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Im letzten Moment wich ich vor dem Ball aus. Laut prallte er an dem Zaun ab und rollte zu Kevins Füßen.
„Entschuldigung Mama, das wollte ich nicht!“, rief er zu mir herüber und versuchte angestrengt, ein trauriges Gesicht zu machen. Ich kannte ihn nur zu gut und übersah nicht, wie seine Augen mich amüsiert anfunkelten.
„Es ist ja nichts passiert. Sei aber bitte etwas vorsichtiger, ja?“ Bevor ich noch zu Ende sprechen konnte, jagte er dem Ball auch schon wieder quer durch unseren Garten nach und wirbelte dabei das bunte Herbstlaub in die Luft. Eingehüllt in meine warme Jacke setzte ich mich auf einen Gartenstuhl auf der Terrasse hin. Es wehte ein kalter Wind und immer mehr Blätter fielen von unserem Apfelbaum. Bald würden all seine Blätter den Boden bedecken. Ich reib meine Hände aneinander und hüllte mich noch enger in meine Jacke ein. Als ich aufsah blickte ich direkt in Kevins eisblaue Augen.
„Es ist so langweilig, möchtest du nicht mit mir spielen?“, fragte er mich.
„Du weißt doch genau, dass ich kein Fußball spielen kann.“, erwiderte ich. Er sah zu Boden und ich bekam sofort Mitleid mit ihm.
„Ich hätte doch so gerne jemanden, der mit mir spielen würde. Wenn Papa noch hier wäre, hätte er sicher mit mir gespielt…“
Einen Herzschlaglang wartete ich, ob er noch etwas sagen würde. Dann nahm ich ihn in den Arm und flüsterte: „Das tut mir so leid, Schatz. Aber du weißt doch, dass wir beide ohne ihn besser dran sind.“
Mein Mann verließ mich, als Kevin fünf Jahre alt war. Seit damals hat er seinen Sohn kein einziges Mal besucht und sich auch nicht nach ihm erkundigt. Sechs Jahre ist es nun her, dass ich alleine mit Kevin lebe. Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen.
„Darf ich dann wenigstens zu Stefan gehen? Er hat mir heute in der Schule gesagt, dass er Zeit hat.“
Ich lächelte, denn ich wusste genau, wie sehr Kevin seinen Freund bewunderte.
„Also gut. Aber sei bitte vor fünf Uhr wieder zurück.“ Er umarmte mich und stürmte durch das Gartentor hinaus. Ehe er ganz verschwand, blickte er noch einmal zurück und rief mir zu:
„Eines Tages… Da werde ich der Beste Fußballspieler der Welt sein!“

Das Telefon riss mich aus meinen Gedanken. Kann man denn nicht ein Mal in Ruhe einen Film anschauen, ohne dabei unterbrochen zu werden? Einen Moment lang überlegte ich, es einfach klingeln zu lassen und es zu ignorieren. Als es jedoch immer weiter klingelte, erhob ich mich endlich und nahm es in die Hand. Ich drückte die grüne Taste.
„Hallo?“
„Hallo, Frau Kramer! Hier ist Stefan.“
„Oh, Stefan! Wie geht es euch? Habt ihr Spaß?“
„Es… Es tut mir leid, aber ich verstehe nicht ganz… Wer ist denn gemeint?“
„Na, du und Kevin. Er ist doch bei dir, oder etwa nicht?“
Am anderen Ende der Leitung herrschte plötzlich gespenstische Stille.
„Frau Kramer, Kevin war heute nicht bei mir.“
In diesem Moment kam es mir vor, als würde die Zeit stehen bleiben. Ein Blick auf die Uhr ließ mich erschauern. Es war bereits vor drei Uhr, Kevin ist also schon vor einer Stunden gegangen.
„Hallo?“
„Oh… Tut mir leid Stefan… Aber… Kevin war auf dem Weg zu dir. Er ist wirklich nicht da?“
„Nein. Ich rief eigentlich an, um ihn zu fragen, ob er nicht kommen möchte. Er ist also nicht da?“
Ich schluckte. „Ich werde dich später anrufen, sobald Kevin wieder aufgetaucht ist.“
Ohne eine Antwort zu erwarten legte ich auf. Ich lief ins Vorzimmer, kam aber nur schwer voran, da ich alles verschwommen sah. Nach einigen vergeblichen Versuchen fand ich meine Jacke unter den vielen anderen Kleidungsstücken und wollte gerade das Haus verlassen, als das Telefon wieder läutete. Widerwillig lief ich zurück und nahm den Hörer.
„Hallo?“
„Guten Tag, spreche ich mit Frau Kramer?“
Es war ein Anruf aus dem Krankenhaus.

„Scheinbar ist einem Auto auf der gegenüberliegenden Fahrbahn der Vorderreifen geplatzt und der Fahrer verlor die Kontrolle über das Fahrzeug...“
Ich nahm die Worte von dem Arzt auf, verstand sie aber nicht. Das einzige, was ich wusste war, dass mein Sohn im nächsten Zimmer lag. Ich wollte zu ihm.
„…Ihr Sohn Kevin wurde angefahren, dabei wurde seine Wirbelsäule beschädigt…“
Oh Gott. Seine Wirbelsäule? Das war nicht gut, das gefiel mir nicht. Ich hatte schreckliche Angst, was der Arzt als nächstes sagen würde.
„…Frau Kramer, ihr Sohn ist gelähmt, er wird von nun an im Rollstuhl sitzen müssen. Es ist aber keine aussichtslose Situation, denn dank der Therapien, die uns zur Verfügung stehen, wird es ihm vielleicht irgendwann gelingen, wieder gehen zu können.“
Ich konnte es nicht mehr länger ertragen.
„Darf ich zu ihm gehen?“, fragte ich mit bebender Stimme. Ich drehte mich weg und vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Ich spürte, wie er mir seine Hand auf die Schulter legte.
„Sie können zu ihm gehen, wenn sie möchten.“
Nickend strich ich mir die Haare aus dem Gesicht und holte tief Luft, ehe ich zur Tür ging. Ich umklammerte die Klinke mit beiden Händen, während ich spürte, wie mir die Tränen über die Wangen kullerten. Was für ein Anblick würde mich drinnen erwarten? Ich zögerte. Könnte ich es ertragen, meinen Sohn verletzt auf dem Krankenbett liegen zu sehen? Die Angst packte mich. Reingehen wollte ich nicht, aber Kevin war da drinnen. Er brauchte mich. Mit einem etwas zu heftigen Ruck machte ich die Tür auf.
„Hallo, Mama…“

Seit dem Unfall war nun eine Woche vergangen. Wie gewohnt machte ich die Tür zum Krankenzimmer meines Sohnes auf. Er saß auf der Bettkante neben einer Krankenschwester, die ihn stützte. Sie lächelte mir zu.
„Er ist noch sehr schwach, aber die frische Luft würde ihm guttun. Wären sie bereit dazu, mit ihm in den Garten zu gehen?“
Ich nickte und atmete erleichtert auf. Kevin hat während all der Tage immer wieder durch das Fenster nach draußen geschaut und mich öfters gefragt, wann er hinaus könnte.
Ich gab ihm einen Kuss auf die Stirn und fragte:
„Was sagst du dazu? Willst du gerne hinaus gehen?“
Seine Augen strahlten. „Ja, unbedingt!“
Ich lachte. „Aber erschrick nicht, es ist sehr kalt draußen!“
Mit Hilfe der Krankenschwester kleideten wir ihn warm ein und setzten ihn in seinen Rollstuhl. Er hasste ihn, aber es war die einzige Möglichkeit. Als er bereit war, schob die Krankenschwester ihn voran und ich folgte ihnen. Auf dem Weg zum Aufzug kamen wir an einem krebskranken Mädchen vorbei, das auf dem Schoß ihres Vaters saß. Sie war ungefähr fünf Jahre alt, hatte nur noch wenige Haare am Kopf und im Arm hielt sie einen blauen Stoffteddybären. Es erstaunte mich, wie glücklich sie wirkte, während sie den Teddybären fest umklammerte und sich an ihren Vater kuschelte. Plötzlich verspürte ich den Drang, meinen Sohn in den Arm zu nehmen. Während wir mit dem Aufzug fuhren, kniete ich mich nieder und umarmte ihn.
„Ich liebe dich und ich möchte, dass du weißt, dass ich sehr stolz auf dich bin.“ Die Krankenschwester lächelte mich an, verabschiedete sich schließlich mit den Worten: „Ich denke, ich kann sie und Kevin alleine lassen“, und übergab mir den Rollstuhl. Ich schob ihn in den kleinen Park hinaus, der zum Krankenhaus gehörte.
„Schau Mama, auf dem Baum sind fast keine Blätter mehr.“ Mit seiner Hand deutete er auf die große Eiche, die den Park schmückte. Ich suchte kurz nach den passenden Worten und sagte dann:
„Diese Eiche ist schon groß und stark. Ich bin mir sicher, dass sie sehr viel in ihrem Leben erlebt und gesehen hat. Wie jedes Jahr möchte sie sich sicherlich im Winter von all den Geschehnissen erholen, aber ich bin mir sicher, dass sie diesen Frühling erblühen wird, wie noch nie zuvor. Und dann wird sie die schönste von allen sein.“

Eines Tages, als ich das Krankenzimmer betrat, stand er plötzlich direkt vor mir. Ich wusste, er ist gekommen, um Kevin zu besuchen. Ohne ein Wort zu sagen, drehte ich mich von ihm weg und stolzierte davon. Ich hörte ihn meinen Namen rufen, ich spürte seinen Arm auf meiner Schulter und sah schließlich in sein Gesicht. Er sah viel älter aus, als ich ihn in Erinnerung hatte und er wirkte verstört. Er redete auf mich ein, aber ich verstand kein Wort. Ich sah durch ihn hindurch, als wäre er gar nicht da. Denn in meinem Leben gab es keinen Platz für ihn. Als er verstummte und mich ansah wusste ich, dass jetzt ich mit dem Reden dran war. Ich hatte ihm nur einen Satz zu sagen.
„Musste wirklich erst etwas Schlimmes passieren, damit du deinen Sohn nach sechs Jahren besuchst..?“
Mit Tränen in den Augen drehte ich mich weg und ging zurück. Ich wollte zu Kevin, ich wollte zu meinem Sohn. Jede Sekunde ohne ihn war für mich Zeitverschwendung, ich wollte bei ihm sein. Und auf keinen Fall wollte ich die Zeit, die ich nicht bei ihm war, mit meinem Ex-Mann verschwenden. Auf dem Weg zurück begegnete ich einem Mann, der mir auf eine seltsame Art und Weise vertraut war. Sein Blick war leer, die Augen rot und geschwollen. Er weinte. Erst als er an mir vorbeiging, bemerkte ich den blauen Teddybären, den er im Arm hielt.

Die Zeit verging nur sehr langsam. Ich konnte den Tag kaum erwarten, an dem ich Kevin endlich wieder nach Hause mitnehmen konnte. Doch nach einem unerträglich langem Krankenhausaufenthalt kam er endlich: Der Tag, an dem wir zusammen nach Hause gingen. Auf dem Weg nach Hause zählte er mir alle seine Freunde auf, die ihn besucht haben und erzählte mir, wie nett die Krankenschwestern und die Ärzte und Ärztinnen zu ihm waren. Meine Bewunderung konnte ich nicht verbergen, denn nach allem was passiert war, war ich überzeugt, dass mein Sohn ein sehr starker Mensch war, nie aufgab und dank der Therapie auch eines Tages wieder gehen könnte. Er machte gerne bei den Übungen mit, obwohl er immer noch bei jeder Bewegung große Schmerzen hatte. Zuhause angekommen wollte Kevin alles sehen. Ich trug ihn in sein Zimmer hinauf, ich schob den Rollstuhl im Haus umher, zeigte ihm die Küche, das Badezimmer und das Wohnzimmer. Er schien zufrieden, dass sich nicht viel geändert hatte, obwohl er so lange im Krankenhaus war. Nachdem er jeden Winkel im Haus genau gesehen hatte, wollte er in den Garten. Ich schob den Rollstuhl hinaus. Der Garten sah aus, als ob man sich seit zehn Jahren nicht mehr um ihn gekümmert hätte. Überall lagen bunte Herbstblätter auf der Erde. Sie knisterten, als die Räder des Rollstuhls über sie fuhren. Wir machten eine kleine Runde, doch plötzlich kam der Rollstuhl zu stehen.
„Da ist irgendetwas unter den Blättern, direkt vor dem Rollstuhl.“, erklärte Kevin und zeigte auf den Haufen bunter Blätter vor ihm. Schweigend nahm ich eine Handvoll Blätter und legte diese beiseite. Zum Vorschein kam Kevins Fußball. Stille kehrte ein. Ich schluckte und sah ihn an. Sein Gesicht war ausdruckslos, als er mich fragte:
„Werde ich je wieder gehen können?“
„Kevin… Das hängt allein von dir ab. Ich bin mir aber sicher, dass du es schaffen kannst und die Ärzte sind auch zuversichtlich, was das betrifft.“ Ich legte ihm meine Hand auf die Schulter und sah in seine eisblauen Augen. Er lächelte, wurde aber gleich wieder ernst.
„Glaubst du… Kann ich noch immer ein Fußballspieler werden?“
Einen Augenblick lang sah ich in den klaren, blauen Himmel, dann auf die Blätter, die unseren Garten schmückten und dann auf Kevin.

„Für mich wirst du der beste Fußballspieler der Welt sein…“

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Texte: Text und Cover alle Rechte beim Autoren
Tag der Veröffentlichung: 17.10.2011

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