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„…und deshalb wirst du immer in unseren Herzen bleiben, Sophie.“ Die Worte trafen mich wie ein Schlag, ebenso wie all die Worte davor. Langsam erhoben sich alle. Neben mir hörte ich meinen Vater seufzen. Als ich ihn ansah, merkte ich wie sein Kinn zitterte und drehte mich schnell weg. Ich war den Tränen nahe, wollte aber nicht schon wieder weinen. Am liebsten wäre ich weggelaufen, weit weg von diesem finsteren Ort. Aber wohin ich auch gehen würde, die Erinnerung und der Schmerz würden bleiben. Mein Vater nahm mich an der Hand und erst jetzt merkte ich, dass der Sarg schon nach draußen getragen worden war. In diesem Sarg war sie drinnen. Ich konnte nicht mehr gegen die Tränen ankämpfen, schloss die Augen und ließ mich von meinem Vater führen. Der Weg kam mir endlos lang vor, ich hörte hinter mir Menschen weinen. Unter ihnen erkannte ich ein paar ihrer Arbeitskolleginnen, ihrer Freunde und ihrer Familie. Der Anblick der schmerzverzerrten Gesichter ließ mich erschauern. Bis jetzt war mir nicht klar gewesen, wie viele Menschen sie vermissen würden. Plötzlich blieben wir stehen. Ich drehte mich weg und dachte an sie. Daran, dass ich sie nie wieder sehen würde. Sie würde mich nie wieder trösten, wenn es mir schlecht ging und sie würde mir auch nie wieder bei meinen Problemen helfen können. Wo war sie jetzt? Ich hob meinen Kopf und sah in den Himmel. Es war zwar kalt, die Sonne schien aber trotzdem und man konnte weit und breit keine einzige Wolke sehen. Als mir ein weißer Luftballon und ein Stift in die Hand gedrückt wurden sah ich wieder auf. Der Sarg wurde gerade in die Grube hinabgelassen.
„Jetzt haben sie die Möglichkeit, Abschied zu nehmen. Schreiben sie auf den Luftballon ein paar Worte, die sie Sophie noch mitteilen möchten.“
Ich sah den Luftballon an und sah mein eigenes Gesicht, das sich auf der Oberfläche des Luftballons wiederspiegelte. Ich schreckte zurück. Meine Augen waren rot und geschwollen. Ich seufzte und schrieb meine Abschiedsworte auf den Luftballon drauf. Als alle fertig waren, wurden die Ballons losgelassen. Sie sahen so schön aus, als sie alle gleichzeitig in den Himmel stiegen. Ich lächelte, als ich meinen darunter entdeckte. Die Worte waren gut sichtbar, und ich las sie flüsternd vor:
„Schlaf gut, Mama…“

Langsam öffnete ich die Augen. Ich blinzelte ein paar Mal, um besser sehen zu können. Ich wusste, ich befand mich in meinem Zimmer, jedoch erinnerte der Anblick eher an eine Müllhalde. Alle meine Sachen waren verstreut, ich erkannte viele gebrauchte Taschentücher, Essensreste, Zeitungen, Decken, Stifte und einige meiner Kleidungsstücke. Als ich mein Handy vibrieren hörte, erhob ich mich instinktiv. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich unter meinem Schreibtisch geschlafen habe, mein Bett befand sich auf der anderen Seite meines Zimmers. Ich wühlte in den Sachen herum und fand mein Handy unter einem Taschentücher Haufen. Ein Blick auf mein Handy und ich bereute es sofort. 75 verpasste Anrufe und 169 Nachrichten. Die meisten Anrufe und Nachrichten waren von meiner besten Freundin. Ohne die anderen Nachrichten zu beachten, las ich die von ihr.

„Geht’s dir schon besser?“

„Ruf mich an wenn du dich besser fühlst!“

„Alles ok bei dir?“

„Du hast bald Geburtstag, weißt du schon was du machen willst? Deine Sweet Sixteen müssen wir doch feiern!“

„Wie würdest DU dich denn fühlen, wenn deine Mama gestorben wäre?!“, schrie ich mein Handy an und warf es gegen die Wand. Wütend stolperte ich über die herumliegenden Sachen, setzte mich auf mein Bett und stützte meinen Kopf in meinen Händen. Und dann traf es mich wie ein Blitz. Geburtstag? Mein Geburtstag? Der war doch erst in zwei Wochen. Zum ersten Mal überlegte ich, wie lange ich nicht mehr aus meinem Zimmer gekommen war. Ich hatte mich eingeschlossen und sperrte die Tür nur auf wenn ich hörte, dass mein Vater nach endloslangem Klopfen das Tablett mit dem Essen und Trinken vor meiner Tür hinstellte. Ich hatte ein eigenes Badezimmer, trotzdem habe ich mich seit dem Begräbnis meiner Mutter nicht gewaschen. Aber so lange war das Begräbnis noch nicht her, höchstens drei Tage sind vergangen. Ein Blick auf meinen Kalender und ich wünschte mir, ich könnte in diesem Augenblick im Boden versinken. Seit dem Begräbnis sind 7 Tage vergangen. Eine Woche lang war ich also hier drinnen eingesperrt. Ein schreckliches Gefühl überkam mich: Ich fühlte mich sehr einsam. Am liebsten wäre ich nie wieder einem Menschen unter die Augen getreten, ich wusste aber, dass ich das nicht durchziehen könnte. Ich griff mit meiner Hand unter mein Bett und zog ein altes Foto hervor. Es war ohnehin schon ganz durchweicht, ich konnte meine Tränen jedoch nicht zurückhalten und sie tropften auf das Foto. Wenigstens konnte man noch bei genauem Hinsehen erkennen, was drauf zu sehen war. Links war meine Mutter, sie hielt ein Baby im Arm. Dieses Baby war ich. Hätte meine Mutter gewollt, dass… Mein Handy vibrierte. Ich lief zu ihm hin und öffnete die Nachricht meiner besten Freundin:
„Deine Mutter hätte nicht gewollt, dass du dich ihretwegen in deinem Zimmer einsperrst.“

Ich rubbelte mit einem Handtuch meine nassen Haare ab, als es an meiner Zimmertür klopfte. Langsam bewegte ich mich auf diese zu und öffnete sie. Zu meiner Überraschung sah mein Vater nicht gerade besser aus als ich selbst. Er sah sehr alt und müde aus, das Lächeln war aber noch da. Ich lächelte auch als ich an seinen nassen Haaren erkannte, dass er ebenso wie gerade ich geduscht hat. Ohne ein Wort zu sagen stellte er das Tablett auf meinem Tisch ab und fixierte mich danach mit seinen Augen. Ich starrte zurück und spürte wir mir erneut die Tränen kamen, als er auf mich zukam. Ich schloss die Augen und fühlte, wie seine starken Arme meinen Körper umschlossen. Ich drückte ihn fester an mich und konnte mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal so glücklich war. Seit dem Tag, an dem meine Mutter ins Krankenhaus gebracht wurde, habe ich nur geweint. Und dieser Tag war vor drei Monaten. Damals hat aber niemand erwartet, dass sie… Dass sie es nicht schaffen würde.
„Willst du nicht nach draußen an die frische Luft gehen?“, fragte mich mein Vater und strich mir sanft über meine braunen Haare. Einen Moment lang hielt ich ihn noch fest, dann machte ich mich langsam auf den Weg zum Garten. Das Haus sah sehr schön aus. Mein Papa hat sich viel Mühe beim Aufräumen gegeben. Ich biss mir auf die Unterlippe als mir klar wurde, dass ich ihm kein bisschen geholfen habe.

Es war wunderschön draußen. Weiße, flauschige Wolken schmückten den Himmel und die Sonne prickelte angenehm auf der Haut. Ich genoss jede einzelne Sekunde. Der Verlust meiner Mutter war mir wie zuvor bewusst, aber ich sah ein, dass es einfach keinen Sinn hatte ewig darüber traurig zu sein. Meiner Mutter ging es sicher gut, wo auch immer sie gerade war. Vielleicht beobachtete sie mich ja sogar in diesem Augenblick. Die Schritte meines Vaters rissen mich aus meinen Gedanken. Er legte mir seine starke Hand auf die Schultern und überreichte mir einen Umschlag. Ohne auch nur ein Wort zu sagen drehte er sich um und ging ins Haus zurück. Verwundert sah ich ihm nach. In Zeitlupentempo drehte ich meinen Kopf und sah auf den Umschlag. Es war ein wunderschöner, himmelblauer Briefumschlag mit drei verschiedengroßen, rosaroten Herzen. Erst dann fiel mein Blick auf die Aufschrift. Ich fuhr mit meinen Fingern über die Worte:
„Für meine über alles geliebte Tochter“.

Ich schluckte. Eine Träne lief mir die Wange herunter und traf den Briefumschlag. Erschrocken richtete ich mich auf. Ich beschloss, dass diesem Umschlag nichts zustoßen durfte. Mit meinem Ärmel wischte ich mir die Tränen weg und rief: „Papa, ich geh spazieren.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, ging ich auf die Straße und machte die Gartentür hinter mir zu.

Als ich im Park ankam, war es schon dunkel. In dieser Nacht gab es mehr Sterne am Himmel, als je zuvor. Einer leuchtete besonders hell. Ich lächelte und setzte mich auf eine Parkbank, gleich neben einer Laterne. Ich nahm den Briefumschlag aus meiner Jackentasche heraus und machte ihn vorsichtig auf. Einen Augenblick lang schloss ich die Augen, dann holte ich tief Luft und begann leise zu lesen:

„Liebe Miriam,
ich habe deinen Vater gebeten, dir diesen Brief zu überreichen wenn du seiner Meinung nach dazu bereit wärst, diese Zeilen zu lesen.
Gerade eben hast du das Krankenhaus verlassen, ich habe es durch mein Fenster aus gesehen. Du warst spät dran, ich hoffe du hast es noch rechtzeitig in die Schule geschafft. Miriam, Liebes… Ich weiß nicht wie lange es noch so weitergehen wird. Von Tag zu Tag werde ich schwächer und was auch immer der Arzt sagt, es wird einfach nicht besser. Es zerreißt mir das Herz aber ich fürchte, dass ich es nicht mehr lange durchhalten werde.
Während du diesen Brief liest, bin ich bei dir. Ich sitze neben dir und lege meinen Arm um dich, auch wenn du mich nicht sehen kannst. Ich weiß es ist schwer zu verstehen, aber wenn du glaubst ich wäre nicht mehr da, dann irrst du dich. Ich bin IMMER bei dir und werde dich auch niemals verlassen.
Ganz nebenbei… Du hast bald Geburtstag, Liebes. Du brauchst an dem Tag meinetwegen nicht traurig zu sein, du weißt, dass ich das nicht will. Geh feiern und habe Spaß, immerhin wirst du 16 Jahre alt.
Miriam, du und dein Vater seid die wichtigsten Menschen für mich. Ich möchte, dass es euch gut geht. Habt Spaß und verliert niemals aus den Augen, was für euch wichtig ist. Folgt euren Herzen, denn wenn ihr das macht, werden wir uns auf der anderen Seite wiedersehen.
Ich liebe dich, Miriam, und werde dich für immer lieben.

Deine Mama“

Auf dem Heimweg gingen mir Mamas Worte immer und immer wieder durch den Kopf. Ich konnte mir nicht helfen, aber ich spürte ihre Anwesenheit einfach nicht, obwohl sie mir versicherte, sie sei die ganze Zeit da. Ich schnäuzte mich und stellte erschrocken fest, dass ich keine Taschentücher mehr übrig hatte. Jetzt musste ich wirklich nach Hause. Ich sah mich nach einem Mistkübel um und entdeckte einen nicht weit weg von mir. Als ich das Taschentuch wegwarf wurde mir klar, dass ich mich auf dem Weg zum Friedhof befand. In weiter Entfernung konnte ich gerade noch den Schein von Kerzen sehen, die auf den Gräbern verteilt waren. Sofort fing ich wieder zu weinen, drehte mich um und lief in Richtung Zuhause. Ich war nicht bereit dazu, meine Mutter besuchen zu gehen. Noch nicht.

„Du siehst wunderschön aus, Miriam.“
Ich betrachtete mein rotes Kleid, das mir meine Mama vor ein paar Jahren geschenkt hat. Es sah wirklich sehr schön aus. Das Problem war nur, dass ich mich nicht wie eine sechzehnjährige fühlte und auch nicht wie eine ausschaute. Als ich jedoch gründlicher darüber nachdachte fand ich das gar nicht so schlimm. Die Zeit verfliegt sowieso viel zu schnell. Mein Vater lächelte und gab mir einen Kuss auf die Stirn.
„Hier Schatz, das ist für dich.“
Er überreichte mir ein kleines, in gelbes Papier eingepacktes Geschenk. Dankbar lächelte ich ihn an und machte es langsam auf. Es war eine kleine rote Schachtel und ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich sie von irgendwo kannte. Als ich den Deckel ablöste traute ich meinen Augen kaum.
„Aber das ist doch Mamas Ring gewesen!“
Ich hielt einen wunderschönen, silbernen Ring in meiner Hand. An einer Stelle war ein winziger Glitzerstein befestigt. Den Ring hatte meine Mama oft getragen und ich hab ihn schon immer bewundert.
„Der Ring hat deiner Großmutter gehört. Als sie gestorben ist, hat deine Mutter ihn bekommen. Sie hätte gewollt, dass du ihn jetzt trägst.“
Ich lächelte und gleichzeitig spürte ich wie mir die Tränen in die Augen stiegen. Mein Vater nahm mir den Ring aus der Hand und schob ihn auf meinen Finger.
„Alles Gute zum Geburtstag, mein Schatz.“
Ich umarmte ihn und bedankte mich unendlich oft. Nachdem wir die Torte gegessen haben fragte mich mein Papa:
„Ach übrigens, was hast du heute noch vor? Triffst du dich mit deinen Freundinnen?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Nein ich würde diesen Tag lieber allein verbringen.“
Mein Vater nickte verständnisvoll.
„Dann wünsche ich dir viel Spaß, was auch immer du vor hast.“

Ich stand genau davor. Als ich den Namen meiner Mutter las, spürte ich einen Stich. Der Grabstein fühlte sich kalt an, als ich mit meinem Finger darüber fuhr. Neben dem in Gold eingravierten Namen war ein Foto von ihr. Ich habe es kurz vor der Beerdigung ausgesucht, sie sah so schön darauf aus. Es war ein Ausschnitt von dem Foto, das ich immer unter meinem Bett hatte. Ich flüsterte: „Hallo Mama.“
Der ganze Friedhof kam mir jetzt so friedlich vor, die Eindrücke, die ich beim Begräbnis bekommen habe, waren wie verflogen. Überall brannten Friedhofskerzen und ich holte aus meiner Tasche ebenfalls eine heraus. Ich zündete sie an und stellte sie ab. Ich habe beschlossen, meinen restlichen Geburtstag mit meiner Mama zu verbringen. Zum ersten Mal spürte ich ihre Anwesenheit, seit dem sie tot war. Ich saß neben dem Grabstein auf einer kleinen Bank und sprach mit ihr. Obwohl sie mir nicht antwortete, wusste ich, dass sie neben mir saß und ihren schützenden Arm um mich legte. In den Augenblicken, in denen ich an ihrer Anwesenheit zweifelte, sah ich den Ring an, den ich trug und wusste: Sie ist da.
Inzwischen war es dunkel und ich wusste, ich musste nach Hause. Als ich mich verabschieden wollte, fiel mir etwas ein.
„Ich habe dir etwas mitgebracht, Mama.“
Ich holte aus der Tasche einen hellblauen Umschlag mit drei rosaroten Herzen. Auf den Umschlag habe ich „Für meine über alles geliebte Mama“ drauf geschrieben. Vorsichtig legte ich ihn neben der Friedhofskerze nieder. In Gedanken dachte ich an die Worte, die ich ihr hinterlassen habe.

„Liebe Mama,
Die Tage nach deinem Tod waren die schwersten für mich und es gab Momente wo ich mir dachte, dass ich es einfach ohne dich nicht schaffen kann. Aber durch deinen Brief hast du mir die nötige Kraft gegeben.
Ich weiß, dass du da bist und es immer sein wirst. Ich danke dir für die gemeinsamen wunderschönen Jahre, die ich mit dir verbringen durfte.
Ich liebe dich, Mama, mehr als alles andere und freue mich auf ein Wiedersehen.

Deine Miriam“

Impressum

Texte: Text und Cover alle Rechte beim Autoren
Tag der Veröffentlichung: 02.10.2011

Alle Rechte vorbehalten

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