Cover

Inhalt

 

Er lässt sich auf ein geheimnisvolles Angebot ein, das nach leicht verdientem Geld aussieht. Zusammen mit einem ehemaligen Callboy findet er sich in einer beinahe menschenleeren Welt wieder. Dass dieser Mann hetero ist, stellt das geringste Problem dar – die bewaffneten, herumziehenden Horden ein größeres.

 

Im Wald findet er mit ihm Zuflucht – und wenigstens ist sein Begleiter nicht ganz so verklemmt. Was ist schwieriger? Die Katastrophe aufzuhalten – oder ihn vielleicht doch zu erobern? Ist das alles erst der Anfang – und was plant diese Frau?

 

 

Kapitel 1 – Die Präsentation

Kapitel 2 – Das Experiment

Kapitel 3 – Leo

Kapitel 4 – Das Zugeständnis

Kapitel 5 – Vorräte

Kapitel 6 – Venus

Kapitel 7 – Magnus

Kapitel 8 – Der Stützpunkt

Kapitel 9 – Neue Parameter

Kapitel 10 – Olivenöl

Kapitel 11 – Neue Erkundung

Kapitel 12 – Nico

Kapitel 13 – Vor der Linie

Kapitel 14 – Die Linie

Kapitel 15 – Aurora

Kapitel 16 – Neue Verbündete

Kapitel 17 – Das Versatzfeld

Kapitel 18 – Zuhause

Kapitel 19 – Ersatzteile

Kapitel 20 – Der Tanz

Kapitel 21 – Störungen

Kapitel 22 – Lian

Kapitel 23 – Neue Signale

Kapitel 24 – Die Besprechung

Kapitel 25 – Aufbruch

Kapitel 26 – In Schwebe

Kapitel 27 – Vor dem Ziel

Kapitel 28 – Das Ziel

Kapitel 29 – Zurück

Kapitel 30 – Hinter den Horizont

Personenverzeichnis

Anhang / Kontakt

 

Kapitel 1 – Die Präsentation

 

 

Erste Regentropfen trafen auf den Asphalt, als ich die U-Bahn-Station verließ. Jetzt waren es noch drei Minuten. Nur aus wenigen Fenstern der Bürohäuser drang Licht, und vielleicht war es neben dieser Lagerhalle. Diesmal schien es bei leichtem Nieselregen zu bleiben, wenn auch von aufkommendem kühlen Wind begleitet. Ich beschleunigte meine Schritte, trat auf die leere Fahrbahn, sah mich nochmals um und huschte hinüber. Ein einzelnes Auto bog um die Ecke, schoss heran, hupte. Als ich mich umdrehte, glaubte ich noch jemand zu bemerken.

 

Da stand eine Hausnummer. Sieben … Neun … und vielleicht musste ich den Auftrag doch nicht abschreiben. Ich fand den eingravierten Firmennamen zwischen den anderen und hatte die Tür fast vor mir, als sich das Geräusch hinter mir näherte. Eine Frau, deren dunkelrotes Kleid sich vom Grau der Umgebung abhob, trat neben mich. Eine halbe Sekunde lang warf sie mir ein Lächeln zu und schritt weiter zum Eingang.

 

„Gehen Sie auch zu der Präsentation?“, fragte sie und ging voraus.

„Ja, ich hoffe, die Adresse stimmt … die Zeit ist schon etwas komisch.“

„Wir werden ja sehen.“

 

Ich gelangte mit ihr in eine leere, nur teilweise beleuchtete Halle, und sie ließ ihren Blick ebenfalls über die abzweigenden Gänge schweifen. „Dort ist es“, erhob sie die Stimme und folgte dem aufgestellten Wegweiser mit der Aufschrift „Informationsveranstaltung“.

 

Wenn sie sich nicht hetzte, musste ich das auch nicht. Dennoch verschwand dieses flaue Gefühl im Magen nicht wirklich, das mich bereits seit dem frühen Nachmittag plagte. Ob ich mich unerkannt in einem Hotel einmieten und dann einen Bericht darüber verfassen sollte? Es würde doch nichts sein, wo ich ganz einfach von zuhause aus 2000 Euro pro Tag verdienen konnte. Sollte ich nach Jahren wieder in so etwas geraten, würde ich nichts bezahlen, nichts unterschreiben und gehen.

 

Ob die Dame sonst auch mit diesem Kleid unterwegs war? Es erschien mir nicht wirklich zu knapp und harmonierte mit ihrer schlanken, wenn auch nicht übermäßig zierlichen Figur. Aber seit wann kannte ich mich mit Frauen aus? Da stand eine Tür offen, und sie betrat zuerst diesen in gedämpftem Licht liegenden Raum. Nur der vordere Bereich, mit einer Projektionswand, einer kleinen Bühne und dunklen Vorhängen, war heller erleuchtet. Halblautes Stimmengewirr lag in der Luft. Ich schätzte, dass es an die zwanzig Leute sein mussten, die sich über die Sitzreihen verteilten. Vorne ging jemand in einem weißen Hemd auf und ab und schien uns bemerkt zu haben, um gleich wieder sein Umherschlendern und seine Blicke über das Publikum fortzusetzen.

 

Ich nahm in der vorletzten Reihe auf einem der gepolsterten Sitze Platz. Sie stellte ihre Tasche neben mich, ließ sich nieder, und ich blickte auf die geöffnete Tür. Es war genau 19 Uhr. Ob das eine Filmvorführung werden sollte? Noch jemand betrat den Raum, vielleicht ein Student auf der Suche nach einem Nebenjob. Er orientierte sich, stolperte beinahe und setzte sich neben ihr hin.

 

Über Lautsprecher verstärkte Klopfgeräusche schreckten mich auf und richteten meine Aufmerksamkeit zu dem Herren dort vorne. Innerhalb weniger Sekunden verstummte das Gemurmel, und ein großes Firmenlogo erstrahlte hinter ihm. Ich hatte es zuvor noch nie gesehen.

 

„Guten Abend“, ertönte eine tiefe und doch klare Stimme, „wie ich sehe, dürften wir nun vollzählig sein.“

 

Ein kurzes, dumpfes Geräusch ließ mich meinen Blick zum Eingang richten, und ich sah die beiden Türflügel geschlossen.

 

„Bevor ich ein bisschen etwas erzähle, möchte ich nur so allgemein fragen, welche Besonderheiten Ihnen heute auf dem Weg zu uns aufgefallen sind. Ganz spontan, was hat Ihnen nicht gefallen, welche Probleme gibt es?“

 

Mehrere Sekunden lang war es völlig still, und ich glaubte meinen Puls zu spüren. Die Frau schien in ihrer Tasche herumzukramen und nahm sie auf den Schoß, so dass der Platz neben ihr leer wurde.

 

„Es ist dunkel!“, erhob der junge Mann neben ihr seine Stimme, und halblautes Gelächter erschallte für zwei Sekunden.

„Ja, das auch, aber was noch?“

„Es regnet!“, meldete sich jemand weiter vorne.

„Richtig! Ausgerechnet heute muss es regnen. Seit weit über 200 Jahren haben wir detaillierte Wetteraufzeichnungen – ganz exakt eben immer nur im Nachhinein. Aber egal, das nur am Rande.“

 

Das Stimmengewirr kam wieder auf, begleitet von hektischen Blicken zwischen den Anwesenden, und ein Diagramm mit farbigen Linien ersetzte das Firmenlogo. Ich bemerkte, dass meine Nachbarin nun direkt neben mir saß. Doch ihr Blick war starr geradeaus gerichtet – und meiner traf kurz den des Studenten, wenn es einer war. Das war doch ein Lächeln gewesen? Ja, er war noch hier und nicht gleich wieder gegangen – und nun sah er ebenfalls wieder starr nach vorne.

 

„Vielleicht“, holte der Vortragende wieder aus, und das Gemurmel verstummte sofort, „haben Sie schon einmal auf Fußballspiele gewettet. Lotto gespielt. Es ist ganz einfach, das Ergebnis völlig klar – doch eben nicht im Voraus.“

„Worauf wollen Sie hinaus?“, hörte ich eine andere Stimme aus einer der vorderen Reihen.

„Das sind natürlich nur Beispiele“, klang es viel lauter über den Verstärker zurück. „Wie hinter mir zu sehen ist – wer hätte früher geahnt, welches riesige Geschäft der Tourismus heute ist? Alle Leute suchen den perfekten Ort, ganz für sich allein – aber wo gibt es das heute noch?“

 

Also war es doch etwas, das mit dem Testen von Hotels zu tun hatte. Ich beschloss, mir das noch eine Viertelstunde anzuhören. Wenn er dann nicht damit herausrückte, worum es ging, dann tschüss. Oder … ich würde von hier verschwinden, wenn auch dieser Typ in meiner Sitzreihe den Raum verließ. Ihn würde ich lieber da vorne sehen, mehr von dem, was ich nur zwei Sekunden lang erahnen hatte können. Es war fast wie dieses Kribbeln, wenn ich im Schwimmbad Leute wie ihn sah. Ich sah ihn vor mir, meine Hände schwitzten irgendwie und zitterten nur ganz leicht. Und ich merkte erst jetzt, dass der Vortragende irgendwas redete. Ein, zwei der Anwesenden schienen bereits gegangen zu sein.

 

„Es geht also um Erforschungen! Um die Entdeckung von ganz neuen Möglichkeiten! Und Sie können dabei mitwirken. Momentan sind einige Tage geplant, vielleicht eine Woche, Sie werden es in der Beschreibung gelesen haben.“

 

In der Sitzreihe vor mir schüttelte jemand langsam den Kopf und lachte kurz, bevor er sich ebenfalls erhob. Diese Frau neben mir schien Schwierigkeiten zu haben, ihre Hände ruhig zu halten. Noch saß sie dort – und dieser Mann ebenfalls. Diesmal kreuzten sich unsere Blicke, und ich wandte mich nicht sofort ab, erst nach einer Sekunde oder zwei. Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich kurz gelächelt hatte. Irgendwie fühlte ich meinen Herzschlag, und ich sah diesmal nicht ganz direkt hin. Er schien sich das ebenfalls noch eine Weile anhören zu wollen. Aber die Frau erhob sich nun, und er ließ sie vorbei.

 

„Überlegen Sie es sich gut!“, riss mich die laute Stimme aus meinen Gedanken. „Wir brauchen erfahrene Leute! Natürlich ist auch das Honorar entsprechend.“

 

Für einen Moment blieb sie stehen – und die Tür öffnete sich und fiel kurz darauf zu.

 

„Wann wäre das jetzt genau?“, fragte jemand ganz vorne.

„Die Testreihe ist vorbereitet, es wird mehrere Läufe geben, und die ersten sind für morgen geplant.“

 

Leichtes Gemurmel kam auf und schwoll gleich wieder ab. Ich wartete immer noch darauf, dass er etwas von erfolgreichen Verkäufen erzählte – und dann würde ich mit diesem Typen beim Gehen nur so darüber reden. Ein leerer Platz trennte ihn nun von mir, und er hatte dort seine Hand abgelegt.

 

„Also das wäre ein Projekt im Außendienst?“

„Sozusagen. Es gibt natürlich eine entsprechende Vorbereitung von uns – und Sie müssten dann alle Beobachtungen mit uns teilen.“

„Und wo …?“

„Das werden wir alles rechtzeitig mitteilen. Unser Angebot wären 1800 Euro für die erste Woche, mit einer Bonuszahlung bei erfolgreichem Abschluss.“

 

Das Gemurmel schwoll erneut an und wurde diesmal mehr von einem „Oh!“ durchsetzt. Alles ließ mich wieder nach vorne blicken und den nun eingeblendeten Text verfolgen. Wenn ich mich herausredete, brauchte ich einen guten Grund. Oder …

 

Dieser Mann neben mir erhob sich – und machte sich auf den Weg nach vorne. Ich konnte erkennen, dass er ein wenig kleiner als ich war. Seine Haare wirkten eher schwarz und etwas durcheinander. Bei mir war es im Moment wahrscheinlich auch nicht anders. Unterschrieben die Leute da etwas in einer Liste? Es waren nur noch einige hier. Sollte das wirklich schon morgen sein? Aber wenn er das machte …

 

Direkt vor mir trug er sich ein und würde dann eine Nachricht erhalten, wann und wo genau es soweit war. Er erntete einen scharfen Blick und drehte sich um. Einfach so würde er verschwinden! Aber wir trafen uns ohnehin bei diesem Projekt wieder, oder? Ich verabschiedete mich ebenso … und sah ihn beim Ausgang. Gerade wollte er gehen, als er mich bemerkte und die Tür aufhielt.

 

„Danke! Und was könnte das genau werden?“

„Ich lasse mich überraschen. Vielleicht besser als mein letzter, äh, Nebenverdienst.“

 

Sofort hätte ich ihn am liebsten gefragt, wie sein Nebenverdienst genau ausgesehen hatte, seiner Betonung und seinem Gesichtsausdruck nach. Ein knappes, indirektes Lächeln folgte – und er setzte seinen Weg fort. Hatte der Regen aufgehört? Meine Hände schwitzten, vielleicht sollte ich ihm nachlaufen und … aber was sollte ich sagen?

 

Ich blieb stehen und tat so, als suchte ich etwas in meinen Hosentaschen – und er verschwand. Morgen um 14 Uhr war der Termin, oder? Was waren diese Erläuterungen nun genau gewesen? Für die paar restlichen Leute mussten die wohl keine zusätzlichen Termine vergeben, und ich würde ihn schon wieder sehen. Sicher lag dieses Kribbeln an den Gedanken daran, wie es ablaufen würde. Dann war da noch das ganze Geld, das manchmal nur innerhalb von ein paar Monaten hereinkam.

 

Meine Schritte führten mich weiter, und ich sog die kühle, feuchte Abendluft ein.

 

Kapitel 2 – Das Experiment

 

 

Den ganzen Tag hatte ich Variationen des Namens und Begriffe aus diesem Angebot eingegeben. Nun war es etwas nach 13 Uhr und ich beinahe schon bei der genannten Adresse. Sogar das Geld war bereits auf meinem Bankkonto eingelangt. Wahrscheinlich lag mein Bauchgefühl an den Gedanken an diese Geschichten, wo jemand Geld bekam und es weitersenden musste. Natürlich lief da alles ganz sauber ab. Oder es lag doch an der Hoffnung, diesen Mann bei hellem Tageslicht sehen zu können, bevor es losging.

 

Neben dem Supermarkt gab es eine Lagerhalle. Es musste ganz in der Nähe sein. Da war ein zweistöckiges Gebäude, dessen Fassade nur aus kahlem Beton bestand und die kaum Fenster hatte. Diesmal konnte ich die Adresse lange genug suchen, aber dort vorne war das Industriegebiet auch schon zu Ende. Nicht sehr weit von hier erstreckten sich die seit ein paar Wochen wieder grünen Hügel am Stadtrand. Sogar der Himmel zeigte sich an diesem Tag in sattem Blau.

 

Ob meine kurze Hose ein wenig zu leger für diese Sache aussah? Es war die Rede davon gewesen, sich bequem und zweckmäßig zu kleiden und auf ein paar Tage Aufenthalt einzustellen. Viel mehr Dinge, als ich sonst auf eine längere Tour mitnahm, hatte ich aber nicht in meinen Rucksack gepackt.

 

Mein Pulsschlag steigerte sich, als ich mich dem Eingang näherte. Direkt bei der Tür aus verbeultem Blech stand nichts außer einer Hausnummer – und es war die aus der Beschreibung. Eine Kamera, deren kleines rotes Licht verlosch, hatte mich wahrscheinlich gerade erfasst. Vielleicht sollte ich einmal probieren … offen. Drinnen stand ich in einem vielleicht vier Meter breiten Gang, in den von irgendwo ein wenig Licht fiel.

 

Außer den kahlen Betonwänden konnte ich nichts erkennen, nur einen schwarzen Pfeil auf einem weißen, an die Wand geklebten Blatt Papier. Oder war das ein Bildschirm? Es stand nichts drauf, da war nur der Pfeil, und ich folgte dem abzweigenden Gang. Er war nur noch vielleicht zwei Meter breit, und das Licht flackerte leicht. Vor mir war eine weitere Tür aus lackiertem Stahlblech, nach rechts zweigte auch irgendwas ab – und ich sah noch einen Pfeil.

 

Das Licht hier musste sich von selbst eingeschaltet haben. Es sah nach einer LED-Leiste aus, die gerade erst jemand montiert haben musste. Der Gang kam mir schräg vor, und wahrscheinlich war ich seit dem Eingang bereits einige Meter in die Tiefe gegangen. Wenn ich hier nicht bald jemand traf … und da war noch ein Pfeil und eine offene Tür. Ich sah nach der Zeit, und wahrscheinlich war ich allein, weil ich viel zu früh hier war. Aber hatte sich diese Kamera gerade gedreht?

 

Ich betrat einen Raum, vielleicht drei Meter hoch, in dem der Boden mit schwarzer Farbe gestrichen war. Irgendwelche Kabel verliefen an der Decke. Dieses Gefühl in meinem Magen sagte mir, dass ich zurückgehen und draußen warten sollte. Vielleicht sollte ich nochmals dort anrufen. Hier drin war natürlich kein Empfang. Ein Geräusch, nicht ganz in der Nähe, ließ mich zusammenzucken. War eine schwere Tür aus Metall zugefallen?

 

Was vor mir stand, sah wie eine Liege für medizinische Untersuchungen aus, oder für Massagen. Der Bezug war strahlend weiß, und noch ein paar davon hätten in den Raum gepasst. Ich hielt den Atem an, um dieses Geräusch besser hören zu können. Es war ein tiefes Brummen, von irgendwo – und ein Summen. Fast hörte es sich wie bei diesen alten Leuchtstoffröhren an, aber über mir flackerte nichts.

 

Ich stellte meinen Rucksack neben die Wand und setzte mich auf diese Liege, blickte nach oben. Tief atmete ich ein und aus, und ganz in der Nähe fiel etwas zu – die Tür! Meine Hände begannen zu schwitzen, ein Kribbeln erfasste mich nicht nur dort – und ich sprang auf. Die Tür … ließ sich öffnen, und da draußen war niemand. Mein Puls fiel wieder ab, und ich ging zurück in den Raum. Ich wollte meinen Rucksack nehmen und hinausgehen – und bemerkte das Pulsieren.

 

Es war nur leicht, vielleicht ein Flackern der Beleuchtung – oder doch ungefähr so schnell wie mein Puls. Auch dieses Summen oder Surren passte dazu. Vielleicht massierte mich hier gleich ein heißer Mann. Ich lachte, setzte mich auf die Liegefläche – und legte mich hin. Als ich die Augen schloss, schwoll das Summen an.

 

Musste ich noch etwas ausfüllen? Gab es noch einen Vortrag mit näheren Informationen? Vielleicht gab es zuerst einige Untersuchungen, bevor etwas weiterging. Vielleicht musste ich warten, weil ich viel zu früh hier aufgetaucht war. Ich zuckte zusammen, als ich das Herumtun an einer Tür bemerkte. War das gleich nebenan?

 

Meine Augen folgten den Kabeln und Rohren an der Decke. In einer Ecke des Raumes bemerkte ich etwas an der Wand, wo ein paar Leuchtdioden blinkten. Mein Blutdruck war wohl gerade so, als würde ich einen steilen Weg erklimmen. Ich hörte halblaute, helle Töne, als ich mich auf die Stille konzentrierte. Da war noch eine Leuchtanzeige. Als ich langsamer und tiefer atmete, beruhigten sich auch die Töne. Ich würde dann aufstehen und draußen nachsehen. Aber hatte sich da gerade etwas bewegt oder noch irgendwas gesummt?

 

Da waren Schritte! Auch vernahm ich gedämpfte Stimmen und noch mehr Schritte, bis eine Tür zufiel. Ruhe kehrte wieder ein, bis … sich ein Motor in Bewegung setzte? Das tiefe Brummen drängte sich erneut in den Vordergrund, wurde zu einem lauteren Rumpeln und die Töne schneller. Ein Kribbeln lief über meine Haut.

 

Es kam nicht nur aus mir, es war etwas, das das eine oder andere Haar aufrichtete. Ein Schauer lief über meinen Rücken, als die Schwärze vor meinen Augen nicht mehr verschwand. Noch ein Geräusch schwoll an – und etwas zerplatzte. Stille machte sich breit, während sich mein Gesichtsfeld wieder füllte. Ich sah mich um, und irgendwie war es dunkler im Raum geworden. Anscheinend wurde er nur noch von ein wenig Licht von draußen erhellt.

 

Ich wollte aufstehen – und dachte an diese Präsentation, an die Grafiken und Diagramme, die gezeigt worden waren, an das Publikum. Meine Hände und Unterarme fühlten sich noch ein wenig kribbelig an, und auch dieses Gefühl in meinem Hals war nicht ganz verschwunden. Eine tiefe Erschütterung jagte einen weiteren Schauer über meinen Rücken. Das fahle Licht veränderte sich.

 

Mit den Fingern spürte ich, wie der Puls an meiner Halsschlagader pumpte. Ich ließ mich in die Kopfstütze zurückfallen, und dieses Gesicht tauchte wieder vor mir auf. Und ein Zucken fuhr an einer anderen Stelle durch mich. Nur noch ein wenig wollte ich hier liegen, und dann … sprang ich auf.

 

„Äh, hallo …“, sagte ich nicht wirklich laut und sah mich in alle Richtungen um. „Hallo?“, wurde ich lauter und blickte zu der Tür. Merkte ich da einen leichten Brandgeruch oder verschmorte Elektronik? Entweder war hier etwas kaputt – oder alles ein Test, genau. Wenn ich mich nicht bewegen durfte, hätten die das doch erwähnt. Mittlerweile mussten auch die anderen hier sein.

 

Da draußen sah ich absolut niemand – und grober Staub bedeckte den Boden. Einige Kabel hingen herunter und ein Stück Beton war ausgebrochen, da vorne noch eines. Nur da und dort drang von irgendwo Licht herein, dazwischen konnte ich gerade noch sehen, wo ich hintrat. Ich suchte auf dem länglichen Gang herum, nach anderen Türen, nach dem Ausgang. Die mussten doch schon hier sein.

 

Dort vorne war es heller, und ich erreichte den breiteren Gang. Meine schwitzenden Hände legten sich an die Tür – und mein Puls fiel wieder ab, als ich im Freien stand, allein. Draußen fühlte es sich kühler als vorhin an. Die Wolken waren zugezogen, und ich bekam immer noch keinen Empfang. Sollten die das Geld doch zurückbuchen!

 

Ich blinzelte nochmals mit den Augen – aber das Gebäude dort gegenüber war weg. Da wuchsen ein paar Bäume mit verfärbten Blättern, wie im Herbst. Ein Zucken erfasste mich – und mein Hals schnürte sich ab. Auf dem angrenzenden Parkplatz waren einige Autos gewesen. Nun waren sie weg – und die paar, die noch hier parkten, ausgebrannt oder ineinander verkeilt. Mein Handy meldete sich! Aber der Ton brach ab, bevor ich es ansehen konnte. Ich bekam nur eine Fehlermeldung, als ich zurückrufen wollte. Ein Schauer lief über mich, als ich an einige Worte des Vortragenden dachte und Dinge kombinierte, die nicht sein durften und sein konnten. Aber das Feld mit dem Datum zeigte immer noch einen Tag im Mai 2019.

 

Gegenüber bemerkte ich einen Haufen Gerümpel und Schutt. Er blockierte die Straße zur Hälfte, die fast nur aus Schotter und Sand bestand. Es war völlig ruhig, bis auf die Geräusche des Windes dann und wann. Waren da noch andere, weiter entfernt? Diese Enge in meinem Hals verstärkte sich, genauso das Gefühl im Magen und das Kribbeln auf meiner Haut. Ich schloss die Augen und fühlte den kühlen Luftzug, der über meine schwitzenden Hände strich.

 

Schüsse … es waren Schüsse! Ich zuckte erneut zusammen, als ich noch einen hörte – und es kam näher. Diesmal spürte ich meinen Puls sehr deutlich und auch den Schweiß nicht nur auf meinen Handflächen. Ich drehte mich um – und sah die Beton-Fassade durchlöchert und zerbröckelt vor mir. Rostige Stahlteile ragten heraus – und jemand hatte „Wir sind das Ende!“ auf die Wand gesprüht. Erneut bemerkte ich einen Schuss – und ein dumpfes Dröhnen. Es kam näher.

 

Nach Westen hin schienen die Wolken beinahe aufzuklaren. Ich musste … vielleicht zu der Böschung dort drüben … und begann zu rennen.

 

Kapitel 3 – Leo

 

 

Mein Hals fühlte sich trocken an, als ich endlich den Fuß des Dammes erreichte. Die Geräusche hatten aufgehört, aber Wasser konnte ich später trinken. Vielleicht verliefen dort oben Schienen, und vielleicht würde ich sehen, was hier los war. Dichte Wolken verhangen noch immer die Sonne, und der Wind pfiff. Trotzdem schaffte es manchmal ein wenig Wärmestrahlung bis auf meine Haut. Der niedrige Zaun stellte kein Hindernis da, besonders nicht die Stellen, wo die Stützen umgeknickt waren. Da lagen auch Metallgitter halb umgeworfen auf dem Boden und übereinander. Eines davon war ziemlich verbogen und es hingen Stofffetzen darauf, die im Wind flatterten.

 

Einige Male drehte ich mich um, immer wieder, als ich neben dem rechten Gleis ging. Jemand könnte mich sehen – oder ein Zug auftauchen. Aber da war noch genug Abstand. Von irgendwo stieg Rauch auf – und außer Grünzeug und etwas wie ein paar Lagerhallen war nicht viel zu sehen. Hier war seit Monaten kein Zug gefahren, oder seit Jahren. Mein Telefon zeigte keine Netzverbindung, und ich bekam auch keine Anzeige der Position.

 

Dieses Gefühl in der Magengegend hörte nicht auf, und ein Kribbeln an meinen Beinen und Unterarmen kam dazu. Aber auch ein ganz anderes Gefühl kam auf. Die Strecke stieg etwas an und führte auf einen breiteren Bahndamm. Sollte ich hier weitergehen? Vielleicht folgte ich besser diesem schmalen Weg zwischen dem Damm und dem hohen Gras und den Bäumen.

 

Ich hörte einen Schuss – und duckte mich. Das Flimmern vor meinen Augen wollte wieder aufkommen. Reifen quietschten, direkt hier, und noch ein paar Schüsse folgten! Oder entfernten sich die Geräusche? Nein, ich hörte noch etwas, und es wurde lauter. Hektisch sah ich mich um, kniete mich hin und legte mich auf den Boden zwischen den Steinen und den Grasbüscheln. Ich war direkt vor einer Brücke und konnte auf dem Weg ein paar Meter tiefer etwas ausmachen. Da lief eine lallende und grölende Gruppe von ein paar Leuten herum.

 

Der Schuss in die Luft schreckte mich beinahe nicht mehr, und die folgenden waren im Takt des Gesangs. Eine Scheibe splitterte, und dieses dumpfe Gefühl in meinem Magen kam doch wieder auf. Alle brüllten und lachten.

 

„Hey!“, hörte ich eine Stimme und zuckte wieder zusammen. Aber sie kam aus einer anderen Richtung und klang … irgendwie sanft. Ich blickte auf und spürte mein Herz klopfen. Auf der anderen Seite der überwachsenen Bahngleise, vielleicht 50 Meter schräg gegenüber, stand jemand. Es war ein Mann in einer kurzen Hose, vielleicht 25 oder 30 – der von der Präsentation! Der war etwas zu spät aufgetaucht und hatte sich ebenfalls für diese Sache gemeldet. Sein schwarzes, ärmelloses Shirt brachte seine kräftigen Oberarme gut zur Geltung. Mein Puls beruhigte sich nicht, aber … das Gefühl in meinem Magen wandelte sich irgendwie.

 

Ich sagte nichts und richtete mich ein Stück weiter auf. Er näherte sich, stieg vorsichtig über die Schienen, nur langsam. Sofort duckte ich mich – und stand langsam wieder auf. Ich stellte den Rucksack auf das Gleisbett.

 

„Keine Waffe“, flüsterte ich fast, „nur …“

„Wirklich?“, entgegnete er etwas lauter.

 

Ich antwortete nichts, machte nur ein paar Andeutungen mit den Händen.

 

„Ich will nur raus aus der Stadt“, ergänzte er und sah mich deutlicher an, während er noch ein Stück näher kam.

 

Erst dann bemerkte ich die Sachen neben dem Gleis auf der anderen Seite. War das ein zusammengepacktes Zelt? Als ich fast direkt vor ihm stand, erfasste mich ein Gedanke. Es war das Verlangen, mit meinen Fingern über seine Arme zu streichen, ihn … vielleicht zu umarmen, klar.

 

Als die Stimmen von dort unten wieder lauter wurden und ganz nah waren, packte ich ihn am Arm und legte mich auf den Boden. Diese Gruppe musste gerade unter der Unterführung durchgegangen sein und schien auf der anderen Seite geradeaus weiterzugehen. Ich blieb noch liegen, und er sagte ebenfalls nichts. Nach wie vor umfasste ich sein Handgelenk. Sollte ich ihn noch eine Weile … beschützen, oder konnte es eher umgekehrt sein?

 

„Ich glaube, sie sind weg“, verkündete ich, raffte mich auf und schnallte den Rucksack wieder um.

„Leo“, stellte er sich vor und deutete einen Händedruck an.

„Markus … und was ist hier los?“

„Keine Ahnung. Aber ich glaube, in der Stadt sind wir nicht mehr sicher. Da war ein riesiger Krater in der Straße.“

„Da gibt es keine Stadt mehr.“

 

Warum lief dieses Kribbeln nur noch … mild über meine Haut? Mir war, als wollte er doch zugreifen. Ob er sich auch freute, jemand zu sehen, der nicht völlig durchgedreht war? Ich nutzte diese Sekunden, um ihn noch näher zu betrachten. Mit einem verhaltenen Lächeln beendete er die Begrüßung und machte sich daran, sich seine Sachen umzuschnallen. Das war eine Ausrüstung für ein paar Tage Aufenthalt, klar. Knapp neben ihm wanderte ich entlang der Gleise. Er wollte weg von hier, dort hinaus. Vielleicht war das eine gute Idee – aber ob wir das schafften, bevor es zu dunkel wurde? Es sollte noch nicht so düster sein, aber der Himmel sah so aus.

 

Vor uns, in einer langgezogenen Kurve, tauchte ein Zug auf! Waren die nicht früher auf der S-Bahn gefahren? Es sah so aus, als wäre er entgleist und nicht nur ein Fenster eingeschlagen. Leo blieb stehen. Die meisten Türen waren offen – und er stemmte sich einen Einstieg hoch und reichte mir oben eine Hand. Drinnen auf dem Boden lagen ein paar Taschen und irgendwelche kleinen Gepäckstücke. Offenbar hielt er es auch für eine gute Idee, kein Aufsehen zu erregen und die Wanderung fortzusetzen.

 

Die Dämmerung begann sich nun deutlich über die Landschaft zu legen. Das Stationsgebäude dort vorne war unbeleuchtet, wie es aussah. Die ganze Zeit war es um uns herum ruhig gewesen. Oder die Geräusche hörten sich an, als wären sie sehr weit entfernt. Es fühlte sich ein bisschen kühler als bei meinem Aufbruch an, auch wenn sich gleichzeitig so etwas wie innere Wärme bei mir ausbreitete. Vielleicht lag das am Anblick seiner … muskulösen Arme.

 

„Ist … dir nicht kalt?“, fragte ich.

„Es geht noch“, meinte er und drehte sich zu mir.

„Vielleicht sollten wir wirklich irgendwo mitten im Wald … das ist ein richtiges Zelt?“

„Ja …“, begann er und zuckte zusammen. „Jetzt geht es los!“

„Was geht los?“

 

War da etwas? Ich glaubte, eine sehr tiefe, große Erschütterung zu spüren, etwas, das möglicherweise von einem riesigen Tunnelbaugerät verursacht wurde. Es kam wieder. Für einen Moment, noch viel kürzer als eine halbe Sekunde lang, glaubte ich auch ein helles Zucken gesehen zu haben. Ich suchte die Nähe der Büsche, des hohen Grases. Das Gefühl in meiner Magengegend wandelte sich wieder in die andere Richtung, und … ich klammerte mich an Leo. Ich konnte mich doch nicht so einfach an seinen Rücken pressen, aber … ich ließ ohnehin wieder los. Erneut folgte ein Grollen.

 

Diesmal hörte ich das Geräusch deutlicher. Es war mehr zu einem Flattern geworden.

 

„Hubschrauber!“, rief ich, als ich einen ziemlich tief über uns hinwegfliegen sah, in die Stadt hinein oder was dort nun war. Er war dunkel und anders als jene, die meistens zu sehen waren. Es folgten noch zwei, drei, vier … es mussten an die zehn gewesen sein. Leo blickte ihnen nach, sagte aber nichts. Das dumpfe Geräusch kehrte zurück, obwohl die Hubschrauber schon lange weg waren. Schlug dort etwas ein – und noch etwas?

 

„Ja“, sprach er in die Leere, „das war vielleicht der Plan von denen.“

„Was? Warst du dann auch dort und haben sie mit dir was gemacht?“

„Ja, und da muss es ein Problem gegeben haben. Ein großes.“

„Glaubst du, das war … eine Zeitmaschine? So wie er bei dem Vortrag herumgeredet hat? Sind wir …?“

„Nein“, lachte er auf und wurde sofort ruhiger, „aber ich weiß es wirklich nicht. Und wo sind dann alle?“

 

Wir redeten nichts mehr – und an der Station kletterte ich auf den Bahnsteig, reichte ihm diesmal die Hand und suchte den Ausgang. Die Halle war lange nicht so groß wie diese Lagerhalle, und es lag kaum Schutt herum. Nichts leuchtete und nichts gab Geräusche von sich, und da war ein Durchbruch in der Betonwand. Mein Hals schnürte sich ab, als noch ein dunkler Gang folgte. Leo musste knapp hinter mir sein – und ich spürte seine Handfläche auf meiner Schulter. Er zog sie sofort wieder weg – und wir standen draußen. Da war etwas wie eine Straße, die in Richtung des dichten Waldes führte. Aber nun …

 

„Und jetzt?“, fragte ich und drehte mich in seine Richtung.

„Ich glaube“, holte er zu einer Antwort aus, „wir müssen da irgendwie durch, dann ein Stück die Straße entlang, und dann …“

 

Ich ging voraus, vorbei an den … Panzersperren aus drei Stahlträgern und an ein paar Gebäuden. Noch war es hell genug. Beleuchtung sah ich nirgends. Am Gesicht von diesem Leo las ich ab, dass er hier genauso mit einer Kampftruppe oder ein paar Verrückten rechnete. Aber schon die ganze Zeit war es ruhig – und wurde immer dunkler und kühler. Nach den letzten Bauwerken aus Beton und ein paar Metall- und Holzteilen zweigte ein Weg in den Wald ab. Ich blieb stehen.

 

„Also wenn irgendwo absolut nichts ist …“, meinte ich und blickte in den Wald.

„Oder glaubst du“, entgegnete Leo, „dass morgen jemand vor uns steht und sagt, dass Zelten dort streng verboten ist?“

„Dann wäre ja alles vorbei“, kommentierte ich und ging weiter.

 

An manchen Stellen war kaum mehr etwas zu erkennen, so dass ich schon einmal das Licht meines Smartphones probierte. Meine Bekanntschaft folgte mir wortlos dort hinauf. Manchmal ging er direkt neben mir, wenn der zu erahnende Weg nicht zu eng war. Waren wir nicht jetzt schon mitten im Wald? Es wunderte mich fast, dass er ein Zelt, einen Rucksack und eine Matte ganz locker tragen konnte. Doch er sah danach aus. Dabei würde er vielleicht zierlich wirken, wäre er nur wenige Zentimeter kleiner.

 

Ich sollte … ebenfalls meine Hand auf seine Schulter legen, die nackt vor mir lag. Wenn er das bei mir gemacht hatte … und vielleicht beide. Für einige Sekunden blieb ich stehen, überlegte – und nahm es mir für später vor.

 

Leo blickte genauer in eine bestimmte Richtung – und ich zuckte mit den Schultern und zweigte in eine andere ab. Ein wenig Licht drang noch an den langsam welkenden Blättern vorbei. Dieses Gefühl in meinem Hals und in der Magengegend verblasste. Mir war, als … hätte sich ein unsichtbarer Schutzschild über mich gelegt, über uns. Der Hang wurde etwas flacher, und an manchen Stellen war das Gebüsch dicht und kratzig. Eine Lichtung tat sich auf – groß genug für ein Zelt und einen Vorplatz.

 

Wieder blieb ich stehen, blickte in alle Richtungen, auch nach oben in die Baumkronen. Ich stellte meinen Rucksack auf den Boden, drehte mich zu Leo, und … berührte seine nackte Schulter. Obwohl sich meine Hand nicht wirklich kalt anfühlte, sog ich seine Wärme auf.

 

„Perfekt, oder?“, kommentierte ich.

„Wenn du meinst … ja.“

 

Er lächelte kurz, und ich zog die Hand schnell weg. Der Boden sah recht eben aus, war nur da und dort mit Blättern bedeckt. Da waren keine Ameisen, keine Steine, nichts. Mein Begleiter machte sich daran, die Verpackung seines Zeltes zu öffnen. Es war eines von denen, die sich sehr schnell entfalten ließen. Nur für das Einschlagen der Zeltheringe musste er nach einem größeren Stein suchen. Die Spannseile sollten es auch bei stärkerem Wind halten. Nur … wirkte es nicht wirklich groß. Leo sah mich an, als ich einen Blick hineinwarf.

 

„Okay, also …“, holte er aus, „… das ist an sich für eine Person, und …“

„Warte, also …“

 

Ich sah mich um und erinnerte mich an etwas, das ich einmal bei YouTube oder sonst wo gesehen hatte. Kleinere und größere Äste lagen genügend herum, welke Blätter ebenfalls. Er machte sich an das Auspacken seiner Sachen, während ich Material zusammensuchte. Vorne baute ich ein Dreieck aus Ästen und legte oben einen drüber … ob das hielt? Mit ein paar Steinen dazu funktionierte es vielleicht.

 

„Glaubst du, das hält?“, kommentierte er, als er meine Bemühungen bemerkte.

„Hoffentlich. Aber glaubst du … hier gibt es Wölfe oder so?“

„Die machen nichts.“

„Die sind auch nicht bewaffnet, aber …“

 

Er lachte und kramte weiter herum. Ich musste noch mehr Äste oder Zweige für die Seitenwände auftreiben, noch mehr Blätter. Hätte ich eine Zeltplane, wäre das einfacher. Aber es sah bereits nach etwas wie einem Dach aus, das auf dem Boden stand. Er war gerade dabei, etwas aus seiner Ausrüstung hinzustellen. Ich glaubte, das schon einmal wo gesehen zu haben.

 

„Das sind rote Bohnen, Maiskörner, Tomatensauce und ein bisschen Vollkornbrot“, erläuterte er mir seine Vorräte. „Aber in ein paar Tagen müssen wir wieder was auftreiben. Hast du auch was?“

„In ein paar Tagen? Ja, und … Müsliriegel.“

„Ist doch schon was.“

„Ist das … so ein Campingofen, der mit Holz läuft?“, fragte ich und sah genauer hin.

„Ja, und mit thermoelektrischem Generator.“

„Nicht schlecht. Ja, und … wie lange sollen wir hier bleiben?“

„Keine Ahnung. Bis sich alles beruhigt hat?“

 

Obwohl das Lächeln auf seinem Gesicht zum Schluss einem neutralen Blick gewichen war, erfasste mich dieses Gefühl von vorhin wieder. Wenn er es schaffte, das Ding anzuheizen, würde auch die aufkommende Kälte verschwinden. Noch immer war es still, nur die Baumstämme ächzten manchmal, oder der leichte Wind ließ die Blätter rauschen. Ich erkundete schon einmal die nähere Umgebung – und das dort unten musste ein kleiner Bach sein. Das Wasser sah absolut klar aus, aber ob wir es trinken sollten? In jedem Fall sollte ich mich anderswo hinstellen, wenn ich …

 

Bei meiner Rückkehr bemerkte ich die Flamme, die oben aus dem kleinen Ofen loderte. Rauch gab es kaum oder gar keinen. Was hatte er noch alles in seiner Ausrüstung? Ich hielt meine Hände davor und spürte die Wärmestrahlung. Was Leo gerade in einem kleinen Kochgeschirr zusammenbaute, war dann ein Chili ohne carne – nicht übel. Ich versuchte, die Seitenwände meiner Behausung mit etwas mehr Blättern und Zweigen abzudichten. Das konnte ich morgen noch besser machen. Hoffentlich begann es nicht zu regnen, denn der Wetterbericht existierte nicht mehr.

 

„Toll!“, hörte ich ihn auf einmal schreien.

„Was ist denn?“

„Ich habe an alles gedacht – aber nicht an Gabeln oder Löffeln.“

„Warte, ich habe …“

 

Ich kramte in meinem Rucksack und fand wirklich ein paar Gabeln aus Plastik und einen Löffel. Er rührte noch einmal vorsichtig um und stellte das Metallgefäß auf eine Unterlage auf den Boden. Fast gleichzeitig wollten wir einen Bissen probieren, und er ließ mir den Vortritt. Es war warm und gerade richtig salzig. Ob wir noch ein paar Waldbeeren als Nachspeise fanden?

 

„Den Bach hast du schon gesehen?“, fragte ich. „Gleich dort unten, durch das Gebüsch.“

„Oh … und …?“

„Das wird von einer Quelle mitten im Wald sein. Glaube schon, dass wir das trinken können.“

„Ich denke, das wird schon gehen.“

 

Leo sah sich nochmals um, rollte seine Matte aus und legte sie in das Zelt.

 

„Wie gesagt, das wäre vielleicht etwas eng für uns zwei.“

„Kein Problem, ich … bin fast fertig mit dem Unterstand.“

„Kann ich dir bei was helfen?“

„Nein, ich … komme schon zurecht.“

 

Die Flamme spendete noch Wärme und erhellte die Umgebung ein bisschen. Er räumte den Rest seiner Sachen zwischen sein Zelt und meine Konstruktion. Die Rückseite sollte ich stabiler gestalten und das Holz vielleicht mit etwas zusammenbinden. Aber momentan schaffte es nur dann und wann ein leichter Windhauch an diese Stelle. Es war noch etwas kühler geworden, aber mit dieser Regenjacke in meiner Ausrüstung würde es irgendwie gehen. Sollten wir wirklich schon schlafen und hoffen, aus einem Traum aufzuwachen? Ich musste mir noch etwas als Kopfkissen suchen.

 

„Du solltest dann das Feuer komplett löschen“, erwähnte ich, als er am Eingang seines Zeltes auf dem Boden saß. Drinnen brannte Licht, also musste er ebenfalls etwas mit einer Leuchtdiode besitzen. Die ganze Zeit hatte ich es vermieden, ihn zu direkt anzusehen. Aber wie er so dort saß, mit den kräftigen Armen, so etwas wie einem unterdrückten Lächeln … ging ein Zucken durch mich. War er ein bisschen zu schüchtern? Oder verschwand das Knistern zwischen uns genauso wie die letzte Glut des Feuers? Noch immer stellte ich mir seine Bauchmuskeln vor und sah schnell zur Seite, als er aufblickte. Wahrscheinlich stellte ich mir überhaupt zu viel vor.

 

Erneut glaubte ich ein verhaltenes Lächeln zu erkennen, als er sich mit einem halblauten „Na dann gute Nacht!“ in das Zelt verabschiedete. Wollte er den Eingang offen lassen? Der Boden unter meinem Dach fühlte sich weich an, als ich mich hinlegte. Dann und wann hörte ich etwas, das wahrscheinlich Laute von Vögeln waren und keine militärischen Hubschrauber. Ich starrte einfach nur nach oben, drehte mich zur Seite, kauerte mich zusammen. Ob ich besser schlafen konnte, wenn ich …? Ich lachte kurz beim Gedanken daran in mich hinein, was Leo wohl gerade machte.

 

Ein kalter Windstoß traf mich, und ich legte diese Regenjacke etwas anders. Begann da etwas zu knarren? Ich sah in diese Richtung und … toll, ein Teil der Seitenwand rutschte weg. Alles konnte niederbrennen, wenn hier jemand ein wärmendes Feuer anzündete und es niemand bewachte. Aber wie wäre es mit einer Schicht aus zwei Zeltplanen, einer Matte und vielleicht einer Decke?

 

Ich blieb eine weitere Minute liegen, versuchte das Loch in der Wand irgendwie zu schließen, starrte wieder nach oben. Dann … raffte ich mich auf und kletterte hinaus. Bei ihm war das Licht immer noch eingeschaltet und der Eingang nicht verschlossen.

 

„Hallo, äh …“, machte ich mich bemerkbar und schob die Zeltplane nur ein bisschen zur Seite.

„Ja?“

„Ja, also, bei mir fällt alles zusammen, und …“

 

Vorsichtig öffnete ich den Zugang ein Stück weiter und sah Leo unter einer dünnen Decke liegen. Er drehte sich zu mir … und war da wieder dieses Lächeln?

 

„Du kannst ruhig … aber wahrscheinlich wird es etwas eng, wie gesagt.“

„Danke.“

 

Ich kletterte hinein und suchte nach dem Verschluss. Leo kommentierte es mit einem „Ach ja“ und rückte an den Rand seiner Matte. Zumindest kam es mir hier drin wärmer vor. Als ich neben ihm lag und mich mit der dünnen Regen- und Windjacke zudeckte, drehte er das Licht ab. Wieder sah ich nur starr nach oben. Ich schloss die Augen und fühlte diesmal wirklich so etwas wie Müdigkeit. Er drehte sich um, und seine Hand landete auf mir. Seine Finger schienen unruhig zu werden, aber er zog sie nicht sofort weg. Unter seiner Decke wäre es sicher noch besser, aber ich konnte doch nicht …

 

* * *

 

Ich schreckte auf und wusste im ersten Moment nicht, wo ich war. Wie lange hatte ich geschlafen, eine Stunde oder viel länger? Nach der Zeit wollte ich nicht sehen. Anscheinend … schlief Leo – und ich griff nach einem Stück seiner Decke.

 

Kapitel 4 – Das Zugeständnis

 

 

Als ich erwachte, war es draußen hell. Mitten in der Nacht konnte es nicht mehr sein. Fast erschrak ich, als ich Leo direkt neben mir bemerkte. Ich sah diese Leute vor mir, die Hubschrauber, die Erschütterungen. Aber das war weit weg, und seine Körperwärme verdrängte die in das Zelt gedrungene Kälte. Die Decke war irgendwie halb um uns beide gewickelt, zusammen mit meiner Regenjacke. Offenbar schlief er noch.

 

Ich öffnete den Eingang des Zeltes, und mir schlugen gleichzeitig kalte Luft und wärmende Sonnenstrahlen entgegen. Der Duft des Waldes war irgendwie anders, nicht einfach nur Grünzeug, Pilze und vielleicht ein wenig Morgentau. Ein Konzert aus Vogelstimmen lag in der Luft. Während ich mich umsah und überlegte, ob ich mir kaltes Wasser ins Gesicht spritzen sollte, hörte ich ein Rascheln hinter mir. Leo kletterte mit zerrauften Haaren aus dem Zelt.

 

„Guten Morgen!“, begrüßte er mich so, wie er aussah. Ich drehte mich um und bemerkte, dass meine Behausung noch mehr in sich zusammengefallen war. Er kramte in seinem Rucksack herum und machte wieder ein Gesicht wie gestern.

 

„Toll!“

„Was ist denn?“

„Ich wollte dann … tiefer in den Wald, hast du vielleicht … äh …?“

„Oh …“, entgegnete ich leicht lachend, „… ich habe glaube ich, warte … brauchst du es jetzt gleich?“

„Äh … ja!“

 

Während ich in meinem Rucksack suchte, fiel mir ein, dass ich sicher keinen Rasierer eingepackt hatte. Ich wollte Leo lieber nicht zu sehr ausfragen oder um etwas bitten, so lange es ging. Aber nun …

 

„Da … ich habe ein paar Blätter Küchenrollen. Das … eignet sich für ziemlich alles.“

„Danke!“

 

Ich wollte mich doch mit etwas kaltem Wasser abwaschen, während er sich in eine ganz andere Richtung verzog. Was würden wir wirklich machen, wenn wir noch länger hier allein waren? War das nun die angekündigte Sache, die vielleicht eine Woche dauerte? Außer mit diesen Leuten von der Firma konnte ich ohnehin mit niemand darüber reden. Warum war das enge Gefühl in meinem Hals ziemlich verschwunden?

 

Irgendwann musste er doch … sich eine gewisse Erleichterung verschaffen wollen, wenn er nicht asexuell war. Ich musste das womöglich in den nächsten Minuten, wenn ich meine Gedanken nicht unter Kontrolle halten konnte. Warum war er überhaupt so bereitwillig mit mir in den Wald gegangen und hatte auch noch sein Essen mit mir geteilt? Ich hatte ihn nicht mit einer Schusswaffe oder einem Molotowcocktail bedroht, aber …

 

Der Wald um mich herum hatte kein Ende und wirkte dicht, obwohl die Blätter Gelb- und Rottöne angenommen hatten. Würde er uns genug Deckung bieten, wenn sie alle abgefallen waren? Immerhin konnte dieser kleine Campingofen nicht sehr weit zu sehen sein. Oder sollten wir noch eine Schutzwand bauen? Oder … sollte ich innerhalb der nächsten Minuten die Gelegenheit für mich nutzen? Ach, da gab es sicher noch bessere. Ich machte mich auf den Rückweg, und … ein intensiver Duft nach Kaffee lag in der Luft.

 

„Möchtest du einen Kaffee?“, fragte Leo und lächelte kurz dabei. Ich antworte nicht, zumindest nicht mit Worten. Sein Oberkörper war nun nackt, und die grellen Sonnenstrahlen trafen ihn direkt. Da konnte ihm auch in dieser kurzen Hose nicht wirklich kalt sein. Mein Mund blieb offen. Womöglich versuchte er gerade irgendeine Reaktion zu unterdrücken, während er meine voll mitbekommen haben musste. Nur ein bisschen, nur für einen Moment, wollte ich meine Finger über ihn streichen lassen, nicht einmal über seine Hose. Aber ich konnte doch nicht …

 

„Oh, äh … ja, bitte, wäre sehr toll!“, gab ich ihm schließlich eine Antwort. Nun folgte ein kurzes Lächeln, und er hatte zwei Becher aus Metall parat. Einen Apfelstrudel konnte er mir wahrscheinlich nicht dazu bieten, aber ob er meine Müsliriegel wollte? Ich griff in meinen Rucksack – und er nahm dankend einen von mir.

 

„Oh, der ist mit Erdbeeren! Ach ja, was ich dir sagen wollte …“, schien er zu einer Erklärung ausholen zu wollen.

 

Ob es etwas mit letzter Nacht zu tun hatte? Ich spürte wieder diese Enge.

 

„Das … wäre?“

„Ich wollte dir nur sagen, dass … ich mich für Frauen interessiere.“

„Oh … ja, also …“

„Aber ich bin nicht so verklemmt wie manche Leute, das ist ja lächerlich. Ich meine vielleicht …“

 

Ich wusste in diesem Moment nicht, ob sich diese Enge lösen oder mich noch mehr einschnüren wollte. Machte er mir gerade ein Angebot, nur ein kleines Zugeständnis? Woher ahnte er überhaupt, dass …? Klar, ich war viel zu deutlich gewesen.

 

„Was ich sagen wollte“, setzte er in dieser Stimmlage fort, „vielleicht ist es wirklich besser, wenn wir erst einmal beide in meinem Zelt schlafen. Sonst wird es wahrscheinlich zu kalt.“

„Ja, also, ich … interessiere mich auch für Frauen. Aber … nicht nur.“

 

Nun war alles heraus, das herauskommen konnte. Ich versuchte seine Gesichtszüge zu deuten, seine Antwort vorherzusehen. Erneut stand die Zeit still. Vielleicht hatte er vorhin gemeint, dass …

 

„Oh!“, fiel seine Reaktion sehr kurz aus.

„Ja, und …“

„Kein Problem, nicht dass du denkst … aber gut, wir werden sehen.“

„Ja, und … was machen wir jetzt? Glaubst du, das ist alles ein Test?“

„Ich wollte lieber die komplette Ausrüstung mitnehmen. So wie das angedeutet war.“

 

Ich holte kurz Luft.

 

„Sollten wir nicht …“

„Also dorthin zurück gehe ich nicht. Bevor ich nicht weiß, was los ist. Vielleicht kommt noch eine Nachricht.“

„Ja, wenn Empfang wäre.“

 

Ich ging ein paar Schritte herum und blickte in die Baumkronen. Für mich begann ein riesiges Fragezeichen zwischen uns zu schweben. Was meinte er genau damit, was ich über ihn denken sollte? Wartete er darauf, dass ich mich näher neben ihn setzte und nur ein bisschen …? Sollte ich ihn einfach fragen? Wenigstens schien der Tag sehr sonnig und warm zu werden.

 

* * *

 

Ein Haufen aus kleineren und größeren Holzstücken türmte sich neben den Überresten meines Unterstandes auf. Wahrscheinlich würde ich ihn an diesem Tag doch reparieren und mit viel Laub ausbauen. Das konnte dann womöglich bequemer als das Zelt sein. Er war noch unterwegs und erkundete wohl für sich selbst die nähere Umgebung. Entweder hatten wir den Platz gut ausgewählt, oder es war mittlerweile ruhiger geworden. Das Knarren von Baumstämmen und Ästen lag dann und wann in der Luft, aber keiner ragte gefährlich nahe über die Lichtung.

 

Wieder spielte ich mit dem Smartphone herum und bekam keinerlei Empfang. Ich schaltete es aus, schaltete es ein, probierte ein paar Einstellungen …

 

„… Grad. Morgen wird das Wetter im Osten …“

 

Ich bemerkte Schritte hinter mir, Leo tauchte auf. Sofort trat er näher und hörte aufmerksam zu – aber der Wetterbericht klang völlig daneben. Die Wiedergabe geriet ins Stottern, ich drehte mich herum. War da wieder ein dumpfes Geräusch gewesen, irgendwo da unten? Völlig übersteuerte Musik schreckte mich auf. Jemand quatschte etwas drüber, und Möbelhaus-Werbung begann zu dudeln. Im nächsten Moment hörte ich – nichts mehr.

 

Er probierte noch daran herum, aber jegliche Signale waren weg. Mein Mund war genauso weit aufgerissen wie seiner, und wir sahen uns noch eine Weile an. Oh toll, und er trug nun ein T Shirt mit relativ langen Ärmeln, obwohl es sehr warm geworden war.

 

„Was … bedeutet das jetzt?“, fragte er und gab mir das Handy zurück.

„Keine Ahnung. Vielleicht … läuft da noch was automatisch, wenn der Strom noch geht.“

„Ich habe diesen thermoelektrischen Generator … und das Solarmodul in deinem Rucksack funktioniert?“

„Ja, halbwegs, wenn es in der prallen Sonne steht.“

 

Leo setzte sich an eine Stelle, die zur Hälfte im Schatten lag, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Ich zögerte und ließ mich direkt neben ihm nieder. Zwei, drei meiner Finger legten sich auf seine auf dem Boden abgestützte Hand. Es war einfach passiert, und er sagte nichts. Ich tastete mich weiter, umfasste zart sein Handgelenk, und er lehnte sich noch ein Stück nach hinten. Wenigstens trug er diese kurze Hose, die nicht einmal seine Knie bedeckte. Nun lag er ausgestreckt auf dem Waldboden, und seine Augen waren zur Gänze geschlossen.

 

Meine Hand … tastete sich an seine Hose, nur ganz leicht. War das ein sehr leises Stöhnen von ihm gewesen – oder einfach nur lautes Atmen? Ich rückte näher an ihn, und meine andere Hand legte sich auf seinen Oberkörper. Diese aufregende, fast nervöse Art von Prickeln erfasste mich bei der Überlegung, ob ich unter sein T Shirt greifen sollte. Vielleicht war das besser, als mit der anderen zu prüfen, ob sich bei ihm womöglich etwas regte.

 

„Halt!“, sagte er etwas lauter, setzte sich auf und sah mich an.

„Ja, aber …“

„Du, ich weiß nicht, ob …“, änderte sich sein Tonfall.

„Ja, dann lasse ich es, kein Problem. Ich möchte nicht, dass du … traumatisiert bist, oder so.“

„Nein“, meinte er mit einem Lachen und stand auf.

 

Leo schloss die Augen, drehte sich zur Sonne und spazierte einige Schritte auf und ab.

 

„Was ich vorhin gemeint habe … es ist ja nichts dabei, wenn sich zwei Männer zufällig einmal berühren. Manche bekommen da gleich die Panik …“

„Ich sicher nicht.“

„Ja, weiß ich. Aber es ist halt …“

 

Mir wurde kalt, und auch direkt in der Sonne verschwand das Gefühl nicht gleich.

 

„Darf ich dir was sagen?“, setzte er fort. „Ich meine, nur so unter uns gesagt.“

 

Mein Gesichtsausdruck konnte für ihn nichts außer Neugier ausstrahlen, sonst musste ich nichts antworten.

 

„Ich weiß, du möchtest … und … was wäre schon der Unterschied, ob ich selber oder ob du …“

„Oh!“, entgegnete ich.

 

Wärme durchflutete meinen ganzen Körper. Ich machte wieder einen Schritt auf ihn zu und legte meine Hand auf seine Schulter.

 

„Heute am Abend oder so, gut?“, meinte er und schüttelte meine Hand ab. „Essen wir einmal was, suchen noch mehr Holz zusammen, und dann …“

„Gut!“, entgegnete ich und klopfte ihm leicht auf den Rücken.

 

Sein Gesicht verzerrte sich kurz – und er lächelte.

 

* * *

 

Wieder hörte ich aufmerksam in die Stille, aber da war nichts. Ich stand am Bach und versuchte, die Abzweigung weiter zu vergrößern, wenn auch ohne richtiges Werkzeug. Was das werden sollte, wusste ich noch nicht ganz. Das kalte Wasser sammelte sich in einem winzigen Teich, der langsam in das Unterholz an der Böschung abfloss. Immerhin war es an dieser Stelle einfacher, sich zu waschen. Grelles Sonnenlicht, bereits etwas goldener, drang durch die Bäume. Ich bemerkte Schritte.

 

„Oh, nett!“, kommentierte Leo, und ich drehte mich um.

 

Seine Oberarme lagen wieder frei, und für drei Sekunden sah ich ihm direkt in die Augen. Er trat näher, stützte sich auf mir ab und hielt seine Hände ins Wasser.

 

„Darf ich dir was sagen?“, sprach ich ihn an. „Nur so … unter uns gesagt?“

„Ja?“

 

Er sah mich an, wartete auf meine Frage, und mein Herzschlag beschleunigte sich. Ich konnte ihn mit einer Hand spüren, während ich die Waldluft einsaugte und tief ausatmete. Das war doch kein Angstschweiß bei mir, oder?

 

„Du hast … eine wahnsinnige erotische Ausstrahlung. Es ist …“

 

Ich wurde leiser, schloss die Augen halb und senkte den Kopf. Ein starkes Kribbeln fuhr durch mich und klang ab, als ich ihn wieder ansah. Seine Lippen formten ein Lächeln, und vielleicht überlegte er, was er antworten sollte. Wozu hatte ich überhaupt ausgesprochen, was ohnehin längst klar war? Musste ich ständig darüber reden, wenn er eben hetero war?

 

„Darf ich?“, fragte ich ihn, näherte mich mit einer Hand und glaubte ein sehr vorsichtig angedeutetes Nicken zu sehen. Er blieb ruhig stehen und richtete seinen Blick in die Baumkronen, als ich die Konturen und die Festigkeit seiner Bauchmuskeln zu spüren bekam. Nur ein kleines Stück weiter wagte ich mich unter sein ärmelloses Shirt – und er zog es sich aus. Alles fühlte sich straff und hart an – so wie in meiner Hose.

 

Ich stellte mich direkt neben ihn und tastete mich auch seinen Rücken entlang. Ein leises Stöhnen entkam ihm, als ich nur meine Fingerspitzen über ihn streichen ließ. Was, wenn er wieder „Halt!“ einforderte? Ob er sein Zugeständnis so gemeint hatte, dass er sich hinlegen wollte und ich das rasch mit meiner Hand erledigen sollte, ohne ihn sonst viel zu berühren? Ich dachte an das Gefühl, wenn bei mir jemand auf genau diese Weise den Rücken massierte. Zu Sex gab es nicht wirklich einen Unterschied. Es war mir ziemlich egal, ob es ein Mann oder eine Frau oder sonst jemand machte. Aber bei ihm halt …

 

Meine Hand wanderte an seinen Hosenbund und umfasste ihn. Er trug so etwas wie Badeshorts, nur länger und der Stoff wirkte dicker. Sein Stöhnen oder lautes Atmen hörte sich anders an, als ich weiter vorrückte. Ich wollte so langsam sein, wie ich konnte. Von außen zu erahnen war kaum etwas – und innen auch nicht viel. Nun gab es kein Zurück mehr. Ich würde ihn bitten, mich vor ihn knien und um seine Beine klammern, falls er aufhören wollte.

 

Spürte ich ein Zucken an seiner Männlichkeit, nur ganz leicht? Mit der anderen Hand blieb ich an den Schnüren, die seine Hose hielten, und … öffnete sie. Nur ein Stückchen zerrte ich seine Hose nach unten – und vernahm ein kurzes Lachen von ihm. Erneut holte ich tief Luft – und zog ihn ganz aus.

 

Vor mir lag immerhin mehr, als ich vorhin gespürt hatte. Meine linke Hand legte sich seitlich an ihn, die andere … griff zu. Seine Ausstattung lag gut in der Hand und war wahrscheinlich auch dann nicht zu dick, wenn ich mehr Erfolg hatte. Aber was, wenn es einfach nicht ging? Ich würde nicht sofort aufgeben und alles tun, was ich konnte. Was wollte ich noch von einem heterosexuellen Mann, der eine Sexbombe war? Ich wollte ihn zum Explodieren bringen!

 

Ein bisschen etwas schien sich zu regen, nur ein leichtes Zucken. Sein Blick war immer noch nach oben gerichtet und husche ein wenig hin und her, bis er eher den Ursprung des Wasserlaufs suchte und die Augen schloss. Ob er sich vorstellte, eine Frau würde es ihm gerade besorgen? Seine Beine wurden etwas unruhig, er stellte sich ein bisschen anders hin und spreizte sie mehr. Für einen Moment ließ ich von ihm ab und streichelte nur zart über seine Oberschenkel. Die Hose zog ich ihm ein Stück weiter nach unten.

 

„Ganz ruhig“, hauchte ich, „ganz ruhig.“

 

Ich konzentrierte mich darauf, wie sein Ein- und Ausatmen klang. War er genervt oder … fühlte es sich gut an? Diesmal spürte ich sein Zucken deutlicher – und konnte mehr in die Hand nehmen. Seine Festigkeit baute

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 16.03.2022
ISBN: 978-3-7554-1569-5

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