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Prolog

 

Blut. Überall Blut. Das ist das Erste was ich sehe, als ich die Augen aufschlage. Entsetzt rappele ich mich auf und starre an mir hinunter. Kein Blut. Ich untersuche meinen ganzen Körper nach Verletzungen ab, kann aber keine finden, ich atme auf. Dann sehe ich mich um. Die Dunkelheit erfüllt jede Ecke des Raumes, kein einziger Sonnenstrahl dringt durch die Finsternis. Außerdem befinde ich mich in einem sehr alten Haus, denn es riecht vermodert und alt. Die alten Holzbalken sind morsch und biegen sich unter der Last der Decke. Vergilbter Putz, der von den Wänden blättert. Normalerweise wäre ich jetzt einigermaßen beherrscht gewesen, aber das Blut lässt meinen Bluthochdruck nach oben schnellen.  Ich weiß, dass ich hier schon einmal gewesen bin, aber ich kann mich nicht mehr erinnern… an nichts. Mein Kopf dröhnt und ich fühle mich, als hätte ich einen Kater. Wie komme ich hierher?  Plötzlich höre ich Schritte, die sich langsam, schleichend nähern. Das Grauen packt mich, der Schweiß bricht mir aus und ich weiche ein paar Schritte zurück. Irgendwo habe ich schon mal so ein Geräusch gehört und es bedeutet nichts Gutes, das weiß ich noch.  Natürlich rufe ich nicht: „Wer ist da?“ Nein, so dumm bin ich nicht, denn dann weiß  derjenige gleich, dass ich da bin.

Ich atme schnell und flach, die Angst legt sich über mich und mein Herzschlag rast. Reiß dich zusammen! Ermahne ich mich streng. Vielleicht sind es nur Ratten! Aber meine Hände werden schweißig, denn ich habe ein ungutes Gefühl. Langsam werde ich hysterisch. Ich kann nicht denken, mich nicht bewegen, ich bin wie gelähmt, vor Angst. Langsam setzten das unkontrollierte Zittern und das Schwitzen wieder ein. Okay, okay, alles ist gut, alles ist gut! Flüstere ich leise. Ich lauschte in die Dunkelheit. Kein Geräusch, aber das macht es auch nicht besser, im Gegenteil. Meine Muskeln spannen sich an, bereit loszurennen.

Plötzlich ertönt ein höhnisches Lachen. Kein menschliches, eher ein animalisches Lachen.

Es wird mich töten!  Meine Augen weiten sich und ich drehe mich hektisch im Kreis. Wo ist hier ein Ausgang, wo?! Aber ich sehe keine Ausgangsmöglichkeit, alle Fenster und Türen sind zugenagelt. Meine Füße rennen los, in die entgegengesetzte Richtung, von wo das Lachen kommt, hinein in die Finsternis.  Da sehe ich es. Ein schreckliches Bild bietet sich mir. Ein kleiner körperloser Kopf von einem kleinen Kind. Das Gesicht ist schrecklich verunstaltet. Ein ohrenbetäubender Schrei rutscht mir über die Lippen und ich sprinte auf ein Fenster zu. Ich bemühe mich nicht leise zu sein, derjenige weiß jetzt eh, dass ich da bin. Hinter mir höre ich wieder das Schlurfen und ein scheußlicher Geruch steigt mir in die Nase. Ein brennender Schweiß- und Modergeruch.

Ich nehme Anlauf und ramme meinen Körper gegen das zugenagelte Fenster. Immer und immer wieder. Der Schweiß läuft mir in Strömen das Gesicht herunter. Plötzlich höre ich ein Splittern und werfe mich triumphierend noch einmal gegen das Fenster. Es kracht und ich bin mir sicher, dass ich es geschafft habe, doch da packt mich eine Hand am Hals und reißt mich zurück. Ich falle auf den Boden und halte mir röchelnd den Hals. Über mir ragt etwas Großes auf, aber bevor ich etwas genaueres Erkennen kann, trifft mich eine große Betonscherbe und ich kippe um. Das Letzte was ich denke ist: Sieht so der Tod aus? Verunstaltet irgendwo in der Ecke liegen und langsam vermodern, genauso wie das Haus?

Kapitel 1

Salome

„Es wird alles gut Schatz. Glaub mir. Ich werde dich ganz oft besuchen kommen, versprochen!“ Vielleicht will ich gar nicht, dass du kommst, dachte ich, sprach es aber nicht laut aus. Hailey nahm mein Gesicht in beide Hände und sah mir tief in die Augen. Eine Träne rollte über ihre Wange. Ich antwortete nicht. Ich war immer noch wie betäubt, in mir war alles leer. „Bitte!“, flehte Hailey. „Bitte rede mit mir!“ Die Tränen liefen unaufhörlich ihre Wangen hinab. So eine falsche Schlange! Sie zog mich in eine Umarmung. Ich ließ es zu, erwiderte die Umarmung allerdings nicht. Dann machte ich mich los und stieg ins Auto. Ich würde Hailey nie wieder sehen und dafür war ich fast froh. Klar würde sie mir fehlen, sie war schließlich mal meine beste Freundin. Damals, als wir uns immer alles gesagt hatten und nichts peinlich gewesen war. Aber das, was wir in den letzten Wochen beide durchgemacht hatten, war einfach zu viel gewesen und wir hatten uns auseinandergelebt. Es war wirklich schlimm für mich, aber schlimmer als alles andere war mein schlechtes Gewissen, dass die ganze Zeit an mir nagte und  mir schmerzhaft bewusst machte, was ich getan hatte. Mir brach schon der Schweiß aus, wenn ich nur an die Nacht dachte.  In meinem Herzen herrschte nur Leere und ich hatte keine einzige Träne mehr. Wie das Lied schon so schön sagte: I’ve met the devil in me. Ich schüttelte mich um alles zu vergessen, aber natürlich vergaß ich es nicht. Das Auto startete und ich legte meinen Kopf an die Scheibe. Ein letztes Mal sah ich Hailey an und war überrascht über den Schmerz in ihren Augen. Es windete und ihre kurzen schwarzen Haare standen ab. Sie umarmte sich selbst, um sich zu wärmen. Langsam hob sie ihre Hand und ihre Lippen formten die Worte: Bitte verzeih mir! Ruckartig drehte ich den Kopf von ihr weg. Das sagte genug. Der Schmerz in meiner Brust nahm zu und mir Herz krampfte sich zusammen. Ich zog die Knie an und wippte hin und her, wie ein kleines Kind.

 

Hailey

Ich sah in ihre leeren Augen und musste weinen. Sie sagte kein Wort und schaute mich auch nicht richtig an. Ich hatte Angst um sie, aber auch um mich. Alles was ich tat, war nutzlos, sie würde nie wieder ein Wort mit mir reden. Vielleicht war es besser, dass sie wegzog. Vielleicht würde das Grauen dann endlich ein Ende haben und ich würde sie vielleicht irgendwann vergessen und mein normales Leben weiterleben können. Nein. Natürlich ging das nicht. Mir wurde schon öfters ein Psychologe empfohlen, aber ich konnte nicht darüber reden. Nichts mehr würde jemals so sein wie früher. Weder mein Leben, noch ich und Salome. Seit der Nacht, in der alles passiert war, hatte sie nicht mehr gelacht, nicht mal gelächelt und war kalt und  unnahbar gewesen. Sie hatte mit keinem mehr  geredet, war nicht ans Telefon gegangen. Früher war das nicht so gewesen. Sie hatte sich mit so ziemlich jedem verstanden. Sie hatte immer ihr schönes Lachen gelacht, aber nun war ein Teil ihrer Seele tot. Die alte Salome war gestorben.

Nun stieg sie ins Auto und sah mich direkt an. Es war kalt und ein eisiger Wind wehte. „Bitte verzeih mir!“,rief ich, doch sie drehte sich weg. Das war eindeutig. Es war wie ein Schlag ins Gesicht. In meinen Augen brannten heiße Tränen und ich wandte mich ab. Das Auto startete und fuhr weg. Ich starrte ihm noch lange hinterher.

 

 

Rückblick

„Schau mal da! Los, Hailey schau, da ist er! Ist er nicht unglaublich süß?“ Verträumt starre ich Finn, den heißesten Typen aus unserem Jahrgang, an. Er hat schwarze, hochgegelte Haare und eine große Nerdbrille auf. Nicht, dass er ein Nerd gewesen wäre, auf keinen Fall!

„Jaja…“, murmelt Hailey geistesabwesend und schaut weg. Ich verdrehe die Augen und widme mich wieder meinem Schließfach.

 „Wo ist nur dieses verdammte Buch?“, frage ich leicht genervt. Hailey antwortet nicht. Ich drehe mich um und schaue sie misstrauisch an. Sie ist total rot. Ich lache.

 „Hast du es aufgegessen oder warum bist du so rot wie 'ne Leuchtboje, hm?“  Da muss auch sie lachen.

„Nee, deins auf keinen Fall! Da such‘ ich mir lieber ein anderes aus!“ Ich strecke ihr die Zunge raus. „Du solltest dich was schämen, Kleines!“

„Ach, sollte ich das, meine Dicke?“ Ich tue so, als würde ich ihr eine scheuern. „Das war gemein“, Ich drehe mich von ihr weg und tue so, als wäre ich beleidigt. Hailey prustet los.

 

Kapitel 2

Salome

Mit einem Schrei wachte ich auf. Ich saß  immer noch im Auto. Meine Eltern saßen vorne und sagten kein Wort. Mein Vater presste die Lippen zusammen und starrte stur gerade aus. Meine Mutter hatte Tränen in den Augen. Sie hatten seit zwei Wochen nicht mehr mit mir geredet. Kein  einziges Wort. Es tat unglaublich weh. Als wäre es nicht schlimm genug gewesen, mit dieser Sache leben zu müssen.

Als wäre es nicht schlimm genug, dass ich keine Freunde mehr hatte.

Als wäre es nicht schlimm genug gewesen, dass Hailey mich verraten hatte. Nein, natürlich nicht! Und nicht nur das. Sie taten gerade so, als wäre ich jemand fremdes. Als wäre ich nicht ihre Tochter. Gut, ich war nicht mehr die alte Salome, aber ich hatte erwartet, dass wenigstens meine Eltern mir helfen würden, aber da hatte ich falsch gelegen. Mehrere Gründe, um einen Selbstmord zu begehen. Vielleicht waren sie dann erleichtert, vielleicht wäre es auch besser für mich, denn dann müsste ich das alles nicht mehr ertragen. Ich könnte mir jetzt mit dem Taschenmesser, welches in meiner Hosentasche war, die Adern aufschlitzen. Ich könnte die Autotür aufmachen und mich vor das nächste Auto werfen. Aber ich tat es nicht. Ich hatte zu viel Angst. Ich war eine Memme, wie Finn immer gesagt hatte. Finn! Ich vergrub mein Gesicht in den Händen. Es tat so weh an ihn zu denken. Ich liebte ihn immernoch und ich würde ihn auch immer lieben egal was passieren würde. Ich träumte immernoch davon, dass er mich eines Tages lieben könnte, so wie ich ihn liebte. Aber das hier war die verdammte Realität. Er gab mir die Schuld für alles. Er würde mich noch sein ganzes Leben lang ignorieren, so war das nun mal.

Ich kramte mein Fotoalbum aus meiner Tasche und schaute die alten Fotos an. Auf einem waren ich, Hailey und Pablo zu sehen. Wir saßen am Meer im Sand und sahen unglaublich glücklich aus. Ich holte tief Luft und riss das Bild in der Mitte durch, sodass nur noch Pablo und ich darauf zu sehen waren. Dann zerknüllte ich „Hailey“ und warf das Bild aus dem Fenster. Der Wind ergriff es und trug es weg. Es blieb in einem Baum hängen und ich wandte mich wieder ab.

 

 Finn

Wütend schlug ich auf den Boxsack ein, so lange und hart, bis meine Hände unendlich schmerzten. Dieser verdammte Wiskey war Schuld an allem. Und natürlich Salome, Mike, Hailey und…ich. Aber das wollte ich verdammt noch mal nicht zugeben! Es hatte alles damit angefangen, dass ich die Schule gewechselt hatte. Ich wusste ganz genau, dass ich gut aussah und dass viel auf mich standen. Ich konnte es nicht leiden, wenn mich alle so anstarrten. Doch dann sah ich Hailey. Sie war nicht wie alle anderen. Sie flippte nicht aus, wenn sie mich sah. Das hatte mir gefallen. Außerdem gefiel mir auch ihr Look. Kurze schwarze Haare und vier Piercings am Ohr. Bei Salome hatte ich sofort gemerkt, dass sie auf mich stand und sie hatte lange, glatte fast weiße Haare und dann noch so ein langes Gesicht. Nein, sie war ganz und gar nicht mein Typ. Plötzlich verpasste ich den Boxsack und dieser schlug mir hart gegen die Nase. Ich fiel auf den Boden und hielt mir die Nase. Ich blutete und dann fing ich an zu weinen. Ich war nicht der Typ, der nah am Wasser gebaut war, aber ich war einfach fertig mit den Nerven. Ich weinte um Hailey, Chris und dem ganzen Mist, in den ich mich hineingeritten hatte.

 

Salome

„Hier ist dein Zimmer“, sagte meine Mutter schnell und ausdruckslos, drehte sich auf dem Absatz um und verschwand wieder. Heiße Tränen brannten in meinen Augen, doch ich ließ mir nichts anmerken. Langsam betrat ich den großen Raum und ließ meine Tasche auf den Boden fallen und sah aus dem Fenster. Weit und breit nur Bäume und Büsche zu sehen. Genervt stöhnte ich auf. Ich hasste Natur, was zum  Einen daran lag, dass ich eine sehr starke Pollenallergie hatte und zum Zweiten, dass ich es nicht ausstehen konnte so „abgetrennt“ von der Stadt zu leben. Ich war einfach ein Stadtmensch und daran würde sich auch nichts ändern. Zähneknirschend wandte ich mich ab und überlegte, wie ich mein Zimmer gestalten sollte. Ein paar Einzugskartons standen schon in meinem Zimmer und das Bett war auch schon aufgebaut. Ich sank darauf zusammen. In ungefähr fünf Wochen musste ich in eine neue Schule, an der ich niemanden kannte. Wenn ich schon daran dachte, krampfte sich mein Magen zusammen und ich wurde unglaublich nervös. Was, wenn jemand herausfinden würde, weshalb ich in so ein Kaff gezogen war? Ich versuchte ruhig zu atmen und suchte in meiner Tasche nach den Beruhigungstabletten, die ich immer dabei hatte, aber ich konnte sie wirklich nirgendwo finden, das machte es natürlich auch nicht viel besser, denn jetzt war ich erst recht nervös. Ich kippte die Tasche um und verteilte alles auf dem Boden, in der Hoffnung, die Tabletten zu finden. Langsam wurde ich hysterisch und atmete sehr schnell und laut. Ich hörte jemanden die Treppe heraufrennen, die Tür aufstoßen und fiel fast in Ohnmacht. Mein Vater versuchte mir gewaltsam die Tabletten einzuflößen. Die Tränen rannen mir das Gesicht herunter und ich schluchzte laut auf. Mein Vater umarmte mich und hielt mich lange fest. Irgendwann setzte das Mittel ein und ich beruhigte mich langsam.

Als ich aufwachte lag ich auf dem Boden und tastete nach meiner Brille, konnte sie aber nicht finden. Genauso wie die Beruhigungstabletten! Halbblind kroch ich auf dem Boden herum, bis ich sie dann doch endlich wieder fand. Erleichtert lehnte ich mich an die Wand. Die Tabletten würde ich bestimmt auch bald irgendwo finden. „Mum?“, rief ich.

 „Ja?“, kam es zurück.

 „Ich geh‘ mal ein bisschen draußen joggen, okay?“

„Ja mach nur“, sagte meine Mutter. Ich steckte mir meine Kopfhörer in die Ohren, schloss die Tür hinter mir und lief los. In der Stadt Laufen zu gehen war eindeutig besser. Ich merkte schon, wie meine Nase wieder anfing zu jucken. Ich nieste heftig und lief weiter. Die Musik lenkte mich ein bisschen von meinen Problemen ab und nach einiger Zeit hatte ich das Gefühl, dass ich fast schon wieder glücklich war. Plötzlich lief ein Junge neben mir und bewegte die Lippen. Er war groß, hager und hatte rote, wildabstehende Haare und Sommersprossen. Ich nahm einen Kopfhörer aus einem Ohr und sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.

 „Hey, bist du neu hier, ich hab dich nämlich noch nie hier gesehen?“

 „Ja.“

 „Wie heißt du und von woher kommst du?“

 „Du, sei mir nicht böse, aber erstens verrate ich nicht jedem Wildfremden meinen Namen und woher ich komme, zweitens bin ich grad nicht so wirklich gut gelaunt und möchte gerne einfach nur Laufen, ohne dass mir 100000 Fragen gestellt werden!“ Und mit diesen Worten lief ich etwas schneller, doch der Typ ließ sich nicht abhängen.

 „Hör zu, wenn du es nicht magst, wenn dir jemand viele Fragen stellt, dann lass ich es.“

 Ich antwortete nicht. Der Typ regte mich irgendwie auf. Ich hatte jetzt echt keinen Nerv für jemanden, der mich zulaberte.

 „Komm schon! Ok ich fang an: Ich heiße Paul Niedermayer, wohne hier in der Nähe und laufe hier jeden Tag. Wir können ja vielleicht öfters zusammen laufen oder?“ Ich stöhnte.

 „Ja, okay.“ Er grinste mich an.

 „Und? Willst du mir jetzt sagen wie du heißt?“

 „Salome“, sagte ich widerwillig. Lange liefen wir schweigend nebeneinander her. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass er mich wieder angrinste.

 „Was ist?“, fragte ich genervt.

 „Nichts, nichts“, murmelte er immer noch grinsend.

 „Hörst du jetzt mal auf mich anzugrinsen?!“

„Sorry, ich hör jetzt auf.“ Ich wusste nicht wieso, aber plötzlich musste ich lachen. Paul sah aus wie ein Fragezeichen auf zwei Beinen. Das brachte mich noch mehr zum Lachen. Es war kindisch und überhaupt nicht passend, aber dieser Junge brachte mich tatsächlich nach viele Wochen, in denen ich nicht gelacht hatte, zum Lachen.

 „In welche Klasse gehst du?“

 „Zehnte und du?“

 „Ich auch! Vielleicht kommen wir in die Selbe Klasse, es gibt nämlich nur ein Schule in der Gegend.“ Ich lächelte ihn an. „Des wäre natürlich toll.“ Er erwiderte mein Lächeln. Schnaufend hielten wir an und setzten uns nebeneinander auf eine Bank. Ich schweifte meinen Gedanken nach und mein Lächeln verschwand. Paul sah mich Ernst an.

 „Du wolltest gar nicht hier her kommen, oder?“ Ich seufzte.

 „Ja…“

 „ Tut mir Leid, Salome“, murmelte Paul und griff nach meiner Hand. Das war zu nah. Ruckartig sprang ich auf und fing wieder an zu joggen.

 „Salome!“, rief Paul hinter mir her. „Es tut mir Leid! Bitte warte!“ Ich blieb stehen und senkte den Kopf. „Sorry, es liegt nicht an dir.“ Nach einiger Zeit sagte er: „Ich bin auch nicht hier geboren, also kann ich verstehen, was du gerade durchmachst.“ Ich starrte auf den Boden und starrte mit dem Fuß. „Nein, das weißt du nicht.“ Ich sah auf und merkte, dass er Tränen in den Augen hatte. Bestürzt nahm ich seine Hand. „Willst du darüber reden?“

 „Willst du?“, entgegnete er. „Nein.“

 

„ Ich auch nicht.“ Vielleicht verstand er mich ja wirklich ein bisschen. Ich klammerte mich an die Hoffnung, dass ich ihm später alles anvertrauen könnte und er mich verstehen würde, aber im Moment vertraute ich ihm noch nicht genug.

 

 

Rückblick

„Frau Rogers! Reißen sie sich zusammen! Es sind nur noch zwanzig  Minuten!“, schreit Herr Mai, unser Chemielehrer mich an. Eigentlich ist es mir total egal, ob er mich mag oder nicht, ich bin in Chemie eh grottenschlecht, aber ich laufe trotzdem total rot an. Eine sehr schlechte Eigenschaft von mir. Meine Nachbarin Meike unterdrückt ein Lachen. Ich kann sie nicht leiden. Sie ist so ein eingebildetes Stück! Sie denkt alle mögen sie und sie wäre die Tollste. Das stimmt leider auch zum Teil. Fast alle mögen sie, mit Außname ich, aber  toll ist sie auf keinen Fall. Ich weiß nicht, was sie sich eigentlich denkt. Sie kann ja wohl nicht erwarten, dass wir beste Freunde sind nach all dem, was sie gemacht hat. Angefangen hat alles in der fünften Klasse. Sie war am ersten Tag zehn Minuten zu spät in die Klasse stolziert und hatte sich auf den freien Platz neben mich fallen gelassen. Sie hatte abartig nach Parfüm gestunken, hatte ein bauchfreies Top, die kürzeste Hose die ich je gesehen hatte und hochhackige Schuhe angehabt. Was für ne‘ Tusse, hatte ich gedacht und es hatte gestimmt. Alle Jungen waren auf sie abgefahren und die Mädchen hatten sie auch alle toll gefunden, auch Hailey. Ich kannte Hailey seit der ersten Klasse und war wirklich enttäuscht und verletzt gewesen, als diese Meikes Namen statt meinem auf den Zettel für die Wunschsitzpartnerin geschrieben hatte.  Ich selbst kam neben Mike, der mich total ignorierte. Meike hatte alle gegen mich angestiftet und hatte Hailey dazu gebracht mit Edding ganz groß auf meinen Tisch „Schlampe“ zu schreiben. Diese Ausdrückt war ich nicht gewohnt gewesen und ich brach in Tränen aus und rannte auf die Toilette. Dort hatte ich dann eine Viertelstunde gesessen und mir die Augen aus dem Kopf geheult, bis meine Lehrerin an die Kabine klopfte und mich ermahnte, wieder in die Klasse zu kommen. Ich erzählte ihr alles und wollte ihr die Schrift auf meinem Tisch zeigen, aber als wir ins Klassenzimmer kamen, war die Schrift weg. Ich hatte mit offenem Mund dagestanden und hatte anschließend Meike angebrüllt, weil ich genau gewusst hatte, dass sie es gewesen war, aber sie leugnete es. Daraufhin hatte ich eine Strafarbeit bekommen und hatte kein Wort mehr mit Hailey geredet. Schließlich hatte Meike Hailey abserviert und hatte eine neue beste Freundin gefunden. Daraufhin war Hailey wieder angekrochen gekommen und ich hatte ihr auch noch verziehen. Aber das war noch nicht alles gewesen. Sie hatte gewusst, dass ich damals auf meinen Freund Pablo stand. Also machte sie sich an ihn ran, hatte ihn schamlos ausgenutzt  und er war auch noch darauf hereingefallen! Ich schüttle die Erinnerung ab und sehe Meike an. Sie lächelt mich mit diesem hinterlistigen Blick an. Alle glauben, dass sie nicht mehr so ist wie früher, aber ich weiß, dass sie sich kein Stück gebessert hat. Wie kann man nur so naiv sein und denken sie ist nett geworden. Menschen ändern sich nicht! Warum will das keiner kapieren?! Trotzdem lächele ich Meike ein wenig an und bin wie immer. Nett aber distanziert. Sie will mich um den Finger wickeln, dieses kleine Miststück!  Der Punkt ist, ich glaube nicht an das Gute in Menschen. Das habe ich oft genug erfahren. Das ist auch der Grund, dass ich bis vor einem Jahr noch spindeldürr und blass gewesen bin. Ich bin fest davon überzeugt, dass in uns allen eine böse Seite steckt. Und ich bin eher nicht so der Typ, der Leuten verzeiht. Ich tue es, aber verzeihen tue ich ihnen nie richtig, ich tue nur so. Ich warte immer auf den nächsten Fehler von ihnen, damit ich mich schlecht fühle, wenn ich die Freundschaft beende. Der Einzigen, der ich (glaube ich) richtig verziehen habe, ist Hailey. Sie ist schließlich meine beste Freundin und ich kann mit ihr über alles reden. Ich fühle mich schlecht, weil ich so nachtragend bin, jeder macht Fehler und irgendwann werde ich die zweite Chance auch brauchen. Ich bin gespannt, wer sie mir geben wird. „Wollen wir eigentlich mal was machen?“, fragt Meike schleimig. In meinem Kopf rattert es. Was soll ich jetzt bitteschön sagen? Ach so was ich noch vergessen habe, ich habe noch eine Macke. Ich bin sehr schlecht in die Wahrheit sagen. Ich kann nicht mal Leuten die Wahrheit sagen, die ich über alles hasse. Ich winde mich immer heraus. Ich bin in der Zwickmühle. Ich will ihr zeigen, dass sie mir egal ist, aber auch nett sein, damit sie nicht wieder so einen Mist macht. Da habe ich echt keinen Bock drauf! Verdammt! Wenn ich jetzt ja sage, dann denkt sie, dass ich sie mag und das ist ein Punkt für sie und wenn ich jetzt nein sage, fängt sie wieder an alle gegen mich aufzuhetzen. Ich tue erst mal so, als habe ich sie nicht gehört, aber der funktioniert bei ihr leider nicht. „Hallo? Salome? Hast du mich gehört? Wollen wir uns mal treffen?“ Gott ist die aufdringlich! „Ich hab in den nächsten Wochen keine Zeit. Ich hab voll viel zu tun.“ „Achso…“ Den Rest der Stunde redet sie nicht mehr mit mir. 1:0 für mich! Ich lache sie in Gedanken aus, weil jetzt merkt sie endlich, dass nicht jeder seine Termine für sie verschiebt. Sollte ihr mal ne Lehre sein, so eingebildet wie die ist. Sie hat ein viel zu großes Selbstbewusstsein! 

Kapitel 3

Hailey

Ich saß auf meinem Bett und zog mir mehrere Filme rein. Ich hatte schon Unmengen Chips und Schokolade gegessen. Wenn ich traurig war aß ich immer so viel Süßigkeiten und bereute es danach. Ich hatte mal gelesen, dass in Schokolade Glückshormone drin waren, aber es fühlte sich nicht wirklich so an. Von dem Film bekam ich fast nichts mit. Ab und zu wurde mal ein Mann von Wölfen abgeschlachtet und ein Wolf von den Männern. Nein, das konnte ich nicht anschauen! Ich schaltete schnell aus und suchte den nächsten Film heraus. „Borat“. Der Film war so ekelhaft, dass er schon wieder lustig war. Früher hatte ich mich immer weggeworfen vor Lachen, doch nun sah ich einfach nur ausdruckslos zu. Ich musste mich irgendwie anders ablenken. Ich steckte die Kopfhörer in meine Ohren, drehte die Musik auf und fing an zu Tanzen. Es war einfach das Einzigste, was mich ablenkte. Als ich irgendwann total verschwitzt und erschöpft auf den Boden sank, wünschte ich mir, wie schon so oft, jemand Anderer zu sein. Ich wollte nicht Hailey sein, sondern zum Beispiel Brooke. Sie war Jemand, der nie irgendwas falsch machte. Sie war beliebt und total hübsch. Ich war unglaublich neidisch auf sie, sie war so perfekt und ich war es ganz bestimmt nicht. Ich war spindeldürr, hatte kurze schwarze Haare, die mich jünger aussehen ließen und mehrere Ohrpiercings. Mir gefielen sie, aber Manchen nicht. Ich wusste, dass es mir total egal sein sollte, aber das war es mir nicht. Ich machte einen auf stark und weinte bei nichts. Alle hielten mich für die „Starke“ und die „Coole“, aber in meinem Inneren sah es anders aus. Ich war schon immer unglücklich gewesen und nein das lag nicht an der Pubertät, wie meine Eltern es meinten. Nein, ganz sicher nicht. Ich würde irgendwann ein Mal depressiv werden und dann würden meine Eltern mal sehen, dass ich nicht nur Aufmerksamkeit brauchte. Wütend schlug ich mit der Faust auf den Boden. Der Schmerz schoss sofort durch meinen Arm und ich schrie auf. Vielleicht hatte ich wirklich ein Aufmerksamkeitsproblem…Aber eigentlich ja nicht, da verhielt man sich doch anders….Ich verzog das Gesicht. Wieder hatten es meine Eltern geschafft, dass ich mich schlecht fühlte. Dicke Tränen tropften von meinem Gesicht auf den Boden. Der Schmerz zerriss mir gefühlt fast das Herz. Nun war Salome auch noch weg und ich hatte wieder keinen. Naja Jemanden hatte ich ja schon, aber naja….

Es gab natürlich noch eine Möglichkeit. Ich konnte mit meinem großen Bruder reden. Ich schnappte mir meine Handtasche und machte mich auf den Weg ins Piercingstudio. „Hey Schwesterchen, was darfs diesmal sein?“, grinste Kyle.

 „Eigentlich nichts. Ich wollte mit dir reden, hast du grad Zeit?“

 „Boa du, tut mir leid, aber ich muss mich um meine Kunden kümmern, ich hab danach aber Zeit. Haben sie schon wieder irgendetwas gemacht?“

„Ja, sie denken, ich habe ein Aufmerksamkeitsproblem…“

„Was für n‘ Stuss!“, regte sich Kyle auf. „Verstehst du jetzt, warum ich weggezogen bin, als ich achtzehn war?“

„Ja, aber wie konntest du mich allein zurücklassen?“, ich schluckte die Tränen herunter. Kyle zog mich in eine Umarmung.

 „Es tut mir Leid, wirklich! Aber ich hatte das gleiche Problem mit unseren Eltern!“

 „Ja… Ach komm, scheiß drauf, mach mir einen Lippenpiercing bitte!“ Kyle lachte. „Das ist meine Schwester! Da werden sich unsere Eltern aber freuen. Ich freue mich schon auf den Anruf heute Abend.“ Er zwinkerte mir zu.

 „Ich bin sechszehn, ich darf selber entscheiden, was ich mache und was nicht!“

 „Ich hab auch nichts Anderes behauptet. Also das Geschwafel am Anfang kennst du ja schon, also mach ichs kurz. Jeden Tag desinfiziere. Kuhtipp mit dem Mittel einsprühen und die Kruste entfernen, dann Piercing hin und her schieben und anschließend nochmal die Kruste entfernen und das nach jedem Essen. Der Piercing wird dann nach etwa vier bis sechs Wochen verheilt sein Also setzt dich hier hin und denk an was Schönes.“ Er desinfizierte die Stelle und malte einen Punkt unter die Lippe. „So okay?“

„Ja.“ Er holte einen Stecker aus dem kleinen Schränkchen und eine Nadel. Ich presste die Augen fest zusammen und wartete. Es gab Leute, denen so etwas nicht Weh tat, aber ich gehörte definitiv nicht dazu. „Bereit?“ fragte Kyle. „Bereit!“ antwortete ich gepresst. Er hob die Nadel und bohrte sie einen Millimeter unter der Lippe in die Haut. Es fühlte sich an, als stände meine Haut in Flammen. Ich ballte die Fäuste und wartete bis Kyle sie wieder herausholte und den Stecker einsetzte. Mir war ein bisschen schwindelig, aber das lenkte mich wenigstens ab. „Alles okay?“

 „Jaja, alles gut!“ Kyle klopfte mir auf die Schulter und sah auf die Uhr. „Ich mach wegen dir heute mal früher den Landen dicht, dann kannst du mir alles erzählen!“ Ich lächelte leicht.

 „Ich bitte dich aber um einen gefallen! Bitte, bitte hass mich nicht dafür! Ich brauche jemandem, dem ich es erzählen kann und denk bitte nicht schlecht von mir! Los versprich es!“

 „Ich verspreche es,“ sagte Kyle leicht beunruhigt. Wir gingen aus seinem Laden und er schloss die Tür ab und steckte den Schlüssel in seine Tasche. Wir setzten uns im Park auf eine Bank und ich erzählte ihm alles.

„Krass!“, rief Kyle und starrte mich entsetzt an. „Ich weiß auch nicht mehr ganz genau, wie es wirklich war!“ Kyle schwieg und vermied es mich anzusehen. Dann stand er auf und ging weg. „Kyle!“, flüsterte ich. „Kyle!!“ „KYLE! BITTE ICH HABE NUR NOCH DICH!“ brüllte ich und fing wahnsinnig an zu heulen. Es schüttelte mich. „Bitte…“ flüsterte ich und rollte mich auf dem Boden zusammen. Ich hatte noch Hoffnung, dass Kyle zurückkommen würde, aber er kam nicht wieder. Ich weinte noch sehr lange und legte mich dann auf die Bank und wickelte mich in meine Jacke. Es wurde langsam kälter und es windete ziemlich stark. „Auch n‘ Schluck?“ fragte jemand. Ich setzte mich auf und strich mir die Haare aus dem Gesicht. Vor mir stand ein Mann. Er war nicht viel älter als ich und sah ziemlich fertig aus. Seine Kleider waren schmutzig und er stank nach Alkohol. Seine Haare waren zerstrubbelt und er hielt mir eine Bierflasche hin. „Wieso nicht. Danke.“ Ich nahm die Flasche in die Hand und nahm einen kräftigen Schluck. Es schmeckte bitter und ich schüttelte mich. Der Junge grinste mich schief an. „Was machste denn hier?“

 „Ich will nicht drüber reden…“ antwortete ich erschöpft. Seufzend setzte er sich neben mich. „Ich hab ziemlich viel Scheiße gebaut und meine Eltern wollen nichts mehr mit mir zu tun haben.“

„High five! Geht mir genauso.“ Ich schluckte hart. Der Junge verzog die Lippen. „Weißt du was das ungerechteste  ist? Du machst einen einzigen Fehler und dadurch wird dein ganzes Leben verändert und du lebst auf der Straße und hast keine Freunde und keine Familie mehr.“ Er lachte ironisch. „Ja, so ist es bei mir auch. Der Einzige, dem ich vertraut hatte, dass er mich nicht verlässt, ist mein Bruder. Aber heute hat er das Gegenteil bewiesen.“ Es war schon komisch so mit jemandem über seine Probleme zu sprechen, den ich gar nicht kannte, aber er schien mich zu verstehen und das tröstete mich. „Ich weiß nicht wo ich hin soll, ich dachte ich könnte bei meinem Bruder wohnen. Ich will nicht zurück nach Hause!“ Ich fing an zu weinen. Unbeholfen hob der Junge den Arm und ließ ihn wieder sinken. „Nicht weinen, wir sind ja jetzt zu Zweit! Ich bin übrigens Clemens und du?“

 „Hailey“, murmelte ich.

 „Schöner Name!“ Ich lächelte schwach. Mein Handy klingelte. Auf dem Display stand Mum, aber ich drückte das Gespräch weg, damit sie wusste, dass ich nicht mit ihr reden wollte, aber dass es mir gut ging und ich nicht irgendwo tot in einer Ecke lag.

 

 

 

Mike

Ich lag auf meinem Bett und versank gerade zu in Selbstmitleid. Mike, warum passiert so etwas immer nur dir? Fragte ich mich. Ich sah aus dem Fenster. Gegenüber unserem Haus war ein Spielplatz, auf dem glückliche Kinder hin- und herwuselten wie Ameisen auf einem fallengelassenen Lutscher. Früher als ich noch so klein wie diese Kinder gewesen war, hatte ich mir immer gewünscht groß zu sein, aber dieser Mist war nicht das, was ich mir vorgestellt hatte. Ich drehte mich um und lief in die Küche um mir einen Kaffee zu machen. Als ich am Zimmer meiner Schwester vorbeilief hörte ich ein Schluchzen. Vorsichtig klopfte ich an und öffnete leise die Tür. „Helli, alles in Ordnung mit dir?“ fragte ich bestürzt. Meine kleine Schwester Helena lag auf ihrem Bett und weinte leise vor sich hin. Ihr Gesicht war schon ganz angeschwollen und sah mich verzweifelt an. „Hey!“ sagte ich leise. „Helli, du weißt dass du mir alles sagen kannst oder?“ Ich liebte meine Schwester über Alles. Alle sagten, dass sie mir total ähnlich sah mit den blonden Haaren und dem markanten Gesicht, dem kantigen Kinn und den großen Augen. Ich nahm ihre Füße, legte sie in meinen Schoß und massierte sie. Sie sah mir in die Augen und versuchte die Tränen zurückzuhalten. Ihre Haare standen vom Kopf ab und ich strich sie glatt. Sie lächelte mich an.

„Ich weiß nicht. Es interessiert dich doch gar nicht, du bist nur zu nett um es zu sagen.“

 „Das stimmt nicht und das weißt du genau. Ich erzähle dir doch auch alles!“

 „Es tut mir Leid, aber dieses Mal kann ich es dir nicht erzählen. Vielleicht in ein paar Wochen.“ Ich seufzte. „Wirklich? Und ich kann dich nicht dazu bringen, es mir zu sagen?“

„Nein. Könntest du jetzt vielleicht gehen?“ Der Schmerz durchzuckte mich. Sie musste wohl den Schmerz in meinen Augen gesehen haben, denn sie öffnete den Mund um etwas zu sagen, doch ich lies sie nicht zu Wort kommen.

„Ist okay, ich gehe schon.“ Enttäuscht drehte ich mich um. „Mike…!“

 „Ich verstehe das doch!“ sagte ich und versuchte ein Lächeln, was mir auch fast gelang. Dann schloss ich die Tür hinter mir. Sie erzählt mir fast nie etwas! Ich war enttäuscht, aber dann fiel mir ein, dass ich ihr etwas sehr wichtiges auch verschwiegen hatte. Sofort überkam mich das schlechte Gewissen. Ich betete jeden Tag, dass meine Eltern es nicht erfahren würden. Salome hatte alle Schuld auf sich genommen ich war so feige gewesen und war ihr in den Rücken gefallen, hatte alles bestätigt. Aber das hatten alle getan. Auch Hailey und Finn. Tolle Freunde waren wir! Mal ganz ehrlich! Ich ging in die Küche und fischte ein Joghurt aus dem Kühlschrank. Ich hielt in einiger Entfernung  von mir weg und zog vorsichtig den Deckel ab. Es spritze ein bisschen, aber nichts auf meine Kleider. Zufrieden zog ich einen Löffel aus der Schublade, kratze den Joghurt vom Deckel und fing langsam an den Joghurt auszulöffeln. Schlagartig fiel es mir ein. Ich war mir nicht sicher ob ich mit meiner Vermutung richtig lag, aber wenn es stimmte, konnte ich mir ausmalen, was passieren würde. Ich ließ den Joghurt stehen und stürzte ins Zimmer meiner Schwester. Sie war erst zwölf Jahre alt, aber man konnte ja nie wissen, auf was für Ideen sie kommen könnte. Sie stand vor dem Spiegel und betrachtete bitterlich weinend ihre Arme. „Helena!“ keuchte ich. Ihre Arme waren mit blauen Flecken übersäht. Sie kreischte auf, als sie mich sah und streifte ihre Jacke schnell wieder über. Geschockt starrten wir uns einige Minuten an. „Helli, wer hat dir das angetan? Ich werde sofort zur Polizei gehen und das melden!“ Mit jedem Wort wurde ihr Gesicht grauer und aschfahler so wie ein verblasstes schwarz- weiß Foto. Angst flackerte in ihren wunderschönen braunen Augen auf.

„Nein!“ keuchte sie. „Bitte, bitte Mikei, bitte nicht!“ Die Tränen strömten über ihr Gesicht und ergossen sich auf dem fliederfarbenen Flauschteppich. „Ich liebe ihn!“

 „Das kann doch nicht dein Ernst sein! Er hat dich vergewaltigt!“ rief ich mit einem grollen in der Stimme. „Willst du etwa so enden wie Marcus?!“ Sie weinte noch stärker. „Erinnere mich jetzt nicht an Marcus!“ Ich nahm ihre Hände in meine. „Du musst ihn verklagen! Er ist krank! Stell dir mal vor was er mit anderen Mädchen machen wird und dann wird sich ganz sicher jemand genau das Gleiche antun wie Marcus sich. Willst du das etwa?“

„Nein, natürlich nicht!“

„Na also!“ sagte ich wieder sanfter. Ich zog sie in eine Umarmung und hielt sie ganz fest. „Du sagst Mum und Dad nichts wenn sie wieder zurückkommen oder?“ flüsterte sie während ihre Tränen mein Hemd durchnässten. Ich zögerte. Sie löste sich aus der Umarmung. „Bitte!“ flehte sie. „Ich dachte du willst ihn aufhalten?!“

„Bitte, jeder baut mal Mist!“ Wie war! „Aber doch nicht so etwas Schlimmes!“ Doch. Ich bohrte meine Fingernägel in meine Handflächen und versuchte so den Schmerz zu stoppen, der mich wie eine Welle überrollte.

 

 

Rückblick

Lachen. Finn läuft den Gang entlang. Neben ihm zwei Tussen, die ihn anhimmeln, als sei er ein Gott. Peinlich! Wie kann einem so etwas nicht peinlich sein?! Aber er genießt es. Es nervt mich wahnsinnig und bricht mir das Herz. Er ist so ein Macho! Aber ein süßer Macho. Ich verstehe es nicht, normalerweise bin ich nicht so jemand, der nur auf das Aussehen achtet, sondern auf den Charakter, aber bei ihm ist es irgendwie etwas anderes. Verzweifelt lasse ich meinen Kopf gegen, das Schließfach schlagen. „Hey, hast du was geraucht oder warum bist du so komisch drauf?“ Finn läuft an mir vorbei und schaut mich verachtend und mitleidig an. Die Wut durchströmt mich, aber gleichzeitig breitet sich ein warmes Gefühl in meiner Brust aus. Er hat mit mir gesprochen! Er hat tatsächlich mit mir gesprochen! Ich kann nicht antworten, aber ich merke wie ich knallrot anlief. Oh Scheiße!!

 „Na du kleines Rotlicht“, lacht Hailey. Dann sieht sie Finn mit den Tussen und ihr Lächelt ist sofort wie weggewischt.

 „Was für ein Macho!“ seufzt sie. Misstrauisch mustere ich sie. Sie zieht eine Augenbraue hoch. „Was ist los?“ Ich kneife die Augen zu Schlitzen zusammen und öffne sie dann wieder. „Nichts, nichts…“sage ich langsam. Nervös lacht sie auf. Ich ließ die Zweifel bei Seite und  beisse herzhaft in mein Käse- Salami Sandwitch. Hailey verzieht angewidert das Gesicht. „Kannst du des vielleicht nicht gerade vor mir essen?“ Ich verdrehe die Augen und packe mein Sandwitch wieder weg. „Jetzt hab dich mal nicht so!“ Hailey wirft die Arme in Luft. „Mein Gott ich bin halt Vegetarier und ich mach grad Diät!“ Langsam ziehe ich die Chips aus meinem Schließfach und stecke mir gleich zwei Stück in den Mund und grinse sie frech an. „Also hast du Lust nach der Schule mit zu mir zu kommen?“  

„Okay, wenn es sein muss.“ Begeisterung pur, ja klar.

„Warum bist denn du so schlecht gelaunt?“ frage ich beleidigt. Hailey zuckt die Schultern und beißt in ihren Zwieback. Ich grunze verächtlich. „Also wenn du nicht willst, dann tu dir keinen Zwang an!“ Ich werfe die Tür für das Schließfach zu und stampfe weg. Auf der Hälfte des Weges holt sie mich ein. „Sorry, ich würd gern mit zu dir kommen!“  Ich ziehe eine Augenbraue hoch. „Ja, klar. Ja jetzt sag mal! Wieso bist du so komisch?!“ frage ich vorwurfsvoll.

„Ist nichts, ich hab nur schlecht geschlafen!“ Ja klar.

 

Hailey

„Was wollt ihr denn hier?“ motzte uns ein alter Mann an. „Hier ist kein Platz für euch Gesindel!“ Er schnaupte. „So jung und schon ein Penner!“ murmelte er.

 „Verpissen sie sich einfach, wir wollen schlafen!“ schrie Clemens den Mann an. „Und jetzt auch noch frech werden!“ So schnell er konnte rannte der Mann mit seinem Krückstock in der Hand auf uns zu. Clemens legte einen Arm um mich.

„Bleiben sie weg, verdammt noch mal!“ Der Mann riss die blutunterlaufenen Augen auf und schrie dann: „Warum rede ich eigentlich mit so einem Pack wie euch? Ein Tipp gebe ich euch: Wascht euch mal, ihr stinkt bis zum Himmel!“

„Haben sie nichts Besseres zu tun, als uns zu beschimpfen?“ knurrte Clemens. Der Mann schüttelte den Kopf und eilte davon. Unauffällig versuchte ich unter meinen Achseln zu riechen. Clemens grinste. „Keine Sorge das einzige wonach du stinkst, ist Alkohol.“ Ich versuchte die Tränen zu unterdrücken. Ein bitterer Geschmack lag mir auf der Zunge. „Komm, wir gehen lieber wo anders hin, bevor der nochmal zurückkommt.“ Ich nickte. Dann machten wir uns auf den Weg. Meine Beine fühlten sich an wie Wackelpudding und ich fühlte mich total ausgelaugt. Wieso gehst du einfach mit ihm mit? Fragte ich mich. Der könnte sonst was mit dir vorhaben! Aber aus irgendeinem Grund vertraute ich Clemens. Vielleicht lag es daran, dass er ungefähr das Gleiche durchgemacht hatte wie ich. Seine Familie und seine Freunde hatten ihn verlassen, genauso wie meine. Mein Magen stülpte sich um und ich erbrach mich auf Clemens Schuhen. Besorgt sah er mich an.

 „Tut mir Leid!“

 „Das ist doch kein Problem! Ist alles okay oder sollen wir lieber eine Pause machen?“

 „Ja, das wäre gut.“ Ich ließ mich auf das Gras fallen.

 „Ich hab so Hunger!“ jammerte Clemens. Ich steckte meine Hand in die Hosentasche und beförderte einen fünf Euroschein heraus.

„Ich hol uns kurz bei der Imbissbude da drüben, etwas zum Essen ok?“ Clemens Augen leuchteten. Ich drehte mich um und kaufte uns jeweils zwei Sandwitches. Die Kassiererin reichte sie mir ohne ein Wort und ich bezahlte stumm. Wir bissen beide herzhaft in unsere Brötchen. Danach schliefen wir einfach an Ort und Stelle ein.

„Hailey!“ Ich blinzelte in die Sonne und setzte mich auf. Meine Mutter und zwei Polizisten standen über mir und sahen mich halb wütend halb erleichtert an.

„Hailey was machst du denn hier? UND WAS HAST DU MIT DEINER LIPPE GEMACHT?!“

 „Hey Mum.“ Antwortete ich und sah mich um. Clemens war verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Hatte ich ihn mir etwa nur eingebildet? Meine Mutter zerrte mich auf die Füße und schrie mich an: „Was hast du dir nur dabei gedacht?! Nach was riechst du denn? Ist das etwa Bier?!“ Ich verdrehte die Augen. Dann hatte ich mir Clemens doch nicht eingebildet! Ich überlegte. Was für eine Lüge konnte ich ihr andrehen? „Nein, also doch ich stinke nach Bier, aber das kommt davon, dass ich ausversehen eine Flasche umgeworfen habe und dann halt voll reingelatscht bin.“ Oje! Was Schlechteres hätte mir nicht einfallen können oder? Ich betete im  Stillen, dass meine Mutter sie nicht durchschauen würde.

 „Na gut! Jetzt kommst du aber sofort mit nach Hause!“

 

Rückblick

„Hailey! Warte, bitte!“

„Nein! Verschwinde und lass mich in Ruhe!“

„Aber ich liebe dich!“

„Ich dich aber nicht!“

Kapitel 4

Salome

Ich saß am Fenster und weinte bitterlich. Ich wollte nicht hier wohnen!

Paul und ich hatten uns für morgen wieder zum Laufen verabredet. Ich war mir nicht sicher, ob ich kommen sollte, ehrlich gesagt, wollte ich einfach nur allein sein, aber wiederrum freute ich mich, dass jemand meine Nähe suchte. Er hatte gesagt, dass er auch nicht hierher ziehen wollte, aber dass er sich nun ziemlich gut eingelebt hatte. Wieso war er hier her gezogen? Einfach nur so oder war irgendetwas Schlimmes in seinem Leben passiert, so wie bei mir?

Ich nahm mein Handy und loggte mich in Facebook ein. Keine Nachricht, war ja klar. Alle waren froh, dass ich endlich weg war. Ich blinzelte und schon rollten wieder Tränen über meine Wangen. Ich hätte mich einfach nicht erpressen lassen sollen! Aber ich hatte doch keine Wahl gehabt! Wütend ballte ich die Fäuste und schlug das Fenster ein. Es klirrte und die Splitter flogen nur so umher. Verwundert sah ich auf meine Hand. Millionen klitzekleine Splitter hatten sich in meine Haut gebohrt und an den Stellen, trat Blut hervor. Ich hätte erwartet, dass es Weh tat, aber tat es nicht. Die Tür flog auf und mein Vater stand in der Tür. Er stürzte zu mir und schrie auf, als er die Splitter in meiner Hand und meinem Arm sah. Es blutete jetzt immer heftiger und mir wurde schlecht. Mein Vater riss mir mein Handy aus der Hand und rief den Notarzt an. „Dad.“ Sagte ich schwach. „Verzeihst du mir?“ Doch ich hörte seine Antwort nicht mehr, weil ich umkippte und alles schwarz wurde.

„Sie hat Glück gehabt.“ Hörte ich eine gedämpfte Stimme. Ich öffnete die Augen einen Spalt breit. Ich lag in einem kleinen weißen Zimmer. Um meinen Arm ist ein dicker Verband gewickelt. Mein Vater redet mit dem Arzt und sieht sehr besorgt aus. „Sie hätte sterben können, sie hat sich die Pulsadern aufgeschlitzt. Gab es Anzeichen dafür, dass sie einen Selbstmord begehen wollte?“ Äh Selbstmord? Klar ich hatte die Scheibe eingeschlagen, aber aus Wut und nicht weil ich mich selbst umbringen wollte. Ich hatte über die Folgen gar nicht nachgedacht. Ich könnte mich vermutlich nie umbringen, auch wenn ich noch so unglücklich war.

Mein Vater zögerte, ich wusste, was er dachte und bekam eine Gänsehaut. „Nein, eigentlich nicht.“ Mehr bekam ich nicht mit, weil ich schon wieder in Ohnmacht fiel. Als ich erneut aufwachte, lag ich in einem gelben Zimmer. Neben meinem, stand noch ein anderes Bett. In ihm saß ein kleines Kind und malte ein Mandala an. Verzückt betrachtete es sein Kunstwerk und hielt es mir dann hin. Zögernd streckte ich die Hand aus und nahm das Bild entgegen. „Das ist aber schön!“ sagte ich.

Das kleine Mädchen wurde rot und lächelte mich schüchtern an. Sollte ich ihr das Bild wieder zurückgeben oder hatte sie es mir geschenkt. Ziemlich überfordert sah ich zwischen dem Mädchen und dem Bild hin und her.

„Du kannst es behalten, wenn du willst.“ Sagte das Mädchen mit pipsiger Stimme.

„Danke, ich mag Mandalas.“

„Bitte, ich auch.“

 

 

 

 

Hailey

Ich lag in meinem Bett und war einfach nur fertig mit den Nerven. Dass ich weggerannt war, sprach wieder nur dafür, dass ich Aufmerksamkeit brauchte. Es kotze mich einfach nur an, dass ich es jeden Tag hören musste. Meine Eltern hassten mich, Kyle hasste mich und Salome hasste mich. Was hatte mein Leben eigentlich noch für einen Sinn? Ich war Schuld an Chris Tod und ich hatte Salome verraten. Ich wusste nicht wie ich damit leben sollte. Dann traf ich die Entscheidung. Ich wollte nicht mehr und ich konnte nicht mehr. Wahrscheinlich wollten die das genau. Na dann, ich würde ihnen den Gefallen tun und nichts und niemand konnte mich jetzt aufhalten.  Ich gab meiner Katze einen Kuss auf den Kopf und stand auf. Leise suchte ich meine Sachen zusammen und zog mich an. Dann schlich ich leise die Treppen hinunter und zuckte zusammen, als eine Stufe knarrte. Eingefroren wartete ich auf irgendein Geräusch und schlich erleichtert weiter, als nach mehreren Minuten verharrens nichts hörte. Ich schloss die Tür hinter mir und lief los. Die Nacht war klar und schwarz. Die eisige Luft tat mir in der Lunge weh und ich keuchte. Endlich erreichte ich die Mauer und kletterte hinauf. Die Stadt lag friedlich unter mir. Keiner hatte eine Ahnung was ich vorhatte und es kümmerte niemanden.  Ich hatte meine Eltern an diesem Abend belauscht, an dem meine Mutter mich wiedergefunden hatte. Ich hatte gehört, wie sie gesagt hatte, dass sie sich wünschte, überhaupt keine Kinder zu haben. Es hatte mir wirklich Weh getan, obwohl  ich es ja schon lange gewusst hatte. Tränen brannten in meinen Augen, wie so oft in letzter Zeit. Dies hier war der einzige Ausweg meine Qual zu beenden. Ich wickelte meine dünne Jacke fester um mich. Ich hatte blanke Angst. War das wirklich die richtige Entscheidung? Sollte ich es wirklich durchziehen?

Ich schloss die Augen und dachte an die wirklich schönen Momente in meinem Leben. Ich sah mein Leben aus der Sicht eines anderen betrachtet.

Ich sah wie ich die Augen aufschlug und lächelnd in das Mondlicht sah. Neben mir lag Kyle und grinste mich an. Ich grinste zurück. Wir saßen am Ufer eines Sees. Das Wasser  war blau und der Mond spiegelte sich in der Wasseroberfläche. „Wenn du jetzt in dem See schwimmst, wirst du zu einer wunderschönen Meerjungfrau!“ sagte Kyle lächelnd. Ich stand langsam auf und watete in den See. Das Wasser ging mir bis zur Hüfte und war irgendwie warm. Ich sah zum Mond auf, streckte die Hände in die Luft und drehte mich im Kreis. Nach einiger Zeit legte ich den Kopf schief und fragte: „Ich habe immer noch keinen Meerjungfrauenschwanz!“ Meine Unterlippe fing an zu zittern. „Du hast vielleicht keinen Schwanz, aber im Herzen bist du jetzt eine Meerjungfrau. Ich strahlte ihn an.

„Wirklich?“

„Wirklich!“

Damals war ich überzeugt davon gewesen, dass ich eine Meerjungfrau war. Ich war ein naives kleines Kind gewesen, aber ich meine, welches sieben- jährige Kind hätte das nicht geglaubt?

 

Dann sah ich mich mit fünf an der Hand meiner Mutter zerren. Sie sah mich liebevoll an. „Wir sind gleich da.“

„Aber wohin gehen wir?“ quengelte ich.

„Du wirst es gleich sehen!“

Plötzlich riss ich den Mund auf und stieß einen Juchzer aus. Mein größter Traum war damals gewesen, auf einem Pferd zu reiten. Die Schwester von meiner Mutter hatte einen Reiterhof gehabt und meine Mutter hatte mich mit dahin genommen. Ich staunte, wie schön die Pferde alle waren, aber eins faszinierte mich am meisten. Es war groß und stolz, mit einem weichen schwarzen Fell. Seine schwarze Mähne war zu dicken Zöpfen geflochten. Die Schwester meiner Mutter lachte. „Ich habe gewusst, dass das hier dir besonders gefallen würde, ihr passt zusammen wie ein Arsch und eine Hose!“ Meine Mutter stieß sie an. „Mila! Keine Kraftausdrücke in ihrer Gegenwart!“

„Jaja ist ja gut!“ lachte Mila und verdrehte die Augen.

Ich nannte den Hengst Marlon und besuchte ihn fast jeden Tag. Als ich zehn war, war er gestorben und ich hatte nichts mehr essen und trinken wollen, so traurig war ich gewesen. Ich weinte stunden- und tagelang. Ich dachte ich könnte nie wieder glücklich werden und irgendwie war ich ab diesem Tag auch nie wieder so glücklich wie früher. Meine Eltern und Kyle hatten alles versucht, sie hatten mich sogar zum Terapeuten geschickt, aber ich hatte mich geweigert mit ihm zu reden.

„Marlon“, flüsterte ich in die Stille. „Marlon, ich komme.“ Und dann sprang ich.

Kapitel 5

 Finn

Sie war weg und ich konnte sie nicht zurückholen. Ich hatte meine Chance vertan sie zu schützen. Ich stand im Regen und sah zu wie das Wasser auf meinen Haaren und Kleidern triefte. Es vergeht keine Sekunde, in der ich nicht irgendwie an dich denke. Stroposkopische Bilder ziehen in meinem Kopf vorbei. Bilder, wo du lachst und mich mit deinen traurigen Augen anlächelst, in der Hoffnung ich merke es nicht. Dass du so unglücklich bist. Und ich tue dir deinen Gefallen und tue so, als würde ich dir dein Lächeln abnehmen, aber in meinem Inneren zerbricht etwas und ich habe das Gefühl ich kann es nicht wieder füllen. Die Leere die in mir ist, wenn ich dich so sehe und weiß, dass du nie zu mir gehören wirst, ist gewaltig und ich fühle mit dir, sehe dein Leiden, die Qualen, die du ertragen musstest und das aller Schlimmste ist, dass ich ein Verräter bin. Ich kann nicht damit umgehen, ich habe noch nie zuvor so etwas gespürt, so einen Schmerz. Mein Herz weint und mein Gesicht lächelt. Ich bin ein Verräter und du weißt es nicht mal.

 

Der Anruf erreicht mich um drei Uhr morgens.

 Ich stehe in meinem Zimmer, mit dem Messer in der Hand und kann nicht glauben, was passiert ist. Ich will nicht mehr leben.  Ich weiß, dass das idiotisch klingt, aber ein Teil meines Herzens ist mit dir gestorben. Das salzige Wasser meiner Tränen durchweicht das Taschentuch, welches ich mir vor den Mund halte um den Schrei zu unterdrücken, der tief aus meinem Inneren kommt. Um den Schmerz zu stoppen. Ich falle auf die Knie und ein Schrei kommt mir, trotz des Taschentuchs, über die Lippen und ich kann nicht glauben, dass das mein Schrei ist. Ich sehe in den Spiegel und sehe jemanden anders. Sein Gesicht ist vor Schmerz verzögen und er hält sich das Messer an den Hals, bereit zuzustechen. Aber er hat nicht den Mumm dazu. Er atmet tief ein und legt das Messer weg.

In schwarzen Kleidern stehen deine Freunde und deine Familie an dem Grab, in das du gelegt wirst. Die Mutter weint und schreit. Der Mann zwingt sie, Beruhigungstabletten zu nehmen, aber sie wehrt ihn ab und schlägt nach ihm. Sie rollt sich zusammen und wiegt sich hin und her. Ich will etwas sagen, etwas sagen, damit es ihr besser geht, aber ich weiß nicht was ich sagen soll. Ich weiß nicht wie ich ihr mein Mitgefühl und meinen Schmerz zeigen soll, der mich überrollt wie eine Welle. Ich weiß nie, was ich sagen soll. Ihr Mann packt sie und umarmt sie fest. Sie brüllt und versucht, seinen Armen zu entkommen und sich hinunter zu dir zu stürzen. Ich renne hin und helfe ihm, sie fest zu halten. Ihre Tränen spritzen förmlich auf meine Kleider und ich finde nun doch die Worte. Flüstere sie ihr beruhigen zu und merke, dass sie nachlasst sich zu wehren und sich in die Arme ihres Mannes fallen lässt. Die Verwandten starren nur erschrocken, zu ihnen hinüber. Von ihnen macht keiner den Mund auf, um etwas zu sagen. Sie ziehen es vor, das Geschehen aus weiter Ferne zu beobachten. Dein Vater führt seine Frau langsam zu Auto und der Pfarrer spricht ein letztes Gebet und alle entfernen sich wieder. Ich werde wütend. Warum hast du mir das angetan? Deiner Mutter, deinem Vater? Warum? Ich greife nach einem Stock und schleudere ihn mit aller Wucht weg von mir. Der Pfarrer kommt herbeigerannt und redet beschwichtigend auf mich ein. Ich brülle ihn an und renne davon. Weg von dir und deinem toten Körper. Ich laufe und laufe bis ich fast umfalle. Keuchend mache ich Pause und stütze die Hände auf die Knie. Ein Hund kommt angelaufen und beschnuppert mich. Hinter ihm hetzt eine alte Dame hinterher. Als sie mich sieht bleibt sie erschrocken stehen. Ich hebe meinen Blick und starre ihr in die Augen. Sie sind kalt und hart, es ist nichts Warmes in ihnen zu erkennen. Ich grabe die Fingernägel in meine Handflächen bis Blut austritt. Sie weicht ein paar Schritte zurück und ich tue es ihr gleich. Dann laufen wir beide in die entgegengesetzten Richtungen davon.

Ich stehe vor deinem Grabstein  und versuche mir einzureden, dass das nur ein sehr schlechter Scherz ist. Dass du gar nicht tot bist und mich wieder mit deinen traurigen Augen anschauen wirst und ich dir sage, dass ich dich liebe wie nichts mehr auf der Welt. Aber nun werde ich es dir niemals sagen können, ich kann nur hoffen, dass du es da, wo du nun bist, mich hörst und mir verzeihst. Ich glaube nicht an so etwas, wie den Himmel, so gern ich es würde, aber ich kann es nicht. Ich glaube auch nicht, dass wir uns jemals wieder sehen werden. Der Wind fährt durch meine Haaren und ich falle auf die Knie und lege meinen Kopf auf den Boden,  in der Hoffnung, dass du mir ein Zeichen schickst, aber es kommt keins. Enttäuscht setzte ich mich auf und sehe zum Himmel. Ein Sturm raut sich zusammen, wie beim Ersten mal, als ich dich küsste. Ich bekomme eine Gänsehaut. Ich greife hinter mich nach meinem Rucksack und nehme den kleinen gelben Strauß heraus. Ja, ich weiß noch, dass deine Lieblingsfarbe gelb ist. Glaubst du, dass ich das jemals vergessen könnte? Ich lege ihn vorsichtig an die freie Stelle auf deinem Grab. Dann stehe ich auf, fülle die Gießkanne neben deinem Grab voll mit Wasser und gieße die Blumen. Dann schaue ich auf den Zettel, den du mir einst gegeben hast mit den Worten: Wenn du mich mal nicht finden kannst, wenn ich weg bin, dann fahr zu dieser Adresse, da werde ich dann auf dich warten. Wusstest du es damals schon?  Wusstest du damals schon, dass du dich einmal von der Brücke stürzen würdest? Ich würde es niemals erfahren. Genauso wenig, wie ich glücklich werden würde. Mein Traum mit einem Leben mit ihr, mit vielleicht zwei Kindern auf der Schaukel löste sich in Luft auf. Das Einzige was blieb, war eine Adresse und die Erinnerungen an sie. Ich hatte mal einen Film gesehen, in dem einer ein Gedicht geschrieben hatte. Die letzte Zeile hieß: Liebe und stirb heute Nacht. Ich bin immer noch beeindruckt von diesem Gedicht und wünsche ich hätte es selber geschrieben, aber es kommt  nun mal aus einem Film. Ich zögerte, dann schaue ich mir die Adresse nochmal an, steckte den Zettel fein säuberlich gefaltet in meine Brusttasche, steige auf mein Rad und fahre los. Ich mache erst halt, als ich bei der Adresse angekommen bin. Verwirrt schaue ich auf den Zettel und dann wieder auf den Laden. Es ist ein Piercingstudio, auf den Treppen, die zum Laden hinaufführen, sitzt ein Mann. Er hat das Gesicht in den Händen vergraben und weint leise. Ich gehe vorsichtig auf ihn zu. „Kyle?“ frage ich zögernd. Er springt auf und wischt sich mit dem Handrücken übers Gesicht. Dann streicht er seine Haare und seine Kleider glatt und faucht mich an: „Der Laden ist geschlossen! Können Sie lesen?“  Er zeigt auf das geschlossen- Schild. Er ist so um die fünfundzwanzig Jahre alt. „Hailey schickt mich.“ Entgeistert starrt er mich an. „Hailey ist tot und wer sind Sie überhaupt?“ „Ich bin ihr, naja, Freund und ich weiß sie hat mir einmal die Adresse hier gegeben und ich wusste nicht was ich machen sollte, also bin ich hier her gefahren.“ Kyle sieht mich wütend an. „Ach der bist du.“ Fragend schaue ich ihn an. „Hailey hat mir alles erzählt.“ Erschrocken sehe ich ihn an. „Ja.“ Und dann fängt er unglaublich an zu weinen. „Und…“ Er holt tief Luft. „Und dann bin ich einfach gegangen und habe sie in diesem Park allein gelassen! Es hätte ihr sonst etwas passieren können! Irgendwann bin ich zurück gerannt und dann war sie weg. Ich habe sie eine Millionen Mal angerufen, aber sie hat nicht abgenommen und jetzt ist sie tot!“ Er starrt zum Himmel auf. „WARUM?!“ Brüllt er wie ein Wahnsinniger. Mir laufen auch wieder die Tränen über die Wangen. „WIESO LÄSST DU DAS ZU?“ Brülle ich nun auch. Kyle schaut mich ruhig an. „Du hast sie geliebt, oder?“ Ich lasse den Kopf hängen. „Ja. Ja ich habe sie mehr als alles andere auf der Welt geliebt.“ Wieder übermannt mich die Wut und ich trete heftig gegen einen Container, der neben mir steht. Ich habe mich nicht mehr unter Kontrolle. Vielleicht hat sich Salome genauso gefühlt, wie ich jetzt, in der Nacht, in der alles angefangen hatte. „Komm“  , sagt Kyle. „Es ist mal wieder Zeit sich die Kante zu geben. Ich kenn ne gute Bar hier in der Nähe.“ Ich nicke stumm und ziehe mein Portemonaie aus meiner Tasche. Ich streiche liebevoll über das Bild, von dir, welches ich immer dabei habe. Dann stecke ich es wieder ein und laufe schweigend hinter Kyle her. In der Bar herrscht eine abartige Hitze. Glückliche Leute tanzen wie wild umher. Wir setzten uns an die Bar und bestellen uns eine Flasche Alkohol. Das Zeug schmeckt bitter, aber ich merke, wie meine Gedanken langsam verschwimmen und ich nehme noch einen großen Schluck. Ich höre nichts mehr, nur noch gedämpft die Musik und sehe, wie Kyle mit einem großen, bulligen Typen redet, mir ein Zeichen gibt und ihm nach draußen folgt. Ich lege meinen Kopf auf den Tisch und will einfach nur noch schlafen. Ich bin total müde. Kyle betritt wieder die Bar und öffnet seine Hand. In seiner Handfläche liegen ein Haufen Pilze. „Schau mal was ich gefunden habe!“ trällert Kyle total betrunken. „Zauberpilzchen! Nimm ein paar, dann bist du entspannter!“ meint Kyle. „Ich weiß nicht…“ „Komm schon!“ sagt er und steckt sich einige in den Mund. Zögernd greife ich zu und esse sie. Ich warte, aber ich spüre nichts. Enttäuscht greife ich wieder zur Flasche.  Ich hab keine Ahnung wie viel Zeit vergangen ist, aber plötzlich fühle ich mich wie im Traumzustand. Es fühlt sich total euphorisierend an. Die Müdigkeit umfängt mich und ich vergesse alles und schlafe ein. Mit einem Keuchen wache ich auf. Es fühlt sich an, als wären schon mehrere Stunden vergangen, aber als ich auf die Uhr schaue, stelle ich verwirrt fest, dass ich nur fünf Minuten geschlafen habe. Verwirrt starre  ich auf den leeren Sitzplatz neben mir. Er ist leer. Kyle ist weg. Ich schaue auf meine Hände und merke, dass sie blau sind. Hä?! Muss ich das jetzt verstehen? Ich sehe den Barkeeper an. Er sieht leicht grün im Gesicht aus und grinst mich an. „Na haste n schönen Trip?“ Trip?! Neben mir hockt ein Kerl und grinst mich mit seinen gelben Zähnen an. Ich stehe auf und versuche torkelnd zur Tür zu kommen, aber der Kerl folgt mir. Er erinnert mich irgendwie an einen Zombie. Ich bekomme Angst. Was will er von mir?! Ich renne und endlich schaffe ich es aus der Tür. Ich renne gehetzt auf die Straße. Der Typ rennt mir hinterher. Ich bekomme eine Panikattacke  und schreie: „Geh weg! Lass mich in Ruhe!!“ Er grinst mich schief an, winkt und verpufft. Erleichtert gehe ich weiter. Da kommst du blutüberströmt mit einem Jagdmesser auf mich zu. Die Hälfte deiner Zähne fehlen und du sieht aus wie die Figur aus „Fluch 2“ Ich fange an unkontrolliert zu zittern. Meine Zähne schlagen aufeinander. Ich weiche ein paar Schritte zurück. So ein schreckliches Bild habe ich noch nie zuvor gesehen.  Als ich mich umdrehe stehe ich plötzlich in einem Wald. Die Blätter sind seltsam rosa und die Stämme gelb. Plötzlich kommen von allen Seiten auf mich zu. Der Typ mit den gelben Zähnen ist unter ihnen und du. Sie haben alle möglichen Waffen dabei: Messer, Pistolen, Morgensterne. „Weg! WEG MIT EUCH! Geht weg und zwar sofort!!“ Schweiß perlt mir den Rücken hinunter und ich merke wie ich wieder anfange zu stottern. „G-g-g-geht je-je-jetzt so-fort w-w-w-weg!!“ So ein Mist! Ich hatte so lange gebraucht um mir das abzugewöhnen! Da sehe ich ihn. Mathias. Er ist das, was man einen Kranken nennt. Er ist vier Jahre älter als ich und hatte mich immer schikaniert. In der fünften Klasse hatte er mich mit ein paar Kumpels, als ich abends durch den Wald ging, halb totgeschlagen. Warum weiß ich bis heute nicht. Natürlich war er wieder mit einer Lüge durchgekommen und hatte es so dargestellt, als sei ich der Lügner und wollte ihm alles nur anhängen, weil er so beliebt gewesen war. Das war der Grund, weswegen ich noch mehr wie vorher gestottert hatte. Er hatte die ganze Schule gegen mich aufgebracht, auch die Lehrer und meine Freunde. Als ich dann in der sechsten Klasse die Schule gewechselt hatte, hatte es zum Glück wieder aufgehört, aber das Jahr an der Schule, war der blanke Horror gewesen. Die nackte Panik überkommt mich. Er hat schon wieder alle gegen mich aufgebracht und jetzt wollen sie mich töten, schießt mir durch den Kopf. Ich hebe die Hände und stottere: „I-i-i-ich e-e-er-g-ge-ge-gebe m-m-m-ich!“ Mathias schüttelt nur lachend den Kopf. „Nein, ein zweites Mal entkommst du mir nicht!“ Auch die anderen lachen. Du schaust mich an, als sei ich eine Kakalake. Du hattest  mich niemals geliebt, du hattest mich immer mit Mathias betrogen und wahrscheinlich auch mit anderen! Der Schmerz durchzuckt mich. Ich renne so schnell ich kann und renne über eine Straße. Sie ist ungewöhnlich breit. Ich habe das Gefühl, dass sie gar nicht endet. Ich sehe Leute schreien, die sich vor meinen Augen in Mathias verwandeln. Er ist überall. In weiter Ferne, sehe ich die Scheinwerfer eines Autos. Schwitzend versuche ich ans andere Ende der Straße zu gelangen, das Auto ist schließlich noch weit genug entfernt, doch da werde ich ganz plötzlich zu Boden geworfen. Ich bin total verwirrt ich knalle gegen eine Windschutzscheibe, aber ich kapiere nicht wieso, denn das Auto ist doch noch weit entfernt. Weiter komme ich allerdings nicht, weil um mich herum plötzlich alles Schwarz wird.

Kapitel 6


Mike

Ich war mit der Situation voll überfordert. Ich hatte keine Ahnung was ich machen sollte b.z.w. nicht machen sollte. Ich saß auf meinem Bett und zerraufte mir die Haare. Eigentlich lag es klar auf der Hand, dass ich die Polizei oder unsere Eltern informieren musste. Ich durfte auf keinen Fall zulassen, dass sie sich das Selbe antat wie Marcus sich. Es war ein Schock für uns alle gewesen, als er sich den goldenen Schuss gegeben hatte. Ich wusste bis heute nicht, warum er es getan hatte. Er hatte uns die ganze Zeit etwas vorgespielt und das tat mir weh. Ich verstand nicht, wieso er mir es nicht erzählt hatte. Er dachte vielleicht, dass ich noch zu jung dafür sei, aber ich war nur zwei Jahre jünger als er. Außerdem hatte ich ihm auch anvertraut, dass ich schwul war. Es war eine riesige Überwindung für mich gewesen, aber wir, Helena, Marcus und ich, hatten einen so guten Draht zueinander, dass wir uns alles anvertrauten, eigentlich. Ich atmete mehrere Male ein und aus. Ich durfte keinen weiteren Fehler begehen.

Erschrocken zuckte ich zusammen als mein Handy die Musik von Dracula abspielte. Diesen Klingelton sollte ich auf jeden Fall ändern. Auf dem Display stand Finn.

„Hey Finn, was ist los?“ fragte ich und griff nach meiner Tasse Kaffee. Schluchzten am Ende der Leitung. Hä? War das wirklich Finn? Ich hatte ihn nämlich noch nie weinen sehen.

„Finn, bist du das? Was ist los??“ Stille, dann fing das Weinen wieder an.

„Hailey!“ schrie Finn, ich konnte seine Qualen förmlich durch den Hörer spüren.

„Was? Was ist mit Hailey?“ fragte ich. Wahrscheinlich hatte sie ihm wieder einen Korb gegeben, aber deswegen würde er doch nicht derartig heulen, oder?

„Hailey ist…!“

„HAILEY IST WAS?!“ schrie ich ihn nervös an. „Reiß dich jetzt mal zusammen und sag mir jetzt was mit Hailey los ist, verdammt noch mal!!“

„Hailey ist tot, Mann!“ schrie Finn und fing wieder an zu weinen. Ich verschluckte mich derartig an meinem Kaffee, das ich die Tasse über den gesamten Nachttisch schüttete und keine Luft mehr bekam. Prustend rang ich nach Atem. Dann keuchte ich während mir die Tränen in die Augen stiegen: „W-w-was?! Hör auf, des ist nicht lustig, lass die Scheiße, wirklich Mann, hör auf!“

„Hört es sich so an, als würde ich dich auf den Arm nehmen?!“ Mit jedem Wort wurde Finn lauter. Ich schluckte schwer und war sprachlos.

„Wo bist du grad?“ fragte ich schnell.

„Bin zu Hause, wieso?“

„Also du- ähm – versteh mich jetzt nicht falsch, aber du tust dir doch nichts an oder?“ fragte ich nervös.

„Mike, ich weiß nicht, ob ich das ohne sie aushalte! Ich liebe sie so sehr!“ Mir stiegen Tränen in die Augen. Ich hätte so gerne gewollt, dass das Fabrizio zu mir gesagt hätte, dass er nicht ohne mich leben könnte. Ich schüttelte den Kopf. Hailey hatte sich getötet und ich trauerte Fabrizio hinterher.

„Doch Finn, du wirst drüber hinwegkommen!“ Irgendwann. Vielleicht. Wahrscheinlich nie. Oh Gott! Ich hatte noch nie verstanden, was Finn an Hailey sah. Okay, ja ich war schwul, aber trotzdem! Eigentlich hatte ich sie nie wirklich leiden können. Sie war so die, die jeder mochte und so etwas hasste ich einfach. Okay! Vielleicht war ich neidisch, weil ich nicht so wahnsinnig beliebt war. Wütend trat ich gegen das Schreibtischbein und knurrte wütend.

 

Salome

„Salome?!“ Paul starrte mich mit offenem Mund an. Ich sah auf meinen dickverbundenen Arm herunter und zuckte die Schultern.

„‘N kleines Missgeschick.“ Paul lachte ironisch auf. „Natürlich!“

„Ist so!“ murrte ich, stampfte auf die Haustür zu und versuchte den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Leider ohne Erfolg. Ich stocherte lange verzweifelt herum, dann warf ich den Schlüssel wütend auf dem Boden und stampfte, die ein kleines Kind, mit dem Fuß auf. „Verdammt ey!“

Paul kam locker grinsend  auf mich zu und streichelte mit seinem Zeigefinger über meine Wange. Sein Finger war weder kühl noch warm, einfach genau richtig. Die Härchen auf meinen Armen stellten sich auf und ich merkte, dass sein Lächeln- und sei es noch so überheblich – etwas tief in meinem Inneren berührte. Ich sah ihm in die Augen und er mir. Seine Pupille weitete sich und dann sah er weg, genauso wie ich. Er räusperte sich, dann nahm er mir den Schlüssel aus der Hand, steckte ihn ins Schloss und drehte ihn herum. Er stand versucht lässig an der Tür, aber seine Augen flitzten unruhig und nervös umher. Er strich sich die roten kurzen Haare aus dem Gesicht und räusperte sich. „Willst du einen Kaffee, ich brauch unbedingt einen. Ich hab die letzte Nacht nicht geschlafen.“ Er zeigte auf mich und hob die Augenbrauen. „Wegen dir, Mädel!“ Ach du Scheiße, bitte kein Kaffee! Ach komm schon, er will was mit dir machen!

„Ja gern.“ Sagte ich und biss mir auf die Zunge. Paul schloss wieder die Tür und wir liefen los. Wir beiden kleinen Cafe ankamen setzten wir uns an einen runden kleinen Glastisch. Es duftete herrlich nach Kuchen und Schokolade. Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Du bist viel zu dick für ihn, sagte die pipsige Stimme in meinem Kopf. Verdammt!

„was wollt ihr?!“, fragte die Bedienung unfreundlich. Sie hatte kurze knallrot gefärbte Haare und unechte lila lackierte Fingernägel. Paul drehte sich zu mir und sah mich fragend an. „Kuchen?“

Oh Gott ja bitte! „Nein, danke nur ein Milchkaffee bitte.“

„Okay dann zwei Milchkaffees und einen Himbeerkuchen.“

Die Bedienung notierte alles auf ihrem kleinen Notizblock und drehte sich um. Ich war schon etwas angenervt. Wieso hatte er sich ausgerechnet einen Himbeerkuchen bestellt?! Meinen Lieblingskuchen! Ich seufzte resigniert, abnehmen war echt nicht einfach. „Also jetzt erzähl mal, dein Vater hat gesagt, dass du ein Fenster eingeschlagen hast. Stimmt das?“

Ich senkte den Kopf, damit er die Tränen in meinen Augen nicht sah.

„Ich bin ausgerutscht“, sagte ich tonlos.

„Wirklich?“

„Ja!“

„Hm okay und da steckt nichts anderes dahinter?“

Ich zuckte die Schultern. Paul zog die Augenbrauen bis zum Ansatz hoch.

„Hör zu du- !“ fing er an, wurde aber von der Bedienung unterbrochen, die uns die Sachen auf den Tisch warf. Ich sah ihn mit dem Blick oh-mein-Gott-was-ist-denn-die-für-eine an und er zuckte die Schultern.

Als sie wieder gegangen war, setzte Paul wieder an mich zu bearbeiten.

„Hör zu, ich weiß was du vorhast und das ist nicht richtig!“

Ich hob die Tasse an meinen Mund und nippte an der ekelhaftriechenden Brühe um meine Antwort herauszuzögern und dann setzte meineWut ein. Ganz plötzlich überkam sie mich. Glühend heiß lief sie durch meinen Körper. Ich knallte die Tasse zurück auf den Tisch, sodass es ordentlich schepperte, beugte mich zu ihm herüber und funkelte ihn an.

„Es interessiert mich nicht was du denkst oder was du für richtig hälst! Und halt dich aus meinem Leben heraus! Du hast keine Ahnung von meinem Leben, also gib mir keine Tipps!“

Und mit diesen Worten sprang ich auf, stieß die Tür auf und rannte die Straße entlang. Vorbei an den gaffenden Passanten.

„Salome!“

Paul packte mich am Arm und riss mich zurück. Er keuchte und sah mich bestürzt an.

„Bitte, bitte, ich kann dir helfen!“

„Ich brauche deine Hilfe nicht, willst du das nicht verstehen?“

„Wieso bist du so? Ich versuche doch dich zu verstehen!“

„Ich sags dir jetzt noch einmal! Lass mich los und halt dich aus meinem Leben raus!“ knurrte ich.

Er zog die Hand so schnell zurück als hätte er sich verbrannt und in seinen Augen stand namenloses Entsetzten.

Ich drehte mich um und lief weiter. Er folge mir nicht, das merkte ich, aber ich drehte mich nicht um, kein einziges Mal.

Als ich endlich vor meiner Haustür stand und meinen Schlüssel aus der Tasche fingerte hörte ich meine Eltern streiten. Ich strengte mich wahnsinnig an um nicht ein Wort zu verpassen, aber ich bekam trotzdem nur Wortfetzten mit.

„Ich hab Angst Martin! Was wenn…?“

„Ich… und das weißt du! Ich… Therapie…Psychologe, sie wird sich um….!“

„Wenn sie es nicht will, wenn….ausraustet und…?“

Die Stimme meiner Mutter klang hysterisch und ich hörte dass sie weinte.

Zitternd hob ich meinen Finger an den Klingelknopf und drückte. Es wurde still, dann hörte ich Schritte im Gang und meine Mutter öffnete zögernd die Tür. Wir starrten uns Minuten an und dann drängte ich mich an ihr vorbei ins Haus.

„Salome“, begann mein Vater ehe ich mich überhaupt gesetzt hatte. „Du weißt doch noch, was der Richter beschlossen hat?“

„Als könnte ich das vergessen.“

„Also wir haben eine Therapeutin entdeckt. Sie ist sehr nett und sie kann dir helfen.“ Ich starrte meine Eltern an. Sie hielten beide die Luft an und auf der Stirn meines Vaters standen Schweißperlen. Es machte mich wütend, aber es machte mir auch irgendwie Angst.

„Okay.“ Sie atmeten erleichtert auf und meine Mutter legte vorsichtig wieder nach langer Zeit die Arme um mich und ich lies mich zögerlich in die Umarmung fallen.

 

 

Rückblick

Genüsslich spieße ich mit der Gabel ein Stück Würstchen auf und schiebe es mir in den Mund. Wir sitzen in der kleinen Schulcafeteria an einem kleinen, rotbemalten Tisch.   Luna stochert angewidert in ihrem Essen herum und sieht mir stirnrunzelnd beim Essen zu.

Ich versuche sie zu ignorieren, lege aber dann nach einiger Zeit die Kabel auf den Teller und sage kauend: „Was ist?“

„Wie kannst du das nur essen?!“ Genervt starre ich mehrere Sekunden auf meinen Teller und seufze.

„Es ist okay, dass du Vegetarier bist, aber mir schmeckt das, sorry!“

„Ist dir klar wie das gemacht wurde?“ Okay sie hat es geschafft. Wütend schiebe ich meinen Teller weg, denn der Appetit ist mir jetzt gänzlich vergangen. Um das Tema nicht weiter verfolgen zu müssen, zeige ich mit der Gabel auf mein Chemieheft.

„Kapierst du das?“

Luna streicht sich die langen, braunen Locken aus der Stirn und zieht die Stirn kraus.

„Sehe ich so aus?“ Ich grinse sie an.

„Nee.“

„Na also!“

Ich klappe die erste Seite auf und sehe mir stirnrunzelnd meine Notizen an.

„Wie soll ich bloß die Arbeit nächsten Mittwoch schaffen?“

Luna zuckt die Schultern.

„Das ist mir eigentlich voll egal!“ sagt sie, doch ich höre ihr gar nicht mehr zu, denn ich erspähe Finn am Eingang. Als er an mir vorbeiläuft, versuche ich ihn nicht anzustarren, doch er schupst mit seiner Hand mein Glas Cola um und alles breitet sich über meiner Hose auf. Ich springe auf und versuche meine Hose mit Servietten abzuwischen. Finn lacht schallend und läuft weiter, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Meine Unterlippe fängt an zu zittern und ich beiße mir auf meine Zunge, um nicht zu weinen. Luna schüttelt ärgerlich den Kopf.

„Wow ist der scheiße, ich kann nicht verstehen, dass Hailey mit dem zusammen ist!“

Die Wut und die schmerzhafte Eifersucht  loderten in meinem Herzen auf..

Ich keuche auf und kreische: „Hailey ist was?!“

Luna reißt die Augen auf und schlägt sich die Hand vor den Mund. „Oh mein Gott, tut mir Leid! Ich habe ganz vergessen…!“

Ich malme mit meinem Kiefer und stehe auf.

„Ihr könnt mich mal!“ Ich lache auf.

„Ich glaub das nicht!“ Mit den Worten stehe ich auf, bringe mein Essen mit und laufe direkt Hailey in die Arme.

„Hey!“ Sie zieht mich in eine Umarmung und drückt mich fest. Ich nehme sie grob am Arm und ziehe sie nach draußen.

„Aua! Du tust mir weh! Was ist bloß los mit dir?“

Ich lasse sie los und fauche: „Rat mal, was ich grade eben von Luna erfahren habe. Ganz lustige Geschichte!“

Hailey schluckt schwer und stottert nervös: „Was-was?“

„Du bist mit Finn zusammen?!“ schreie ich.

Sie dreht sich um und will gehen.

„Hiergeblieben!“

„Du denkst nur an dich!“

„Wie bitte?! Ich habe dir erzählt, dass ich ihn liebe und du trampelst auf meinen Gefühlen rum, indem du ihn mir wegschnappst! Was bist du eigentlich für eine scheiß Freundin?!“

„Du redest nur über dich selber, was ich denke interessiert dich gar nicht! Wenn es dich interessieren würde, hättest du gewusst, dass ich mich auch für ihn interessiere!“

Ich trete geschockt einen Schritt zurück. Das hätte ich nun wirklich nicht erwartet. Das schlechte Gewissen nagt an mir, denn sie hat wirklich nicht unrecht. Wir haben in den letzten Wochen wirklich nur über mich geredet. Jetzt tut es mir Leid, dass ich sie so angeschrieben habe. Ich beiße mir auf die Lippe. Ich will aber nicht zugeben, dass sie Recht hat. Ich weiß, dass hört sich jetzt doof an, aber wenn man sich so zum Affen macht und dann nicht noch Recht hast, dann ist das echt peinlich.

Ich ringe mit mir und sehe Hailey dann wieder an.

„Du hast Recht, tut mir Leid“, sage ich leise. Sie schweigt, wendet sich ab und geht.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Salome

„Wieso vertraust du mir nicht? Wieso redest du nicht mit mir?“

Tausend Fragen und eine Antwort, doch ich sagte nichts und sah mich nur um. Das Haus meiner Therapeutin war kalt und grau. Alles war perfekt, auf ihrem Schreibtisch lag nur ein Stift und in der Vase auf dem kleinen Schränkchen standen perfekte, rote Rosen. Keine einzige war auch nur ansatzweise welk und vertrocknet. Außerdem befand sich in dem kleinen Zimmer noch ein weißes Sofa und an den Wänden hingen zwei Bilder. Auf dem einen war eine Landschaft zu entdecken. Im Vordergrund befand sich ein Fluss und ein Wald und im Hintergrund nahm die Sonne gerade ihren Lauf.

Auf dem zweiten befand sich nur ein Stuhl. Ich hatte noch nie verstanden, wieso Leute Bilder von Stühlen, Früchten oder sonstigen Dingen in ihren Häusern hängen hatten.

Ich atmete tief durch und sah der Therapeutin in die Augen. Ich fühlte mich unwohl hier und ich vertraute ihr auch nicht. Ein altes Bücherregal mit vielen alten Büchern oder zum Beispiel einem Teppich hätte mir schon einmal ein sichereres Gefühl gegeben.

Ihre kalten blauen Augen blickten mich teilnahmslos an und ich entschloss mich dazu ihr nichts zu verraten, ihr keinen Einblick in mein Leben zu verschaffen. Ich würde ihr keinen Zugang zu meinem Schmerz und Hass geben.

„Tut mir Leid, ich kann das nicht.“ Ich nahm meine Tasche und stand auf.

„Ich kann dich nicht zwingen zu bleiben, aber ich kann dir helfen, wenn du bleibst. Es ist schließlich mein Job.“

In meinem Kopf hörte ich die Stimme meiner Mutter: „Was wenn sie es nicht will, was ist wenn sie ausrastet?“

Die Therapeutin bemerkte mein Zögern und fing sofort an, wild darauf loszureden.

„Was ist damals passiert? Möchtest du es mir erzählen?“ Sie legte ihre Hand auf meine. Das war zu viel. Ruckartig sprang ich auf und zog meine Hand weg. Das Gefühl der Berührung verursachte mir ein unangenehmes Kribbeln unter der Haut. Genauso wie in jener Nacht.

Meine Hände zitterten und Schweiß bildete sich an meinem Haaransatz.

„Danke, aber ich komme allein zurecht!“ Und mit diesen Worten drehte ich mich um und marschierte aus dem Haus.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Finn

Langsam schlug ich die Augen auf und wurde sofort von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt.

Ich stöhnte. Neben meinem linken Ohr piepte es schrill  und verursachte mir Kopfschmerzen. Es hörte sich an wie mein Wecker, aber  wieso bitte piepte er? Ich taste mit geschlossenen Augen danach, könnte aber mein Nachtschränkchen nicht finden.

„Er ist wach!“ rief eine erleichterte Stimme.

Verwirrt schlug ich die Augen auf und erschrak tierisch. Über mir stand mein Vater und überall wuselten Krankenschwestern hin und her. Ich wollte mich aufsetzten, aber da setzten die Schmerzen richtig ein. Mein Kopf platzte förmlich und meine Augen waren so angeschwollen, dass ich sie nicht weiter, als einen Spalt öffnen konnte.

Ich sah an mir herunter und wurde fast wieder ohnmächtig. Meine beiden Beine waren vergibst und ein bisschen komisch verdreht und mein Bauch war von blutgetränkten Bändern umwickelt.

„Spiegel!“ schrie ich meinen Vater leicht hysterisch an und wedelte mit meiner Hand vor seinem Gesicht herum. Er zögerte, doch dann nahm er langsam einen Spiegel und hielt ihn mir vor das Gesicht. Ich war mehrere Minuten wie gelähmt und tastete vorsichtig mein Gesicht ab. Meine Nase war gebrochen, meine Lippen waren geschwollen, ich hatte ein blaues Auge und um meinen Kopf wand sich ein Verband. Wieso war ich nicht gestorben? Wieso konnte ich nicht einfach bei Hailey sein?

Hailey. Wenn ich auf einem Stuhl gesessen hätte, wäre ich vermutlich rückwärts hinunter gefallen, aber nun fiel ich einfach wieder zurück ins Bett und blieb geschockt wie ein Brett liegen.

„Finn?“ frage mein Vater besorgt. „Das heilt doch alles wieder!“

„Wunden kann man heilen, Traurigkeit nicht“, sagte ich leise und emotionslos.

„Finn…!“

„Nein, geh jetzt bitte.“ Ich sah den Schmerz in den Augen von meinem Vater. Er hatte meiner Mutter Weh getan, er hatte es verdient, den Schmerz.

„Geh!“ sagte ich jetzt lauter und wendete den Blick ab, damit er nicht sah, dass ich Tränen in den Augen hatte.

Er stand langsam auf und sah mich lange an. Dann drehte er sich um und schloss die Tür hinter sich.

Ich fuhr mir mit den Händen über das Gesicht und stöhnte.

 

 

Kapitel 7

 

Mike

Ich wurde von der lauten Stimme von Iggy Azalea geweckt, die „Bounce“ sang.

Ich schoss hoch und stieß mir den Kopf an der Schräge von meinem Zimmer. Mit geschlossenen Augen rieb ich mir meinen Kopf. Die Musik war zu laut und klingelte in meinen Ohren.

Angestrengt versuchte ich die Augen zu öffnen, bekam sie aber nur einen Spalt auf.

Verdammt, ich war so müde!

Genervt öffnete ich das rechte Auge wieder einen Spalt, griff nach meinem Handy, schaltete den Wecker ab und warf einen Blick auf den Wecker. 6:15 Uhr, oh mein Gott!

Ab heute fing die Schule als wieder an.

Der ganze Stress und die Angst, durchzufallen , fing wieder an.

Ich fiel zurück in mein Bett und machte die Augen wieder zu.

„Applaus, Applaus, für deine Worte.

Mein Herz geht auf, wenn du lachst.

Applaus, Applaus, für deine Art mich zu begeistern,

hör‘ niemals damit auf.“

Och nein! Jetzt war ich echt fast komplett wach.

Mit einem tiefen Seufzer griff ich wieder nach meinem Handy und suchte skeptisch nach etwas zum anziehen.

Verdammt, was sollte ich anziehen? Nervös zappelte ich herum und wühlte in meinem Kleiderschrank herum.

Zuletzt entschied ich mich für einen roten Abercrombie und Fitch Pullover und eine enge Jeans und nahm ein Joghurt aus meinem Minikühlschrank. Nach dem Essen, ging ich in das Badezimmer, schmierte mir Haarwachs in die Haare und putze mir die Zähne.

Nach einem letzten Blick in den Spiegel, nahm ich meinen Schulranzen und ging an die Bushaltestelle.

Es war verdammt kalt und ich bibberte vor Kälte. Als der Bus endlich kam, war ich fast erfroren. Dankbar stieg ich ein und zeigte meine Regiokarte vor.

„Was hast du denn an?“ Hörte ich eine Stimme rufen und senkte den Blick. „Das sieht so schwul aus, Alter!“ Ich merkte, wie ich langsam rot wurde und ging stur geradeaus nach hinten. Alle lachten und ich hätte am liebsten angefangen zu heulen.

„Hört auf, ihr Arschlöcher!“

Ich sah auf. Finn war aufgestanden und tötete alle mit seinen Blicken. Sofort wurde es still. Dankbar sah ich ihn an, er grinste schief und ich wandte den Kopf ab. Verdammt, ich mochte diesen Kerl, viel zu sehr.

 

 

Salome

 

Die Ferien waren vorbei und heute war mein erster Tag in der neuen Schule. Ich war so unglaublich nervös, dass ich schon anfing zu schwitzen, als ich noch im Bett lag.

Hör auf, Salome! Sie wissen ja nicht, was vorgefallen ist. Außerdem sind alle bestimmt nett! Ich atmete einmal laut durch und rappelte mich auf. Alles war geplant. Ich schlüpfte schnell in meine ausgewählten Kleider und wuselte hysterisch hin und her.

Die letzten Ferienwochen waren der reine Horror gewesen. Meine Eltern hatten mich erneut dazu gezwungen, zu der komischen Psychologin zu gehen. Ich hatte die Stunden schweigend verbracht und mir die ganze Zeit ihr gelaber angehört.

„Hast du es getan? Du kannst es mir sagen!“

Ich verdrehte die Augen und biss mir auf die Lippe, damit ich nicht anfing zu heulen und mein Make up zerstörte. Ich zerknüllte ein Taschentuch und tupfte unter meinen Augen herum. Beruhig dich!

Dann setzte ich mich an den Küchentisch und verdrückte zwei Brote. Zuletzt checkte ich noch mein Auftreten und hüpfte ins Auto. Mein Vater fuhr mich schweigend in die Schule, nickte mir zu und fuhr ohne ein Wort wieder weg. Bekümmert lies ich den Kopf hängen, überlegte es mir dann aber anders. Wegen ihm würde ich mir nicht den Tag versauen. Das hier war meine zweite Chance, meine Chance alles zu vergessen und besser zu machen. Hier kannte mich keiner und keiner kannte meine Vorgeschichte.

Ich atmete tief durch und betrachtete die Schule eingehend.

Sie war in zwei Teile aufgeteilt. Der linke Teil war das Gymnasium und mit grüner und brauner Farbe gestrichen. Ziemlich hässlich, aber besser als meine alte Schule, die eher einem Gefängnis, als einer Schule ähnelte.

Ich unterdrückte einen kleinen Schluchzer. Auch wenn ich froh war, dass ich noch eine Chance bekam, wusste ich, tief in meinem Inneren, dass ich nicht einfach alles vergessen konnte. Möglicherweise niemals. Außerdem vermisste ich alles. Gut, nicht unbedingt alles, aber mein Zuhause, mein Zimmer, mit dem Blick auf die Stadt und  meine alten Freunde.

Mit einem Blick auf die Uhr, stellte ich erschrocken fest, dass ich schon spät dran war. Ich eilte zum Sekretariat und wurde dort von meinem neuen Klassenlehrer abgeholt. Er war ungefähr Mitte vierzig, hatte blonde Haare und trug einen Desineranzug von Hugo Boss. Ein bisschen übertrieben, wie ich fand, aber gut.

„Bist du Salome Roggers?“ Fragte er freundlich und hielt mir die Hand hin.

„Ja“, sagte ich schüchtern und ergriff seine Hand.

„Ich bin Herr Marx. Willkommen in der Klasse!“ Er  lächelte mir zu und führte mich zum Klassenzimmer. Lautes Gebrüll und Lachen kamen mir entgegen, als ich vorsichtig das Klassenzimmer betrat. Sofort wurde alles still. Mein Herz setzte einen Schlag aus und ich fing an zu schwitzen.

„Hallo Klasse! Ich bin euer neue Klassenlehrer, Herr Marx. Ein Paar von euch kennen mich bestimmt schon und das ist die Neue, sie heißt Salome Roggers. Seid bitte nett zu ihr!“

Ich versuchte ein Lächeln aufzusetzten, was mir aber missglückte. Alle starrten mich an und ich nestelte nervös an meinem Ärmel herum. Zwei Mädchen mit schwarzen Haaren tuschelten und fingen dann an zu kichern. Das war ja nicht auszuhalten! Mein Blick strich suchend über die Klasse, bis mein Blick an ihm hängen blieb. Paul. Wir hatten uns nach unserem Streit zum Glück wieder vertragen und er lächelte mir beruhigend zu und hob den Daumen in die Luft. Ich grinste.

„Da hinten neben Paul ist noch Platz. Setz dich doch dahin“, schlug Herr Marx vor. Ich nickte und machte mich auf den Weg nach hinten. Er kam mir so unendlich lang vor und ich stolperte ein Mal, das fing ja schon mal gut an! Wie in Zeitlupe setzte ich mich neben Paul und starrte sehr konzentriert an die Tafel und versuchte die teilweise neugierigen und teilweise auch misstrauischen Blicke zu ignorieren. Ein Mädchen starrte mich betont auffällig an. Die hatte eine lange Hakennase, pinkgefärbte Haare und  einen mindestens zwei Zentimeter großen Tunnel. Ich starrte zurück und sie kniff die Augen böse zusammen. Ich merkte, wie ich rot wurde. Okay, schon einmal eine Feindin gefunden, tolle Leistung Salome!

In der Pause stand ich allein auf dem Pausenhof. Ich hasste das. Man hatte das Gefühl, als würden alle einen anstarren, ich schüttelte mich.

„Salome?“ Jemand tippte mir auf die Schulter. Ich wirbelte herum und schickte ein dankbares Gebet gen Himmel, denn es war Paul. Ich ließ die Luft laut aus meinen Lungen strömen und grinste.

„Oh, Gott sei Dank!“

„Ähm, ich wollte dir Silas und Mella vorstellen“, sagte Paul und trat einen Schritt zur Seite. Hinter ihm standen ein Berg von einem Jungen und ein großes, schlankes Mädchen. Der Junge war groß, muskelig, hatte etwas längere, braune Haaren und eine breite Nase, die die Hälfte seines Gesichts verdeckte. Das Mädchen sah aus wie eine Barbie. Sie hatte ein schmales Gesicht mit markanten Wangenknochen und großen grünen Augen. Die blonden Haare lockten sich bis zur Taille.

Beide starrten mich misstrauisch an und ich zwang mich zu einem unechten Lächeln. Paul stand daneben und grinste peinlich berührt.

Die Pause war sowieso zum Scheitern verurteilt gewesen. Mella  entpupte sich als Obertusse, die die ganze Zeit nur an Paul klebte. Dieser sprang total darauf an und das nervte mich tierisch. Wie konnte er auf so eine nur hereinfallen?  Als es wieder klingelte stöhnte ich leise in mich hinein und wir tuckerten zurück zu unserem Klassenzimmer.

 

Rückblick:

„Komm  auf die Party, bitte!“ Luna zerrt an meiner Hand und klimpert übertrieben mit den Wimpern.

„Wird Hailey auch da sein?“, frage ich gelangweilt und beiße wütend die Zähne aufeinander.

Sie verdreht die Augen.

„Nein, aber ihr solltet euch echt wieder vertragen!“

„Ja! Genau! Ernsthaft, sie hat mir Finn ausgespannt und mich die ganze Zeit belogen und ich habe mich sogar noch entschuldigt und sie hat sie nicht angenommen!“

„Ja! Mein Gott, jetzt beruhig dich mal wieder!“ Luna wirft die Arme in die Luft.

„Bist du jetzt auf ihrer Seite?!“, rufe ich mit einem Grollen in der Stimme.

„Salome ganz ehrlich, du brauchst mich jetzt gar nicht so blöd anzumachen!“ Sie schnappt sich ihr Tasche und dreht sich um.

Geht’s eigentlich noch?

„Warte!“ Ich greife nach ihrer Hand und ziehe sie zurück. „Sorry und ja ich komme mit!“

Ein breites, selbstgefälliges Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus.

„Super, dann bis neun, ich freu mich.“ Sie wirft mir einen Handkuss zu geht weg. Ich verdrehe die Augen, schließe mein Fahrrad auf und mache mich auf den Weg nach Hause.

 

Ich stehe vor meinem kleinen Spiegel in meinem Zimmer und betrachte mich kritisch. Ich werde nie gegen Hailey ankommen. Sie ist dünn, groß und einfach perfekt. Ich dagegen bin klein und etwas fester.  Ich verkneife mir einen Schluchzer und ziehe nochmal meinen schwarzen Eyeliner nach. Dann werfe ich einen Blick auf meine rote Icewatch und renne hektisch los. Das ich auch nie rechtzeitig losfahren kann! Unpünktlichkeit liegt mir irgendwie im Blut.

Ich springe auf mein Fahrrad und werfe erst einmal den Korb mit meiner Tasche herunter.

„Scheiße!“, fluche ich und springe wieder ab um den Korb wieder auf das Fahrrad zu wuchten. Als ich dann zehn Minuten später total rot, keuchend  und verschwitzt, aber  gerade noch rechtzeitig ankomme, bin ich völlig fertig.

„Neihein!“, heule ich und fächle mir mit beiden Händen so gut es geht Luft zu. Es ist schwül und kein Wind weht, wie soll man da bitte abkühlen?  Nach einer Weile geht es mir schon ein bisschen besser  und ich klingele an der Haustür.

„Na endlich!“, begrüßt mich Luna. Bitte umarme mich nicht!, denke ich noch so, als sie mich schon umarmt. Sie sieht mich leicht irritiert an, sagt aber glücklicherweise kein Wort über mein Schwitzen.

„Komm rein, gut siehst du aus!“

Ich hebe eine Augenbraue und folge ihr ins Haus. Ist klar.

Laute Musik und Biergeruch schlagen über mir zusammen und ich verziehe angewidert mein Gesicht.

„Darfst du heute überhaupt eine Party schmeißen?“

Luna grinst schelmisch.

„Nö, aber da meine Eltern dieses Wochenende ja weg sind, mache ich es einfach.“

Ich nicke einsichtig und erstarre. Finn, so gut aussehend wie immer, läuft mit Hailey im Arm herum. Mir wird schlecht. Tränen steigen mir in die Augen und ich drehe mich um und laufe wieder zur Tür, als er Haileys Gesicht an sich zieht und sie küsst. Mein Herz fühlt sich an, als hätte Hailey es gerade gewaltsam mit beiden Händen herausgeritten, auf den Boden geworfen und drauf herumgetreten. Ich hätte gerade wirklich Lust Hailey meine Faust zu spühren zu lassen, aber ich brauche die Kraft um die Haustür aufzureißen.

„Salome, ich...!“ Weiter kommt Luna nicht, denn ich brülle sie in voller Lautstärke an.

„Was ist das? WAS IST DAS??“ Ich deute mit dem Finger auf den verwirrt schauenden Finn und auf die wütende Hailey.

„Komm runter, Salome! Bitte bleib, es tut mir leid, aber sollte ich Hailey einfach nicht einladen?“

„Ähm, ja?!“

„Hör zu, nur weil du und Hailey Stress habt, muss das nicht heißen, dass ich mich für eine von euch entscheiden muss! Bitte, tu es für mich!“

Okay, okay beruhig dich und führ dich hier nicht auf, wie eine wildgewordene Furie! , sagt eine leise Stimme in meinem Gehirn und ich gehorche, obwohl ich am liebsten heulen würde.

Ich atme geräuschvoll aus und folge dann Luna erneut, ohne allerdings Hailey auch nur eines Blickes zu würdigen. Luna reicht mir eine Bierflasche, ich nehme einen Schluck und stelle danach die geöffnete Bierflasche auf den Tisch.

Das war der Moment in dem alles den Bach herunter ging.

 

 

 

Finn

Die Narben von meinem Unfall verheilten langsam wieder, aber was zurückblieb, war der Schmerz und die Furcht. Ich hatte Angst, sehr große sogar, obwohl ich mir das nicht eingestehen wollte. Ich wusste nicht wovor und wieso, aber eine eiskalte Faust hatte sich um mein Herz geschlossen und drückte von Tag zu Tag fester zu. Vielleicht lag es immer noch an den Pilzen, aber die Wahrscheinlichkeit war gleich null, vielleicht lag es aber auch daran, dass mir Mike komisch vorkam. Er sah mich immer mit diesem komischen Blick an, den ich nicht zuordnen konnte.

Ich trat auf die verlassene Straße und schüttelte mich. Der Nebel vom Vormittag hatte sich verdichtet und hüllte mich ein, wie ein feutes Leintuch. Fröstelnd gähnte ich und die bunten Lichter der Stadt verschwammen vor meinen Augen. Was war los mit Mike? Ich hatte es schon früher bemerkt, aber das unangenehme Gefühl breitete sich von Tag zu Tag aus. Hatte er Chris umgebracht? Aber wieso sollte er das tun? Mike, der seit seiner Kindheit Vegetarier war, weil ihm die Tiere so leid taten. Mike, der keiner Fliege etwas zu leide tun konnte, der nicht einmal eine Ameise töten konnte. Nein, das war einfach unmöglich. Dann blieben noch Hailey und Salome. Salome. Abfällig verzog ich den Mund und schüttelte den Kopf. Hailey hatte mir alles erzählt und ich kam damit absolut nicht klar. Ich war mir nicht sicher mit Salome, aber ich wollte, dass sie an allem Schuld war. Ob sie überhaupt wusste, was mit Hailey passiert war? Was sie angerichtet hatte? Nein, wahrscheinlich nicht, aber ich war der letzte der Lust hatte mit ihr Kontakt aufzunehmen. Sollte Mike das doch machen! Der Waldboden knirschte unter meinen Füßen und ein leichter Nieselregen setzte ein , als ich den Grillplatz erreichte. Laute Musik und Geschrei schlugen wie eine Welle über mir zusammen. Die Kopfschmerzen meldeten sich wieder. Ich legte meine Finger an meine Schläfen und fing an sie zu massieren.

,,Hi Finniboy!" Mike begrüßte mich mit einer freundschaftlichen Umarmung. Der Schock ließ mir kalten Schweiß den Rücken herunterrieseln. Finniboy? Umarmung? Mike war überhaupt kein Typ für Umarmungen gewesen. Umarmungen hatte er stets mit einem gequälten Gesichtsausdruck ertragen, das war auch der Hauptgrund, weswegen er mir so sympatisch gewesen war.

,,Finniboy?", fragte ich nervös lachend und versuchte das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken. Seine Reaktion schockierte mich noch mehr. Er wurde leicht bleich und man sah ihm an, wie es in seinem Kopf zu Rattern anfing. Dann grinste er unbeholfen und lachte:,, Ja, Finniboy, geiler Name was?"

 ,,Jaa..." Die Faust schloss sich noch fester um mein Herz. Plötzlich erschauderte Mike.

,,Alles okay?", fragte ich vorsichtig. "Du verstehst mich nicht! Du hast mir nicht zugehört!" Erregt wandte er sich ab und ging. Hä? Verwirrt starrte ich ihm mit offenem Mund nach. Was war das denn gerade gewesen ? Mit gesenktem Kopf und die Hände tief in den Taschen vergraben stapfte in den Wald hinein. Ich war so verwirrt, dass ich mich erst wieder bewegen konnte, nachdem ihn die Dunkelheit schon vollständig verschluckt hatte. Eine kühle, langgliedrige Hand legte sich auf meine Schulter. Ich fuhr erschrocken herum und schlug nach det kleinen Gestalt, bis ich erkannte, dass es Luna war.

,,Oh mein Gott, tut mir Leid!", rief ich und schlug mir die Hand vor den Mund. Sie presste ihre Hand gegen ihre Lippe und sah mich nur an. Sie sah nicht gut aus. Ihre frühere gesunde, rosige Gesichtsfarbe hatte sich zu einer kränklichen, grauen Farbe gewandelt. Ihre Haare hingen in fettigen Strähnen herab und ihre Augen blickten mich leer und emotionslos an. Mit der freien Hand griff sie hinter sich und drückte mir eine kühle Bierflasche in die Hand. Ich warf einen Blick auf die Flasche. Ein weiteres Mal abschießen?

,,Trink schon!" Luna wankte und fiel auf die Knie. Ich wollte ihr meine Hand reichen, aber sie schlug sie weg und erbrach sich vor meinen Füßen. Ich musste den gewaltigen Würgereiz zurückhalten um mich nicht auch noch auf meinen Schuhen zu erbrechen.

 ,,Komm." Sanft half ich ihr auf und trug sie weg von der Party.

 ,,Lass mich !", murrte sie, ließ sich aber nach mehreren schwachen Versuchen, sich aus meinen Armen zu winden, hinein fallen. Dann fielen ihre Lider zu und sie schnarchte leise. Der Alkoholgestank ließ mich erneut würgen. ,,Ich hab sie gesehen." Erschrocken starrte ich sie an.

,,Wen?" Sie riss die Augen auf und schloss ihre Finger um meine Kehle. Vor Schreck fing ich an zu würgen , bis ich erkannte, das sie nicht zudrückte.

,,Ich hab sie gesehen!", schrie sie wie im Wahn und sah sich keuchend um. ,,Sie sind da, sie sind gekommen!"

,,Wer denn?", schrie ich sie an und schüttelte sie.

,,Wen hast du gesehen?" Sie öffnete den Mund um etwas zu sagen und wurde ohnmächtig. Wütend schüttelte ich sie weiter, aber sie wachte nicht auf.

 ,,Hilfe!" Mike kam wie aus dem Nichts herbeigerannt und sah mich an.

 ,,Was ist los?" Ich heulte wütend auf.

 ,,Sie hat etwas gesehen, etwas was ihr Angst macht, aber sie konnte es mir nicht sagen! Sie ist ohnmächtig geworden!"

 ,,Nein", sagte Mike leise und drehte sie um.

 

Salome

 Jeder Tag war eine Qual. Jeder Tag eine Überwindung. Jeder Tag, der mit den Worten begann: Halt durch, das schaffst du.

Jeden Tag fühlte ich den Schmerz mehr. Die erste Woche in der neuen Schule war vorbei und das einzige Wort um diese Woche zu beschreiben, war Höllenritt. Die Leute waren zum Kotzen. Allesamt Dorftrampel und Bonzen. Wobei sie mich wahrscheinlich auch als Bonze betrachteten. Die Blicke die sie mir morgens zuwarfen sprachen Bände. Selbst Paul hatte sich von mir zurückgezogen und sprach nur selten mit mir. Jedes Mal hätte ich heulen können. Ich war dazu verdammt für immer der Außenseiter zu sein, mein Leben lang. Ich war so wütend und traurig zugleich, dass ich mich immer gleich nach der Schule aufs Bett warf und anfing zu heulen. Ich hatte das doch nicht verdient, oder? Jeden Tag hämmerte ich auf meinem Kopf herum, um mich wieder zu erinnern, aber die Erinnerungen kamen nur bruchstückhaft. Hailey hatte mir ihre Version der Geschichte erzählt, aber das war nicht das gewesen, was ich erhofft hatte zu hören. Alles in allem war es einfach ein scheiß Leben. Automatisch tippten meine Finger Finns Nummer in mein Display und drückten auf "Anrufen". Scheiße, nein! Aber bevor ich auf "Auflegen" drücken konnte, kam seine Mailbox.

,,Servus, hier ist die Maileybox von Finn. Entweder ich bin grad hochbeschäftigt oder ich will nicht mir dir reden. Aber du kannst mir ja trotzdem ne Nachricht hinterlassen! Bye!" Allein seine Stimme zu hören, ließ mein Herz höher schlagen. Allerdings glaubte ich an die2. Variante. Er hatte kein Bock mit mir zu reden. Ich schluckte schwer und warf mein Handy auf mein Bett. Ich hatte weder lust Hausaufgaben zu machen, noch rauszugehen,einfach zu gar nichts.

 

Mike

  ,,Haben Sie irgendwas gesehen oder gehört?" Der Polizist sah uns mit zusammengepressten Lippen an. Zwei Jugendliche, die schon vor drei Monaten im Verhör gewesen waren. Der eine sturzbesoffen, der andere hysterisch, mit einem Mädchen mit einem Pfeil im Rücken, da war klar, dass er natürlich nervlich am Ende war. Ich hatte den Pfeil gesehen und dann waren wir gerannt. In diesem Moment hatte ich gedacht, dass ich sterben müsste. Aber wir hatten es geschafft. Das wir es mit einem nicht besonders gutem Schütze zu tun gehabt hatten, war klar, denn er hatte Lunas Herz um eine handbreit verfehlt, sie war außer Lebensgefahr. Finn schüttelte leicht den Kopf. Ich rieb mir die Schläfen und atmete tief durch, ich war echt hackedicht. Der Polizist schüttelte leicht den Kopf und zog eine Augenbraue hoch.

,,Ist das wirklich Ihr Ernst? Zuerst ein Mord und dann ein versuchter Mord?"

Finn sprang auf:,, Keiner von uns ist für irgendetwas davon verantwortlich, verdammt! Wir hatten regelrecht das Pech immer am Tatort zu sein, Sie Arschloch!" Die Hysterie hatte sich in Wut umgewandelt. Voilà, da war er wieder, der Macho.

 ,,Finn!", lallte ich. Trotz meines Zustandes, wusste ich noch, dass es überhaupt nicht schlau war ihn zu beleidigen.

,,Hey, hey, nicht frech werden Jüngelchen. Wenn du nicht aufpasst sitz du in der Zelle, so schnell kannst du gar nicht schauen!" Finn quollen die Augen fast heraus, so weit riss er sie auf. Dann ließ er sich wieder auf den Stuhl fallen. Beschwichtigend legte ich meine Hand auf seine. Er zuckte zurück und sah mit einem Todesblick an. Ich lief rot an. Scheiße, das war peinlich! Der Polizist schnauft tief durch.

,,Gut, ich kann jetzt im Moment nichts machen. Wir untersuchen den Pfeil wegen Fingerabdrücken und ich rufe Sie dann an, okay?" Finn nickte und hiefte mich aus dem Stuhl. Meine Beine wackelten gefährlich und ich hatte das dringende Bedürfnis alles auszukotzten.

,,Schnell!",ranzte ich Finn an und wir liefen so schnell es ging auf den Parkplatz. Dort erbrach ich bin dann geräuschvoll auf Finns blauen Adidas- Schuhen.

,,Toll!", raunzte dieser genervt. ,,Die Schuhe kann ich vergessen!" Ich wischte mir den Mund am Ärmel ab und sah ihn entschuldigend an. Er winkte nur ab.

,,Was machen wir jetzt?", fragte ich ihn vorsichtig. Er zuckte entnervt die Schultern. Ich schwieg. Er zog sein Handy aus der Tasche und runzelte die Stirn. ,,Wir rufen Salome an."

 

 

,,Wie bitte?!" Salomes Stimme überschlug sich. Finn hielt sich das Handy fünfzehn Zentimeter weit weg von seinem Ohr und verzog das Gesicht schmerzverzerrt.

 ,,Jahaa! Kannst du mal BITTE aufhören zu schreien?! Ich stehe hier vor dem Krankenhaus mit dem besoffenen Mike und hab keine Ahnung was ich jetzt machen soll!"

 ,,Mike ist besoffen?" Ich hörte die Ungläubigkeit in ihrer Stimme und musste kichern.

,,Ja, verdammt, was soll ich denn jetzt machen?"

 ,,Woher soll ich das wissen? Ich sitz hier in der Pampa und kein Schwein interessiert, wie es mir geht. Nicht mal Hailey !" Finn presste die Lippen zu einem Strich zusammen und schloss die Augen.

,,Hailey ist tot." Er fing an zu zittern und hatte Mühe das Handy zu halten. Einen Moment herrschte Stille, dann hörte ich Salomes leises Weinen. Auch Finn drückte es die Tränen in die Augen. Dann legte er schnell und abrupt auf und zog die Nase hoch.

Impressum

Bildmaterialien: schneekoenigin
Tag der Veröffentlichung: 13.06.2013

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