Warum passiert so etwas nur? Was hat das zu bedeuten? Ich begreife das alles nicht mehr!“
Die Großtante schloss ihre Augen.
,, Ein Kribbeln auf der Treppe …“, murmelte sie.
,, Ja!“
,, Und es ist nicht immer da, sondern verschwindet und taucht wieder auf.“
,, Genau!“
,, Das werde ich mir mal näher ansehen, aber das Wichtigste ist erst einmal der bleiche Mann. Es war genau der, der dir auch in der Schule erschienen ist, stimmt das?“
,, Ja!“
Die Frau biss die Zähne zusammen und Lelia entging das nicht.
,, Und was heißt das jetzt?“, fragte sie daher angespannt.
,, Wie kannst du dir das erklären? Macht dir das etwa Sorgen?“
Sie wollte lachen, doch es klang eher, wie ein Ballon, aus dem die Luft entfleuchte.
,, Es war doch nur ein Traum, oder? Vielleicht war es auch Einbildung? Du guckst so, als wäre das schlimm, was da passiert ist … aber das war ja nur ein Traum … Weißt du denn, was das zu bedeuten haben könnte?“
Die Alte schluckte.
,, Lily!“, sprach sie sehr ernst.
,, Glaubst du wirklich, dass der Mann an deinem Bett ein Traum war?“
Lelia starrte sie an. Da war schon wieder diese seltsame Frage.
,, Sicher!“, meinte sie, obwohl sie sich mit der Antwort nicht ganz anfreunden konnte.
,, Was soll es sonst sein …?“
,, Das will ich von dir wissen!“, sagte die Alte und nahm ihre Pfeife aus dem Mund.
,, Denk nach, Lily! Denke an alles, was hier geschieht. Denke an die Spieluhr, denke an die Treppe, die Tür, die Träume, denke an den Mann. Wie lautet nun deine Antwort?“
Das Mädchen atmete schwer ein und aus. Ihr Herz klopfte wild und tat mit jedem Schlag mehr weh.
,, Ich weiß nicht, was es ist …“, sprach sie verunsichert.
,, Es sind Dinge, die nicht sein können, aber dennoch passieren … Ich habe einfach nur das Gefühl verrückt zu werden, obwohl mit mir alles in Ordnung zu sein scheint. Wenn der Mann kein Traum ist, was ist er dann? Wenn er real sein sollte, wie kommt er dann in mein Zimmer?“
Sie rieb sich die Stirn.
,, Mir passieren diese Dinge und ich habe einfach keine Ahnung, weshalb! Ich weiß nicht einmal, was mir da überhaupt passiert. Es geht nicht in meinen Kopf! Ich versuche es zu erfassen, aber es ist, wie eine Mauer vor meinem Verstand … Mal denke ich, dass ich nicht genug Schlaf bekommen habe, dann, dass ich verrückt bin …“
Sie seufzte verzweifelt auf.
,, Du erzählst mir, dass hier etwas in diesem Haus los ist, aber ich kann es einerseits nicht glauben, andererseits kann ich es auch nicht widerlegen. Es ist alles kompliziert! Es ist so verwirrend, dass ich nicht einmal die richtigen Worte finden kann, um überhaupt mitzuteilen, was ich denke!“
Lea legte den Kopf schräg.
,, Was du fühlst und durchmachst, zeigt nur, dass du ein logisch denkender Mensch bist, vollkommen gesund und nicht ein Deut verrückt, wie du befürchtest. Die Mauer vor deinem Verstand, die du erwähnt hast, ist dein Verstand!“, redete Lea und das Mädchen zog die Stirn in Falten.
,, Du versuchst die Antworten für all das hier in deinem Hirn zu suchen, du willst alles erklären und alles begreifen, doch du suchst an dem falschen Ort!“
,, Aber wo-?“, begann Lelia, doch die Großtante hob ihre Hand und legte sie auf ihre Brust.
,, Du musst in deinem Herzen suchen, Lily“, sagte sie sanft.
,, Dort findest du die Antworten, die du so willst. Manche Dinge auf der Welt kann man nicht begreifen, egal, wie sehr man sich das Hirn zermartert. Die Menschen hier vertrauen jedoch nur ihren Verstand. Das Herz wird immer seltener gefragt, obwohl es doch manchmal viel klüger ist.“
Sie grinste breit.
,, Sicherlich werden mir viele Menschen widersprechen, wenn sie es hören sollten, aber ich habe es so gelernt und diese Sicht der Dinge hat mich nie getäuscht.“
Lelia seufzte wieder und ihr Finger fuhr um ihren Tassenrand herum.
,, Was hält mich eigentlich davon ab, dich und mich für total übergeschnappt zu halten?“, fragte sie kopfschüttelnd und die Alte brach in ein schallendes Gelächter aus.
,, Das frage ich mich auch!“, grölte sie.
,, Vielleicht ist dein Herz doch bald soweit, seinem Weg zu folgen!“
Sie wurde wieder ernst, räusperte sich und sah Lelia direkt an.
,, Du bist ein kluges Mädchen und hast ein gutes Herz. Sicherlich ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis sich alles in dir aufklären wird …“
,, Na hoffentlich …“, murmelte Lelia verwirrt und hielt sich wieder ihren Kopf.
,, Auch wenn ich nicht sicher bin, ob es auch wirklich das Beste für mich ist …“
Die Alte erhob sich und ging auf den Esszimmerschrank zu.
,, Solange du noch verwirrt bist und nicht verstehst, was hier überhaupt geschieht, halte dich bitte an meine Worte.“
Lelia blickte auf.
,, Wenn der blasse Mann noch einmal in deinem Zimmer erscheinen sollte …“, erklärte sie nachdrücklich.
,, Dann versuche zu dir zu kommen und schenke seinen Worten niemals Beachtung!“
Das Mädchen hob die Brauen.
,, Wie meinst du das?“, fragte sie und spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog.
,, Hältst du den Typen für gefährlich? Glaubst du, er kann mir etwas tun?“
Jetzt wurde sie hibbelig.
,, Kann man den Typen nicht einfach wegjagen? Gibt es da vielleicht so eine Therapie? Wie kommst du eigentlich darauf, dass er gefährlich ist?!“
Lea sah sie fest an.
,, Wie fühlst du dich, wenn er in deiner Nähe ist?“, wollte sie sofort wissen und ihre Stimme klang eindringlich.
,, Nun …“, gab Lelia immer noch unbehaglich zurück.
,, Ich kriege Panik, wenn er da ist. Ich will am liebsten einfach weg!“
Die Alte nickte.
,, Siehst du? Deinen Gefühlen solltest du trauen … der Mann hat nicht Gutes im Sinn!“
Nun bekam das Mädchen wirklich Angst.
,, Mensch, Tantchen!“, hauchte sie.
,, Rede so nicht! Das ist ja ätzend! Was kann ich denn machen, wenn ich ihn wiedersehe? Wie kann ich dafür sorgen, dass ich ihn nie wieder sehe?!“
Die Frau schloss den Esszimmerschrank auf, griff hinein und- Lelia klappte der Mund auf- sie holte das kleine engelhafte Figürchen heraus.
,, Es ist noch hier?!“, kreischte Lelia, die das Püppchen vorsichtig begutachtete.
,, Hat es die Augen auf? Wieso hast du es nicht auch verkauft?!“
,, Das könnte ich nicht …“, meinte Lea schlicht und stellte das Figürchen auf den Esszimmertisch. Es hatte die Augen weit geöffnet.
,, Siehst du das?!“, rief Lelia und deutete mit dem Finger auf die dunkelblauen Augen.
,, Natürlich sehe ich das!“, gab die Alte trocken zurück.
,, Macht die Puppe das dann also öfters?!“
,, Nein. Erst seit Kurzem.“
,, Und das findest du nicht komisch?!“
,, Nein.“
,, Nein?!“
Lea nahm ihre Pfeife in den Mund, stopfte sich Tabak hinein, zündete ihn an und paffte kleine Rauchwölkchen heraus.
,, So ist es eben …“, sagte sie und begutachtete die Figur mit sanftem Blick.
,, Das wirst du auch noch begreifen …“
Lelia schüttelte den Kopf, atmete tief ein und aus und schloss kurz die Augen.
,, Und warum ist die kleine Figur noch hier?“, wollte sie schließlich schwach wissen.
Mittlerweile glaubte sie, dass ihr Kopf nur noch aus Pudding bestand, so viel, wie sie heute überlegt und gerätselt hatte.
,, Diese Figur ist mir sehr wichtig“, sprach Lea und tippte sie mit dem Finger an.
,, Wenn ich sie ansehe und höre, dann fühle ich mich gut. Du nicht, Lily?“
Das Mädchen seufzte.
,, Nun ja … eigentlich schon, aber in letzter Zeit war sie mir nicht ganz geheuer … Sie öffnet mal eben die Augen oder spielt die Musik in einer Lautstärke, die man sogar noch in der Schule hören kann!“
,, Oh ja!“, sagte Lea lächelnd.
,, Aber hattest du denn dasselbe Gefühl, wie bei dem blassen Mann, als du die Spieluhr gehört hast?“
Lelia überlegte.
,, Ähm … nein. Das war keine schreckliche Panik, wie bei dem Kerl. Ich fand es nur beängstigend, weil ich nicht begreifen konnte, warum diese Spieluhr plötzlich solche Dinge macht!“
Die Alte nickte.
,, Das dachte ich mir …“, sprach sie.
Ihre Hände griffen nach der Figur, hoben sie an und der Stift wurde langsam gedreht. Sofort erklang die langsame, weiche Melodie. Lea setzte den Engel wieder ab und er drehte sich um seine eigene Achse, die Augen weit geöffnet, die Lilie sicher in den Händen.


Im sanften Licht des Mondenscheins, begann die Alte plötzlich zu singen und Lelia starrte sie verblüfft an.
Tanzte ich über den See.
Mein Herz war leicht,
Mein´ Seele rein,
Die Haut so weiß wie Schnee.

Da reichtest du die Hände mir,
Schwebtest über tausend Stern´.
Herz an Herz,
Ich gab meins dir,
In hoffnungsvolle Fern.

Schon kam der erste Sonnenstrahl,
Brach an des Wassers Herz.
Fort deine Hand,
Dort war die Qual,
Die Ewigkeit und Schmerz.

,, Ach das Lied spielt die Spieluhr …“, sagte das Mädchen erstaunt und ihr Blick huschte von dem Püppchen zu ihrer Großtante.
,, Das hätte ich nie im Leben erkannt, so schief, wie du es immer gesungen hast, Tantchen …“
,, Als könntest du es besser!“, entgegnete sie ruppig und zog beleidigt an ihrer Pfeife.
Sie besahen sich die kleine Figur und nun, da Lelia mit ihrer Großtante zusammen war und den Klängen dieses kleinen Engels lauschte, da spürte das Mädchen plötzlich, dass sie sich nicht fürchten brauchte. Nicht vor diesem süßen Lied …
,, Ich möchte, dass du sie an dich nimmst, Lily!“, sagte Lea dann und holte ihre Nichte aus ihren Gedanken zurück.
,, Was? Aber warum?“
,, Weißt du noch, was ich dir über die Figur erzählt habe?“, fragte die Alte nach.
,, Ähm …“
Lelia überlegte und ihre Großtante verdrehte die Augen.
,, Es ist der Schutzpatron der Liebenden, du vergessliches Ding!“
,, Oh … ja … und?“
,, Es wird dich beschützen!“
Das Mädchen hob die Brauen.
,, Wieso? Bin ich verliebt?“
,, Dussel!“, schnarrte Lea.
,, Du bist ein junges Mädchen und irgendwann wird es dich auch mal erwischen, ob du es willst, oder nicht! Dein Herz mag noch unfertig sein, wie eine schlafende Blume, doch die Reinheit, die es erfüllt, und die Gewissheit, dass es irgendwann für jemanden schlagen könnte, ist Grund genug, um bewahrt und beschützt zu werden!“
Lelia war skeptisch.
,, Ach … und du glaubst, dass das Püppchen mich beschützen kann?“
,, Das hat es schon …“, sagte Lea schlicht und ihre Nichte riss die Augen auf.
,, Hat es?!“
,, In der Nacht, an dem der Mann vor deinem Bett stand.“
Das Mädchen überlegte.
Der Mann hatte am Fenster gestanden und von dem Mond erzählt, dann war die Melodie ertönt und er war verschwunden.
Sie erinnerte sich noch an seine Worte:
,, Wie bedauerlich … Ich habe nicht viel für diesen Gesang übrig!“
,, Aber …“, hauchte Lelia dann und betrachtete die schöne Figur.
,, … wie geht denn so etwas …?“
Lea pustete ihren Pfeifenrauch aus.
,, Das sind Dinge, die nur das Herz verstehen kann …“


Wenn alles mild und ruhig erscheint




,, Sie hat was?!“, fragte Holly entsetzt, als Lelia von dem gestrigen Tag erzählt hatte.
,, Aber wie konnte sie ihn denn einfach verkaufen … ohne dir etwas zu sagen?“
,, Das habe ich mich auch gefragt …“, sprach Lelia unglücklich.
,, Mein Tantchen meinte, dass es mich zu sehr aufgeregt hätte und dass es mich von den wesentlichen Dingen in meinem Leben abgelenkt hätte!“
,, Schule …“, sagte Holly, als wäre es das Einzige im Leben.
Lelia warf ihr deshalb einen genervten Blick zu.
,, Und wie kommst du damit klar?“, wollte sie wissen und ihre Freundin zuckte mit den Schultern.
,, Wie soll ich damit klarkommen …? Es muss weitergehen. Der Laden ist jetzt weg, aber was bringt es mir, wenn ich ihm hinterher trauere. Klar war das erst ein riesen Schock für mich, als ich die ganzen LKW´s gesehen habe, aber ich hab mich wieder eingekriegt.“
Holly nickte mitleidig und die Mädchen liefen den Weg zur Bushaltestelle entlang, verfielen in Schweigen.
Das Unwetter hatte sich gelegt, es war warm, die ersten Schmetterlinge flogen, der Himmel war blau, die Sonne schien, und wurde nur selten von dicken Wolken bedeckt.
Es war so warm, dass die Freundinnen die Blusen ihrer Schuluniform hochgekrempelt hatten.
,, Malvin ist übrigens stocksauer auf dich …“, sagte Holly jäh und holte Lelia aus ihren Gedanken zurück.
,, Ach ja?“
Das Mädchen nickte schnell.
,, Er nimmt dir den Spruch mit der übergroßen Hose wirklich krumm!“
Lelia schnaubte.
,, Oliver macht ständig Witze über sein Gewicht, selbst Malvin tut das! Die haben schon weit schlimmere Dinge gesagt …“
,, Aber die haben sie nicht böse gemeint!“, konterte Holly sofort.
,, Mag sein.“
Lelia wollte sich nicht als Schuldige an diesem Streit hinstellen lassen, denn angefangen hatte sie sicher nicht.
,, Ich glaube aber auch nicht, dass Oliver und Malvin mich als bescheuert hingestellt haben, weil sie mich so lieb haben. Sie haben es ernst gemeint und waren echt verletzend, soll ich da nur nett grinsen und ihnen auf ihre Schultern klopfen?!“
Nun wurde sie laut. Sie verstellte ihre Stimme und tätschelte einen Unsichtbaren vor sich.
,, Gut gemacht, Jungs!“, grollte das Mädchen.
,, Natürlich bin ich bescheuert! Ich könnte doch niemals von meinen Freunden erwarten, dass sie es verstehen, wenn ich nicht gut geschlafen hab. Ich bleibe schließlich extra die ganze Nacht wach, damit ich in der Schule einschlafen kann und Aufmerksamkeit bekomme! Was interessieren mich denn die Noten, solange der Dicke und der Schönling sich um mich sorgen?!“
,, Nun übertreibst du aber, Lily …“, meinte Holly streng, die eine Beleidigung Olivers niemals auf sich sitzen lassen konnte.
,, Sicher waren sie nicht sehr nett zu dir, aber sie wollten dir nur helfen!“
,, Helfen?!“
,, Sie machen sich Sorgen um dich!“
Ein Schnauben.
,, Wirklich! Sie denken, dass du dich in diese Geistersache hineinsteigerst …“
,, Aber du wolltest doch, dass wir in meinem Haus einen Check-up machen! Auf die Idee bin ich gar nicht gekommen!“
,, Ja … schon …“
Holly errötete.
,, Weil ich dachte, dass ich dir damit helfen kann …“
,, Und warum denken sie dann, dass ich sie nicht mehr alle habe?!“
Die Freundin druckste herum.
,, MH?!“, machte Lelia eindringlich.
,, Wegen Ollis Dad!“, sprach Holly schlicht.
,, Die Tatsache, dass du zu ihm gefahren bist und dir auch noch die Geräte hast erklären lassen … Es kam einfach so viel zusammen. Erst dein Zusammenbruch in der Schule, dann die Geistersache und nun bist du immer so nachdenklich und schweigsam, als ob dich etwas Unangenehmes beschäftigt. Die Jungen wollen nur nicht, dass du dich fertigmachst und dich in irgendetwas verrennst!“
,, Oh ja! Und wenn sie zu mir sagen, dass ich eine Schraube locker habe, dann helfen sie mir bestimmt!“, spottete Lelia.
,, Du bist einfach zu empfindlich!“
Das Mädchen sah Holly mit großen Augen an. Sie war empfindlich? Hatte sie richtig gehört?
,, Sie sind beide wegen des Hosen-Spruchs wütend auf mich! WER ist hier empfindlich?!“
,, Hör mal, Lily! Ich möchte doch nur an deine Vernunft appellieren! Entschuldige dich bei den Jungs! Es ist doch viel lustiger, wenn wir alle wieder Freunde sind!“
,, Tss!“, machte Lelia gallsüchtig.
,, Vielleicht bin ich in letzter Zeit etwas nachdenklicher und ruhiger geworden. Meine Schlafprobleme sind auch nicht unbedingt hilfreich für mich, aber wenn man mich deshalb aufzieht, dann lasse ich mir das nicht gefallen. Ich habe dieses Thema jetzt lange genug durchgekaut und sehe nicht ein, warum ich zu diesen miesen Freunden angekrochen kommen muss!“
,, Jetzt tust du ihnen aber Unrecht!“, sagte Holly wütend, doch Lelia hatte nun wirklich genug.
,, Es ist in Ordnung, wenn du dich mit Oliver nicht in die Haare kriegen willst!“, fauchte sie deswegen.
,, Aber ziehe mich nicht da hinein und lasse mich nicht zu Kreuze kriechen, nur weil du Angst hast, er könnte dir für den Ball absagen!“
Sie erreichten die Haltestelle gerade, als der Bus kam. Holly schien säuerlich und quetschte sich durch die Schüler zu dem Viererplatz durch, Lelia folgte ihr zähneknirschend.
,, He! Was soll das?!“, fragte Holly schließlich und blieb so plötzlich stehen, dass Lelia gegen sie knallte.
Sie musste sich ein wenig recken, um zu erkennen, was die Freundin gemeint hatte.
Die Jungen saßen da und blickten stur aus dem Fenster, Oliver hielt wie üblich seinen Sitz mit dem Rucksack frei, der Platz neben Malvin war jedoch belegt.
Das war eindeutig, dachte Lelia bitter und starrte auf die kleine Schülerin, die ihren Sitz blockiert hatte.
,, Das könnt ihr doch nicht machen …“, sagte Holly schwach und fuhr sich durch das Haar.
Sie drehte sich zu ihrer Freundin um.
,, Lily … sollen wir uns einen anderen Platz suchen?“
Lelia merkte, dass sie das eigentlich gar nicht wollte. Ihre Augen huschten immer wieder zu dem Platz neben Oliver.
,, Schon in Ordnung …“, sagte das Mädchen deshalb.
,, Setz dich ruhig hin. Ich suche mir einen anderen Platz.“
Ihr Herz pochte schmerzhaft, sie war wütend und fand das Verhalten der Jungs einfach nur kindisch und albern.
,, Jetzt habt ihr es mir aber gegeben!“, meinte sie gespielt pikiert.
,, Mein Tag ist damit ruiniert!“
Oliver zuckte nur mit den Schultern, doch Malvin sagte trocken:
,, Du hättest doch ohnehin keinen Platz mehr neben mir gehabt …“
,, Nun kommt schon … fangt doch nicht wieder damit an …“, begann Holly hilflos, Lelia jedoch schnaubte nur.
,, Wahrscheinlich hast du recht!“, blaffte sie.
Sie wand sich zu dem kleinen Mädchen und sprach:
,, Wenn dir deine Hände lieb sind, dann hole besser nichts zu Essen heraus!“
,, Lily …“, stöhnte Holly auf, aber ihre Freundin hatte sich schon umgedreht und suchte nach einem anderen Platz.

Der Schultag war kein großer Erfolg, auf dem Rückweg hatte sich Lelia sofort einen anderen Platz gesucht und wollte so wenig wie möglich mit den anderen zutun haben.
Sie fragte sich, warum die Jungs ihr plötzlich so feindlich gegenüberstanden und ihr Selbst so dumme Sprüche übel nahmen. Sicherlich hätte sie sich nicht wieder auf die Schikane Malvins einlassen dürfen und fand die Beleidigung ebenso unerwachsen, doch sie hatte in letzter Zeit einfach genug um die Ohren, da wollte sie sich nicht auch noch von den Jungs heruntermachen lassen.
Sie ging alleine nach Hause, da Holly zu Oliver gefahren war, um ihm eine Nachhilfestunde zu geben. Der blaue Himmel und der Sonnenschein konnten sie nicht erfreuen.
War ihr Besuch bei Mr. Brown, die Geistersuche bei ihr Zuhause und ihre Müdigkeit denn wirklich ein Grund, so wütend auf sie zu sein? Konnten echte Freunde denn wirklich so denken?
Lelia wusste es nicht, doch sie war sich sicher, dass sie bestimmt nicht die Erste sein wird, die sich entschuldigt. In ihren Augen waren Oliver Brown und Malvin Esperano die perfekten Vertreter ihrer Art. Sie waren dumme, unerwachsene, untreue, alberne Teenager, die es überall auf der Welt gab.
Genau das war der Grund, warum Lelia niemals einen Freund haben wollte! So etwas brauchte sie nicht!

Genervt und zornig kam sie Zuhause an und ihre Laune besserte sich keineswegs, als sie Lea auf dem Vorplatz fand, die eifrig den geschlossenen Laden mit Brettern vernagelte.
,, Wie anheimelnd …“, sagte sie bitter, als sie ihre Großtante erreichte.
,, Ist ja nicht für immer so“, kam als Antwort.
,, Das Ding wird bald abgerissen und dann kommt unser Kräutergarten dahin!“
Sie seufzte wohlig.
,, Ich wollte schon immer einen Kräutergarten!“
,, Den hättest du auch haben können“, sprach Lelia und besah sich die Bretter traurig.
,, Hinten im Garten wäre eine Menge Platz dafür. Deshalb musst du keinen Laden schließen und abreißen!“
,, Wir haben das doch geklärt, Lily!“, sagte Lea schlicht, schlug den letzten Nagel in das Brett und besah sich ihr Werk.
,, Ich bin zu alt, der Laden ist mir über den Kopf gewachsen, und ich hatte keine Lust mehr, den ganzen Tag darin zu verbringen.“
,, Ich weiß ja …“
Die Alte drehte sich zu Lelia um.
,, Hattest heute wieder einen schlechten Tag mit diesen blöden Bengeln?“, fragte sie und das Mädchen nickte.
,, Ich kann meine Sorge darüber, was hier im Haus passiert wohl doch nicht so gut verbergen, wie ich immer gedacht habe. Es ist scheinbar aufgefallen und geht Oliver und Malvin gehörig auf die Nerven. Dann habe ich noch ein paar unschöne Kommentare über Malvins Gewicht losgelassen und mich unbeliebt gemacht … so kann es gehen.“
Lea seufzte.
,, Mach dir nichts draus“, riet sie.
,, Die beiden gehören zu der Sorte Menschen, bei denen Zuhause schon genug schief läuft. Sie möchten draußen einfach immer gute Laune haben und mit ständig glücklichen und lachenden Leuten zusammen sein. Sie haben kein Verständnis für Menschen, die ihre Sorgen nicht auch so verdrängen können, wie sie selbst und wollen nicht von ihnen belästigt werden.“
,, Aber umgekehrt hätte ich ihnen doch auch zugehört!“, rief Lelia aufgebracht.
,, Freunde tun so etwas! Sie kümmern sich umeinander und sind nicht von deren Problemen genervt!“
,, Das sagst du!“, erklärte die Alte und schnappte sich ein paar Bretter.
,, Für dich mag so etwas selbstverständlich sein, aber andere denken nicht so. Es ist schwierig zu erklären …, doch es kommt sehr häufig vor. Die Menschen haben heute einfach andere Werte. Für sie zählt nicht mehr die Freundschaft durch dick und dünn, sondern nur noch die Freundschaft, solange sie angenehm ist. Es ist verletzend … aber leider zu wahr …“
Sie schritt über den Hof und ließ eine Lelia mit hängendem Kopf zurück.
,, Bringst du den Rest mit?!“, rief sie ihr zu und verschwand im Haus.

Lelia lag in ihrem Bett und starrte zum Himmel hinauf. Auf ihrem Nachttisch drehte sich der kleine Engel und spielte seine sanfte Melodie. Wehmütig hörte das Mädchen ihr zu, dachte an die Worte Leas, dachte an ihre Freunde, an ihre Träume, den blassen Mann, an alles …
Ihr Herz tat laute und kräftige Schläge, in ihrem Innern war es wohlig und warm. Im Grunde fühlte sie sich gut. Das musste wohl an der Melodie liegen.
Waren es solche Gefühle, auf die sie hören sollte? Hatte Lea das gemeint, als sie zu ihr gesagt hatte, sie solle ihrem Herzen lauschen?
Doch was sollte das bringen? Wie konnte sie denn sicher sein, dass ihr Herz die Antwort auch wirklich kannte? Wie konnte Lelia wissen, ob sie die Antwort überhaupt verstand?
Sie seufzte.
Das war kompliziert.
Das Mädchen drehte sich hin und her, dachte weiter nach. Das Gefühl auf der kleinen Treppe, dass auch ihre Freunde hatten … Lelia fand es durchaus angenehm, während Holly und Co. nur ein unschönes Kribbeln verspürt hatten.
Sie überlegte. Da es in ihrem Herzen ein gutes Gefühl hervorgerufen hatte, konnte es nichts Schlimmes gewesen sein. Der bleiche Mann war da etwas ganz Anderes! Er hatte anscheinend wirklich etwas Übles vor. Fragte sich nur, was? Wer war er überhaupt? Was wollte er von Lelia?
Sie rätselte weiter.
Die eigenartigen Träume, die sie immer hatte, vermittelten ihr ebenfalls extreme Gefühle. Sie erinnerte sich daran, dass sie ständig diese Traurigkeit, Einsamkeit und Sehnsucht gespürt hatte. Doch was konnte das bedeuten? Vermisste sie denn etwas in ihrem Leben? Was konnte das sein? Sie war doch immer zufrieden gewesen, hatte sich nie beklagt, hatte sich nie unvollkommen gefühlt…
Der Himmel nahm ein wunderschönes Rot-Orange an, die Sonne schien als leuchtender Feuerball hinter dem Horizont zu verschwinden.
Lelia erhob sich und sah zum Fenster hinaus. Die Engelsfigur spielte weiter ihr Lied.
Wenn sie noch einmal so einen Traum hatte, überlegte das Mädchen, dann musste sie versuchen, auf ihre innere Stimme zu hören.
Sie lächelte, als sie die untergehende Sonne beobachtete. Hätte sie jemals erwartet, dass sie irgendwann so dachte? Fast war es ihr so, als glaubte sie an das Unmögliche, sie war sich beinahe sicher und stimmte Lea zu, dass das Herz viel klüger war, als der Verstand. Vielleicht hatte sie sich ja doch verändert. Möglicherweise sah sie die Welt wirklich mal mit anderen Augen.
Es war aufregend und interessant, was sich in ihrem Herzen abspielte. Dieses erregte und freudige Klopfen, fast wie Flügelschläge eines Schmetterlings.
Die Sonne warf ihr glühendes Licht durch das Fenster, erschuf tiefe Schatten auf Lelias Bett und malte Silhouetten an die Wand.
Die Herzschläge wurden lauter und aufgeregter, während das Mädchen den lauen Frühlingsabend betrachtete, die friedlich und ruhig dastehenden Häuser und Bäume. Alles war wie immer, aber dennoch anders, meinte Lelia.
Sie blickte über die Häuserreihen hinaus, wo sich dicke, schwarze Regenwolken sammelten, weit entfernt.
Das Mädchen betrachtete sie, ihr Herz schlug heftiger und aufgebrachter. Es braut sich etwas zusammen, sagte es ihr.


Die Stunde der Wahrheit




Die Nacht kam und Lelias Gedanken waren durcheinandergewirbelt, wie nach einem Sturm.
Sie konnte nicht erklären, was um sie herum geschah, sie war immer noch nicht sicher, was die Worte ihrer Großtante zu sagen hatte und sie konnte sich immer noch nicht vorstellen, wie eigenartig sich ihr Leben verändert hatte.
Dennoch sah sie dem weiteren Weg nicht mit übermäßiger Angst oder Panik entgegen, sondern war eher gespannt darauf, was die Tage für sie bereithalten werden. Im Grunde zweifelte sie kein bisschen mehr daran, dass etwas Unglaubliches geschah.
Lelia lag in ihrem Bett, lauschte den leisen Regentropfen an ihrem Fenster. Die Wolkenfront hatte ihr Zuhause erreicht. Es war fast zwei Uhr nachts und das Mädchen war erschöpft und dennoch aufgewühlt.
Langsam schloss sie ihre Augen, ihre Gedanken schweiften ab, zu einer wundervollen Wiese, der Himmel war ebenfalls wolkig und es regnete.
Es war wieder so, als könne sie nicht alles sehen, weil etwas vor ihr stand und ihre Sicht behinderte, das Gefühl der Traurigkeit und Sehnsucht schien sie zu zerreißen.
Wo immer ich auch bin, wo immer ich auch hingehen werde … nur die Leere und die Stille umfängt mich …
Ich bin ohnmächtig, hilflos … und dennoch auf dem Gipfel meines Seins … wie lange wird es noch so gehen?
Mein Herr geht seinen Weg, die Stille ist sein Begleiter. Die Trauer ist mein Begleiter … alles scheint nichtig … selbst der Tod …
Ein lautes Geräusch schien Lelia aus ihrem Schlaf zu schrecken. Es kam ihr bekannt vor, dieser Laut, als ließe man etwas über den Boden schleifen.
Sofort war sie in Alarmbereitschaft, sie setzte sich auf und ihre Augen huschten durch das dunkle Zimmer. Da war er wieder, der Stuhl der über den Boden rutschte. Das konnte nur eines bedeuten.
,, Du scheinst mich wahrlich zu erwarten, so hitzig, wie du aufschreckst …“, sprach die leise Stimme hinter ihr.
Das Mädchen schluckte, die Angst ließ ihren Magen schmerzen, der Schweiß stand ihr auf der Stirn.
Der kühle Luftzug einer vorbeihuschenden Gestalt strich um Lelias Gesicht und sie bekam eine Gänsehaut. Er war wieder da. Das war das Schlimmste, was geschehen konnte, nun da Lelia genau wusste, dass er gefährlich war.
,, Wie es scheint, erfreut dich mein Besuch wirklich nicht. Wie überaus bedauerlich!“
Er stand wieder am Fußende von ihrem Bett, sah mit seinen boshaften schwarzen Augen zu ihr hinab.
,, Dabei ist es für mich doch eine große Ehre, die Gesellschaft einer solch holden Maid genießen zu dürfen.“
Lelia war auf der Hut. Sie erinnerte sich an die Worte ihrer Großtante, an ihre Warnung, die sie erst vor Kurzem noch ausgesprochen hatte:
,, Wenn der blasse Mann noch einmal in deinem Zimmer erscheinen sollte …, dann versuche zu dir zu kommen und schenke seinen Worten niemals Beachtung!“
Leichter gesagt, als getan. Sie wollte ja aufwachen, sie wollte es wirklich, aber in ihrem Kopf funktionierte nichts mehr, ihr Körper war gelähmt. Dieser Mann jagte ihr eine Angst ein, die sie noch nie in ihrem Leben gespürt hatte. Nichts hatte ihr jemals solch ein schreckliches Gefühl vermittelt.
Wach doch auf, Lily!, dachte sie angestrengt.
Wach auf! Mach, dass es aufhört!
,, Angst ist eine Schwäche …“, lächelte der fremde Mann kalt und musterte das Mädchen durchdringlich.
,, Eine Krankheit, die sich schnell ausbreitet … unheilbar an einen Menschen nagt, bis er vollkommen zerstört ist.“
Lelia schluckte schwer. Ihre Hände zitterten und sie krallte sich daher in ihre Bettdecke.
Dieser Mann durfte sie nicht noch weiter durchleuchten. Sie musste sich gegen seine Worte wehren.
,, Tatsächlich vermutest du, dass sich deine Ängste nach dem Aufwachen wieder legen, doch du hast ja keine Ahnung!“
Er schüttelte den Kopf mit eindeutig gespieltem Mitleid.
,, Die Panik wächst, und wächst umso schneller! Das ist kein Spiel … sicher nicht!“
,, Hören Sie auf!“, zischte Lelia schließlich, die die Worte des Fremden nicht länger hören wollte.
,, Schluss mit diesen Psychotricks! Lassen Sie mich schlafen, lassen Sie mich in Ruhe!“
,, Mitnichten!“
Sie starrten sich an.
,, Hast du eine Ahnung, was sich um dich herum zusammenbraut?“, fragte der Mann weiter und Lelias Anstrengungen, endlich aus diesem Traum zu erwachen, ließen ihr den Schweiß von der Stirn strömen.
,, Es ist so viel unglaublicher, als du dir jemals in deinem kleinen Hirn ausmalen kannst! Die Welt, die du jeden Tag mit deinen Augen siehst, die Luft, die du atmest, die Menschen um dich herum … Sie sind alle Teil eines so viel Größerem!“
,, Gehen Sie weg!“, knurrte Lelia und schüttelte unwirsch ihren Kopf.
,, Ich will aufwachen! Ich will nicht zuhören!“
,, Das solltest du aber! Oder hörst du etwa nicht die verzweifelten Stimmen, die nach dir schreien? Willst du in deinem Herzen nicht endlich wieder Ruhe und Frieden finden? Die Erfüllung, nach der du dich schon dein ganzes Leben lang sehnst?“
Und dann sah das Mädchen auf, blickte in die tiefschwarzen Augen ihres Gegenübers. Was redete er da? Woher nur konnte er wissen, was sich in ihr abspielte? Woher wusste er nur so genau, was in ihrem Kopf vor sich ging? Weshalb kannte er alle Fragen, die sich Lelia verzweifelt gestellt hatte? Was war das nur für ein Mann? War es wirklich noch ein Traum?
,, Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?“, fragte sie schließlich.
Der Mann legte seinen Kopf schräg.
,, Wer ich bin, sollte keine Bedeutung für dich haben.“
Er kicherte.
,, Und was ich will, kommt dir sicherlich gelegen …“
Lelia starrte ihn an.
,, Ich will dir helfen!“, sagte er schlicht und schlenderte um das Bett herum, auf Lelia zu.
,, Natürlich verstehe ich dein liebes Tantchen, aber deine wirren Gefühle erfüllen mich mit unsagbarem Mitleid!“
Das Herz des Mädchens tat wüste Schläge. Sie wusste sofort, dass dieser Mann ihr sicherlich nicht helfen wollte und nun verstand sie wirklich, was Großtante Lea mit der Stimme des Herzens gemeint hatte.
,, Gehen Sie weg!“, sagte sie kräftig und klang wesentlich mutiger, als sie sich fühlte.
,, Lassen Sie mich in Ruhe und kommen Sie nie wieder! Sie wollen mir nichts Gutes, ganz sicher nicht!“
Der Mann blieb stehen, sein Gesicht verzog sich, seine Augen glitzerten gemeiner denn je.
,, Dummes Mädchen!“, fauchte er und seine Stimme war wie ein Eishauch.
,, Wenn du eine Ahnung hättest, was dich erwartet, dann hättest du dich längst in den Tod geflüchtet!“
Ängstlich rutschte Lelia von dem Mann weg. Sie hatte ihn wütend gemacht, wenn sie jetzt nicht erwachte, dann nahm das ein böses Ende.
Ihr Herz tat weh. Das war nicht mehr normal.
,, Du solltest den Weg gehen, der für dich überhaupt möglich ist!“, fauchte er weiter.
,, Den schnellsten und schmerzlosesten Weg!“
,, Lassen Sie mich in Ruhe! Ich höre Ihnen nicht zu! Gehen Sie!“, rief Lelia verzweifelt, da endlich ertönte sie, die sanfte Melodie …
Der Mann starrte auf das Püppchen, das sich langsam im Kreis drehte, die Augen weit geöffnet, die einsame Lilie fest in den Händen.
,, Sie wird dich nicht ewig von den Schmerzen bewahren können …“, hauchte der Mann, der jedoch dem Mädchen nicht mehr näher kam, sondern wieder zu der kleinen Treppe verschwand.
,, Und diese Schmerzen sind so viel schlimmer, als der Tod. Du wirst meine Worte noch begreifen … und bereuen, dass du sie dir nicht zu Herzen genommen hast!“
Er huschte an dem Mädchen vorbei, das sich die Bettdecke bis unters Kinn gezogen hatte. Die Melodie erfüllte den Raum, umhüllte das Mädchen mit Erleichterung. Für heute war der Mann wieder weg … Gott sei Dank.
,, Himmel, Arsch, und Zwirn …“, keuchte Lelia, warf sich auf ihr Kissen zurück und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
,, Wenn das so weiter geht, dann …“
Sie seufzte.
Was hatte der Mann nur gemeint, als er von Schmerzen sprach, die schlimmer seien, als der Tod?
Was wurde hier nur gespielt und wie viel wusste der Mann?
Schnell schüttelte das Mädchen den Kopf. Ihre Großtante hatte doch gesagt, dass sie den Worten des Fremden keine Beachtung schenken durfte. Vielleicht wollte er sie in die Irre führen.
Lelia rieb sich die Stirn.
Ganz sicher! Ihr Herz, ihr Verstand, jede Faser ihres Körpers, hatten sie davor gewarnt, dem Mann zu vertrauen.
Sie durfte sich auf keinen Fall verwirren lassen.
Das Mädchen lag in ihrem Bett, lauschte der sanften Melodie der Spieluhr und starrte zur Decke hinauf.
Nun langsam begann es bei ihr zu dämmern. Etwas Seltsames schien sich in ihrem Leben eröffnet zu haben, etwas Unbegreifliches, das es vielleicht noch nie irgendwo auf dieser Welt gegeben hatte. Sie hatte es nicht verstanden, weil es außerhalb ihres Verstandes war, denn es war auch außerhalb ihrer Welt.
Lelias Herz schlug heftiger und heftiger, war erregt und aufgebracht. Ihre Gedanken überschlugen sich, doch sie wusste genau, dass sie nun auf dem richtigen Weg war.
All die Dinge, die nun geschahen … sie hatten nichts mit dem Haus zutun, nichts mit Geistern. Es hatte nichts mit dem Buch über Hexenverbrennung zutun, es war nicht die Schuld des fremden Mannes oder der engelhaften Figur, es war nicht Großtante Lea, die die Antwort finden musste. Das war es nicht.
Alles, was passierte, hatte nur ein Mensch zu verantworten: Lelia selbst!
Es geschah wegen ihr. Sie hatte etwas in Bewegung gesetzt und nur sie konnte dem Irrsinn im Haus noch ein Ende setzen. Das hatte nichts mit Geisteskrankheit zutun! Es war real, doch dafür umso unfassbarer, aber was das Wichtigste war: Es konzentrierte sich um Lelia herum.
Das Mädchen schwitzte, ihre Herzschläge wurden ruhiger, die Musik verstummte.
,, Wenn ich der Sache hier ein Ende machen will, dann muss ich verstehen, was hier passiert …“, flüsterte sie in sich hinein.
,, Ich habe jetzt genug erlebt, um zu wissen, dass alles möglich ist! Ich muss nun auf mein Herz vertrauen, den Worten von Tantchen lauschen und eine Lösung finden!“
Langsam und tief atmete sie nun ein und aus, noch immer wartete sie darauf, endlich aus diesem Traum zu erwachen.
Sie setzte sich auf, kniff sich in den Arm. Es tat weh.
Ihr Magen fühlte sich flau an. War sie etwa wach? War das eben kein Traum gewesen?
Sie schluckte die aufkommende Galle hinunter und musste ihre zitternden Hände unter Kontrolle bekommen.
Es war definitiv kein Traum mehr …, das bedeutete, der Mann war vollends real … kam ihr nun immer näher …

In der Nacht hatte das Mädchen keinen Schlaf mehr gefunden, doch es war ihr egal. Sie dachte nun an nichts anderes mehr, als an Großtante Lea. Heute stellte die Nichte sie noch einmal zur Rede. Heute klappte es, da war sie sich nun sehr sicher.
Die Schule war ihr heute egal, Holly und die anderen kümmerten sie nicht im Geringsten. Das alles war nicht mehr wichtig! Es zählte nur noch Eines: Leas Geschichte.
Es war halb sechs in der Früh, als die Tür zu Großtante Leas Zimmer aufschwang und ihre Schritte auf dem knarrenden Holzfußboden zu hören waren.
Lelia sprang aus ihrem Bett und eilte zur Tür.
Der Stuhl vor der Esszimmertreppe war immer noch verschoben, der Durchgang war nicht verschlossen, aber das kümmerte das Mädchen im Moment nicht.
Sie riss ihre Zimmertür auf, stolperte in den Flur und blieb vor der verblüfften Lea stehen.
,, Du liebe Güte!“, keuchte die Alte auf und fast wäre ihr die Pfeife aus dem Mundwinkel gefallen.
,, Was ist passiert? Bist du aus dem Bett gefallen?“
Sie musterte ihre Nichte und hob die Brauen.
,, Du bist blass … Hast du schlecht geschlafen?“
Das Mädchen starrte ihre Großtante gebannt an.
,, Auch wenn man mit beiden Beinen fest in der Realität verankert ist, so sollte man seinen Horizont auch mal in diese Richtung erweitern!“, sagte sie atemlos.
Die Alte blickte sie fragend an.
,, Was …?“
,, Sie wollen mich haben! Sie rufen mich! Irgendetwas ruft mich und das ist kein Traum und ich spinne auch nicht!“
Nun weiteten sich die Augen Leas.
,, Es ist wahr, was hier passiert! So unglaublich es auch klingt, aber ich bin mir nun ganz sicher! Das ist mein Herz, oder? Mein Herz spricht zu mir und bestätigt meine Gedanken! Das ist alles krass und im Grunde vollkommen unmöglich, doch es passiert trotzdem! Was hat sich jetzt wirklich aufgetan und was hat das alles mit mir zutun?!“
Das Mädchen schnappte aufgeregt nach Luft.
Lea nahm die Pfeife aus ihrem Mund.
,, Ich komme nicht darauf, was wirklich hier abgeht!“, redete Lelia schnell weiter.
,, Wie auch?! So etwas passiert sonst nicht, aber du kennst die Antwort, nicht wahr? Ich muss es jetzt wissen! Ich kann nicht mehr warten! Der Mann war wirklich in meinem Zimmer, ich habe nicht geschlafen, aber woher kommt er? Was will er wirklich von mir?!“
Die Großtante schritt auf Lelia zu und fasste sie fest an den Schultern.
,, Gut, Lily!“, sprach sie energisch.
,, Du bist ein intelligentes und keineswegs verrücktes Mädchen! Das weißt du nun ganz sicher! Die Dinge hier sind so real, wie du und ich! Das ist ebenfalls sicher!“
Sie nickte langsam und überlegt.
,, Lass mich schnell telefonieren, bevor ich dir alles erzähle …“
Lelia keuchte nervös auf.
,, Ja?! Du willst es mir also endlich erzählen?!“, rief sie aus.
,, Aber mit wem willst du denn jetzt um diese Uhrzeit telefonieren?!“
,, Mit Mrs. Thompson. Sie soll Holly ausrichten, dass sie dich nicht abzuholen braucht. Du gehst heute nicht in die Schule!“
,, Nein?!“
Die Alte grinste dem Mädchen zu.
,, Glaube mir, Lily! Nachdem, was du heute zu hören bekommst, wirst du in der Schule keine Konzentration mehr erlangen können!“
Sie ließ ihre Nichte los und stapfte die Treppe hinunter. Lelia folgte ihr, mit rumorendem Magen. Sie konnte ihre Spannung kaum zurückhalten, alles an ihr war begierig darauf, endlich jedes Detail zu erfahren.

Während Lea mit Mrs. Thompson telefonierte und Lelia wegen starker Kopfschmerzen und Übelkeit entschuldigte, saß das Mädchen auf dem Sessel im Wohnzimmer und knetete ihre Hände.
Was konnte das nur sein, was Lea ihr zu sagen hatte? Wie weit entfernte sich diese Geschichte nun von der “normalen Welt“? Konnte das Mädchen die Dinge, die sie nun zu hören bekam wirklich begreifen? Sie hatte Angst davor, es nicht zu können, doch noch größere Angst davor hatte sie vor dem Ausmaß der Dinge, die ihr ganzes Leben nun auf den Kopf gestellt hatten.
Was immer das für Phänomene waren, der blasse Mann war Beweis genug, dass sie alles andere als erfreulich waren. Vielleicht war das, was Lea ihr gleich erzählte sogar noch viel schlimmer, als der Fremde. Das war das Schlimmste, das kommen konnte …

Lea legte nun endlich den Hörer auf die Gabel. Dem Mädchen blieb die Luft weg. Nun kam sie, die Wahrheit, mit jedem Schritt näher. Konnte sie sie wirklich verkraften?
Die Alte setzte sich gegenüber auf den Sessel. Ihre Pfeife hatte sie gänzlich zur Seite gelegt, was Lelia als eine ganz besondere Sache verstand. Die Frau meinte es wirklich verdammt ernst.
,, Du bist stark, Lily …“, begann sie schließlich und sofort hielt das Mädchen die Luft an.
,, Du bist stark und du kannst eine ganze Menge verkraften! Das darfst du niemals vergessen! Was immer dir nun geschehen wird, was immer ich dir nun sagen werde: Denke daran, dass nichts unmöglich ist, so klein die Hoffnung auch sein mag.“
Das reichte schon, um Lelia umzuhauen.
,, Was soll das heißen, Tantchen? Geht es zu Ende mit mir?“, hauchte sie und schon spürte sie, wie die Panik ihre Stimme blockierte.
,, Ist irgendetwas hier, das mich umbringen will? Die Hoffnung ist klein? Wir sind in Gefahr?“
,, Atme tief durch, Lily! Atme ganz tief durch und höre mir gut zu!“, sprach Lea, ohne ihren festen Blick von der Nichte zu lösen.
,, Du darfst nicht verzweifeln! Das darfst du nicht! Ich verbiete es dir! Du musst mir jetzt wirklich von ganzem Herzen vertrauen!“
Lelia schluchzte plötzlich auf. Sie konnte nichts dafür, doch sie sah ihr Leben bereits an ihr vorbeiziehen. Ein zufriedenes Leben … nicht mehr und nicht weniger …
Die Tatsache, dass Lea so mit ihr sprach, war erschütternd. Sie hatte Angst davor zu erfahren, was es war, dass ihr so wenig Hoffnung gab.
,, Ich liebe dich, Lily!“, sagte die Alte sanft und ihre faltige Hand legte sich auf Lelias.
,, Und ich glaube ganz fest an dich. Ich verstehe deine Angst … du glaubst gar nicht, wie sehr! Dennoch musst du glauben! Du darfst jetzt nicht in Panik zergehen! Du musst mir zuhören und mir vertrauen!“
Sie sah ihre Großtante an. Die grünen Augen waren erstaunlich, sie strahlten wieder diese Kraft aus, diesen Willen, diese Zuversicht. Die Gestalt der Frau schien wieder alles andere verblassen zu lassen. Lelia schluckte.
Wenn sie dieser Frau nicht glauben konnte, dann konnte sie niemanden mehr vertrauen!
,, Ich höre dir zu, Tantchen!“, flüsterte sie und schluckte ihre Tränen wieder herunter.
Tief atmete sie nochmals ein und aus, fasste sich wieder, da begann Lea auch schon zu sprechen:
,, Unzählige Menschen, so viele Städte, etwa 130 000 Inseln, ca. 193 Staaten, fünf Kontinente und eine Welt. Das ist die einzige Wahrheit, die wir kennen. Alles, womit wir uns befassen. Viele Galaxien, milliardenfach auf der Milchstraße, die Sonne, der Mond, die vielen verschiedenen Planeten und Sterne. Es ist so weit entfernt und dennoch machen wir immer wieder kleine Schritte weiter vor, wollen alles erforschen, wollen alles sehen und kennen. Das, was wir nicht sehen können, gibt es nicht. Amerika gab es nicht, bis zu seiner Entdeckung durch Columbus. Die Erde war eine Scheibe und segelte man über den Horizont hinaus, so fielen die Schiffe in die Tiefe der Unendlichkeit. Ist es so, Lily?“
Das Mädchen starrte ihre Großtante verwirrt an. Ging es jetzt schon los? Konnte sie ihr jetzt schon nicht mehr folgen?
,, Amerika war immer da …“, sagte Lelia verwirrt.
,, Es war die Heimat der Ureinwohner, bevor Columbus kam … die Erde war nie eine Scheibe … wir dachten es nur, weil-“
Großtante Lea nickte eifrig.
,, Weil wir die Wahrheit nicht kannten! Verstehst du? Menschen wie Kopernikus, Galilei, oder Columbus waren keine geisteskranken Irren, die unter Wahnvorstellungen litten, nur weil sie Dinge entdeckt haben, die es im Grunde doch gar nicht geben durfte! Nur weil die Menschen es nicht sehen können, nicht ahnen oder verstehen, so heißt es doch noch lange nicht, dass es das nicht gibt!“
Sie sah Lelia fest an.
,, Ich rede nicht davon, Beweise für das Geschehene zu sammeln, und sie den Menschen hier nahezubringen, denn das, was sich hier mit dir abspielt, das sollte vor den Augen der Menschen normalerweise verborgen bleiben!“
,, Das, was hier geschieht, ist definitiv real“, wiederholte das Mädchen langsam.
,, Das gibt es, doch es wurde von den Menschen nicht entdeckt, weil es nicht entdeckt werden konnte oder durfte … Verstehe ich das richtig?“
,, Vollkommen!“, sagte Lea.
,, Und wie kommt es, dass wir es erleben? Wie kommt es, dass es sich ausgerechnet uns zeigt, und vor allem: Was zeigt sich uns denn gerade?“, fragte Lelia weiter.
,, Es ist eine andere Welt.“
Das Mädchen hielt den Blick der Alten stand. Ihre Hand war immer noch in der Leas, das Schweigen war erdrückend. Lelias Herz schlug und schlug, wie Trommelwirbel, laut und bestätigend, in einem erwartungsvollen, ansteigenden Rhythmus.
Eine andere Welt. Eine andere Welt. Eine andere Welt. Eine andere Welt. Eine andere Welt …
,, Eine andere Welt …“, flüsterte Lelia und die Großtante nickte.
,, Eine Welt, wie im Märchen!“
Das Mädchen pustete, ihre freie Hand rieb sich die Stirn.
,, Wie meinst du das?“, wollte sie wissen.
Sie konnte sich nicht vorstellen, was Lea vor Augen hatte, als sie es sagte.
,, So … aschenbrödel- mäßig? Wie im Märchen? Was für ein Märchen? Gibt es Regenbogenponys? Rumpelstilzchen? Das Singende … springende … Irgendwas?“
,, Weit gefehlt …“, lächelte die Alte.
,, Es ist eine Welt, die unserer fast gleich ist. Es gibt Menschen und Tiere, Blumen und Bäume, doch es gibt auch Wesen … nun … dir würden die Augen aus dem Kopf fallen, solltest du sie sehen …“
,, So?“, fragte Lelia, die immer noch vollkommen baff dasaß.
,, Einige dieser Wesen kennst du auch, Lily. Du siehst sie im Fernsehn, in deinen verhassten Fantasy-Movies. Fabelwesen und Sagengeschöpfe!“
,, Du lieber Himmel …“, hauchte das Mädchen und schloss die Augen.
,, Das ist kein Witz? Du planst keinen üblen Streich mit mir?“
Immer noch schlug ihr Herz im euphorischen und aufgebrachten Rhythmus und schrie ihr fast mit hallender Stimme zu, dass jedes Wort die Wahrheit war.
,, Du kennst die Antwort …“, meinte Lea und es wirkte fast so, als hätte sie das Herz ihrer Nichte ebenso laut vernommen.
,, Aber … wie kann so etwas denn nur gehen …? Wie kann denn eine ganze Welt für uns überhaupt nicht sichtbar sein?“
Die Alte legte den Kopf schräg.
,, Wegen eines dichten Schleiers, der die Welten voneinander trennt. Sie existieren, friedlich ruhend nebeneinander, zum Greifen nah, doch trotzdem unerreichbar. Nichts aus dieser Welt dringt zu uns … nichts von unserer Welt dringt zu ihnen … Bis jetzt.“
Lelia öffnete ihre Augen wieder und schüttelte den Kopf.
,, Ich verstehe das nicht“, sagte sie matt.
,, Ich kapier das nicht. Wie kann das denn gehen?“
,, Der Schleier hat einen Riss …“
,, Wie, Riss? Wie geht denn das? Haben wir den Schleier gesprengt? Haben wir aus Versehen eine Bombe an den Schleier gepackt und die hat ihn kaputt gemacht?“
,, Keine Bombe kann diese Wand zerstören!“, sagte Lea schlicht.
,, Aber wie ging es denn dann?“
,, Durch Magie.“
,, WAS?!“
Nun war Lelia von dem Sofa aufgesprungen.
,, Magie?! Zauberei?! Hokuspokus schieß mich tot?!“
,, Das klingt etwas zu leicht …“, lächelte die Großtante über die heftige Reaktion des Mädchens.
,, Die Magie dieser Welt besteht aus uralten Bannen und Formeln … aus der Vollkommenheit des Geistes, aus der Reinheit der Natur und dem Willen des Seins. Diese Magie ist kein simpler Zauberspruch. Sie ist ein Sturm, tausend Gewitter, die verborgene Existenz.“
,, Muss ich das verstehen?“
,, Im Moment nicht …“
,, Nun gut. Magie hat also einen Riss in den Schleier ähm … gezaubert … und darum passieren jetzt hier so seltsame Sachen.“
Das Mädchen seufzte.
,, Ich verstehe es immer noch nicht. Wenn also ein Riss in dieser Wand ist, und so komische Dinge in unsere Welt kommen … also … wie kommt es, dass nur wir diese Probleme haben? Außerdem ist mir erst recht nicht klar, warum eine Märchenwelt irgendwo hinter einem Schleier verborgen ist, man sie eigentlich überhaupt nicht sehen kann, aber dennoch Fabelwesen kennt, die es in dieser Märchenwelt scheinbar gibt. Wieso kennen wir sie? Es muss quasi wirklich eine echte Verbindung bestehen.“
Sie seufzte schwer und überlegte weiter.
,, Aber diese ganzen Wesen und Märchen entsprangen doch aus der Fantasie von irgendwelchen Romanschriftstellern oder Geschichtenerzählern. Wieso gibt es Parallelen? Ich kapier das nicht!“
,, Die Frage ist einfach zu beantworten“, sagte Lea und lehnte sich in ihrem Sessel zurück.
,, Zwischen unseren Welten gibt es durchaus Parallelen. Es gibt Menschen, wie hier, Tiere wie hier, Pflanzen wie hier. Wir kennen Wesen, die es in der anderen Welt gibt, obwohl es sie bei uns nicht gibt. Wir kennen Legenden, wir sprechen sogar dieselbe Sprache, denn im Grunde sind wir ein und dieselbe Welt. Nicht mehr … und nicht weniger!“
Lelia riss die Augen auf.
,, Was? Dieselbe Welt? Aber … wie?“
,, Unsere Welten waren mal eins, bis sie vor sehr, sehr langer Zeit voneinander getrennt wurden. Unsere Welten entwickelten sich unterschiedlich. Während wir uns im Bereich der Technologie und des Fortschritts bewegten, blieb die andere Welt ein zauberhafter Ort voller Märchen und Magie. Ich kann mir nicht erklären, warum wir uns im sprachlichen Bereich so ähnlich entwickelt haben, uns in Moral und Ethik so gleichen, doch nichts ist ohne Grund geschehen.“
Das Mädchen ließ sich wieder auf das Sofa fallen. Ihr Kopf war jetzt schon schwer, obwohl sie das Hauptproblem noch gar nicht angesprochen hatten. Was immer sie auch erwartet hatte, so etwas sicher nicht!
,, Tantchen … im Ernst …“, hauchte Lelia und blickte zur Decke.
,, Das ist krass … Das glaubt uns kein Schwein.“
,, Ich gedenke auch nicht, es einem Schwein zu erzählen!“, kam als Antwort.
,, Dies ist eine Sache, die wir ganz für uns behalten müssen. Das ist wirklich wichtig!“
Von Lelia kam ein hölzernes Lachen.
,, Ich wäre ziemlich beknackt, wenn ich damit auf die Straße gehe. Ich kann es ja Oliver und Malvin erzählen. Die werden mir sicher glauben …“
Sie seufzte leise und versuchte sich wieder etwas zu sammeln. Sie glaubte ihrer Großtante. An ihren Worten bestand nicht der geringste Zweifel, doch gleichzeitig konnte sie noch gar nichts begreifen. So etwas in ihrem Leben? Wie kam das nur?
,, Nun kommen wir ins Spiel!“, redete die Alte weiter, als hätte sie die Gedanken ihrer Nichte gehört.
,, In der anderen Welt geht etwas vor sich. Es ist etwas Unerhörtes und diese Welt zerbricht daran, wenn wir ihr nicht helfen! Deshalb suchen uns die seltsamen Begebenheiten heim, deshalb steht der Mann vor deinem Bett und deshalb hast du all die merkwürdigen Träume. Diese Welt ruft dich, Lily. Sie braucht dich … und egal, was du auch tust … früher oder später wird sie dich holen!“


Soweit so gut erstmal... Vielen Dank fürs Lesen!
Eure Nebelmond

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 13.12.2010

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