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Der gleißend heiße Fahrtwind wehte ihm durch sein pechschwarzes, gekräuseltes Haar. Es war Hochsommer in Johannesburg. Seine zierlichen Arme hatte er fest um den Oberkörper seines Vaters geschlungen, der sein verbeultes Moped zum Terminal des International Airport lenkte. Als es quietschend zum Stillstand gelangte, stieg Akani ab und verließ seinen verwahrlosten Vater. Akani war zwar erst sieben Jahre alt, aber was er gleich zu tun hatte, tat er nicht zum ersten Mal.
Er trug ein abgewetztes Manchester United T-Shirt und eine kurze, khakifarbene Hose mit Gummibund über seiner bronzefarbenen Haut. Beides hatte er letzte Woche bekommen, als das Rote Kreuz wieder eine Schiffsladung Altkleider aus Europa verteilt hatte.
Sein Magen, gebettet unter einem aufgeblähten Wasserbauch, knurrte rebellierend. Seit zwei Tagen hatte er keinen Bissen mehr gesehen und umso wichtiger war es, dass er heute Erfolg hatte, dann gäbe ihm sein Vater vielleicht eine Schüssel Ugali, seinen Lieblingsbrei.
Es war wie gestern, als sein Vater zu ihm gesagt hatte: „Junge, die Welt besteht aus mehreren großen Inseln und wir leben auf der Ärmsten davon, von hoch oben kannst du die Form eines Totenkopfes erkennen.“
„Warum sind wir arm?“, hatte Akani darauf gefragt.
„Damit die Menschen in Europa reich sein können“, hatte sein Vater damals geantwortet, ehe er in einem langen Zug die Schnapsflasche leerte.
Johannesburg war nicht gerade als Touristenziel bekannt. Die wenigen reichen Europäer, die hier herkamen, hasteten meist nur durch den Terminal hindurch, um ihren Anschlussflug nach Kapstadt nicht zu versäumen, und genau das war der Grund, warum er hier war.
Akani setzte seine abgewetzten Sandalen über den Fliesenboden zwischen den Geschäftsständen hindurch und beobachtete das steigende Treiben. Hinter ihm marschierte ein älteres Ehepaar mit ihren Trolleys. Unauffällig ließ er sich hinter sie fallen, während sein Blick auf der Suche nach Polizei und Flughafensecurity umherwanderte. Akani musterte die Frau. Make-up über faltiger Haut, knallroter Lippenstift und gefärbtes, dauergewelltes Haar, der Prototyp eines Europäers.
Sein Herz schlug ihm bis in den Hals, als er erkannte, welch eine Möglichkeit sich ihm bot.
Er nahm Geschwindigkeit auf und ließ sich unbeholfen in die Frau fallen, die erschrocken hin und her wankte.
Als sie das Gleichgewicht wieder erlangte, strafte sie Akani mit einem vorwurfsvollen Blick. Ohne ein Wort zu sprechen, verbeugte er sich vor der aufgeregten Frau, die diese unterwürfige Geste nicht zu besänftigen vermochte. Er faltete seine Hände zu einer kleinen Schüssel vor dem Mund und setzte einen leidsamen Blick auf. Angewidert drehte sich die Frau weg, schnappte ihren Trolley und ging ihrer Wege. Ihr Mann dackelte ihr kopfschüttelnd hinterher.
So arrogant die Europäer waren, so dumm waren sie auch. Man musste ihnen nur das Gefühl von Überlegenheit geben und schon konnte man hinter ihrem Rücken alles machen, was man wollte. Als ob er gedacht hätte, die Frau würde ihm wirklich etwas geben!
Eingesperrt in einer naheliegenden Toilette, kramte er unter seiner Hose eine längliche, lederne Geldbörse hervor und öffnete sie. Obwohl er weder schreiben noch lesen konnte, wusste er, dass die Scheine, die er hervorzog, zweifellos Euros waren. Gleich vier der grünen Scheine, die waren besonders wertvoll, sein Vater würde stolz auf ihn sein. Das Ehepaar würde den Verlust erst hoch über den Wolken bemerken.
Nach kurzem Zuwarten verließ er die Toilette. Genährt vom vorherigen Erfolg scannte er erneut die Halle, wo sich bereits die nächste Möglichkeit auftat. Der Mann war alleine. Sein dünnes, weißes Haar war sorgfältig zu einem Seitenscheitel gekämmt, eine Brille umrahmte seine milchigen Augen.
Das Terminal war bereits weitgehend gefüllt. Flüge wurden über Lautsprecher angekündigt und ein allgemeines Gedränge hatte eingesetzt. Begünstigt von seinen geringen Köpermaßen schob sich Akani zwischen den Menschen durch. Als er bei dem alten Mann angelangt war, stieß er ihn so fest er konnte in die Rippen, während er mit spitzen Fingern die Geldbörse aus dessen Hosentasche zog. Unerwartet drehte sich der Mann pfeilschnell um und griff nach Akanis Arm. Fest wie eine Schraubzwinge umklammerten die fleischigen Finger des Alten sein dürres Handgelenk.
„Hey, was soll das?“, erhob der Mann seine Stimme über das Geschnatter der anderen Reisenden.
Instinktiv riss Akani hin und her, ehe er sich verzweifelt zu Boden fallen ließ. Der Mann, sichtlich überrascht, fiel ebenfalls. Anstatt zu helfen, begannen die Leute am Check-In zu fluchen und trampelten über die Beiden hinweg. Irgendwie gelang es Akani, wieder Fuß zu fassen. So schnell ihn seine Beine trugen rannte er, während er mit seinen Fingern die Brieftasche fest umkrampfte. Er stieß eine Tür, die in die Servicebereiche des Terminals führte, auf und hastete durch ein Labyrinth aus menschenleeren Gängen, bis er eine weitere Tür erreichte, die ins Freie führte.
Er lehnte sich schwer atmend gegen die Backsteinmauer, dann kramte er die Brieftasche unter seiner Hose hervor und öffnete sie. In diesem Moment packte ihn jemand fest im Genick. Akani stockte der Atem, als ihn der erzürnte Blick des alten Mannes traf.
„Warum tust du das?“, fröstelte er, während er ihm die Geldbörse aus der Hand riss, „Findest du Stehlen in Ordnung?“
Akani zuckte mit den Schultern. Dabei rutschte ein Ärmel seines T-Shirts nach oben und eine Unzahl hässlich eiternder Narben kam zum Vorschein. Erschrocken lockerte der Mann seinen Griff.
„Mein Gott, wer hat dir das angetan?“
Erneut ein kaum wahrnehmbares Schulterzucken.
„Dein Vater?“, fragte er.
Akani ließ den Kopf hängen und begann zu schluchzen. Kleine, klare Tränen kullerten über seine Wangen und tropften zu Boden.
„Das tut mir so leid“, stammelte der Mann, „zwingt er dich zu stehlen?“
Ein kaum sichtbares Nicken reichte als Antwort.
„Was tut er mit dem Geld?“, wollte der ergraute Mann wissen.
Akani formte seine Hand, als würde er eine Flasche halten, und führte sie zum Mund.
Beschämt griff der Mann in seine Tasche und holte zwei Sandwiches heraus. Gemeinsam mit einem hundert Euro Schein übergab er sie Akani und sagte: „Geh!“

Zwei Wochen später saß der alte Mann im Wohnzimmer seines Landhauses, wählte an seinem Telefon eine Nummer und drückte die Muschel an sein Ohr: „Hallo, ist hier Menschen für Menschen? Ich würde gerne spenden ...“
Er wusste, dass seine Spende lediglich ein Tropfen auf dem heißen Stein war, aber es war ein Anfang.


Impressum

Texte: N.R.
Bildmaterialien: Plurabelle
Tag der Veröffentlichung: 03.03.2013

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