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Prolog

Als er seine Augen öffnete, durchfuhr ihn ein stechender Schmerz, als bohrte sich eine Klinge langsam durch seine Augäpfel. Mit der rechten Hand schirmte er seine Augen ab, um die wenigen Momente zu überbrücken, bis sie sich an die grelle Sommersonne gewöhnt hatten. Seine gegerbte Haut glänzte im Sonnenschein. Dann erst bemerkte er, dass er nicht an seinem üblichen Schlafplatz war, sondern zwischen bis zum Bersten gefüllten Mülltonnen lag. Auf seinem Bauch ruhte eine Flasche Wein, dessen Flaschenhals er noch immer krampfhaft umklammerte. Sein Mund war staubtrocken und in seinem Kopf pochte es laut. Der faulige Dunst des verrottenden Mülls, der ebenso wie er, seit Stunden in der hochsommerlichen Sonne vor sich hin schwitzte, umgab ihn.

Langsam richtete er seinen Körper auf und ließ seinen Blick umherschweifen. Währenddessen zog er lautstark den Schleim hoch, der fest an seinem Gaumen klebte, und spuckte die grünliche Masse aus.

Er befand sich in einem Hinterhof, durch den ein von Unkraut durchzogener Kieselweg führte, gesäumt von Wohnhäusern mit rissigen Fassaden und Fenstern, an denen der Lack beinahe vollständig abgesplittert war und das nackte Holz der Witterung aussetzte. Quer über den Kieselweg waren Wäscheleinen gespannt, an denen verwaiste Klemmen hingen.

Aufrecht sitzend fuhr er durch sein fettiges Haar. Er stand auf, wandte sich zu der betongefüllten Mauer, die den Mistplatz begrenzte, und öffnete seine speckige Stoffhose. Mit einem Gefühl der Erleichterung seufzte er in sich hinein, als der Urin zu fließen begann.

„Ahhh!“, stieß er hervor, während er mit der freien Hand durch den mürben Stoff seiner Hose sein Hinterteil kratzte und im Anschluss den bepelzten Teil seines Schambereiches mit den Fingernägeln durchkämmte.

Danach hob er die Weinflasche hoch, um im dunklen Glas den Flüssigkeitsstand zu begutachten.

„Na dann, Prost Alter“, beglückwünschte er sich selbst, und kippte den Wein in einem Zug hinunter. Die rote Flüssigkeit rann ihm in Rinnsalen aus den Mundwinkeln, über den filzigen Vollbart hinweg und zog eine rote Spur über sein Holzfällerhemd, das ihm am Gesäß aus der Hose hing.

„Hm, Glühwein“, kicherte er, und ließ achtlos die leere Flasche fallen, ehe er den Kiesweg entlang trottete und auf die Wirkung des alkoholischen Getränkes wartete.

Sein Ziel war dasselbe, wie an so vielen Tagen, an denen sein Magen knurrte und ihn der Durst vorantrieb, es war Wiens Karlsplatz. Der Platz wurde nach Kaiser Karl und die durch ihn erbaute Kirche benannt, die dieser im Andenken an die Pestepidemie des frühen achtzehnten Jahrhunderts erbauen hatte lassen, hatte er irgendwann einmal auf einer Messingtafel gelesen. Heutzutage aber war der Karlsplatz einer der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte Wiens. Drei U-Bahn-Linien hielten hier, mehrere hoch frequentierte Wiener Straßenbahnen verfügten über eine Haltestelle und auch das Hauptgebäude der Technischen Universität Wien war am Karlsplatz angesiedelt.

Was ihn betraf, so waren nur der bei der Kirche gelegene Resselpark sowie die unterirdische Verkaufspassage von Interesse. Hier versammelte sich alles, was Rang und Namen in der Gesellschaft der Verstoßenen hatte - Junkies, Dealer, Prostituierte, Punks und Obdachlose. Ab und zu ließen sich auch Russen blicken, um krumme Geschäfte abzuwickeln. Aber vor allem gab es dort eines – jede Menge Studenten. Weltverbesserer mit einem Hang zum Theatralischen. Aber er wollte nicht schlecht von seiner Haupteinnahmequelle sprechen, denn Gipsy, so wurde er genannt, hatte schon früh in seinem Leben auf der Straße gelernt, dass es genau diese Menschen waren, auf die er sich in der Not verlassen konnte. Und genau das war es, was er jetzt verspürte, Not. Er brauchte Alkohol und er brauchte ihn schnell. Es zehrte an ihm, machte ihn wahnsinnig. Dieses betäubende, glückselige Gefühl ließ ihn Tag für Tag überleben und täglich brauchte er mehr. Seine Hände waren zittrig, Schweiß trat aus seinen Poren. Dieser „Saft der Götter“ war Segen und Fluch zugleich. Es gab viele, die behaupteten, hätte er damals die Finger davon gelassen, wäre ihm dieses Schicksal erspart geblieben. Doch das würde nun niemand mehr herausfinden, er hatte sich bereits vor langer Zeit für diesen Weg entschieden. War dieser Weg erst einmal eingeschlagen, so gab es kein Zurück mehr.

Grelle Sonnenstrahlen drangen durch das Blattwerk der Bäume im Resselpark, als sich endlich die Karlskirche vor ihm erhob. Mit ihrer türkisfarbenen Kupferkuppel und den beiden flankierenden Reliefsäulen, deren kunstvolle Ausgestaltung einem den Atem raubte, ragte sie weit über die Dächer des vierten Wiener Gemeindebezirkes hinaus.

Unmittelbar vor der Kirche kniete er auf den harten Steinboden nieder und faltete seine beiden Hände vor der Brust. Die Sonne heizte seinen Körper erbarmungslos auf, lange würde er hier nicht betteln können.

Nach einer halben Stunde, kniend in der Mittagshitze, konnte er bereits vierundfünfzig Cents sein Eigen nennen. Zugegeben, Menschen, die dem gesellschaftlichen Diktat folgten und Tag für Tag immer dieselbe monotone Arbeit verrichteten, um am Monatsersten sämtliche Rechnungen bezahlen zu können, solche wirbellosen Kreaturen würden wohl darüber lachen, aber für ihn war die Ausbeute nicht übel. Kurzer Hand beschloss Gipsy, sein erbetteltes Geld im nächsten Supermarkt gegen eine Dose Bier zu tauschen. Für ihn war nicht die Marke, sondern der Alkoholgehalt entscheidend, es war sein ganz eigenes Preis-Leistungs-Verhältnis. Beim Gedanken an den süß-bitteren Geschmack lief ihm das Wasser im Mund zusammen.

Kurze Zeit später, er zerdrückte gerade die leere Dose in seinen Händen, machte er in der Ferne eine Gestalt aus, die augenblicklich seine ungeteilte Aufmerksamkeit erregte. Ein Mann, Mitte Vierzig, dessen schütteres Haar die Fettrollen an seinem Hinterkopf kaum zu überdecken vermochte, ging mit einem in schwarz gehaltenen Lederkoffer den Gehweg entlang. Die goldenen Schlösser an der Stirnseite glitzerten im Licht der unbändigen Sonne. Immer wieder kramte er ein Stofftaschentuch hervor und tupfte damit seine Stirn ab. Der Mann hastete im Laufschritt an der Sezession, an deren Dach ein Blätterwerk aus vergoldeter Bronze in der Form einer Kuppel prangte, vorbei in Richtung Naschmarkt. Angespannt sah er sich immer wieder nach allen Seiten um und riskierte dazwischen regelmäßig einen Blick auf seine Armbanduhr.

Gipsy grinste von einem Ohr zum anderen, dann drehte er sich um: „Hey Jonny, komm mal rüber, ich glaub‘, ich hab‘ da was für uns!“

Jonny, der an einem Laternenmast lehnte, trat heran und folgte Gipsys Blick. In Sekundenschnelle schossen auch seine Mundwinkel nach oben und offenbarten dabei die dentale Horrorversion des Turmes von Pisa nach einem Flächenbrand. Ein lebensfeindliches Terrain, an dem sich nur Karies und Fäulnisbakterien noch einigermaßen wohlfühlten, aber letztendlich vor getaner Arbeit standen.

„Schaut ganz danach aus“, entgegnete er. Bei jedem Wort tröpfelte Speichel zwischen seinen Zahnstummeln hervor und beträufelte seine wild wuchernde Gesichtsbehaarung.

„Pass auf“, fuhr Gipsy fort, ohne den Mann aus den Augen zu lassen, „wir machen es so wie letzte Woche bei dem Chinesen, alles klar?“

„Klar“, antwortete Jonny knapp.

Ohne weitere Worte gingen sie auseinander.

Gipsy nahm Geschwindigkeit auf und folgte dem Mann. Er war gut hundert Meter vor ihm, Tendenz sinkend. Mit langen Schritten näherte Gipsy sich stetig, aber unauffällig. Jonny hingegen war wie vom Erdboden verschluckt. Kurz vor Erreichen des Naschmarktes bog er in die Getreidegasse ab. Gipsy beschleunigte seine Schritte weiter. Er hatte den Abstand zum Fremden auf etwa dreißig Meter reduzieren können, jetzt konnte er sowohl seine Schritte hören als auch den penetranten Geruch seines Schweißes wahrnehmen. Die Angst stand dem Mann ins Gesicht geschrieben, sie kroch aus jeder seiner Poren.

„Wovor fürchtet er sich so sehr?“, fragte sich Gipsy.

In der Ferne konnte er jetzt Jonnys hagere Gestalt ausmachen, wie sie auf ihn zukam, der Mann dazwischen nach wie vor nichts ahnend.

Jonny war fast bei ihm angelangt. Dann ging alles ganz schnell. Der Obdachlose machte sich vor ihm breit und versperrte den Weg.

„Hey du, hast du ein paar Cents für mich?“, fragte er und streckte seine dreckverschmierte Hand aus.

Der Mann senkte wortlos den Blick, drehte sich seitwärts und versuchte an Jonny vorüberzugehen, worauf dieser sich ihm erneut in den Weg stellte.

„Du siehst aus, als ob dir ein paar Cents mehr oder weniger nicht wehtäten.“

Der Mann sah ein, dass es kein Vorbeikommen gab, ohne Aufsehen zu erregen, und blickte zu Jonny, der einen Kopf größer war als er, auf.

„Ach komm schon, nur ein paar Cents, die mich über den Tag retten, ich hab‘ seit gestern nichts mehr gegessen“, nach einer kurzen Kunstpause legte er noch einen drauf, „meine Frau ist krank, ich flehe dich an.“

Gestresst stellte der Mann seinen Koffer neben sich ab und kramte in seiner Hosentasche: „Also gut, ich denke ich hab‘ ein bissl was für dich“, seufzte er.

Das war Gipsys Einsatz. Er spürte, wie seine Handflächen feucht wurden. Sein Herz pochte bis tief in seinen Schädel, er scharrte in den Startlöchern. Mit langen, schnellen Schritten lief er auf den Mann zu, packte dessen Koffer aus vollem Lauf und rannte, ohne zu stoppen, an ihm und Jonny vorbei. Schockiert sah ihm der Mann einen Moment lang nach, bis er sich wieder besonnen hatte und ebenfalls zum Lauf ansetzte. Doch bevor er starten konnte, stellte Jonny sich ihm abermals in den Weg: „Was ist jetzt mit meinem Geld?“

„Scheiß auf dein Geld“, fluchte der Mann, stieß ihn zur Seite und rannte Gipsy hinterher.

„Haltet den Mann auf, er hat mich bestohlen“, keuchte der Dicke aus Leibeskräften, während er seinen massigen Körper in Bewegung versetzte.

Aber wie es in einer Großstadt nun einmal war, fühlte sich niemand dafür verantwortlich, den Penner zu stoppen. Und daher blieb es dabei, dass die Passanten entweder glotzten, panisch zur Seite sprangen oder überhaupt keinerlei Notiz nahmen und niemand eingriff.

Warmer Wind umflutete Gipsy und spielte eine rauschende Melodie in seinen Ohren, während er so schnell ihn seine Beine trugen lief. Ein kurzer Blick über die Schulter verriet ihm, dass alles hervorragend geklappt hatte. Der Abstand zwischen ihm und dem Dicken war groß genug, dass er es unbemerkt zum Unterschlupf schaffen würde. Erst einmal dort, konnte ihn niemand mehr finden – niemand, der nicht eingeweiht war, würde dort hingelangen. An der rechten Wienzeile lief er links und dann dorthin zurück, wo er hergekommen war.

Nur wenige Minuten später stieg Gipsy eine aus Stahlbeton gegossene, enge Wendeltreppe hinab, die ins Dunkel führte. Die kühle Luft war eine Wohltat für seinen Körper und hinterließ ein angenehmes Prickeln auf seiner Haut. Undurchdringliche Schwärze breitete sich vor seinen Augen aus, aber er kannte den Weg ohnehin in und auswendig. Im Gegenteil, blind war es sogar einfacher, es schärfte die verbleibenden Sinne. Am Fuß der Treppe griff er sicher an einen kalt-feuchten Handlauf, mit dessen Hilfe er sich vorantastete. Lack splitterte vom Geländer ab, als er seine Hand daran entlanglaufen ließ. Bis auf ein gelegentliches Tropfen von der Decke war nichts zu hören. Je tiefer er in die Finsternis hinabstieg, desto intensiver nahm er einen schalen, modrigen Geruch wahr, wie in einem Keller mit feuchten, schimmligen Wänden. Nur schleppend verlangsamte sich sein Puls. Angestrengt versuchte er, jegliche Geräusche wahrzunehmen, die sein Verfolger zweifelsohne hier machen würde, aber außer dem vehementen Schlagen seines Herzens drang nichts an seine Ohren.

Als er letztendlich an seinem Ziel angelangt war, tastete er sich an der rauen Wand entlang, bis er zu einem klapprigen Tisch gelangte. Zielsicher griff er nach einer darauf befindlichen Kerze und entzündete sie. In Sekundenschnelle wurde der winzige Raum in schummriges Licht getaucht. Die Flamme warf tänzelnde Schatten an die fensterlosen, aus bloßen Ziegeln gemauerten Wände, die den Raum begrenzten. Das Gewölbe über ihm war von Rissen durchzogen und unzählige Wurzeln hingen aus den mörtellosen Spalten, die einst das Ziegelwerk zusammengehalten hatten. Eine massive, gusseiserne Tür, die Gipsy zuvor verschlossen hatte, markierte den einzigen Weg in und aus dem Raum.

Gierig kauerte er in der Mitte des Raumes auf bloßer Erde und begutachtete den Koffer von allen Seiten. Er sah teuer aus, sehr teuer. Vorsichtig bückte er sich hinunter und atmete den Geruch von echtem Leder tief ein. Er nahm den Koffer hoch, führte ihn zu seinem Ohr und schüttelte ihn vorsichtig.

„Gut gefüllt“, flüsterte er sich selbst zu, während er die Hände aneinander rieb.

In seinen Gedanken malte er sich aus, was er wohl in dem Koffer finden würde. Geld, Schmuck, Kreditkarten, seine Fantasien kannten dabei keine Grenzen. Er ließ sanft seine nikotinverfärbten Finger über das weiche Leder gleiten, dann stellte er den Aktenkoffer aufrecht auf den Boden und inspizierte die beiden Schlösser. Zum Öffnen war ein Code nötig, der an jeweils drei mechanischen Rädchen, dicht nebeneinander positioniert, auf der Stirnseite des Koffers, eingegeben werden konnte.

Er grinste. Solche Schlösser waren mehr Abschreckung als tatsächlicher Schutz. Sie waren an Trolleys, Reisetaschen, Tagebüchern und eben auch an Aktenkoffern oft angebracht und machten einen Schlüssel, den man leicht verlieren konnte, überflüssig. Wenn die Menschen, die diese verschließbaren Objekte bei sich trugen, nur wüssten, wie leicht sie zu öffnen waren, sie würden ihre Wertsachen bestimmt anders aufbewahren. Alles, was man dazu brauchte, war eine Kombination aus feinem Gehör, Fingerspitzengefühl und absoluter Stille. Mit seinem linken Ohr, es war sein besseres, ging er mit dem Schloss auf Tuchfühlung, während er gefühlvoll am ersten Rädchen drehte.

„Klick, klick, klick, klick, klack.“

Er fühlte einen winzigen, kaum wahrnehmbaren Schlag in seiner Fingerspitze, als das Rädchen von der Sechs auf die Sieben rutschte.

„Also eine Sieben!“, kicherte er triumphierend.

Als er seine Finger an das nächste Rädchen legte, rissen ihn näher kommende Schritte aus der Konzentration. Hastig griff er nach dem Koffer, blies die Kerze aus und bezog Posten neben der Tür. Egal, wer es war, bevor der Eindringling wusste, dass er hier war, würde er ihn schon ausgeschaltet haben. Als die Schritte verstummten, wusste Gipsy, dass der Unbekannte direkt vor seinem einzigen Fluchtweg verharrte. Sein Herz schlug wie wild gegen seinen Brustkorb. Er umklammerte einen Mauerziegel, den er in Ausholposition über seiner Schulter hielt. Säuerlicher Geruch kalten Schweißes, der seinen Körper benetzte, breitete sich wie in einer Käseglocke um ihn aus. Mörtelreste rieselten vom Ziegel in seinen Kragen und bildeten mit dem Schweiß an seiner Haut eine klebrige Masse. Ein dumpfes Klopfen drang durch die Stahltür, gefolgt von einem Zweiten, Dritten und Vierten, dann herrschte wieder vollkommene Stille.

Erleichtert seufzte Gipsy und ließ den Ziegel zu Boden fallen. Danach drückte er den Öffner nach unten und stemmte seinen Körper gegen die Stahltür, die mit einem lauten, rostigen Quietschen aufschwang. Sekundenbruchteile später nahm er den vertrauten faulig-dampfenden Atem seines Freundes wahr.

„Hast du ihn?“, erklang Jonnys Stimme aus der schier undurchdringlichen Schwärze hinter der Tür.

„Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du nicht so laut sein sollst?“, zischte Gipsy verärgert.

„Ist ja gut, hast du ihn?“, wollte Jonny unbedingt wissen.

„Ja, sicher, komm schon rein und mach‘ die Tür hinter dir zu, verflucht noch mal.“

Während er seine Finger noch immer fest um den Griff des Koffers krampfte, ging er zum Tisch und entzündete die Kerze erneut.

Jonnys hässliche Fratze tauchte dicht vor ihm auf, den Blick auf das begehrte Objekt gerichtet.

„Fass‘ ihn nicht an“, brummte Gipsy, „der Koffer alleine ist ein Vermögen wert, der ist aus echtem Leder, du dreckst ihn doch nur ein!“

Jonny zögerte verlegen, aber seine Neugierde vermochte er nicht zu unterdrücken: „Was ist drin?“

„Hättest du mich nicht beim Öffnen gestört, würden wir das längst wissen und jetzt setz dich hin und sei still!“ Jonny tat, wie ihm gesagt wurde, während Gipsy seine Aufmerksamkeit wieder auf das Schloss richtete.

Kurze Zeit später, lediglich für geschulte Ohren hörbar, klackte es einmal, danach ein zweites Mal, bevor er die gleiche Prozedur am zweiten Schloss wiederholte.

Gipsy schob die goldenen Knöpfe, die links und rechts am Koffer angebracht waren, zur Seite und ließ die Verriegelung aufklappen. Beim Anblick des prall gefüllten Innenraums funkelten seine Augen. Jonny trat näher, um in den breiter werdenden Schlitz des sich öffnenden Koffers zu spähen.

Tatsächlich, er war reichlich gefüllt. Teure Kleidung, feinsäuberlich zusammengelegt, eine Brieftasche, ein Reisepass, eine weiße Plastikkarte, auf der ein Logo aufgedruckt war, einige Notizzettel und ein Schaumstoffkissen.

Gipsy griff gierig nach der Brieftasche. Er öffnete sie und konnte seinen Augen kaum trauen. Er zog ein Bündel Geldscheine heraus und wedelte damit vor Jonnys Gesicht.

„Wir sind reich!“, sprang Jonny auf und vollführte einen Freudentanz.

Gipsy gab ein grunzendes Lachen von sich, das dumpf von den Wänden widerhallte.

„Zähl‘ es nach“, drängte Jonny.

Gipsy hastete zum Tisch, wischte die dicke Schicht Staub mit seinen Händen davon ab, befeuchtete seinen Daumen mit der Zungenspitze und begann, im Gleichklang der Tropfen, die von der Decke platschten, zu zählen. Einen Schein nach dem anderen legte er sorgfältig auf der Tischplatte zu einem Stapel ab. Als er fertig war, konnte er es kaum glauben. Er holte tief Luft, bevor er mit dünner Stimme verkündete: „Ich werde wahnsinnig, das sind 6120 Euro!“

Jonny riss die Augen weit auf: „Scheiße“, war alles, was er hervorbrachte, während er sich mit beiden Händen an die Stirn fasste. Als sich die beiden wieder gesammelt hatten, durchstöberten sie die übrigen Fächer der Geldbörse. Gipsy förderte einen Personalausweis und einen Führerschein zu Tage.

Jonny legte sie gemeinsam mit dem Reisepass auf einen separaten Stapel: „Ich kenne da jemanden, der gutes Geld für Ausweise bezahlt. Ich glaube, er verkauft sie an die Russen, ich werde gleich morgen mal bei ihm vorbeischauen.“

Anschließend richteten sie ihre Aufmerksamkeit auf den verbliebenen Inhalt des Koffers. Er war gefüllt mit Dingen, die sich ebenfalls gut verkaufen lassen würden. Dann wanderte Gipsys Blick über das Schaumstoffkissen. Darin war eine kleine, längliche Glasphiole eingebettet. Die Öffnung war mit einem Gummipfropfen verschlossen, im Gefäß schwamm eine gelbliche Flüssigkeit. Geringschätzig nahm Gipsy das Gefäß mit spitzen Fingern aus der Aussparung, begutachtete es kurz und warf es dann in hohen Bogen gegen die Wand, wo es mit lautem Klirren zerbarst: „Was ich nicht kenne, kann ich auch nicht verkaufen!“

Jonny nickte.

„Weißt du was?“, zwinkerte er Jonny zu, „wir gehen jetzt erst ‘mal ordentlich einen saufen!“ Er klappte den Koffer zu, verriegelte das Schloss erneut, stand auf und ging zur Tür. Jonny folgte ihm.

Kapitel 1

Ohne Vorwarnung wurde die Stille im Raum durch Mozarts „Eine kleine Nachtmusik“ durchschnitten. Im Hintergrund ertönte ein monotones, stetig wiederkehrendes Brummen.

Jemand wälzte seinen Körper im Bett umher, ehe das Licht der Nachttischlampe den Raum flutete.

Inspektor Gabriel Stark schob die Seidenbettwäsche zur Seite und blickte auf das Ziffernblatt seiner Rolex – es war gerade einmal halb fünf Uhr morgens.

„Scheiße“, fluchte er, bevor er mit seinen Fingern durch das zerzauste, halblange Haar fuhr. Anschließend griff er zu seinem Smartphone, das unentwegt vor sich hin musizierte.

Seufzend presste er seinen Daumen auf den Touchscreen und führte das Telefon an sein rechtes Ohr: „Stark“, meldete er sich.

Im Halbschlaf lauschte er den Worten vom anderen Ende der Leitung.

„Ich verstehe, ich mache mich auf den Weg. Sagen Sie den Jungs von der Spurensicherung, dass sie diesmal sauber arbeiten sollen, noch besser wäre, sie greifen erst gar nichts an, bis ich dort bin!“

Ohne ein Wort der Verabschiedung unterbrach er die Verbindung und legte das Smartphone zurück auf die Glasfläche seines Nachtkästchens. Er stand auf, sein sportlicher Körper wurde nur von Boxershorts bedeckt, und ging ins Bad. Die Größe des Raumes war beeindruckend, anderer Menschen Wohnzimmer mochten kleiner sein. Dominiert wurde sein persönliches Spa von einer nach allen Seiten frei stehenden, weißen Keramikbadewanne im Zentrum des Raumes.

In der hinteren Ecke des Raumes befand sich eine Massagedusche, die auf einem roten Granitsockel aufgebaut war. Ein ausgeklügeltes System aus unzähligen Spots, die in die Decke eingelassen waren, ließ den Raum in hellem Licht erstrahlen. Stark blickte in den mannshohen Spiegel und fragte sich für einen Moment, wie er wohl in zehn Jahren aussehen würde. Er war Mitte dreißig, gut aussehend und auch ein wenig stolz darauf. Auch wenn er auf seinen Körper achtete, so machte er keinen Kult daraus. So wie viele andere betrieb er etwas Sport, ging ab und zu zum Shopping und benutzte handelsübliche Pflegeprodukte für Männer.

Das eiskalte Wasser prickelte auf seiner Haut und brachte seinen Kreislauf in Schwung. Halbwegs wach kämmte er seine Haare, während er sich selbst im Spiegel anflirtete. Nachdem er ausreichend Gel in seinem Haar verteilt hatte, fischte er eine Tommy Hilfiger-Jeans aus seinem begehbaren Kleiderschrank und ein passendes Hemd samt Sakko dazu.

Am Weg zur Tür griff er nach seiner Dienstwaffe, eine schwarze Walther P99, steckte sie in sein ledernes Schulterholster und verließ die Wohnung.

„Also, schon wieder ein Toter“, dachte er wenig überrascht, „Nummer drei diese Woche.“

Mit einem hellen „Bing“ glitt die Fahrstuhltür zur Seite. Im Lift stand ein älteres Ehepaar. Stark kannte sie nur flüchtig, sie bewohnten eine der Wohnungen in den unteren Stockwerken. Eine schimmernde Glatze ragte über dem fleischigen, von roten Flecken dominierten Gesicht des Mannes, während seine Frau eine schwarz gefärbte, dauergewellte Mähne trug und knallroten Lippenstift, großzügig auf ihren Zähnen verteilt, aufgelegt hatte.

Eine Duftwolke, die einem den Atem verschlug, bestehend aus Haarspray und billigem Parfum, schlug Stark entgegen. Stark nickte den beiden mit zusammengepressten Lippen zu und drückte „E“ auf dem Panel.

Stark trat in den heißen, schwülen Sommermorgen und ging schnellen Schrittes über den Neuen Markt. Im beginnenden Morgengrauen erblickte er die orange Fassade der Kapuzinerkirche, in deren Gruft die Gebeine der habsburgischen Herrscher Österreichs der letzten vier Jahrhunderte ruhten. Vor langer Zeit, als Stark neu in die Stadt gekommen war, genoss er eine Führung durch die makabere Welt der Herrschergruft. In mehreren Räumen sah er die prunkvollen Särge der verstorbenen Regenten und deren Familien aufgebahrt und über die Jahrhunderte gut erhalten geblieben. Das Spektrum der beigesetzten Monarchen reichte von Kaiser Matthias, dem Gründer der Gruft, über Maria Theresia, die als erste Herrscherin Europas bereits im achtzehnten Jahrhundert die Schulpflicht eingeführt hatte, bis hin zu Kaiser Franz Josef und dessen Gemahlin Sisi, der die Ungarn heute noch Blumen an den Sarg legten. Zu guter Letzt fand sich Zitas Ruhestätte hier, die letzte Kaiserin Österreichs.

Als Stark damals die Gruft wieder verlassen hatte, zog ihn das gegenüberliegende altbürgerliche Wohnhaus mit seiner lachsfarbenen Fassade und dem Kirschholztor, in dem sich die Sonne spiegelte, in seinen Bann. Angesiedelt im ersten Wiener Gemeindebezirk stand das antike Gebäude gleichermaßen für Beständigkeit und Schönheit. Ein jahrhundertealtes, gut saniertes Gebäude in Wiens Altstadt, am „Neuen Markt“, nur einen Steinwurf vom Stephansdom entfernt. Genau das, was er sich vorgestellt hatte.

Stark schüttelte die alten Erinnerungen ab, ging zu seinem Parkplatz und steckte den Schlüssel in das Schloss seines in rotem Lack und Chrom gehaltenen Ford Mustang Cabriolet, Baujahr 1965. Als er den Zündschlüssel im Schloss drehte, begann der V8 Motor, tief zu dröhnen. Stark liebte den Klang seines Autos fast so sehr, wie er die klassische Musik liebte, eine seltsame Kombination. Aber eben das war es, was Gabriel Stark unverkennbar machte, Gegensätze mussten sich bei ihm nicht immer ausschließen.

Er fuhr am Donnerbrunnen vorbei, einem Monument aus dem achtzehnten Jahrhundert, steuerte seinen Wagen in die Plankengasse und verließ den ersten Bezirk in Richtung Hietzing. Während er Wien in südliche Richtung durchfuhr, drehte er an dem Stellrad seinen Radios, bis er klaren Empfang hatte.

Die Stimme aus den fünf Lautsprecherboxen, Stark hatte sie letztes Jahr für viel Geld nachrüsten lassen, erklang in hellem, rauschfreiem Ton: „Hallo, und guten Morgen. Hier ist noch einmal Sandra Müller mit Nachtflug. Es ist jetzt genau 04:45. Unser Thema, für diejenigen, die gerade erst zugeschaltet haben, sind die grauenhaften Morde an zwei Männern aus Wiens High Society. Unbestätigten Meldungen zufolge soll der Heroinkiller heute Nacht ein weiteres Mal zugeschlagen haben.“

„Toll, jetzt hat der Typ sogar schon einen Künstlernamen von den Zeitungsfritzen verpasst bekommen. Wird Zeit, dass ich die Sache zu einem Ende bringe“, grummelte Stark vor sich hin.

Unverdrossen fuhr die Moderatorin fort: „In Wien liegen die Nerven blank, vor allem in der gehobenen Gesellschaft der Stadt. Psychologen warnen eindringlich vor weiteren Opfern. Bei mir ist Professor Hagendorf, Psychoanalytiker der Universität Wien, guten Morgen Professor und danke, dass Sie sich zu so früher Stunde Zeit für uns genommen haben.“

„Sehr gerne“, erwiderte der distanziert wirkende Mann knapp.

Die Moderatorin flötete unbeirrt fort: „In der Leitung habe ich nun Gunter.“

Nach einer kurzen Pause, in der die Moderatorin den Anrufer ins Studio schaltete, sprach sie: „Hallo, Gunter“

„Hallo, Sandra“, meldete sich selbstbewusst ein Mann, der Stimme nach mittlerem Alters, wie Stark vermutete.

„Gunter, du bist nun live auf Sendung. Welche Frage möchtest du dem Professor stellen?“

„Nun ja“, antwortete er, „Ich würde gerne wissen, wann dieser Wahnsinnige endlich geschnappt wird.“

„Sehen Sie Gunter, in ganz Wien arbeiten unzählige Polizisten und Profiler fieberhaft daran, den Kreis der Verdächtigen weiter einzuengen“, antwortete der Professor in gewohntem Fachchinesisch, „es werden laufend Fortschritte gemacht. Ich bin sehr zuversichtlich, dass …“

„Ach, kommen Sie schon, ich weiß, wie ihr Beamten arbeitet. Ehrlich, da kommt mir doch das Kotzen!“

Mit jedem ausgesprochenen Wort schien sich der Mann mehr in Rage zu reden: „Ich hätte gute Lust, eine Bürgerwehr zusammenzustellen, die sich dann richtig um diese Sache kümmert. Sind wir‘s uns doch ehrlich, ihr streicht jede Menge Steuergeld ein und letzten Endes muss man doch alles selbst erledigen.“

„So ein Arschloch!“, fluchte Stark kopfschüttelnd.

„Nun ja, Gunter, ich versichere Ihnen …“, gab sich der Professor wenig kämpferisch.

„Was versichern Sie?“, schnitt ihm Gunter erneut das Wort ab, „Sie können gar nichts versichern! Meine Familie gehört selbst zu diesen elitären Kreisen, also kann Ihnen nur eines sagen: Tun Sie etwas dagegen, oder wir werden das Problem selbst lösen!“

In dem Mann kochte sichtlich die Wut hoch. Obwohl Stark es besser hätte wissen sollen und die „Play“-Taste an seinem CD Spieler hätte drücken sollen, lies er die Radiosendung weiter laufen.

„Ich verstehe Sie, aber Sie müssen jetzt Ruhe bewahren und die Polizei ihre Arbeit tun lassen“, war alles, was der sichtlich überforderte Professor noch dagegen zu halten hatte.

Das wusste wohl auch die Moderatorin, aber wer wäre sie, wenn sie an dieser Stelle eingegriffen hätte? Als alter Hase im Business wusste sie, dass Emotionen immer gut für die Quoten waren.

„Wissen Sie was?“, fauchte der Mann durch die Lautsprecheranlage des Mustangs, als ob er neben Stark säße, „ich scheiße auf ihre Erklärungen und ich scheiße auch auf die Polizei …“

Das war der Moment, in dem die Moderatorin nun doch eingriff und den wütenden Mann aus der Leitung nahm: „Danke Gunter und nun ein Hit aus dem vergangenen Sommer …“

Stark nahm die Gunst der Stunde wahr und ließ Beethovens Neunte in den Aufnahmeschlitz seines CD Spielers gleiten. Er lehnte sich entspannt in seinem Ledersitz zurück und genoss die Stille der Stadt, die erst langsam erwachte. Mittlerweile hatte Stark Schloss Schönbrunn und dessen Tiergarten, der als der älteste noch bestehende Zoo der Welt galt, hinter sich gelassen und fuhr die Lainzer Straße entlang. Im Vorüberfahren wanderte sein Blick über die unzähligen Reklametafeln, die das Straßenbankett säumten.

Auf einer war ein luxuriöses Ausflugsschiff abgebildet, das, der untergehenden Sonne entgegen, sorglos durch die Wässer des Donaukanals trieb. Unterhalb des Bildnisses war in großen Lettern „MS Danube“ zu lesen, darüber entzifferte Stark die Wörter „Donau-Kanalrundfahrt“ und „geschlossene Gesellschaft“, ehe er an der Reklame vorbei war.

Er war zwar kein großer Schwimmer, aber für Schifffahrten, vor allem wenn sie luxuriös gestaltet waren, hatte er immer schon etwas übrig gehabt. Wenn seine Zeit es erlauben würde, und das würde sie definitiv erst dann, wenn sein Fall gelöst war, dann würde er sich mit einer Schifffahrt nach Budapest selbst belohnen.

Im fahlen Licht der Morgendämmerung versuchte er noch einmal, seinen Kopf frei zu bekommen, um sich auf das Bevorstehende vorzubereiten. Eine Mordserie musste aufgeklärt werden und er würde sie mit Sicherheit aufklären, das war immer so gewesen und würde sich auch jetzt nicht ändern. Es gab niemanden, der an einem Fall härter arbeitete als er, sein ganzes Tun war darauf ausgerichtet. In seiner Jugend hatte sein Leben eine entscheidende Wendung genommen, die ihn förmlich dazu zwang, nach Wien zu gehen. Als er sein Talent erkannt hatte, war es für ihn eine logische Konsequenz gewesen, in den Polizeidienst zu treten. Die Erinnerung an die Geschehnisse von damals war blass und nebelhaft und trotzdem schien es so, als wäre es erst gestern passiert, als seine Welt für immer verändert wurde.

Er durchquerte Hietzing, bis er in der Nähe des Krankenhauses an einer lang gezogenen Einfahrt mit offenstehendem, schwarzem Tor und einem makellosen Kieselweg dahinter, der von weiten Rasenflächen eingeschlossen war, zu stehen kam.

Mehrere Streifenwagen standen bereits innerhalb und außerhalb des Geländes und erhellten den jungen Morgen mit einem rotblauen Farbenspiel. Vor der Einfahrt flatterte ein rot-weiß gestreiftes Band mit der Aufschrift: „Polizeiabsperrung“.

Kapitel 2

Stark stieß die Wagentür auf und ging zur Absperrung. Als seine Absichten erkennbar wurden, seufzte ein junger, muskulöser Mann, in der für die österreichische Polizei typische dunkelblaue Uniform gekleidet, laut auf und schnitt ihm den Weg ab: „Sie da!“, schnauzte er, „hier gibt es nichts zu sehen, steigen Sie wieder in ihr Auto und fahren Sie weiter.“

Der Polizist verschränkte die Arme und blies dabei seinen Brustkorb auf. Stark, selbst von athletischer Statur, wirkte daneben geradezu schmächtig.

„Nein, ich denke, ich werde hier bleiben“, widersprach Stark herausfordernd, dem weder die Körpergröße seines Gegenübers noch sein kahl geschorener Kopf, der unter der Tellerkappe erkennbar war, imponierten.

„Sie steigen jetzt wieder ein, oder ich werde Sie festnehmen!“

Seine Drohung untermauernd, griff der Mann an den Holster seiner Dienstwaffe.

„Inspektor“, überrumpelte Stark den jungen Beamten, während er übertrieben auffällig auf dessen Rangabzeichen starrte, „sagen Sie mir, was Sie jetzt falsch gemacht haben!“

„Was … wie … was soll das?“, konnte sich der Mann keinen Reim daraus machen.

„Ich habe Ihnen eine einfache Frage gestellt, beantworten Sie sie!“, drängte Stark.

Nachdenklich legte der Polizist die Stirn in Falten: „Ich weiß nicht, was für ein Spiel Sie hier spielen, aber jetzt reicht es, nehmen sie die Hände …“

„Sie haben nicht gefragt, was ich hier mache, nicht wahr?“, schnitt ihm Stark energisch das Wort ab.

Nach einer kurzen Denkpause versuchte der muskelbepackte Mann, der Stark an einen Eichenholzwandschrank erinnerte, zu retten, was zu retten war: „Also, was machen sie hier?“ stieß er verunsichert hervor. Stark grinste triumphierend. Er liebte es, seine intellektuelle Überlegenheit auszuspielen.

„Was tun Sie da, Stark? Denken Sie, der Fall löst sich von selbst?“, spöttelte eine allzu bekannte Stimme.

Ohne sich der Quelle zuzuwenden, erwiderte Stark: „Schön, Sie zu sehen, Hauptmann.“

Hauptmann Walter war der Chef der Mordkommission und ein erfahrener sowie begabter Ermittler zugleich. Als Polizist von altem Schlag war er jemand, der seinen Instinkten mehr traute als modernen Methoden.

„Jaja, sparen wir uns die Höflichkeiten für später auf! Was tun sie beide hier?“

„Nun, äh, ja …“, stammelte der junge Mann, „um ehrlich zu sein, wollte ich den Mann gerade in Gewahrsam …“, so wie er es ausgesprochen hatte, erkannte er die Lächerlichkeit seiner Worte.

„Er wollte“, unterbrach ihn Stark süffisant lächelnd, „gerade nach meinem Dienstausweis fragen.“

Das Gesicht des Mannes lief rot wie eine überreife Tomate an. Stark holte ein Lederetui aus dem Sakko und klappte es auf. Er nahm sich unendlich Zeit dabei und genoss seinen Sieg in vollen Zügen.

„Oh, Bezirksinspektor Stark“, schluckte der Mann, „es freut mich, dass Sie hier sind“.

„Es freut Sie?“

„Ja außerordentlich!“

„Und warum?“, war es diesmal Stark, den die Worte fehlten.

„Nun ja, sie wurden mir zuge…“

„Ich habe Ihnen den Kollegen Johannes Richter zugeteilt“, unterbrach der Hauptmann, „und sparen Sie sich die Widerrede, lernen Sie mit anderen zusammenzuarbeiten oder lassen Sie sich zum Bibliothekar umschulen, klar?“

Noch bevor der Polizeihauptmann zu Ende gesprochen hatte, beglückte er sich im Stillen und ein vergnügtes Grinsen huschte über seine Lippen.

„Sie müssen ihn nicht gleich adoptieren“, fuhr er fort, „er soll Ihnen hier am Tatort helfen, dann ist der Zauber auch schon wieder vorbei. Inspektor Richter befindet sich in Ausbildung und wurde unserer Einheit zugeteilt, um Praxis zu sammeln.“

Dem hatte nicht einmal der sonst so wortgewandte Stark etwas entgegenzusetzen. Wenn sich Hauptmann Walter etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann standen die Chancen ihn davon abzubringen schlechter, als bei den Euromillionen den Jackpot abzuräumen.

Walter kratzte sich am Haaransatz, ehe er fortfuhr: „Kommen wir jetzt zum Fall. Der Name des Opfers ist Peter Müller, eine bedeutende Persönlichkeit im Auktionsgeschäft und nebenbei stinkreich. Alles andere wird Ihnen der Gerichtsmediziner erzählen, viel Glück.“

Stark seufzte tief, wandte sich Richter zu und instruierte ihn knapp: „Mitkommen! Halten Sie sich stets fünf Meter hinter mir und treten Sie nirgendwo hin, wo ich nicht zuerst meinen Fuß abgesetzt habe!“

Danach stapfte er zur Absperrung.

Richter, sichtlich verunsichert, schätzte geduldig den Abstand ein, ehe er sich zaghaft in Bewegung setzte und Stark hinterherdackelte. An der Absperrung schnippte Stark sein Lederetui erneut auf, worauf der untersetzte Polizist, der dort Wache hielt, das Absperrband hochzog, um Stark und seinen Schatten passieren zu lassen.

Im Studierzimmer der Villa herrschte eine Geschäftigkeit wie in einem Ameisenhügel. Mitarbeiter der Spurensicherung in weißen Overalls und Masken vor dem Mund suchten mit Puder und weichen Pinseln nach Fingerabdrücken, Streifenpolizisten sicherten den Raum, während ein älterer Mann vor einem nackten, leblosen Körper kniete. Geschäftig untersuchte er die Leiche und sprach dabei in sein Diktiergerät, dass er an einem Band um den Hals trug: „Aufgrund der Anordnung der Blutspritzer im Raum und der Blutlache neben der Leiche, gekennzeichnet mit den Beweismittelnummern eins und zwei, und der entleerten Spritze, gekennzeichnet mit der Nummer drei, sowie der Lage der Leiche, gehe ich davon aus, dass sich hier der primäre Tatort befindet.“

In einer Ecke des Raumes presste der Polizeifotograf den Sucher seiner digitalen Spiegelreflexkamera gegen sein Auge und fotografierte jedes noch so kleine Detail, von Faserspuren in einem Sessel bis hin zu den unzähligen Blutspritzern, penibel genau.

Ein Paar Latexhandschuhe überstreifend, schritt Stark an den alten Mann heran, der noch immer fleißig in sein Diktiergerät sprach.

„Guten Morgen“, unterbrach Stark.

Der Mann seufzte tief und drückte die Stop-Taste an seinem Aufnahmegerät: „Sie müssen wohl Bezirksinspektor Stark sein, nicht wahr?“, antwortete der Mann, ohne sich Stark zuzuwenden.

„Genauso ist es“, verneigte sich Stark kurz, „mein Ruf scheint mir vorauszueilen.“

Der Mann rollte mit den Augen: „Er überrollt einen förmlich. Aber lassen Sie sich eines gesagt sein, solange hier noch Spuren gesichert werden, ist dies mein Tatort!“

Robert Kasper stand kurz vor seiner Pensionierung und blickte auf fünfunddreißig Jahre Erfahrung als Gerichtsmediziner zurück. Er hatte schon so manches erlebt, woran andere gar nicht zu denken wagten, aber es waren Leute wie Stark, die ihm den letzten Nerv zogen, keine Leiche der Welt konnte das besser.

Stark ignorierte den Mann und umkreiste die Leiche wie ein Hai einen über Bord gegangenen Matrosen, ehe er sich bückte. Er begutachtete die leblose Hülle, wie ein Winzer sein erstes Glas Zweigelt der Saison.

Kasper schüttelte resignierend den Kopf und widmete sich wieder seiner Arbeit.

Stark hob die Hand des Opfers an und begutachtete die Schnittfläche, an der der kleine Finger abgetrennt worden war, von allen Seiten.

„Es dürfte wieder ein Fleischerbeil gewesen sein“, warf der alte Mann ein, ohne aufzublicken, „aber genaueres gibt’s wie immer erst nach der Obduktion.“

„Ich verstehe“, antwortete Stark.

Ein Blick auf die blassblauen Lippen des Opfers verriet Stark, dass es sich um einen Erstickungstod gehandelt haben musste.

Der halb geöffnete Mund der Leiche war zu einem stillen, letzten Todesschrei verzogen.

Neben dem leblosen Körper befand sich eine entleerte Spritze mit aufgesteckter Kanüle.

„Wo ist der Einstichkanal?“, wollte Stark wissen.

„Da ich ihn bis jetzt noch nicht gefunden habe, gehe ich davon aus, dass wir ihn irgendwo am Rücken des Opfers finden werden“, antwortete der alte Kauz mit monotoner Stimme.

„Und der fehlende Finger?“

„Den konnten wir nicht sicherstellen. Es scheint, als ob der Mörder auch hier den Finger als Trophäe mitgenommen hätte. Alles in allem, Sie wissen, ich bin kein Profiler, aber ich denke, man kann davon ausgehen, dass wir es mit dem dritten Opfer desselben Mörders zu tun haben.“

Stark nickte bestätigend.

Stillschweigend stand Richter hinter Stark und lauschte dem Gespräch gelehrig.

„Wurde der Finger vor oder nach Einsetzen des Todes amputiert?“, fragte Stark.

„Anhand der Gerinnung des Blutes würde ich sagen, dass zuerst der Finger amputiert wurde und dann die Überdosis Heroin verabreicht wurde. Genaueres kann ich aber erst berichten, wenn wir die Blutproben analysiert haben.“

Kasper nahm eine Plastikröhre aus seinem silbernen Koffer, schob das darin eingebettete Wattestäbchen heraus und tränkte es in die Blutlache am Boden. Als sich die Watte mit Flüssigkeit vollgesaugt hatte, zog er das Stäbchen zurück in die Röhre und verschloss sie mit einem Pfropfen luftdicht. Danach packte er alles in einen Beutel und beschriftete ihn.

Als er damit fertig war, winkte er einen Mann mit weißem Overall, Haarnetz und Maske herbei.

„Sie fassen an den Beinen an“, instruierte er ihn, während er selbst am Kopfende des Toten Stellung bezog.

Auf das Kommando des Gerichtsmediziners packten beide den Leichnam und drehten ihn vorsichtig auf den Bauch.

Der Mann am Fußende des Toten wandte sich schaudernd ab. Er war so bleich geworden, dass man ihn glatt hätte mit der Leiche verwechseln können.

„Anfänger“, seufzte Kasper, bevor er den Blick von seinem jungen Kollegen nahm und sich der Leiche zuwandte.

Der Rücken des Leichnams war vollständig in Violett getaucht, an einigen Stellen in dunkles Blau. Am Boden befand sich eingetrocknetes Blut, verschmiert durch das Gewicht der Leiche, die darauf gelegen hatte.

Starks Augen wanderten den Körper ab wie ein Scanner. Die Totenflecken waren stark ausgeprägt, was darauf schließen ließ, dass der Mann bereits seit mehreren Stunden tot war. An mehreren Stellen war das Gewebe gerissen und dickflüssiges Blut ausgetreten.

„Sehen Sie sich diese dunklen Flecken an“, erklärte der Gerichtsmediziner mit ruhiger Stimme, „In ihrem Zentrum befinden sich millimetergroße Leichenfleckblutungen, sogenannte Vibices, was das Blut unter dem Leichnam erklärt. Vibices kommen hauptsächlich bei Erstickungsfällen und Todesfällen durch Drogen, wie zum Beispiel Heroin, vor.“

Er hielt ein Vergrößerungsglas dicht an die Wunde: „Es könnte bedeuten, dass wir es mit dem selben Täter zu tun haben, wie bei den anderen beiden Morden“, sagte der Gerichtsmediziner, ohne die Augen vom Opfer zu nehmen.

„Es scheint fast so“, antwortete Stark.

Binnen drei Tagen drei Tote war die blutige Bilanz des unbekannten Täters.

„Sehen Sie, Inspektor“, analysierte der Gerichtsmediziner trocken, während er mit dem Zeigefinger auf den Nacken des Opfers deutete, „hier haben wir unseren Einstich, genau in den linken Musculus trapezius.“

Stark begutachtete den Einstichkanal intensiv, ehe er sich aufrichtete und einem uniformierten Kollegen zuwandte: „Wer hat das Opfer gefunden?“

„Der Butler, er lebt im Nebengebäude.“

„Besteht der Verdacht eines Einbruches?“

„Nein, scheinbar nicht. Die Kollegen von der Spurensicherung sind zwar noch nicht fertig, aber nichts deutet darauf hin. An den Schlössern sind keine Spuren zu finden und fehlen dürfte auch nichts.“

Stark schloss die Augen und ging für einige Momente in sich. Drei Morde, drei abgetrennte Finger, drei Mal eine Überdosis Heroin verabreicht. Die dunkle Vorahnung, die an ihm genagt hatte, war nun tödliche Gewissheit geworden, ein Serienmörder war hier am Werk.

Während Stark angestrengt nachdachte, zogen Mitarbeiter der Spurensicherung Kunststoffbeutel über Hände und Füße der Leiche und verschnürten sie an den Gelenken mit Gummibändern. Danach hoben die Männer den Toten in einen schwarzen Kunststoffsack und zogen den Zipp mit einer schnellen Bewegung zu.

Kapitel 3

Tanja Pavlova schlenderte gedankenverloren die Alser Straße entlang. Ihr Blick schweifte über die Altbauten, mit ihren grauen, rissigen Fassaden, die sich lückenlos aneinanderreihten. Der Asphalt, der an einen Flickenteppich erinnerte, flimmerte unter der Sonne Wiens. Die heiße Sommerluft stand zwischen den hoch aufragenden Bauten, als hätte man eine Glasglocke darüber gestülpt. Die Alser Straße hatte neben jeder Menge Gemeindebauten ein paar Geschäften, dem einen oder anderen Beisel und der Straßenbahn nicht viel zu bieten, aber für Tanja war diese Gegend zu einem neuen zu Hause geworden, seit sie ihre Heimat verlassen hatte und nach Wien gezogen war.

Rechter Hand schob sich der enorme Bau des Wiener Allgemeinen Krankenhauses in ihr Blickfeld, der hoch über die Dächer der sanierungsbedürftigen Wohnhäuser emporragte.

An einer Fußgängerampel, die gerade auf Rot sprang, blieb sie stehen. Sie warf ihre braunen langen Haare in den Nacken und nippte genüsslich an ihrem Eiskaffee.

Tanja hatte diese tanzenden Augen, aus denen Humor und Lebensfreude sprachen. Was das Materielle anging, war sie alles in allem ein sehr genügsamer Mensch, aber auf der geistigen Ebene war sie jemand, der täglich die Herausforderung suchte, so wie das Wasser den schnellsten Weg nach unten. Sie trug Bluejeans, Sneakers und ein weißes T-Shirt ohne jegliche Aufschrift oder Muster.

Es war August und ein Ende der anhaltenden Hitzewelle war nicht absehbar.

So wie jeden Morgen, war sie auf dem Weg zur Arbeit.

Eigentlich hätte sie bequem die Straßenbahn nehmen können, die genau an ihrem Ziel, dem virologischen Institut Wien, hielt, aber sie bevorzugte es, die Strecke zu Fuß zurückzulegen. Das ermöglichte ihr, den Kopf freizubekommen, bevor sie sich in die Arbeit stürzte.

Sie überquerte einen Zebrastreifen, ging vorbei an einem Bettler, dem sie einen Euro in den Hut warf, und verschwand dann in einem Gebäude mit der Aufschrift “Virologisches Institut Wien“. Auch wenn das Gebäude alt und schäbig wirkte, die Steinstufen abgeschlagen waren, der Putz an manchen Stellen von den Wänden rieselte, sollte dieser Umstand jedoch nicht über die technischen Möglichkeiten hinwegtäuschen, die Tanja hier tagtäglich vorfand.

Sie nahm die Stufen in den ersten Stock, die direkt in ihr Büro führten. Die sterilen weißen Wände, die kühl und distanziert wirkten, hatte sie kurze Zeit nach Antritt ihrer Stelle als Virologin mit farbkräftigen Bildern, frischen Blumen und selbst gebastelten Dekorationsobjekten aufgelockert. Im direkt angeschlossenen Labor, das durch eine Glastür von ihrem Büro getrennt war, huschte ein junger Mann in weißem Kittel umher. Tanja legte ihre Handtasche am Schreibtisch ab, streifte ihren eigenen Mantel über und betrat das Labor. Der vertraute Geruch von Desinfektionsmittel stieg ihr in die Nase. Am liebsten hätte sie tief Luft geholt und wäre damit verschmolzen, denn das hier, das war ihre Welt.

Ein herzliches Lächeln umspielte ihre Lippen: „Hallo Moritz, so früh schon auf den Beinen?“

„Der Nasen-Rachen-Abstrich, den Sie mir gestern gegeben haben, ich wollte den Antikörpernachweis fertig haben, bevor Sie hier sind.“

Tanja nickte und fragte sich im Stillen, wie sie bisher ohne Moritzs Hilfe ausgekommen war.

Moriz Gerngroß hatte vor kurzem sein Medizinstudium abgeschlossen und seine Turnusausbildung begonnen. Neben sämtlichen anderen Fachabteilungen durchlief er dabei auch die Virologie. So unscheinbar und schüchtern Moritz auch war, so zielstrebig und fleißig war der rot gelockte Nachwuchsmediziner.

„Wie lautet das Ergebnis?“

„Positiv“, spannte er sie nicht lange auf die Folter, „sehen Sie selbst.“

Tanja gesellte sich zu ihm und begutachtete die Befunde.

„Gute Arbeit, Moritz.“

Bevor sie fortfahren konnte, ging die in geölten Angeln laufende Tür fast geräuschlos auf, und ein Mann mit silbergrauem Haar und schwarzem Anzug betrat das Labor.

„Hallo, Doktor Pavlova“, grüßte er sie mit einem Lächeln und kam auf direktem Weg zu ihr ins Labor.

Sein Händedruck war fest, versprühte trotzdem Freundlichkeit und Zuversicht.

Der Mann sah sich im Raum um: „Ich liebe Labors! Die Geräte, die ständige Spannung beim Warten auf Ergebnisse, der Geruch“, er sah Moritz an und grinste, „aber noch viel mehr liebe ich die Klimaanlage hier.“

Moritz und Tanja lachten beide laut auf.

„Ach, was waren das für Zeiten, als ich selbst noch täglich in den weißen Kittel schlüpfte“, schwelgte er in Erinnerungen, „aber jetzt ist mein Alltag von Finanzen und Personalplanung bestimmt und ich trage Anzüge mit viel zu eng geschnürten Krawatten ….“, er ließ den Rest in der Luft schweben,

bevor er erneut zum Wort ansetzte, „Doktor Gerngroß, ich hoffe, Sie fühlen sich wohl bei uns“, adressierte er Moritz, der beim Anblick des groß gewachsenen Mannes, der hier als Ikone galt, nur zögerlich zu Worten fand.

„Danke, Doktor Haslauer, es ist mir eine Ehre, hier lernen zu dürfen“, stammelte er verlegen.

„Sehr gut“, zwinkerte ihm Haslauer zu, „es war immer eine der obersten Prioritäten dieses Hauses, jungen Menschen unser Wissen zu vermitteln und seien Sie sich sicher, Sie lernen bei der besten Virologin, die wir haben.“

Tanjas Blick wanderte verlegen zum cremefarbenen Linoleum, das den Boden bedeckte.

„Wie Sie wahrscheinlich bereits wissen, Doktor Gerngroß, beginne ich den Tag am liebsten mit einem Gang durch das Gebäude. Ich denke, der direkte Kontakt zu den Mitarbeitern ist essenziell für den Erfolg dieser Abteilung.“

Moritz nickte hastig zustimmend.

„Nun, Doktor Pavlova, erzählen Sie mir, woran arbeiten Sie hier gerade?“

„Eine Anforderung von der Gerichtsmedizin. Es handelt sich um eine Probe mit Verdacht auf Influenza.“

„Ich verstehe“, sagte Haslauer, während er am Bügel seiner Brille kaute, „und das Ergebnis?“

„Laut Antigentest positiv, in der Probe befanden sich typische Antikörper.“

„Was empfehlen Sie“, fragte er, während er sie sanft anlächelte.

„Nun ja, die Influenza ist wohl nicht mehr von der Hand zu weisen, aber da es sich hierbei um einen Todesfall handelt, denke ich, es wäre das Beste, auf Nummer sicher zu gehen und ein PCR inklusive Zellkultur durchzuführen.“

Haslauers Ruhe ausstrahlenden Augen, mit den dichten, silbernen Brauen darüber, die er konzentriert nach oben zog, musterten sie kurz. Anschließend wandte er seinen Blick der Akte zu, die aufgeschlagen vor ihm lag. Mit quälender Gründlichkeit blätterte er sich durch den Bericht.

„Ja, Sie haben recht, der Antikörpernachweis scheint eindeutig zu sein“, sein Blick schweifte über die erste Seite des Berichts, „die Probe stammt von einem Mann namens“, er runzelte die Stirn und blickte in Tanjas bernsteinfarbene Augen, „Gipsy?“

„Nun ja, der Verstorbene war ein Obdachloser. Bei ihm konnten keine Ausweise gefunden werden und seine Freunde nannten ihn schlichtweg Gipsy, daher der sonderbare Name in der Akte.“

„Ich verstehe.“

Wieder kaute er an seiner Brille, an der sich deutliche Spuren an den Kunststoffbügeln abzeichneten: „Denken Sie, dass es sinnvoll ist, für jemanden, der auf der Straße lebte, den Abfall durchwühlte und höchstwahrscheinlich Alkoholiker mit Leberzirrhose im Endstadium war, die teuren Geräte zu bemühen? Zumal wir hier einen so eindeutigen Befund vorliegen haben?“

Er legte die Stirn auf eine vertraute Art und Weise in Falten.

Während ihrer Facharztausbildung unter Haslauer hatte sie gelernt, dass das seine Art war zu sagen: „Überdenke deinen Plan noch einmal.“

Sie war Wissenschaftler, kein Finanzexperte, aber die Ebbe in den Kassen der Universität war auch ihr nicht verborgen geblieben. Die leeren Floskeln der Politiker, Österreich zu einem Bildungs- und Technologiestandort zu entwickeln, widersprachen dummerweise eines ums andere Mal dem Wunsch nach einem Nulldefizit und damit verbundenen neuen Sparpaketen.

Tanja blickte ihrem Chef und Mentor in seine tiefblauen Augen, dann wieder hinunter zum Befund.

„Vielleicht haben Sie recht, ich meine, der Befund ist schließlich mehr als nur eindeutig.“

Haslauer lächelte und tätschelte Tanja die Schulter: „Aber nun möchte ich Sie beide nicht länger aufhalten.“

Er verneigte sich kaum sichtbar und verschwand wenige Augenblicke später am Flur.

Tanja saß gerade an ihrem Schreibtisch und hämmerte im Zehnfingersystem auf die Tastatur ihres Computers ein, als sie beim schrillen Tröten des Festnetztelefons aufschrak. Sie rieb sich die Augen, hob dann den Hörer von der Gabel und presste die Muschel an ihr Ohr: „Virologisches Institut der medizinischen Universität Wien, Doktor Pavlova, was kann ich für Sie tun?“

„Hier spricht Robert Kasper von der Gerichtsmedizin, hallo Tanja, wie geht’s?“

„Ah, hallo Robert. Mir geht es gut, danke. Du rufst sicher wegen dem Influenzabefund an, der sollte mittlerweile in der Hauspost liegen. Du solltest ihn in Kürze in Händen halten können.“

„Ah ja, der Befund, sehr gut“, nach einer kurzen Pause, die er dafür benutzte, um sich zu schnäuzten, fuhr er fort, „eigentlich rufe ich aus einem anderen Grund an“, bellte er heiser in die Muschel, „es scheint, als ob ich mir eine Erkältung zugezogen hätte.“

„Du Ärmster“, fühlte Tanja mit ihm mit, „was tust du dann noch in der Arbeit?“

„Genau das ist es ja“, erwiderte er, „die Polizei wartet auf eine dringende Obduktion, die nicht aufgeschoben werden kann. Wie du sicher weißt, sind all meine Kollegen bis über den Kopf eingedeckt in Arbeit, krank oder im Urlaub, den könnte ich übrigens auch gebrauchen“, schweifte der alte Mann vom Thema ab“, und naja, da du ja nicht nur Facharzt für Virologie, sondern auch …“

„Für Gerichtsmedizin“, vervollständigte Tanja seufzend, den Rest ließ sie in der Luft schweben.

„Ja genau. Ich dachte du könntest die Obduktion vielleicht durchführen“, bettelte er kleinlaut.

„Nun, Robert, wie du sicher weißt, haben wir hier auch alle Hände voll zu tun.“

„Nur dieses eine Mal, ich verspreche es!“, flehte Robert sie an, während er in das Telefon hustete.

Wenn Tanja für jedes Mal, wenn sie diesen Satz gehört hatte, einen Euro bekommen hätte, wäre sie mittlerweile steinreich.

„Also gut, der Assistent macht gute Arbeit, ich denke, ich kann das machen“, sagte sie widerwillig.

„Danke“, keuchte Robert in den Hörer.

„Jaja, die Rechnung kommt mit der Post“, scherzte Tanja, „geh‘ nach Hause und leg‘ dich hin!“

„Noch eines“, fiel Kasper ein, „wahrscheinlich wird ein gewisser Inspektor Stark zu dir kommen. Ich warne dich mal gleich vor, er ist ein präpotentes Arschloch.“

Tanja grinste. So einen Ausdruck hatte sie von Robert, der in seinen Sechzigern war und immer zu einhundert Prozent korrekt, noch nie gehört. Nichts hasste sie mehr, als Menschen, die die Schüchternheit und Zurückhaltung anderer schamlos ausnutzten.

„Ach, die sind meine Spezialität“, witzelte sie unbekümmert.

Sie war bereits im Begriff aufzulegen, als Robert zu einem weiteren Satz ausholte: „Der Befund, den du erwähnt hast, was ist dabei rausgekommen?“

„Es ist fast sicher, dass die Person Influenza hatte. Der Antikörpertest war positiv.“

„Dann hatte ich wohl recht mit meiner Vermutung“, triumphierte Robert, „Naja, der konnte sich seine Todesursache ja fast aussuchen. Zigaretten, Alkohol, Unterernährung. Tja, so ist das Leben.“

„Denkst du, ich sollte noch einen PCR machen? Ich meine, nur um sicher zu gehen“, legte Tanja auch Kasper ihre Bedenken dar.

„Ach Tanja, der Kerl war nur ein Sandler, die sterben hier tagtäglich. Wenn wir für jeden von denen aufwendige Tests machen würden, wäre die Uni wohl schon Pleite.“

Tanjas Augen verfinsterten sich: „Alles klar, ich bin dann in einer halben Stunde bei euch.“

Robert bedankte sich nochmals, verabschiedete sich und unterbrach dann die Leitung.

„Armer Mann“, dachte sie, „von der Gesellschaft ausgestoßen und verraten. Was ist aus dem hochgepriesenen Sozialstaat geworden?“

Je mehr sie darüber nachdachte, wie man hier Benachteiligte behandelte, desto mehr kochte die Wut in ihr hoch. Nicht nur die Obdachlosen, auch Ausländer, egal, wo sie auch herkamen, hatten hier in Österreich ein schweres Leben. Als sie den Öffner der Tür, die zum Flur führte, bereits mit ihrer Hand umschloss, drehte sie noch einmal um, stapfte zurück ins Labor und rief Moritz zu: „Die Probe von vorhin.“

„Ja, was ist mit ihr?“

„Ich möchte, dass Sie heute noch ein PCR durchführen und eine Zellkultur anlegen“, sie lief zu ihrem Schreibtisch und kramte ein Stück Papier hervor, auf dem sie etwas notierte, “Verwenden Sie diesen Primer für das PCR.“

Der Student nahm den Notizzettel und las. Verwirrt wanderte sein Blick zurück zu Tanja.

„Ich werde die Ergebnisse morgen selbst auswerten. Danke!“, sagte sie bestimmend und stapfte wütend in Richtung der Gerichtsmedizin.

Kapitel 4

Als Mozarts "Kleine Nachtmusik den Innenraum des Ford Mustangs musikalisch erhellte, griff Inspektor Stark seufzend in seine Sakkotasche und kramte sein Smartphone hervor. Ohne auf die Nummer des Anrufers zu achten, drückte er die grüne Schaltfläche auf dem Touchscreen, und führte das Telefon zum Ohr: „Stark.“

„Stark! Hier spricht Oberst Hahn. Wo sind Sie?“

„Scheiße, der Polizeichef persönlich“, dachte Stark, fuhr rechts ran und parkte den Wagen an einer Bushaltestelle.

„In den Ermittlungen, Oberst, was kann ich für Sie tun?“, erwiderte er.

„Das war nicht, was ich gefragt habe. Ich will wissen, wo Sie sind.“

Stark seufzte in sich hinein: „Auf den Weg in den Zwölften.“

„Drehen Sie um und kommen Sie zu mir. Ich muss mit Ihnen sprechen, persönlich!“

„Hat das nicht noch Zeit?“, versuchte Stark möglichst charmant seine Ellenbogentechnik anzuwenden.

„Zeit ist etwas, dass langsam aber sicher knapp wird, verstehen Sie, Stark?“

„Ja, ich verstehe. Lassen Sie mich noch kurz zum Büro des Opfers fahren, dann komme ich direkt zu Ihnen ins Büro.“

Nach langem Schweigen antwortete der Polizeichef schließlich genervt: „Also gut, aber keine Umwege!“

Ohne ein weiteres Wort unterbrach der Oberst die Verbindung.

Es war acht Uhr morgens und Stark war seit Stunden unterwegs, ohne einen Bissen gegessen zu haben. Drei Morde - ein Täter und Stark hatte nichts, keine Beweise und keine Spuren. Auch wenn die Obduktion des dritten Opfers, Peter Müller, noch ausstand, so war er sich sicher, dass es auch diesmal keine brauchbaren Erkenntnisse geben würde, außer der, dass Stark es tatsächlich mit demselben Mörder wie in den anderen beiden Fällen zu tun hatte. Müller war einer der vermögendsten Männer Wiens, wahrscheinlich sogar Europas, gewesen. Als Besitzer von „Jewels“, einer internationalen Auktionshauskette, besaß er ein eigenes Stockwerk am Wienerberg im gleichnamigen Bürokomplex. Spätestens der Gang an die Börse hatte ihn steinreich gemacht. Er hatte keine lebenden Verwandten, keine Familie. Ein einsamer Kauz, der auf seinem Geld wie eine Bruthenne gesessen hatte.

Opfer Nummer zwei, Leopold Steiner, war ein reicher Stahlindustrieller, verheiratet, zwei Kinder. Seine Frau hatte ein wasserdichtes Alibi und die beiden Kinder waren zur fraglichen Zeit im Internat in der Schweiz gewesen. In seiner Familie war der Mörder also nicht zu finden. Und Feinde hatte sowieso jeder, der die Karriereleiter so weit erklommen hatte wie Steiner, aber keine konkreten Verdachtsmomente konnten sich Stark erschließen.

Blieb noch Opfer Nummer eins, ein Bauunternehmer namens Georg Bräuer. Von einem Ein-Mann-Betrieb ausgehend, hatte er seine Baufirma eigenhändig zu einem Bauimperium aufgebaut. Er war bekannt für sein Durchsetzungsvermögen und seine Härte, und so wie bei den beiden anderen Opfern gab es auch hier keinen konkreten Verdacht. Überall hatte er bereits nach Gemeinsamkeiten der beiden ersten Opfer gesucht, war aber nicht fündig geworden. Irgendetwas musste es geben, dass diese Männer miteinander verband. Vielleicht würde er die Antwort hier finden.

Stark parkte seinen Wagen vor den Vienna Twin Towers und blickte die gläserne Fassade hinauf. Die unterschiedliche Lichtbrechung der gekippten und geschlossenen Fenster erinnerte Stark an ein überdimensionales Neuzeitmosaik. Müllers Büro befand sich im siebenunddreißigsten, dem obersten Stockwerk des Gebäudes.

Er ging durch die große Drehtür am Eingang und betrat die in rotem Marmor gehaltene Empfangshalle, in der eine junge Frau hinter einem rund geschwungenen, golden glänzenden Tresen saß und ihre frisch lackierten Fingernägel kritisch begutachtete. Stark legte sein verführerischstes Lächeln auf, zupfte sich sein Hemd zurecht und trat an die Blondine heran: „Hallo.“

„Hallo, was kann ich für Sie tun?“, erwiderte sie umgehend sein Lächeln.

„Ich möchte zum Büro von Herrn Peter Müller.“

„Wen darf ich melden?“

„Inspektor Stark.“

„Einen Moment bitte“, hauchte sie, während sie geschickt mit ihren endlos langen Fingernägeln eine Nummer an ihrem Telefon wählte. Während sie wartete, musterte

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: N.R.
Tag der Veröffentlichung: 17.06.2013
ISBN: 978-3-7309-3305-3

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