BEYOND YOU
ANNA HAGER
Für meine Geschwister.
Weil wir vier uns zusammen ins Leben gekämpft haben.
Ohne euch wäre ich nicht hier.
ACHTUNG
In diesem Buch werden sensible Themen beschrieben. Bitte achte daher auf dich, deine Gefühle und persönlichen Grenzen. Eine ausführliche Liste der Inhalte findest du auf der letzten Seite des Buches.
Ich wünsche dir ein wundervolles Leseerlebnis.
Anna
PLAYLIST
Pieces Of Me – 3 Doors Down
In My Veins – Andrew Belle
I Can´t Carry This Anymore – Anson Seabra
Dear Agony – Breaking Benjamin
Waves – Dean Lewis
Everything I Wanted – JP Cooper
Drowning – Jonah Kagen
In Your Atmosphere – John Mayer
Schwarz – Lea x Casper
Brother – Kodaline
99 Probleme – Madeline Juno
Wish You Were Here – Pink Floyd
It´ll Be Okay – Shawn Mendes
No Lo Recuerdo – Susana Cala
Honest – Thousand Foot Krutch
PROLOG
Irina Hendrics war am glücklichsten, wenn ihre Familie beisammen war. Jonah hatte sich wohlig lächelnd zurückgelehnt und den Knopf seiner Jeans geöffnet, und Sofia massierte sich den vollen Magen. Ihr Mann Richard dagegen aß sein drittes Stück Gebäck und schwebte augenscheinlich im siebten Himmel.
»Du hast dich mal wieder selbst übertroffen, Mum«, kam es von ihrem Sohn. »Das war der beste Roscon de Reyes, den ich je gegessen habe.«
»Vergiss nicht die Paella«, schwärmte Sofia mit leuchtenden Augen. Richard bestärkte das Lob seiner Kinder mit heftigem Nicken, bei dem er sich fast am letzten Bissen verschluckte.
»Vielen Dank für das Lob. Könnt ihr mir dafür einen Gefallen tun und den Tisch abräumen?«, bat Irina und fügte um Mitleid heischend an: »Ich habe schließlich den ganzen Vormittag in der Küche verbracht, damit ihr dieses Festmahl genießen konntet.«
Sofort schwirrten ihre Kinder los. Es grenzte an ein Wunder, dass keine Glaskugel zu Bruch ging, als Jonah sich seinen Weg am geschmückten Christbaum vorbeibahnte. Trotz seiner zwei linken Füße schaffte er es sogar mehrmals ohne Stolperzwischenfälle in die Küche und wieder zurück. Gläser und Porzellan klirrten, als ihre Kinder den Geschirrspüler beluden. Dabei vernahm Irina ihre gedämpften Stimmen, während sie genüsslich das Rotweinglas leerte und es an die Tischkante schob.
»Wir haben die beiden doch ganz gut hingekriegt«, befand Richard unvermittelt, nachdem er den klebrigen Zuckerguss um seine Mundwinkel mit einer Serviette beseitigt hatte. »Sie sind erwachsen, haben ihr eigenes Leben und verbringen trotzdem freiwillig sämtliche Feiertage mit ihren Eltern.«
»Morgen ist Dia de los Reyes Magos. Wenn sie nicht wenigstens diesen Abend mit uns verbringen würden, wäre ich doch schwer enttäuscht«, gestand Irina, woraufhin Richard nach ihrer Hand griff.
»Wir haben unser Bestes gegeben. Das würden sie immer zu schätzen wissen, davon bin ich überzeugt.«
Die Finger ihres Mannes legten sich zärtlich auf ihre Wange und verweilten dort. Leise seufzend schloss Irina die Augenlider. Er hatte recht. Sie sollte sich auf die starken Bande verlassen, die ihre kleine Familie zusammenhielten. Aber die Zweifel ließen sich nicht einfach ausradieren. Ganz besonders nicht heute. Mit geschlossenen Augen hörte sie Schritte auf dem Läufer im Flur und spürte den Luftzug im Nacken, mit dem der würzige Duft von Jonahs Aftershave in ihre Nasenflügel kroch.
»Ist alles okay?«
Sie blinzelte zu ihrem Sohn hoch, der Richards Kuchenteller und ihr leeres Weinglas vor der Brust hielt. Seine Stirn war gekräuselt vor Sorge.
»Diese Zeit ist schwer für mich. Du weißt, dass wir früher immer bei Emilia, Nicolas und Marcos –« Die Stimme der Spanierin fiel in sich zusammen wie ein Soufflé.
»Das verstehe ich, Mum.«
Jonah gab sich alle Mühe, konnte die Lüge aber nicht vor ihr verbergen. Sie erkannte es an dem zuckenden Muskel an seiner Schläfe. Natürlich verstand er nicht. Er liebte seine Schwester wie bisher keine andere Frau in seinem Leben. Sofia und Jonah waren unzertrennlich, schon immer gewesen. Wie sollte er also verstehen, warum sie jedes Gespräch beendete, wenn der Name ihrer Schwester fiel? Warum sie den Kontakt zu Emilia vor Jahren abgebrochen und keinen Fuß mehr nach Alicante gesetzt hatte? Das Unverständnis ihres Sohnes tat weh. Aber vielleicht hatte sie es verdient.
»Ist jemand gestorben?«, scherzte Sofia, als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte und die deprimierten Gesichter bemerkte.
»Es ist alles gut. Dein blöder Witz war nur unglaublich unpassend.«
Kopfschüttelnd stieß Jonah seiner Schwester mit dem Ellenbogen in die Rippen, was diese spitz aufkreischen ließ. Sie holte aus, doch bevor sie stoßen konnte, warnte Richard: »Vorsicht, der Baum!«
Sofia erfasste die ungünstige Kombination aus Jonahs Missgeschick und dem Tannenbaum hinter ihm. Grinsend schob Jonah sich an ihr vorbei, um das restliche Geschirr in die Küche zu bringen, bevor er auf seinen Platz zurückkehrte. Sofia ließ sich schwer ausatmend auf den eigenen Po fallen und klemmte die Hände unter die Oberschenkel.
»Ihr könnt gleich wieder aufstehen«, verkündete Irina und machte eine auffordernde Handbewegung. »Jetzt wird noch der Weihnachtsschmuck verräumt. Tradition im Hause Hendrics, schon vergessen?«
»Äh«, machten Sofia und Jonah unisono und tauschten einen verschwörerischen Blick.
»Was ist los?«, wollte Richard wissen, und Irina bewunderte seine Gelassenheit.
»Ehrlich gesagt«, begann ihr ältestes Kind und rutschte sichtlich nervös von einer Stuhlkante zur anderen, »Diana will mich heute Abend auf eine Party ins Switch schleifen. Sofia muss mir Beistand leisten, weil ich überfüllte Nachtclubs hasse.«
»Aber, die Tradition!« Irinas Stimme bebte vor Enttäuschung, und sie presste die Lippen aufeinander.
»Sorry, Mum«, sagte Sofia und sah dabei ehrlich zerknirscht aus. »Ich habe Jonah versprochen, dass ich ihn nicht hängenlasse. Weder bei der Clubsache noch bei Diana, die ich heute kennenlernen werde.«
Während Irina noch um ihre Fassung rang, war ihr Mann sofort Feuer und Flamme. Besonders bei Sofia hatte er den überfürsorglichen Vater offenbart und Nate einem zweistündigen Allgemeinwissenstest unterzogen, den der junge Mann mit Bravour bestanden hatte. Bei Jonahs Freundinnen waren die elterlichen Ansprüche im Laufe der Jahre eher gesunken. Was natürlich nicht hieß, dass Richard aufhörte, zu hoffen. »Wann treffen wir deine neue Freundin eigentlich?«
»Diana ist extrem schüchtern«, rechtfertigte ihr Sohn sich. »Aber sie ist eine tolle Frau. Ehrlich, hilfsbereit, liebevoll, intelligent, großzügig –«
»Ich werde Strichliste führen, ob sie diese Eigenschaften auch wirklich besitzt«, unterbrach Sofia zwinkernd.
»Ich war mir noch nie so sicher mit einer Frau wie mit ihr«, betonte Jonah ruhig und ignorierte die Stichelei geflissentlich. »Sobald sie mit Sofia warmgeworden ist, lernt auch ihr sie kennen. Versprochen.«
Richard seufzte, nickte aber. »Dein Wort in Gottes Ohren, mein Sohn.«
Jonah lächelte, blickte auf seine Armbanduhr und schob den Stuhl zurück. »Wir müssen dann auch langsam los.«
Ungeduldig trieb er seine Schwester voran, was diese augenrollend hinnahm. Irina folgte als Schlusslicht in den Flur, der ohne die Jacken und Schuhe der beiden bald seltsam leer sein würde. Obwohl ihre Kinder schon vor Jahren ausgezogen waren, fühlte sich ihre Anwesenheit vertrauter an als die Stille, die sie zurückließen. Manchmal vermisste Irina die Zeit, in der sie alle unter einem Dach gewohnt hatten. Es war laut, hektisch und chaotisch gewesen, aber sie hatte es geliebt, eine Mutter zu sein und die beiden beim Aufwachsen zu begleiten.
Als sich Sofias Haare, die ihr bis zur Rückenmitte reichten, im Reißverschluss ihrer Daunenjacke verhakten, kam Jonah ihr zur Hilfe. Vorsichtig befreite er die aschblonde Strähne, wartete, bis Sofia ihre Mähne mit beiden Händen gebändigt hatte, und zog den Verschluss zu. Irina beobachtete die rührende Szene und dachte unwillkürlich an die Date-Abende, an denen sie mit ihrem Mann erst spät heimgekehrt war. Der Fernseher lief meistens noch. Jonah hatte den Arm über Sofia ausgestreckt, als wollte er die Jüngere vor Alpträumen abschirmen, und er hatte geschnarcht, während der aschblonde Kopf an seiner Schulter lehnte.
»Gibst du mir ein Stück Zuckerkuchen für Nate mit?«, riss ihre Tochter sie aus der Sentimentalität. Sie eilte augenblicklich los und kehrte mit einer Tupperdose zurück, in die sie das größte Kuchenstück von allen gezwängt hatte.
»Wer soll das alles essen?«, fragte Sofia lachend, als sie die Dose entgegennahm. »Nate beschwert sich sowieso schon über seine Figur, weil er vor lauter Arbeit kaum vom Schreibtisch wegkommt.«
»Dir fällt schon etwas ein, um ihn auf andere Gedanken zu bringen.«
»Ja, vielleicht«, murmelte die Blonde. Bevor Irina jedoch nachhaken konnte, hatte diese sich schon mit einer kurzen Umarmung verabschiedet und stapfte den schmalen Pflastersteinweg zum Auto. Richard hatte die Einfahrt vor der Ankunft ihrer Kinder freigeschaufelt, aber es hatte ununterbrochen geschneit. Der Schnee lag als zentimeterdicke Schicht auf den Steinen, einzelne Flocken glitzerten im Kunstfellkragen von Sofias Winterjacke. Obwohl nie etwas passiert war, hatte sie immer ein mulmiges Gefühl, wenn ihre Kinder bei Witterungen wie diesen unterwegs waren. Die Mutterinstinkte ließen sich nie ganz abschalten.
»Fahr vorsichtig«, wandte sie sich deshalb an Jonah, der gerade in die gefütterten Wildlederboots schlüpfte.
»Sofia fährt. Aber ich passe selbstverständlich auf, dass sie nicht in einem Schneehaufen landet.«
Als Jonah sich aufrichtete und zu ihr drehte, drückte sie ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
»Mum, wir sehen uns doch wieder«, brummte ihr Sohn und wischte den kaminroten Abdruck von der glattrasierten Haut. »Was soll außerdem Diana denken, wenn ich mit dem Lippenstiftabdruck einer anderen Frau auftauche?«
»Dass du ein guter Kerl bist, um den sich die Frauen reißen.« Richard klopfte seinem Sohn auf den Rücken. »Sie wäre eine Idiotin, wenn sie das nicht sehen und dich abservieren würde.«
»Danke, Dad. Auch wenn ihr gerade beide so tut, als würde ich nicht wiederkommen, wenn ich durch diese Tür trete.«
Er lachte und hob zum Abschied die Hand. Sofia saß bereits mit laufendem Motor am Steuer. Das Licht der Scheinwerfer traf auf Schneeflocken, die wie gefrorene Tränen vom Himmel rieselten, als Jonah sich auf den Beifahrersitz schwang. Richard stellte sich dicht neben sie an die offene Tür, und Irina war dankbar für die Wärme im eisigen Januarwind, die von seinem Körper ausging. Sie lehnte sich an ihn und winkte ihren Kindern nach, bis der Wagen um die Ecke bog.
Gemeinsam beseitigten sie das Chaos des Familienessens. Während Richard die Arbeitsfläche neben dem Ceranfeld abwischte, kümmerte Irina sich um das Wohnzimmer. Kurz fegte sie mit der Hand Krümelreste vom Tisch, dann holte sie die Kisten für den Baumschmuck, die sie hinter dem Sofa versteckt hatte. Staub kitzelte in ihrer Nase, und sie unterdrückte ein Niesen. Sie musste halb unter den Baum krabbeln, um die Lichterkette auszuschalten. Getrocknete Nadeln regneten auf sie nieder, dafür war der Duft der Nordmanntanne dort unten noch so intensiv, als wäre der Baum frisch geschlagen worden.
Nadelgewächse erinnerten Irina stets an ihre eigene Kindheit in Spanien. Sie hatte immer eine Handvoll Pinienzapfen in ihren Koffer gesteckt, bevor sie ins regnerische Großbritannien zurückgekehrt waren. So war ihr Gepäck zwar voller Holzsplitter, dafür hafteten die vertrauten Nuancen an ihrer Kleidung. Bilder, die sie lange verdrängt hatte, tauchten in ihrem Gedächtnis auf. Sie sah Emilia, die sie mit aufgerissenen Augen anstarrte. Es schmerzte, sie so zu sehen, so bestürzt und verletzt. Selbst nach all den Jahren fragte sie sich manchmal, ob ihre Entscheidung die richtige gewesen war.
Hastig kroch sie unter dem Baum hervor und machte sich mit zitternden Fingern an den Kugeln zu schaffen. Die Arbeit lenkte sie ab. Ihr Herzschlag trieb sie an, bis er plötzlich stolperte. Eine Kugel glitt aus ihren Fingern, das bunte Glas zerbarst in tausend Splitter. Sie verteilten sich auf dem dunklen Laminat, rotgoldenes Glitzer flog um ihre Füße. Irina rang nach Luft, keuchte. Die Welt verblasste. Das lebenswichtige Organ in ihrer Brust war still, erstarrt. Alles war still und dunkel. Sie schrie, aber kein Ton verließ ihre Lippen. Dann tat ihr Herz einen gewaltigen Schlag, der durch sie schoss wie ein Blitz. Sie stöhnte, als ihre Knie nachgaben. Splitter bohrten sich in ihre Fingerkuppen. Dumpf drang die Stimme ihres Mannes zu ihr, durch einen Schleier sah sie seine verschwommene Gestalt. Seine Anwesenheit beruhigte sie, und langsam trockneten die Tränen. Sie ließ sich von Richard unter die Arme greifen und zum Sofa führen, wo sie der Länge nach in die Polster sank.
Irina wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis sie sich vorsichtig aufrichtete. Eine Tasse Kamillentee empfing sie auf einem Schieferuntersetzer. Das Getränk duftete blumig, schmeckte nach Lindenhonig und spendete Wärme. Richard setzte sich zu ihr und legte ihnen eine Wolldecke über die Beine. Schweigend saßen sie beieinander, bis zuckendes Blaulicht die Nacht erhellte. Irina bewegte sich keinen Millimeter, als das schrille Klingeln durch die Luft schnitt und Richard zur Haustür eilte. Gedämpfte Stimmen hallten durch den Flur, Schritte von schweren Stiefeln ertönten, und sie bewegte sich noch immer nicht, als ihr Mann gefolgt von zwei Polizisten in den Raum trat.
Sie wusste, was nun folgen würde, hatte es mit ihrem Schwächeanfall gewusst. Mühsam faltete die Katholikin die Hände um das Kreuz an ihrem Hals und flüsterte: »Bitte lass es nicht wahr sein. Das kann es nicht, das darf es nicht.«
Gott gab keine Antwort.
Da war nur die Stille, wo sein Lachen gewesen war.
Die Kälte, wo sein Feuer gelodert hatte.
Die Dunkelheit, wo sein Licht gebrannt hatte.
Die Trauer, so tief wie ein Ozean.
Jonah Hendrics war tot.
NEUANFÄNGE
SOFIA
Ich stehe vor dem Flughafen Southampton, Regentropfen perlen von meinen Wimpern, und der Betonkomplex vor mir verschwimmt zu einem stahlgrauen Ungeheuer. Tief inhaliere ich den Zigarettenqualm. Das Nikotin schlingt sich um meine vibrierenden Nervenbahnen. Es dämpft die Emotionen, und trotzdem erzittere ich am ganzen Körper, als die Stimme meines toten Bruders durch meinen Verstand echot.
Rauchen tötet, So. Du solltest damit aufhören.
Auf dieses Stichwort erlischt zum dritten Mal die Glut.
Shit, Jonah, fluche ich gedanklich. Lass mir doch wenigstens dieses kleine Glück.
Diesmal hantiere ich gar nicht erst mit dem Feuerzeug, sondern schnippe den Glimmstängel achtlos in den Mülleimer beim Eingang. Meine Haare triefen und pappen in meinem Nacken. Als ich die Luftschleuse passiere und unter der Klimaanlage ins Innere husche, sticht die kühle Luft unangenehm auf meiner Haut. In der Halle empfängt mich hektisches Chaos. Anzugträger zerren Reisekoffer hinter sich her, Mütter umklammern die Finger ihrer Schützlinge, um sie bloß nicht in der Strömung zu verlieren, und ich erstarre. Meine Pupillen huschen ziellos umher. Neonfarbene Reklameschilder blenden mich. Die Mischung aus Frittierfett, gerösteten Kaffeebohnen und dem Vanille-Parfüm einer Reisenden, die viel zu dicht an mir vorbeiläuft, bereiten mir Übelkeit. Ich atme flach durch den Mund und setze mich ruckartig in Bewegung, als ich den Check-in meiner Billigfluggesellschaft am anderen Ende der Halle entdecke.
Nur mühsam komme ich vorwärts, als würde ich gegen eine starke Strömung anschwimmen. Immer wieder kreuzen Menschen meinen Weg. Koffer donnern gegen meine Schienbeine. Ich werde angerempelt, geschubst, abgedrängt, bleibe immer wieder stehen, um Fremden Platz zu machen. So kämpfe ich mich Meter um Meter weiter, bis ich endlich das Ende der Schlange erreiche. Mein Atem rasselt. Regennässe vermischt sich mit Schweiß auf meiner Haut, und ich zittere noch immer.
Die blonde Mitarbeiterin von British Airways nickt mir freundlich zu. Wortlos hieve ich meinen Koffer erst auf die Waage, dann aufs Band und sehe ihm nach, bis er aus meinem Blickfeld verschwunden ist.
Jetzt gibt es kein Zurück mehr, sagt mein Bruder und klingt dabei, als würde er lächeln. Kurz denke ich darüber nach, aufs Band zu springen, den Koffer zu schnappen und mein Vorhaben abzublasen, noch bevor ich das Flugticket eingelöst habe. Noch könnte ich bleiben. Ich könnte in ein Taxi steigen, wenn auch mit größter Anstrengung, und mich nach Hause bringen lassen. Mum und Dad haben vermutlich nicht einmal bemerkt, dass ich meine Sachen gepackt habe. Sie sind es gewohnt, dass ich mein Zimmer nicht verlasse und die Tür permanent verschlossen ist.
Heute steht sie einen winzigen Spalt offen. Das wird Dad aber mit Sicherheit entgehen, wenn er völlig übermüdet von der Doppelschicht aus dem Krankenhaus zurückkommt und für die nächsten Stunden ins Koma fällt. Mum wird es irgendwann bemerken, und wenn sie den Raum betritt, dessen Vorhänge ausnahmsweise nicht verschlossen sind, wird sie das gefaltete Stück Papier auf dem Kopfkissen finden.
Der Abschiedsbrief verdient seinen Namen kaum. Er ist so kurz, so lieblos, so distanziert. Wie ich es in den letzten Monaten gewesen bin. Er spiegelt nicht im Ansatz wider, wie zerrissen es in mir aussieht. Dass meine Gedanken so schwarz sind wie die Kleidung, die ich am Körper trage. Dass ich mich entschuldigen will, es aber nicht kann. Dass ich bin, was ich bin – eine Brudermörderin.
Mörderin. Mörderin. Mörderin, zischt es durch meinen Kopf, und jedes Mal bohrt sich ein Messer tief in meine Brust.
Ich reiße der Blondine meinen Reisepass aus der Hand, den sie mir mit ihrem eingemeißelten Lächeln hinhält. Dann drehe ich mich um und haste vorwärts. Diesmal müssen die Menschen mir ausweichen. Ein erdbeerblondes Mädchen, das sein pinkes Plüscheinhorn unter dem Arm trägt, reagiert nicht schnell genug. Das Stofftier landet neben seiner Besitzerin im Dreck, und ich steige einfach über die beiden, ohne auf den empörten Ausruf des Vaters zu reagieren.
Du bist eine Mörderin.
Ich balle die Hände zu Fäusten und beiße die Zähne zusammen, während meine Doc Martens auf den Boden trommeln.
Du hast Jonah umgebracht.
Tränen schießen mir in die Augen, aber ich bleibe nicht stehen. Das Zischen in meinem Kopf wird zu einem Fauchen, dann zu einem Knurren, bis nur noch ein unverständliches Dröhnen zurückbleibt. Mein Herz rast. Mir ist kotzschlecht. Die Orientierung habe ich längst verloren, doch meine hektisch umherspringenden Pupillen erhaschen das Wort Sicherheitskontrolle mit einem Pfeil nach rechts. Ich folge seiner Spitze und beginne zu joggen. Meine Kondition ist erbärmlich, und schon nach wenigen Metern habe ich Seitenstechen. Aber der Schmerz hilft. Er dämpft das Dröhnen, und mit jedem Schritt wird die Gedankenstimme leiser. Mit Schnappatmung erreiche ich schließlich das Ende einer zweiten Warteschlange. Meine Oberschenkel brennen, die Waden zittern. Aber ich höre nichts. Abgesehen von meinem rasenden Puls und dem Blut, das durch meine Adern fließt. Keine Stimmen. Keine Schuldgefühle. Keine Panik. Nichts als erlösendes Rauschen.
Als die Sicherheitsbeamtin mich zu sich winkt, trete ich mechanisch vor. Sie tastet mich nach versteckten Gegenständen und Waffen ab. Bittet mich, den Gürtel aus der hochtaillierten Blackjeans zu ziehen, bevor ich durch den Metalldetektor trete, und ich folge ihrer Anweisung. Bedauerlicherweise bleibt das Gerät stumm, und ich könnte meine Reise fortsetzen. Aber ich verharre bewegungslos.
»Bitte machen Sie den Weg frei«, sagt die Beamtin, als hinter mir ungeduldig gemurrt wird. »Es ist alles in Ordnung, Sie dürfen Ihr Handgepäck mitnehmen und gehen.«
Mein Blick fliegt zum scharfkantigen Gesicht der Fremden, die mir auffordernd zunickt. Ich will mich rechtfertigen. Sie kann nicht ahnen, wie sehr ich an dieser verfluchten Stadt hänge. Sie ist mein Zuhause. Der Ort, an dem es für mich viele erste und ein letztes Mal gab.
Sie war dein Zuhause, bemerkt Jonah sanft. Aber jetzt musst du nach vorn schauen und weitergehen.
Tief luftholend trotte ich los. Jonah hat recht, wie immer. Ich muss Southampton verlassen. Das ist meine einzige Chance. Mein Neuanfang.
* * *
Nach einer quälend langen Wartezeit laufe ich durch den schmalen Mittelgang zwischen den Sitzreihen, mein Flugticket fest in der Hand. Endlich erscheint die magische Zahl auf den anthrazitgrauen Polstern, die mit meiner Nummer übereinstimmt. Der zweite Platz ist noch frei, und ich würde eine Niere dafür geben, damit das auch so bleibt. Automatisch rutsche ich durch bis ans Fenster und stelle mein Handgepäck auf den fleckigen Teppichboden. Während ich mich nach hinten in die Polster sinken lasse, studiere ich gelangweilt das übliche Zeug unter dem Klapptisch.
Viel zu langsam füllt sich die Maschine. Ungeduldig klopfe ich mit den kurzgekauten Fingernägeln auf das Hartplastik, wippe mit dem Bein und mache meiner inneren Unruhe Luft. Ich rede mir ein, dass ich wegen des Nikotinmangels so nervös bin. Denn sobald der Sicherheitscheck passiert ist, gibt es an englischen Flughäfen keinen Raucherbereich mehr. Mein Konter ist ein dampfender Vanilla Latte gewesen, allerdings mit mäßigem und sehr kurzlebigem Erfolg. Auch die Flucht aus der Realität, die sich in den letzten Monaten bewährt hat, ist zwecklos gewesen. Die Bevölkerung meiner Stadt in Township ist proportional zu meiner schlechten Laune gewachsen. Gerade lege ich den Gurt an und ziehe ihn fest, als im Mittelgang ein Typ in dunkelblauem Hoodie und grauer Jeans auftaucht. Seine ungezähmten dunkelbraunen Locken sehen aus, als wäre er gerade aus dem Bett gefallen, und für eine Rasur hatte er offensichtlich auch keine Zeit.
Geh einfach weiter, flehe ich.
Er bleibt stehen, prüft sein Flugticket und lächelt, weil er seinen Platz ausgerechnet neben mir gefunden hat. Dann rückt mir der Glückspilz auch schon viel zu dicht auf die Pelle und verströmt seinen penetranten Duft, der mich an Waldmeister und Ingwer erinnert.
»Wir sind wohl Sitznachbarn«, stellt er mit eindeutig spanischem Akzent fest.
Gut erkannt, Sherlock.
Ich verschränke die Arme vor der Brust und hülle mich in Schweigen.
»Alles klar, du hast keine Lust auf Small Talk.« Er ist nicht so blöd, wie er aussieht, und versteht meine Körperhaltung. Sein Gurt klickt unangenehm laut, noch lauter ist nur das nervöse Schaben seiner Sohlen auf dem Teppich. Papier raschelt, als er im Bordmagazin blättert, während er eine mir unbekannte Melodie summt. Dazu plärrt irgendwo hysterisch ein Kind, das Walross vor mir schnäuzt schon zum dritten Mal, und ich knirsche mit den Zähnen. Wie soll ich den zweieinhalbstündigen Flug so aushalten?
Als hätte der Pilot geahnt, dass ich kurz davor bin, aus seiner Maschine zu stürmen, begrüßt er uns an Bord der Embraer, stellt sich und seine Crew in einer ausschweifenden Lobeshymne vor und leiert die obligatorischen Sicherheitshinweise runter. Träge begibt sich die Maschine auf ihren Weg zur Startbahn. Ich verfolge die Tropfen, die über das winzige Bullaugenfenster rutschen.
Jonah und ich haben uns bei jedem Flug darum geprügelt, wer am Fenster sitzen durfte. Dad musste Buch darüber führen, um für Gerechtigkeit zu sorgen. Wir haben es geliebt, Start und Landung hautnah mitzuerleben. Auch jetzt beobachte ich, wie das Flugzeug mit wachsender Geschwindigkeit über den Asphalt jagt, doch die Faszination und Aufregung von früher bleibt aus. Desinteressiert und gelangweilt, als würde ich Dad dabei zusehen, wie er seine Krawatte mit einem Windsorknoten bindet, betrachte ich das vorbeiziehende, triste Land. Wir heben ab, und schnell werden mattes Eichengrün und Betongrau vom tiefblauen Atlantik abgelöst. Immer kleiner wird meine Heimat, bis sie hinter der undurchdringlichen Regenwolkenfront verschwindet.
Du hast es bald geschafft, So.
Plötzlich sackt die Maschine abwärts. Ich unterdrücke einen Fluch und kralle mich in die Armlehnen. Der Pilot entschuldigt sich für das Luftloch. Ich atme auf, als es abermals abwärtsgeht. Luftströme treiben die tonnenschwere Maschine umher. Der Boden und die Wände zittern wie bei einem Erdbeben. Überall klappert Metall. Menschen kreischen, ein Kind heult, und ich bin auf der Emotionsskala irgendwo dazwischen.
»Nur ein paar kleine Turbulenzen«, entschuldigt sich unser Pilot. »In ein paar Minuten haben wir es hinter uns.«
Ein paar Minuten, die für mich zur Hölle werden. Als das Flugzeug unter der nächsten Böe bebt, kneife ich die Augen zu. Schlechte Idee, denn aus der Schwärze taucht Jonahs blasses Gesicht auf. Seine Züge sind entspannt, die Haut pudrig matt. Auf seiner Stirn schimmert eine Narbe, und unter den kurzen Ärmeln der Polizeiuniform leuchten auberginefarbene Blessuren. Quetschungen, Blutergüsse, Prellungen. Kleine Verletzungen, die ihn nicht getötet haben. Aber mein Bruder liegt bewegungslos auf einem weißen Rosenbett in seinem Sarg. In den ich ihn gebracht habe.
Ich stöhne gequält auf.
»Vier Sekunden durch die Nase einatmen. Sieben Sekunden halten. Tief ausatmen und wieder von vorne.« Das Murmeln meines Sitznachbarn dringt an mein Ohr. »Das bringt dich runter.«
Meine Antwort ist ein unterdrückter Schrei, als wir nach rechts kippen. Etwas Warmes berührt meinen Handrücken, und ich reiße die Augen auf. Besitzt der Typ allen Ernstes die Dreistigkeit, mich ohne Vorwarnung anzufassen?
»Finger weg«, zische ich so warnend wie möglich mit meiner zitternden Stimme.
Er zieht die Hand zurück, traut sich aber zu lächeln. Seine jadegrünen Augen glitzern wie der karibische Ozean in Hochglanzreiseprospekten. Tief luftholend mache ich meinem Sitznachbarn klar: »Wenn du den Flug überstehen willst, rate ich dir, das nicht noch einmal zu tun.«
»Sorry, das war unhöflich«, gesteht er und sieht mich weiterhin mit diesem schiefen Lächeln an.
Ob er es lässt, wenn ich ihn bespucke?
Bevor ich den Gedanken in die Tat umsetzen kann, wende ich mich in die entgegengesetzte Richtung.
»Sieht so aus, als wäre –«, beginnt er, doch der Rest wird von den Schreien übertönt, als wir im freien Fall in die Tiefe stürzen. Es fühlt sich an, als hätte man mich von einer Klippe gestoßen. Mit Überschallgeschwindigkeit rase ich auf den Erdboden zu und erwarte den tödlichen Aufprall. Die Gravitation zerquetscht meine Organe, mein Magen überschlägt sich. Er krampft im Takt meines hektisch pochenden Herzens, Speichel schießt mir in den Mund. Meine Kehle wird eng, und ich schaffe es kaum, die Kotztüte aufzureißen, bevor ich würge. Mein klägliches Frühstück, bestehend aus einem Apfel und dem Vanilla Latte, platscht auf den Tütenboden. Säure verätzt die empfindlichen Schleimhäute, und ich würge erneut, als das beißende Aroma mir in die Nase steigt. Meine Augen tränen, und ich sehe grellrote Sterne. Als die Krämpfe endlich verebben, hebe ich langsam den Kopf. Sofort erfasst mich ein Schwindel, der mich nochmals röcheln lässt, bis nur noch Galle kommt.
»Keine Sorge, es ist vorbei.«
Ich folge dem Blick des Dunkelhaarigen und bemerke, dass wir inzwischen über die Wolkendecke segeln. Wortlos nicke ich und will nach einer Flugbegleiterin winken, als er besorgt fragt: »Geht es dir gut? Willst du was trinken?«
Seine Fragen überhöre ich und krächze nach einer Stewardess. Wir tauschen einen Ginger Ale gegen die stinkende Tüte, die sie mit Professionalität entgegennimmt. Ich betrachte die Lichtbrechung auf den winzigen Eiskristallen, die sich auf der Scheibe gebildet haben, während ich an der Limonade nippe. Sie spült den bitteren Geschmack von meiner Zunge und beruhigt den knurrenden Magen. Weil ich den Mann neben mir nicht dazu ermutigen will, mich mit Fürsorge zu bedrängen, starre ich stur auf die Ankunftszeit auf dem Bildschirm über unseren Köpfen. Die Zeit vergeht nicht.
Ich sinke frustriert stöhnend tiefer in die Polster.
»Was verschlägt dich nach Alicante?« Der Kerl neben mir mustert mich unverhohlen neugierig. »Ein Reiseziel in Großbritannien wäre mit Flugangst die wesentlich kleinere Hürde.«
»Ich habe keine Flugangst, und ich bin keine beschissene Touristin, die die Welt bereisen will. Ich will nur …«
Bevor er mir mehr entlocken kann, als mir lieb ist, beiße ich mir auf die Zunge.
»Das hätte ich mir denken können. Dir fehlen auch die unbeschwerte Leichtigkeit und Lebensfreude.«
Meine Lippen sind fest verschlossen. Ich habe ihm schon zu viel gesagt und starre stur an die Rückenlehne des Vordermanns.
»Für mich ist dieser Flug eine Art Neuanfang«, gesteht er plötzlich so leise, dass ich ihn kaum höre.
»Was?«, frage ich und drehe den Kopf. Meinen Fehler erkenne ich erst, als es zu spät ist.
»Ich reise zurück in meine Heimat und fange von vorne an.«
Unsere Blicke treffen sich. Er hat die Arme vor der Brust verschränkt mit einem Gesichtsausdruck, den ich nur zu gut kenne. Die geschwungenen Lippen sind zusammengepresst, die Schultern nach vorn gefallen, das Kinn gesenkt. Aber es sind seine Augen, die mich unerklärlich tief erschüttern. Das karibische Leuchten ist verschwunden, die Farbe stumpf. Er sieht mich an, aber er sieht mich nicht wirklich. Seine Lider zucken kaum merklich, als sein Gedankenblockbuster abläuft. Ich habe keinen blassen Schimmer, was gespielt wird, aber es quält ihn. Er leidet.
Niemand kennt diesen Schmerz besser als ich. Er ist mein Vertrauter, mein bester Freund und erinnert mich ständig an das blutige Loch in meinem Herzen. Die Wunde, die in Southampton nie geheilt wäre.
»Ein Neuanfang?«, wiederhole ich, und es klingt wie eine Frage.
»Man könnte es auch Flucht nennen.«
»Wovor fliehst du?« Die Frage blubbert aus mir hervor wie Wasser aus einer Gebirgsquelle.
Es ist nur fair, rede ich mir ein. Er hat meine Schwäche gesehen, jetzt zeigt er mir seine.
»Vor meinen Träumen.«
Ich starre ihn an, offen und unverblümt. Ein Teil von mir will von den Alpträumen berichten. Den schlaflosen Nächten und trostlosen Tagen, an denen ich das Haus meiner Eltern nur verlasse, um Zigaretten zu kaufen. An denen ich allein bin mit der quälenden Frage, warum ich noch am Leben bin.
Bevor eine Silbe meinen Mund verlässt, kommt das Frühstück. Obwohl mein Magen rumort, lasse ich es ungeöffnet stehen, schiebe mir Kopfhörer in die Ohren und starte wahllos eine Playlist. Die Songs sind penetrant fröhlich und heiter. Als ich den Titel der Liste lese, verdrehe ich verächtlich die Augen.
Summervibes. Scheiße.
WIEDERSEHEN
SOFIA
Die Landung überstehe ich ohne Zwischenfälle, trotzdem kann ich es nicht erwarten, das Flugzeug zu verlassen. Schweiß und Putzmittel begrüßen mich, als ich spanischen Boden betrete. Im lichtdurchfluteten Terminal folge ich dem Strom zur Gepäckausgabe. Das Band bewegt sich bereits, als ich ankomme, und ich warte am Rand neben einem Pfeiler. Ein schwarzer Gitarrenkoffer schiebt sich durch mein Blickfeld, dahinter taucht mein dunkelgrauer Rollkoffer auf. Wortlos schiebe ich mich nach vorn und nehme das schwere Stück vom Band.
Ich besinne mich auf meine eingerosteten Spanischkenntnisse und folge den Schildern, die mich in eine überfüllte Halle mit gewölbtem Glasdach führen. Der Himmel über meinem Kopf ist strahlend blau, das einfallende Sonnenlicht bricht sich zu bunten Flecken auf den Betonfliesen. Marcos wollte mich vom Flughafen abholen. Ich überprüfe, ob er die Nachricht mit der Ankunftszeit auch erhalten hat. Er hat mit einem Emoji reagiert. Irgendwo in dem Trubel muss er sein.
»Sofia!«
Durch das Stimmengewirr höre ich den Ruf. Meine Pupillen springen ziellos umher, und ich versuche, die Richtung auszumachen, aus der er gekommen ist.
»Hier drüben!«
Da entdecke ich einen Spanier mit kurzen dunklen Haaren und kaffeebrauner Brille, dessen Arme über den Kopf gestreckt sind und wild umherrudern. Er grinst strahlend und winkt noch ein bisschen aufgeregter, als ich mich zu ihm durchkämpfe.
Marcos hat sich kaum verändert, stelle ich fest. Mein Cousin ist mit fünfzehn ein schlaksiger Teenager für sein Alter gewesen. An seiner Figur und Körpergröße hat sich bis heute nicht viel getan. Die ovale Brille sitzt nach wie vor ein wenig schief auf seiner spitzen Nase. Als er mich das letzte Mal gesehen hat, hatte ich meine aschblonden Haare stets zu einem Fischgrätenzopf geflochten, und meine Lieblingsfarbe war Hellblau. Diese Zeiten haben sich geändert.
Marcos nimmt meine neue Erscheinung einfach so hin, sein Lächeln wird sogar breiter. Krampfhaft suche ich nach einer negativen Reaktion. Aber da ist absolut nichts, nur ehrliche Wiedersehensfreude.
»Hey Cousine«, begrüßt Marcos mich auf Spanisch und zieht mich ohne Vorwarnung in eine herzliche Umarmung. Sein Duft ist mir vertraut. Offenbar wäscht er seine Kleidung noch immer mit Ariel-Waschpulver und ohne Weichspüler.
»Hallo«, erwidere ich steif und entspanne mich erst, als er mich freigibt.
»Die neue Haarfarbe steht dir, und ich habe dich trotzdem erkannt. Wäre sonst echt peinlich gewesen.«
»Dafür hast du dich kein bisschen verändert«, gebe ich zurück, ehe ich schnell nachschiebe: »Danke, dass du mich abholst.«
Angestrengt versuche ich, das Fünkchen Freude, zu dem ich fähig bin, mit einem Lächeln zu transportieren. Doch meine verzogenen Mundwinkel fühlen sich verkrampft an. Ich kann nur erahnen, was für eine Fratze ich ziehe. Marcos bemerkt es nicht, nimmt Rucksack und Rollkoffer an sich und bedeutet mir mit einer Handbewegung, ihm zu folgen. Wir verlassen das Gebäude und treten hinaus in die spanische Sonne. Die trocken-warme Luft hüllt mich wie eine sanfte Umarmung ein, und ich fühle sogleich, wie der letzte Rest Anspannung von mir abfällt. Obwohl wir hier auf einem vollen Parkplatz mit Autos und Abgasen stehen, mischen sich unter den Geruch von warmem Asphalt auch die holzig-blumigen Noten von Pinien und Flieder.
Exakt diese Duftnuancen sind ein Bestandteil meiner und Jonahs Kindheit gewesen. Jeden Sommer und manchmal die Weihnachtsfeiertage haben wir bei Emilia, ihrem Mann Nicolas und Marcos verbracht. Emilia und Nicolas haben sich allerdings schon vor Jahren scheiden lassen. Soweit ich weiß, ist Emilia seither nicht mehr verheiratet gewesen. An ihre skurrilen Lebensgefährten habe ich dafür noch lebhafte Erinnerungen. Ebenso an die lautstarken Diskussionen zwischen den Schwestern, wenn Mum sich über Emilias Kleidungsstil oder die im Haus herumliegenden Kondompackungen beschwert hat. Trotzdem kam der Kontaktabbruch damals aus heiterem Himmel.
Nicht einmal Jonahs Profiverhörmethoden konnten Mum etwas entlocken. Ich habe ihre Entscheidungen immer akzeptiert und respektiert. Sogar hingenommen, dass ich den Teil der Familie selbst nicht mehr zu Gesicht bekommen habe – aus Rücksicht auf ihre Gefühle. Als ich dann aber die Trauerkarten für Marcos und Emilia im Papiermüll gefunden habe, sind sämtliche meiner Verständnisreserven verpufft. Mum hat sich strikt geweigert, ihre eigene Schwester zur Beerdigung einzuladen. Sie hat nicht erfahren, dass ich die Karten in meinem Namen abgeschickt und schon monatelang Mails an Emilia geschrieben habe. Meine Tante war es auch, die mir angeboten hat, für unbestimmte Zeit nach Spanien zu kommen. Ich weiß nicht, ob ich ohne diese Einladung heute hier wäre.
»Wie lange haben wir uns jetzt nicht gesehen – neun Jahre?« Marcos holt mich zurück in die Gegenwart, während er den Autoschlüssel aus der Hosentasche kramt. In zweiter Reihe blinken die Lichter eines Seats, und meine Kehle wird eng.
»Ich war fünfzehn und Jonah sechzehn, als wir das letzte Mal hier waren. Also sind es zehn Jahre«, korrigiere ich. Wir schlängeln uns zwischen den parkenden Autos durch und halten vor dem himmelblauen Wagen. Der Lack glänzt und macht auf mich den Eindruck wie frisch aus der Waschanlage. Das würde mich nicht wundern. Marcos hat zu der seltenen Sorte Kinder gehört, die freiwillig ihr Zimmer aufräumen. An seinem Ordnungszwang hat sich scheinbar nichts geändert.
Mit wenigen Handgriffen verstaut Marcos mein Gepäck, und ich nähere mich dem Fahrzeug. Als ich die Beifahrertür öffne, erstarre ich. Bruchstückhafte Erinnerungsfetzen flackern durch meinen Verstand. Ich sehe Jonah auf dem Beifahrersitz neben mir. Das Licht der Straßenlaternen spiegelt sich in seinen sanften Augen. Auf seinen Lippen liegt der Anflug eines Lächelns. Doch mit dem nächsten Wimpernschlag löst sich das friedliche Bild wie Nebelschwaden im Wind auf, und ich habe seinen zusammengekrümmten Körper vor mir. Er treibt in bodenloser Dunkelheit, versinkt tiefer darin, bis die Schwärze ihn verschlingt.
Mein Puls rast. Adrenalin steigt meinen Hals hoch wie bittere Galle. Bevor die Panik mich erfasst, schiebt sich Marcos in mein Sichtfeld und steigt ins Auto. Es ist die Anwesenheit meines Cousins, die den eisigen Griff um meinen Hals löst. Als ich endlich neben ihm sitze, schaltet er kommentarlos das Radio ein und fährt los. Ein spanischer Popsong schallt aus den Lautsprechern, doch diesmal bin ich froh darüber.
Tante Emilia wohnt nördlich des Krankenhauses San Juan, weshalb wir vom Flughafen einmal die ganze Stadt durchqueren müssen. Uns kommen nur wenige Fahrzeuge entgegen, und Marcos steuert das Auto umsichtig. Er hält sich punktgenau an die vorgeschriebenen Geschwindigkeiten und beschleunigt feinfühlig, wenn er in einen Kreisverkehr einbiegt. Sein Fahrstil hilft mir, das aufsteigende Adrenalin zu bekämpfen. Genauso wie die Stimme meines Bruders, die sanft auf mich einprasselt und meine vibrierenden Nerven beruhigt.
Es wird nichts passieren. Alles wird gut.
Wir erreichen unser Ziel nach dreißig Minuten. Marcos stellt das Auto am Straßenrand neben dem Haus ab, und ich verlasse es fluchtartig. Als ich auf dem schmalen Bordstein stehe, atme ich tief ein und betrachte das fremde und gleichzeitig vertraute Gebäude vor mir. Seine Fassade ist inzwischen in einem warmen Terrakotta-Ton gestrichen. Weiße Fensterläden schützen den Innenraum vor der sommerlichen Hitze, und eine halbhohe Sandsteinmauer rahmt das Grundstück ein. Dahinter wachsen Zitronenbäume, an deren Ästen leuchtend gelbe Früchte baumeln.
»Du bist ein guter Fahrer«, stelle ich fest, als mein Cousin neben mich tritt.
Die Chancen stehen gut, dass wenigstens Marcos niemanden totfährt.
Aus den Augenwinkeln nehme ich sein Kopfnicken wahr und befürchte, ich hätte diesen verächtlichen Satz laut ausgesprochen.
»Danke, aber du bist die Erste, die das sagt.« Mit seinem Lächeln zerstreut Marcos meine Sorgen. Es strahlt Wärme und geschwisterliche Zuneigung aus, und fast vergesse ich, wie viel Zeit vergangen und was geschehen ist. Ein Teil von mir fühlt noch das einst enge Band zwischen uns. Dabei ist nichts mehr wie früher.
Marcos holt mein Gepäck aus dem Kofferraum. Als ich es ihm abnehmen will, schüttelt er vehement den Kopf. Er trägt es die drei Stufen vom Weg bis zur Eingangstür und kramt seinen Schlüssel hervor. Knarzend schwingt die Eichenholztür auf und präsentiert uns den Eingangsbereich des Hauses, in dem sich kaum etwas verändert hat. Die Wände haben nach wie vor den markanten Ockerton, und ich zähle mindestens ein Dutzend Raumpflanzen, die sich in allen Winkeln verteilen. Der Deckenventilator dreht träge seine Runden.
Zu beiden Seiten gehen gemauerte Rundbögen in das Wohnzimmer und die Küche ab. Eine Steintreppe geradeaus führt zu Marcos‘ und Emilias Schlafzimmern und dem Gästezimmer, in dem meine Eltern immer untergekommen sind. Jonah und ich hatten damals den ausgebauten Dachboden im Stockwerk darüber ganz für uns allein.
Marcos stellt mein Gepäck neben der Treppe ab und biegt nach rechts in die Küche ein. Ich bleibe dicht hinter ihm. Sanfte Jazzklänge tönen uns entgegen, und die Luft ist geschwängert von Knoblauch, Rosmarin und Fisch. Es riecht köstlich, und mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Vor dem Herd steht unverkennbar Tante Emilia. Sie trägt ein geblümtes bodenlanges Sommerkleid, steht barfuß auf den hellgrauen Fliesen, und ihre blonden Locken werden von einem schmalen Baumwollstirnband im Zaum gehalten. Während sie den Fisch in der Pfanne wendet, schwingt sie summend die Hüften im Takt der Musik.
»Wir sind´s.«
Sofort wirbelt Emilia zu uns, dass ihre Lockenmähne nur so fliegt und der Kochlöffel ihr fast aus der Hand rutscht.
»Perfektes Timing, ihr zwei. Das Essen ist fast fertig – es gibt Lachs und Ofenkartoffeln.«
Sie lächelt mich ebenso herzlich an, wie es Marcos vorhin getan hat. Die Ähnlichkeit zwischen Mutter und Sohn ist dabei unverkennbar, und diese Mimik lässt ihr ganzes Gesicht aufleuchten wie die spanische Sonne. Es ist schier unmöglich, sich von dieser puren Freude nicht anstecken zu lassen, doch mein Gesicht bleibt ausdruckslos. Mit einer Hand streicht Emilia ihre kirschrote Kochschürze glatt und legt den Holzlöffel beiseite, ehe sie auf mich zukommt. Ich habe ganz vergessen, wie zierlich sie ist.
»Du bist erwachsen geworden, Liebes.«
Mit mütterlicher Geste streicht sie mir eine Ponysträhne meines Kupferhaares aus der Stirn. Ich versteife mich instinktiv, so, wie ich es angesichts der offen gezeigten Zuneigung auch schon bei Marcos getan habe. Langsam zieht sie ihre Hand zurück, und ihre blauen Augen nehmen einen traurigen Ausdruck an.
»Weißt du, ich habe mich damals sehr über deine Nachricht gefreut. Ich habe oft an dich gedacht, und ich bin sehr froh, dass du hier bist. Auch wenn ich wünschte, der Anlass wäre ein anderer.«
»Ich auch«, bringe ich mühsam raus.
Sie umfasst meine Hände mit ihren eigenen, an deren Fingerspitzen bunte Farbreste kleben, und betrachtet mich eindringlich.
»Ich kann nur erahnen, was du in den letzten Monaten durchmachen musstest. Uns alle hat Jonahs Verlust tief getroffen, doch dich wohl am meisten. Deshalb möchte ich, dass du deine Zeit hier in vollen Zügen genießt.« Ihre Hände üben sanften Druck aus, und ihre Augen halten mich fest. »Denn du allein weißt, was du tun musst, damit es dir besser geht. Und ich wünsche mir von Herzen, dass es dir bald besser geht.«
»Danke.« Mehr als das kann ich ihr nicht geben.
Sie lächelt zaghaft, und ich suche verzweifelt nach einem Strick, an dem ich Emilia sprichwörtlich aufhängen kann. Ich finde keinen. Denn ihre eindringliche Rede hat nichts mit dem gemein, was ich von zuhause kenne. Ich kenne Trauer, Wut, Unverständnis und Verzweiflung. Meine Eltern konnten nichts von dem nachvollziehen, was ich seit dem Unfall getan habe. Weder die Trennung von meinem langjährigen Freund Nate noch den Abbruch meines Psychologiestudiums. Sie haben sich nicht einmal die Mühe gemacht, es zu verstehen. Mich zu verstehen. Sie haben es mir nie direkt gesagt, trotzdem habe ich die stummen Vorwürfe gehört und die Klage in ihren Augen gesehen.
Sie haben ihren Sohn verloren, und schuld daran bin ich.
»Setz dich doch schon drüben hin. Du hast bestimmt großen Hunger, Sofia.« Emilia deutet nach rechts am Kühlschrank vorbei, wo ein weiterer Rundbogen zum gedeckten Tisch führt, und Marcos bittet sie: »Hol du bitte die Kartoffeln aus dem Ofen.«
Ich durchquere den Bogen und suche mir einen Platz mit Aussicht. Die bodentiefen Panoramafenster zeigen in Emilias Garten, der schon früher wunderschön angelegt war. Mit kleinen Wegen, die sich zwischen Obstbäumen und Rosensträuchern zur Terrasse mit Feuerstelle schlängeln. Von dort führen drei Stufen eine Ebene tiefer zu einer zweiten Steinterrasse mit Pool und einer gemütlichen Lounge. Auf den ersten Blick wirkt der Gartenteil, den ich von meinem Platz aus sehen kann, unverändert.
Auch als ich mich im Raum umblicke, erkenne ich vieles aus meinen Erinnerungen wieder. Wenige Schritte links vom Esstisch ist ein gemauerter Kamin in die cremeweiße Wand eingelassen. Er sieht unbenutzt aus, was nicht verwundert angesichts der ganzjährig milden Temperaturen. An den Wänden hängen Acrylgemälde, die meine Künstlertante vermutlich selbst gemalt hat, und auf dem Kaminsims stehen in Silberrahmen eingefasste Familienfotos.
Wenig später bringt Emilia das Essen in dekorativen Porzellanschüsseln. Der Fisch ist goldbraun, und die Kartoffeln verströmen eine herrliche Duftmischung aus Rosmarin und Knoblauch. Meine Tante setzt sich mir gegenüber, während Marcos rechts von mir Platz nimmt. Er stellt eine Karaffe Wasser mit Zitronenscheiben zwischen uns, und Emilia verteilt drei Portionen auf ihrem handbemalten Porzellangeschirr, das sie früher nur zu besonderen Anlässen ausgekramt hat. Lächelnd reicht sie erst mir und dann Marcos die dampfenden Teller. Ich nicke zaghaft zurück, ehe ich den ersten Bissen Fisch probiere. Der zartrosa Lachs zergeht auf der Zunge wie Butter.
»Es schmeckt fantastisch. Vielen Dank, Emilia.«
»Das freut mich, Liebes. Iss, so viel du magst.«
Wieder lächelt Emilia mich über den Tisch hinweg mit funkelnden Iriden an.
Ich weiß nicht, wann ich zuletzt so ein harmonisches Familienessen erlebt habe. Nach Jonahs Tod ist jede gemeinsame Mahlzeit mit meinen Eltern eine Tortur gewesen. Denn am Esstisch unseres Reihenhauses, an dem wir als glückliche Familie beisammensaßen, ist Jonahs Abwesenheit permanent greifbar gewesen.
Es hat sein Lachen über Dads schräge Patienten im Krankenhaus gefehlt. Seine kleinen Sticheleien darüber, wie verzweifelt ich mir einen Antrag von Nate gewünscht und mich darüber beschwert habe, dass dieser Unromantiker all meine Andeutungen missversteht. Sogar sein angeekeltes Gesicht habe ich vermisst, wenn er die verhassten Kapern aus Mums Essen geklaubt hat.
»Heute Abend findet eine Poolparty in unserem alten Freundeskreis statt.« Marcos’ Stimme katapultiert mich zurück an den Tisch bei Emilia. »Erinnerst du dich noch an Raquel und Vic?«, hakt er weiter bei mir nach.
Ich denke an ein frühreifes Mädchen mit Zahnspange und einen schlaksigen Jungen, der seine Gitarre selbst an den Strand mitgeschleppt hat. Jonah, Marcos, Raquel, Vic und ich sind in unserer Kindheit und Jugend unzertrennlich gewesen. Wir haben Stunden an den Küsten rund um Alicante verbracht, ausgelassen in den Wellen getobt und Sandburgen errichtet.
»Ich erinnere mich noch sehr lebhaft an die beiden.«
»Weißt du noch, als Raquel eine Qualle auf dem Kopf hatte? Sie hat hysterisch gekreischt, und Vic, Jonah und ich haben uns weggeschmissen vor Lachen.« An Marcos’ frechem Grinsen, das Falten um seine Augen formt, hat sich ebenfalls nichts verändert.
»Sie hat einfach nicht stillgehalten, als ich ihr das schleimige Tier vom Kopf holen wollte.« Automatisch grinse ich mit, denn ich fühle die Genugtuung von damals. Die zwölfjährige Raquel mit ihrem C-Körbchen hatte die Blamage mehr als verdient. Zugegeben, ich war eine neidische Jugendliche.
»Raquel wird sich freuen, dich wiederzusehen.«
Marcos’ Einladung schwebt wie eine Drohung zwischen uns, während ich mir die letzte Gabel Ofenkartoffeln in den Mund schiebe. Vor dem Unfall habe ich keine Studentenparty verpasst. Meine Mädels und ich haben mindestens einmal im Monat die Bars Southamptons unsicher gemacht, bevor wir ins Apokalypse weitergezogen sind. Von besagten Mädels ist heute keines mehr übrig. Nicht einmal Zoey, mit der ich mich ein Semester nach dem anderen durch die Hausarbeiten von Prof. George gekämpft habe. Wie den Rest meiner Freunde habe ich sie in den letzten Monaten verloren. So wie ich alles und jeden verliere.
»Soweit ich weiß, kommt Vic auch«, sagt Marcos schließlich mit einem seltsamen Ton in der Stimme. »Es ist ewig her, dass wir alle beisammen waren. Gib dir einen Ruck, Cousine.«
»Ich hasse Partys.« Demonstrativ knalle ich mein Besteck auf das Porzellan.
Emilia reißt bei dem Geräusch erschrocken die Augen auf. »Lass deinen Groll bitte nicht an meinen Tellern aus.«
»Sorry«, murmle ich.
»Dein Sorry reicht nicht, Liebes.«
Jetzt starre ich sie mit offenem Mund an, und bei dem Blickwechsel von Emilia und Marcos ziehen sich meine Eingeweide abrupt zusammen.
»Du begleitest Marcos auf die Party, und du wirst heute Abend Spaß haben.« Emilias Lächeln ist verflogen, der Ausdruck ernst und unnachgiebig, Ich bin derart perplex, dass ich wortlos nicke, woraufhin Marcos begeistert in die Hände klatscht.
»Das wird toll«, jubelt er, und ich widerstehe dem Impuls, bei seiner kindlichen Vorfreude die Augen zu verdrehen. »Raquels Partys sind legendär. Sie ist eine fantastische Gastgeberin.«
Marcos‘ Optimismus ist eine hochgradig ansteckende Seuche, und meine Zweifel verstummen im Laufe des Nachmittages. Ich bin blind für die unvermeidliche Katastrophe, die auf mich zurollt. Hätte ich bloß geahnt, wie legendär Raquels Partys tatsächlich sind.
POOLPARTY
SOFIA
Kritisch schaue ich an mir herab und zupfe am Saum meines Faltenrocks in Lederoptik. Zwar betont er meine langen Beine, doch hebt er auch ihre kränklich blasse Farbe hervor. Das Oversize-Shirt mit der Aufschrift F*ck you ist mein Lieblingsshirt, allerdings fühlt sich dieses Teil gerade unpassend an.
Seit ich mich zum dritten Mal überwunden und in Marcos’ Seat gestiegen bin, sind meine Nerven gespannt wie Drahtseile, und ich muss meine Atmung mit aller Kraft ruhig halten. Dabei rede ich mir ein, dass die übermächtige Panik mit jeder Fahrt schwächer wird.
Familie Martinez wohnt südlich der Stadt in den Bergen. Eine zweispurige Straße schlängelt sich durch die steinige Landschaft entlang der Steilküste. Vereinzelte Häuser – besser gesagt: Villen – ziehen am Fenster vorbei. Ein Bau ist imposanter als der vorherige. Hier oben bewohnen augenscheinlich nur Ärzte, Finanzhaie und neureiche Influencer ihr eindrucksvolles Domizil.
Endlich reihen wir uns hinter mehreren teuren Sportwagen neben einem quaderförmigen Architektenhaus ein, das sich erstaunlich gut in die Natur fügt.
Marcos neben mir trägt für die Party ein graues Karohemd, helle Chinos und Slipper. Seine kurzen Haare glänzen im Licht der Abendsonne. Ich muss zugeben, dass er wirklich gut aussieht. Erwachsen.
Was man zu mir und meinem rebellischen Outfit nicht sagen kann.
»Bist du bereit?«
Nein!
»Auf ins Getümmel.« Ich zwinge mich zu einem Lächeln.
Wir laufen den gewundenen Kiesweg hoch zum Haus. Es ist auf einer Anhöhe erbaut, und ich keuche von dem kleinen Workout bereits wie eine Hochleistungssportlerin. Aus den Augenwinkeln sehe ich Marcos‘ Grinsen, doch ich spare mir einen zähneknirschenden Kommentar. Als er die Klingel betätigt, schallt sie durch das Gebäude und ist auch hier draußen gut zu hören. Ebenso deutlich die hämmernden Bässe, die mit jedem Schlag mehr Adrenalin durch meine Adern pumpen. Längst bereue ich, mitgekommen zu sein. Überhaupt hinterfrage ich gerade diese ganze Reise. Ich hätte in England bleiben und mein Zimmer nie mehr verlassen sollen.
Wow. Jetzt zählst du offiziell zu den Sozialphobikern.
Hinter dem Milchglas taucht eine verschwommene Gestalt auf. Die Brünette, die uns öffnet, ist in Marcos’ Alter. Ihre Lippen sind voll, die Wangenknochen hoch, die Augenbrauen gerade. Das enganliegende Kleid schmiegt sich an ihre weiblichen Rundungen. Offensichtlich trägt sie keinen BH, und sogar ich als heterosexuelle Frau betrachte einen Moment ihre perfekt geformten Brüste, die sich unter dem dünnen Stoff abzeichnen. Ihre endlos langen Beine stecken in Gucci-Sandaletten
»Hi Marcos.«
Ihre Stimme ist singend, und als sie uns anstrahlt, zeigt sie perlmuttweiße Zähne.
Da hat sich die Zahnspange gelohnt.
»Du siehst umwerfend aus, Raquel.«
Marcos nickt der Spanierin anerkennend zu, bevor er mit einer kleinen Handbewegung zu mir deutet. Mein giftiger Blick prallt unbemerkt an ihm ab.
»Sofia Hendrics?«
Raquel blinzelt, als hätte sich ein Mascarakrümel von ihren geschwungenen Wimpern gelöst.
»Die Wahrhaftige.«
Mein Cousin tarnt sein Kichern mit Husten. Raquel schüttelt langsam den Kopf, während sie mich von Kopf bis Fuß mustert.
»Wow. Wenn Marcos nicht gesagt hätte, dass er dich mitbringt, hätte ich dich auf gar keinen Fall erkannt. Du siehst so«, ihr Blick gleitet erneut über mich, »eigensinnig aus.«
»Wenigstens habe ich Wiedererkennungswert«, gebe ich unschuldig zurück.
Ihre perfekte Maske verrutscht, als sie mich anfunkelt.
Fehlt bloß, dass sie die Zähne bleckt und faucht.
»Willst du uns den ganzen Abend hier draußen stehen lassen?« Marcos verhindert, dass sie die Krallen ausfährt. Mit einem Schnauben reißt die Gastgeberin sich von mir los, wirft das glänzende Haar über die Schulter und bedeutet uns mit einer geschmeidigen Handbewegung, ihr zu folgen.
»Die anderen sind draußen«, erklärt sie, während wir den breiten Flur entlanglaufen. Kurz vor der Glastür geht es rechts ins Wohn-Esszimmer und in die angrenzende offene Küche. Ich schaue mich nur flüchtig um, doch steht die moderne, fast sterile Einrichtung im krassen Kontrast zu Emilias. Hier ist alles in Schwarz, Weiß und Grautönen gehalten. Statt Holz herrschen hier Stahl, Stein und Glas. Matte Farbtupfer bilden nur die pastellfarbenen Kissen auf der monströsen Couchgarnitur.
»Kühle Getränke und Fingerfood findest du ebenfalls draußen«, kommentiert sie meine Neugierde und macht damit deutlich, dass wir hier drinnen nichts verloren haben. Die Terrassentür ist einen Spaltbreit offen, die rhythmischen Beats hämmern durch den Flur und schmerzen in den Ohren. Durch das Glas sehe ich blinkende Lichterketten, zu viele tanzende Menschen und aufblasbare Tiere im Pool. Raquel tritt als Erste nach draußen. Ich erstarre und suche fieberhaft nach einem Ausweg. Selbst die Vorstellung, in ein Taxi zu steigen, das mich zurück zu Emilia bringt, ist weniger beängstigend als all die Feiernden.
»Gib ihr eine Chance. Raquel tut gerne kratzbürstig, ist aber eigentlich ganz zahm.«
Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Aber als ich Marcos’ zuversichtliches Lächeln in der Glasscheibe sehe, straffe ich innerlich seufzend die Schultern.
»Schön. Aber du musst mir versprechen, dass wir nicht lange bleiben.«
»Nur bis Mitternacht«, verspricht Marcos. Ich nicke und klammere mich an den Gedanken, dass diese Folter in drei Stunden beendet ist.
Auf der Veranda begrüßt uns der blutorangerote Schein der untergehenden Sonne. Ihre Strahlen sind warm auf meiner Haut, und für den Moment genieße ich das Gefühl. Die Realität holt mich aber schnell wieder ein, als mich ein unkoordiniert umherspringender Partygast fast umwirft. Kommentarlos gehe ich weiter, auch wenn mir eine wüste Beschimpfung auf der Zunge liegt. Raquel entdecke ich mit einem Häppchenteller auf einem Liegestuhl am Terrassenrand. Sie streckt die Beine aus, und das am Saum gerüschte Mini-Kleid rutscht unverschämt weit hoch. Um mich herum werfen neunzig Prozent der Männer ihr schmachtende Blicke zu, und ich weiß wieder, warum ich Partys nicht mehr ausstehe: zu oberflächlich und primitiv.
»Eine Sangria für die Dame.«
Marcos taucht aus dem wilden Mob auf und schiebt mir ein Glas in die Hand. Ich betrachte das bordeauxrote Getränk mit Orangen- und Ananasscheiben darin, ehe ich ihm ein kleines Lächeln schenke. Vermutlich ist mir anzusehen, wie sehr ich mich nach der entspannenden Wirkung von Alkohol sehne. Geschickt schieben wir uns durch die Tanzenden und verlassen die überfüllte Terrasse. Marcos führt uns die Steinstufen hinunter auf die Poolebene. Sofort nimmt mich die Landschaft vollkommen ein. Der unterschwellige Drang, diesen Ort so schnell wie möglich zu verlassen, rückt vor dem Panorama in die Ferne.
Flache mattgrüne und ockerfarbene Gräser besiedeln den felsigen Boden und prägen das Bild. Dazwischen recken sich Olivenbäume empor, ehe die Küste steil abfällt. Unterhalb dieser tiefen Schlucht erstreckt sich der schimmernde Ozean bis zum Horizont und verschmilzt mit dem Himmel, während eine sanfte, salzige Brise meine Haut liebkost.
Der Ausblick ist malerisch, als wäre er direkt einem impressionistischen Gemälde entsprungen. Wie gerne würde ich ihn festhalten und wünsche einmal mehr verzweifelt, ich hätte auch nur einen Hauch von Emilias Künstler-Genen in mir. Unter meiner Pinselführung sieht ein einfacher Hund jedoch aus wie ein ekelerregendes Monster aus einer fernen Galaxie, das zum Wohle des Planeten mit einem Pflock ins Herz getötet und verbrannt werden sollte.
Marcos bugsiert uns zu einer Gruppe freier Liegestühle auf grauen Holzplanken neben dem Pool. Um uns herum stehen dekorative Steinskulpturen, die vermutlich unverschämt teuer waren. Ein muskulöser Stier neben einer der Liegen hat die optimale Höhe, um mein Glas zwischen seinen geschwungenen Hörnern abzustellen. Zeitgleich hallt ein leises Kichern zu uns herüber, und zwischen Delfin und Giraffe entdecke ich ein eng umschlungenes Paar im Wasser.
Wenigstens die zwei haben Spaß.
Die Liege knarzt, als Marcos sich setzt. Bevor ich es ihm gleichtue, ziehe ich eine Zigarette aus der Packung und entzünde sie. Genussvoll schließe ich die Augen, als ich einen tiefen Zug inhaliere. Einige Sekunden behalte ich den bitteren Rauch in der Lunge, ehe ich ihn in den purpurfarbenen Himmel blase und dabei zusehe, wie sich der Dunst auflöst.
»Darf ich eine?«
Raquel steht vor mir, und ich frage mich, wie sie sich auf ihren Höllentretern so lautlos anpirschen konnte.
»Mierda. Sind die stark.«
Die Dunkelhaarige zieht am Filter und verzieht das schöne Gesicht.
»Man gewöhnt sich dran«, sage ich schulterzuckend und forme einen Rauchkringel, der in den Himmel aufsteigt.
»Die gute Raquel quarzt nur unter starkem Alkoholeinfluss«, mischt Marcos sich grinsend ein und erntet dafür ihren giftigen Blick. »Ich erinnere nur an die letzte Semesterparty.«
Während die beiden über Raquels Rauchgewohnheiten diskutieren, erinnert das Stichwort ›Alkohol‹ mich an mein Getränk. Der fruchtige Rotwein liegt kühl auf der Zunge. Mit der Kippe in der Rechten und einem halbvollen Tinto de Verano in der Linken lässt sich Raquel jetzt elegant auf der dritten Liege nieder. Sie überschlägt die langen Beine und verdeckt somit alles, was nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist. Was viele Männer hier wohl äußerst traurig macht.
»Weißt du noch, als Dr. Navarro letztes Jahr im Hawaiihemd aufgelaufen ist?«, fragt Marcos lachend.
»Vergiss nicht die Eröffnungsrede, in der er über seine Kollegen gelästert hat, obwohl sie im Publikum saßen.«
Ich sitze unbeteiligt daneben und knabbere an einer Sauerkirsche, bis Marcos mich aufklärt. »Dr. Navarro ist Dekan der medizinischen Fakultät an der Universität Alicante.«
»Er ist eine Koryphäe im Hörsaal und dazu noch sexy«, ergänzt Raquel und fügt mit hörbarem Stolz hinzu: »Ich studiere Medizin, und aus Marcos wird mal der beste Architekt Spaniens.«
»Übertreib nicht.« Der künftige Promi-Architekt läuft vom Schlüsselbein bis zum Scheitel dunkelrot an.
»Wow«, murmle ich unbeeindruckt. »Mein Dad ist Gefäßchirurg.«
»Erinnre mich nicht daran. Irgendwann habe ich aufgehört zu zählen, wie oft unsere Väter von der Konferenz in London gesprochen haben, auf der mein Vater sich vor seinen Kollegen blamiert hat«, schnaubt Raquel. »Richard wurde nie müde, zu betonen, dass er der bessere Chirurg ist.«
Während sich die Eiswürfel in meinem Getränk allmählich auflösen, ziehe ich am Filter und rechne mir aus, wie oft ich mich auf die Toilette verdrücken kann, ohne die Aufmerksamkeit der Gastgeberin auf mich zu lenken. Ich zerbreche mir den Kopf über der Frage, bis Raquel mich erneut anspricht.
»Was ist mit dir? Bist du in die Fußstapfen deines Vaters getreten?«
Ihre Karamellaugen sehen mich neugierig an.
»Ich habe Psychologie geschmissen.«
Sie verzieht den Mund zu einem mitleidigen Lächeln und setzt zu einer Antwort an, da erklingt ein Plätschern aus dem Pool. Eine dunkelblonde Frau steigt die Metallleiter empor. Wasser tropft aus ihrem zusammengebundenen Haar. Mit einer Hand hält sie ihr rotgestreiftes Bikini-Oberteil fest, was ihr nur notdürftig gelingt. Als sie unsere Blicke bemerkt,
Verlag: Zeilenfluss
Texte: Anna Hager
Cover: Art for your book
Korrektorat: Sabrina Undank, Dr. Andreas Fischer
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 08.02.2023
ISBN: 978-3-96714-283-9
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