Cover

I

Nate Reynolds: Der verwunschene Wald

Cover by Le Merle

 

 

 

„Komm schon Lea, laufen wir zum Baumhaus“, rief Hans seiner siebenjährigen Schwester zu, als er über den Gartenzaun setzte und in den Wald lief.

„Nicht so schnell“, schnaubte Lea und hielt ihr rotes Käppchen mit einer Hand am Kopf fest, während sie mit der anderen die Gartentür öffnete. Hans, der drei Jahre älter war als seine Schwester, lief über dies saftig grüne Wiese, zwischen einer Formation hoch gewachsener Birken hindurch und hielt vor einer alten Eiche.

 „Klettern wir rauf“, keuchte Hans aufgeregt.

„Hans, du weißt was Mamma gesagt hat“, lispelte Lea durch eine Zahnlücke.

„Jaja ist schon gut, warte hier, ich klettere kurz rauf und komme dann gleich wieder zu dir.“

Hans blickte den mächtigen Stamm hinauf, in dem in regelmäßigen Abständen Bretter genagelt waren. An einer Stelle, an der sich ein dicker Ast verzweigte, befand sich ein, aus dunklen Holzlatten gezimmertes, Baumhaus.

Als er nach dem ersten Brett griff, erschien plötzlich ein wunderschöner, weißer Vogel wie aus dem Nichts. Keine zwei Meter vor den Geschwistern schien er scheinbar schwerelos zu schweben. Wie hypnotisiert machten die beiden einen Schritt auf ihn zu, worauf der Vogel zurückwich um anschließend wiederum in der Luft zu verharren, ehe er begann die beiden zu umschwirren.

„Hans, ich glaube er will, dass wir ihm folgen“, flüsterte Lea, ohne den Blick von dem gefiederten Tier zu nehmen.

„Als gut, dann folgen wir ihm.“

Schritt um Schritt taten sie auf das Tier zu, welches, ein fröhliches Lied singend, vor ihnen herflog. Hans nahm seine kleine Schwester an der Hand, und so liefen sie über Stock und Stein hinter dem Vogel her.

An einer Lichtung stieg das gefiederte Geschöpf schließlich hoch in die Luft, kreiste noch einmal über ihren Köpfen und verschwand schließlich hinter den Baumwipfeln.

Erst als sie das wunderschöne Tier aus den Augen verlor, sah Lea sich um: „Hans, wo sind wir?“, fragte sie ängstlich.

Hans, der noch immer nach Atem rang, seine Arme fest in die Knie gestemmt, sah sich nach allen Seiten um. Am Rande der Lichtung erblickte er einen, von Schilf umwucherten Teich, in dessen Zentrum eine weiße Seerose schwamm. Als die Beiden näher kamen, hörten sie jemanden sprechen: „ Habt ihr euch verlaufen?“

Erschrocken blickten die Kinder ringsum, ohne jemanden zu sehen.

„Hier unten im Wasser“, fuhr die quakende Stimme fort.

Als sie auf die Wasseroberfläche blickten, sahen sie einen graugrünen Frosch, der seinen Kopf aus dem kühlen Nass streckte.

„Habt ihr euch verlaufen?“, wiederholte der Frosch.

„Ja“, antworteten die Kinder zugleich.

Der Frosch tat einen Satz aus dem Wasser: „Ich kann euch schon helfen“, fuhr er fort, „aber dafür musst du mir einen Gefallen tun“, sagte er und deutete auf Lea.

„Alles was du willst, nur zeig uns den Weg nach Hause.“

„Das will ich tun, aber zuerst musst du mich küssen.“

Lea kicherte bei dem Gedanken einen Frosch zu küssen, musste dann aber tief schlucken, als sie erkannte, dass er es ernst meinte.

„Also gut.“, gab sie schließlich nach.

Sie bückte sie sich hinunter und nahm den Frosch mit zittrigen Händen auf. Die Lippen fest zugepresst, führte sie das Tier an ihren Mund und gab ihm einen raschen Kuss.

Plötzlich wurde die Umgebung mit warmen, grellen Licht geflutet, sodass beide Kinder ihre Hände schützend vor das Gesicht hielten. Als sie wieder aufblickten, war der Frosch verschwunden und vor ihnen stand ein edler Prinz, dessen Haupt eine Krone schmückte und an dessen Gürtel ein Schuh aus reinem Gold glänzte.

„Vielen Dank, dass ihr mich befreit habt, eine böse Hexe hat mich verzaubert.“

Verwirrt sahen die Kinder einander an, dann war es Hans der das Schweigen brach: „Was machst du mit dem Schuh?“, wollte er wissen.

„Ich muss zu diesem Turm“, des Prinzen Blick schweifte in die Ferne, wo kaum erkennbar, ein Turm aus grauen Steinen gemauert und mit roten Dachschindeln besetzt, über das Blätterdach des Waldes ragte, „dort wird eine Frau gefangen gehalten, ich will zu ihr und sie befreien. Sollte ihr dieser Schuh passen, so werde ich sie zur Frau nehmen.“, er legte eine kurze Pause ein, „Aber nun zu euch, kommt mit.“

Der Prinz tat ein paar Schritte und deutete dann auf den Boden: „Schaut, hier beginnt eine Spur aus Brotkrumen, folgt ihr und ihr werdet wieder nach Hause finden, aber gebt acht, eine böse Hexe wohnt in diesen Wäldern, haltet euch fern von ihr!“

Mit diesen mahnenden Worten verließ sie der Prinz Richtung Turm.

Die Kinder folgten der Spur, die immer tiefer in den Wald hineinzuführen schien. Als beide bereits glaubten, die Spur würde niemals enden, kamen sie an eine ausgehauene Stelle, mitten im dichten Wald. Ein kleines Häuschen schmiegte sich an die Baumlinie. Hans rieb sich fest die Augen, denen er nicht mehr zu glauben vermochte. Die Wände des Kleinen Hauses bestanden aus Brot, während das Dach mit feinstem Kuchen gedeckt war. Als sie näher traten, konnten sie sich in den, aus Zuckerguss gefertigten, Fenstern spiegeln. Hans griff an die Mauer und riss ein Stück zart duftendes Brot heraus: „Hier, willst du auch mal probieren?“

Als Lea nach dem Stück Brot griff, ging plötzlich eine Tür auf, und eine alte Frau hinkte, auf einen Krückstock gestützt, aus dem Häuschen. Erschrocken fuhren die Kinder herum.

„Schreckt euch nicht“, krächzte die Alte, „ich will euch nichts tun.“

Eine große Nase stand ihr im Gesicht und darauf saß eine scharlachrote Warze, der drei tief schwarze Haare entsprossen.

„Ist das die Hexe?“, flüsterte Lea ihrem Bruder zu.

 „Ich bin doch keine Hexe“, erwiderte die runzlige Frau, „Ich bin alt und krank.“, sie griff sich an die Hüfte, „Ihr wollt doch nicht trockenes Brot essen, kommt mit in mein Haus und ich werde euch etwas Gutes kochen.“

Verunsichert, aber vom Hunger getrieben, folgten die Geschwister der buckeligen Dame. Im Häuschen, das im wesentlichen aus einem Raum bestand, befand sich linker Hand eine kleine Küche mit Herdplatten, die von einem daruntergelegenen Holzofen beheizt wurden, daneben ein Backrohr, ebenfalls mit Holz betrieben. Im hinteren Teil des Raumes schmiegte sich eine gepolsterte Bank, mit davorstehendem Tisch, in die Ecke, wo Hans und Lea auf Geheiß der Alten Platz nahmen.

„Ich will nur schnell gehen und Holz für das Backrohr holen, macht es euch einstweilen bequem“, sprach sie mit hoher Stimme.

Während sie draußen war, sah sich Hans im Raum um. Ein Buch, das aufgeschlagen neben dem Herd lag, erregte seine Aufmerksamkeit. Er ging darauf zu und las die Überschrift: „Innen zart und Außen knusprig -  Wie man Kinder richtig zubereitet.“

Seine Augen erweiterten sich, Panik kroch in ihm hoch.

„Lea“, stammelte er, ohne den Blick vom Buch zu nehmen, „Lea?“, zischte er ungeduldig - keine Antwort.

Als er sich umdrehte stand die Alte in der Mitte des Raumes, ohne Stock und mit gutem Stand.

„Du wirst mir besonders gut munden“, sprach sie und kicherte so schrill, dass Hans meinte sein Trommelfell müsse platzen. Er wich zurück soweit er konnte, bis er erschrocken bemerkte, dass er sich in einer Sackgasse befand. Die Alte stürzte sich schreiend auf ihn und Hans fiel nichts Besseres ein, als die Hände vor den Kopf zu nehmen und sich zu ducken. Mit einem entsetzten Schrei stürzte der Methusalem über ihn hinweg, genau in den Ofen hinein. Lea kam aus der hinteren Ecke geschossen, und verschloss die rostige Türe.

Erleichtert sahen sich die Beiden an, ehe sie, so schnell sie konnten, nach draußen rannten.

Kaum dort angelangt, machten sie abrupt Halt. Ein riesiger Wolf der ein graues, verfilztes Fell trug und auf zwei Beinen stand, streckte seine Arme, an denen dicke, schwarze Krallen prangten, weit in die Höhe.

„Rotkäppchen!“, rief er mit tiefer, kehliger Stimme und fixierte Lea mit entschlossenem Blick. Um seinen Hals trug das Untier ein rot-weiß kariertes Tischtuch, sein Magen grummelte und knurrte.

Lea bewegte ihre Lippen, aber kein Wort wollte ihren Mund verlassen.

Gierig stapfte der Wolf auf die beiden Kinder zu und als alle Hoffnung verloren schien, nahm Hans seine kleine Schwester bei der Hand, machte kehrt, und lief mit ihr, ohne aufzublicken los. Die Reise endete urplötzlich, als sie über die Mauerkante eines aus rohem Stein gemauerten Brunnen stolperten und kopfüber in undurchdringliche Schwärze fielen.

 

Benommen griff sich Hans an den pochenden Kopf, während er sich aufrichtete. Ein schneller Blick genügte, um zu sehen, dass seine Schwester neben ihm und wohlauf war. Erleichtert sah er sich um. Sie befanden sich auf einer grün schimmernden Wiese, die bis an den hellblauen Horizont reichte, geschmückt mit unzähligen Blumen, die in allen Farben des Regenbogens erstrahlten.

Lea zupfte ihren großen Bruder am Ärmel:  „Wie sind wir hier her gekommen?“

„Ich weiß nicht“, stammelte er während er sich umblickte.

 „schau Hans, da drüben ist ein Weg.“

Sie deutete auf einen kleinen Trampelpfad, der über die Wiese, der Sonne entgegen, führte. Als sie einige Zeit gegangen waren, kamen sie an einem Backofen vorbei, gemauert aus rotem Ziegel prall gefüllt mit wohl duftenden Brotlaiben. Sie waren im Begriff an dem Backofen vorüberzuwandern, als das Brot plötzlich rief: „“Ach, zieh mich raus, zieh mich raus, sonst verbrenn ich: ich bin schon längst ausgebacken.“

Die Kinder sahen einander ungläubig an, aber nach den vergangenen Erlebnissen, würde sie nichts mehr wundern und so, obwohl die Müdigkeit sie längst überfallen hatte, taten sie, was das Brot von ihnen wünschte.

Wenig später kamen sie zu einem Baum, an dem unzählige Äpfel hingen.

Der Baum sprach zu ihnen: „Ach, schüttel mich, schüttel mich, wir Äpfel sind alle miteinander reif.“

Seufzend schüttelten die beiden Kinder den Baum so lange, bis kein Apfel mehr im dichten Blattwerk hing. Danach schlichteten sie das Obst zu einem Haufen und gingen weiter den Pfad entlang.

Nach langem Marsch kamen sie an ein wunderschönes, weiß verputztes Haus mit langgezogenem Balkon aus Eichenholz und von Moos überwucherten Dachschindeln.

Der Anblick der alten Frau, die im Garten vor dem Haus stand, ließ die Kinder aufschrecken.

„Was habt ihr denn? Ich will euch nichts tun, ich bin Frau Holle.“

Da die Kinder ohnehin keine andere Wahl zu haben schienen, schenkten sie der Frau ihr Vertrauen und traten in ihre Stube.

„Ich will euch den Weg nach Hause zeigen, wenn ihr mir mein Bett so Doll aufschüttelt, dass die Federn fliegen, dann schneit es in der Welt.“

Die sanften Gesichtszüge der Frau wurden von einem zarten Lächeln umspielt.

„Also gut“, sprach Hans,  „wir werden Ihnen helfen.“

Nach getaner Arbeit bezogen sie Quartier in einem großen, weichen Himmelbett, bis erneut der Morgen anbrach.

 „Ihr habt all eure Aufgaben bewältigt.“, sprach Frau Holle, „Ihr wart sehr fleißig und darum will ich mein Versprechen einlösen.“

Sie führte die Geschwister über einen schmalen, aus aneinandergereihten Steinplatten bestehenden Weg, der schließlich in ein großes Tor mündete.

„Hinter diesem Tor“, flüsterte sie, „liegt eure Welt.“

Auf ihr Geheiß hin öffnete sich das Tor in gut geölten Angeln.

„Vielen Dank Frau Holle“, sprachen sie im Chor und umarmten sie liebevoll.

„Nie wieder laufen wir so tief in den Wald“, sagte Hans, Lea stimmte nickend zu.

Als sie schließlich durch das Tor traten, fanden sie sich am Waldrand, direkt vor ihrem Garten wieder. So schnell sie ihre Beine trugen, liefen sie über die Wiese und zur Eingangstür hinein.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 23.03.2013

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