Cover

Copyright by R.N.
 Cover by Le Merle

 

Der Stammbaum

Inspektor Peter Hirscher ging an dem in dunkelblauer Uniform gekleideten Beamten vorbei und betrat das Vorzimmer. Im Vorübergehen steckte er seinen Dienstausweis zurück in die Innentasche seines Sakkos, Marke Achtziger, mit dicken Schulterpolstern und Karomuster. Die geblümten Tapeten waren lange vergilbt und hingen an einigen Ecken von den Wänden herab, schaler Geruch unterstrich die Szenerie. Einziges Möbelstück im Raum war eine kleine Ablage aus aufgequollenen Spanplatten, auf der ein Telefon Platz fand und ein Stapel unbezahlter Rechnungen Staub ansetzte. Hirscher zog ein Paar sterile Einweghandschuhe über und ging durch den Flur in einen von Scheinwerfern hell erleuchteten Raum, in dem die Spurensicherung geschäftig arbeitete.
Hirscher, der in seinen Fünfzigern war, hatte Mühe, sich die weißen Überschuhe anzuziehen, um dabei nicht das Gleichgewicht zu verlieren als er das Bein hob, bevor er sich zu seinen Kollegen gesellte.
Auf dem beigen Sofa war ein zerknittertes Laken ausgebreitet, darauf lag ein toter Junge, kaum älter als fünfzehn. Seine Lippen waren blau verfärbt, die roten Augen boten einen grauenvollen Kontrast zur kreideweißen Gesichtsfarbe. Seine Unterarme waren mit scharlachroten, teils stark entzündeten Punkten übersät.
„Wer ist als erstes am Tatort eingetroffen?“, fragte Hirscher in die Runde.
„Das war ich“, antwortete ein untersetzter Uniformierter, dessen Hemd am Bauch wie eine Wursthaut spannte.
„Was ist passiert?“
„Nun ja, es schaut so aus, als hätte sich der Junge, sein Name ist Stefan Leitner, eine Überdosis gesetzt. Seine Unterarme weisen unzählige Einstiche auf“, er deutete mit einer knappen Kopfbewegung auf die Leiche, „die Nachbarn bestätigen, dass er immer wieder mal stoned aufgetaucht ist, wir haben es hier mit einem Junkie zu tun, also nichts für die Mordkommission.“
„Das entscheide immer noch ich“, antwortete Hirscher kühl.
„Entschuldigung Inspektor“, sagte der Beamte kleinlaut. Bevor er fortfuhr, räusperte er sich kurz: „Die Nachbarn sagen ebenfalls, dass sein Vater, ein gewisser Hartmut Leitner, ein ziemliches Alkoholproblem hat, und wenn er erst mal so richtig besoffen ist, dann schlägt er auch gerne mal seine Frau.“
Hirscher fuhr herum, als ihn jemand von hinten an die Schulter griff.
„Ach du bist es“, stieß er heraus und atmete tief durch.
Der spindeldürre junge Mann klopfte Hirscher auf die Schulter und kicherte: „Ja, wer denn sonst?“
„Ich dachte, du bist auf dem Begräbnis deines Onkels?“, war Hirscher über die plötzliche Anwesenheit seines Partners überrascht.
„War ich auch, auf dem Rückweg habe ich im Funk gehört, was hier passiert ist … und naja, dich kann man ja nicht alleine lassen“, grinste er frech.
„Sind noch weitere Verwandte aufgetaucht?“
„Nein“, antwortete Markus knapp, „ich bin der einzige“.
„Dann bist du jetzt wohl ein gemachter Mann!“
„Scheint so, mein Onkel war stinkreich. Nichts desto trotz, den Polizeidienst werde ich nicht quittieren, was würdest du denn ohne mich machen?“, seine Lippen verzogen sich zu einem breiten Grinsen, „sag schon, was ist hier genau passiert?“
„Das weiß ich noch nicht. Angeblich eine Überdosis.“
Markus begutachtete die Leiche mit Adleraugen: „Klingt plausibel. Scheint nichts für uns zu sein.“
Hirscher fuhr sich durch sein aus der Frisur gewachsenes graues Haar und schürzte nachdenklich die Lippen: „Wie auch immer, ich will eine Obduktion.“
„Sieh dir diesem Typ doch mal an“, schnaubte Markus verächtlich, „er war ein Junkie, wir sind die Mordkommission.“
„Egal“, fasste Hirscher sich knapp, machte kehrt und ging zum Eingang zurück.
„Du bist ein unverbesserlicher Sturkopf!“, fluchte Markus und trabte ihm hinterher.
Inspektor Hirscher klopfte zweimal, bevor er das Zimmer im allgemeinen Krankenhaus, in den Peters Eltern die Nacht über untergebracht waren, betrat: „Herr und Frau Leitner?“, fragte er mit sanfter Stimme, „Mein Name ist Inspektor Hirscher, der Mann neben mir ist mein Partner, Inspektor Meier, wir würden Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.“
„Kommen Sie herein“, schluchzte die Frau und wischte sich die Tränen mit einem Taschentuch von den Wangen.
„Ich weiß, dass es Ihnen jetzt sehr schwer fällt, über den Tod Ihres Sohnes zu sprechen, doch es gibt da ein paar Details, die geklärt werden müssen.“
„Fragen Sie nur“, antwortete der einem Wandschrank gleichende Mann mit militärischem Kurzhaarschnitt, neben dem seine Frau geradezu verschwindend klein wirkte.
„Nun ja, eigentlich sieht alles aus, als hätte sich Ihr Sohn unbeabsichtigt eine Überdosis Drogen, wir gehen von Heroin aus, verabreicht.“
Frau Leitner verzog verbittert ihr gerötetes Gesicht und fixierte die Beamten mit tränengefüllten Augen: „Mein Sohn hat keine Drogen genommen, er war ein anständiger Junge.“
„Ach komm schon“, protestierte der Wandschrank, „seine Unterarme waren übersät mit Einstichen, er war nun mal ein Junkie!“
Markus zog verblüfft die Augenbrauen hoch. Der Mann besaß ein Feingefühl wie ein Presslufthammer, aber, das musste er zugeben, es stimmte mit dem überein, was die Nachbarn über ihn erzählt hatten.
„Wie meinen Sie das?“, hakte Hirscher nach.
„Schauen Sie Inspektor, ich will ja wirklich nicht schlecht über Tote sprechen, aber der Junge war nun mal drogensüchtig! Ich habe das schon vor langer Zeit kommen sehen,
aber meine liebe Frau will es ja nicht einmal jetzt wahrhaben. Er ist ständig vom Unterricht ferngeblieben, hing mit seltsamen Typen herum, ich wollte ihm einen Gefallen tun und habe ihm eine Lehrstelle als Tischler verschafft, der Junge hat mich nur ausgelacht!“
Verwunderung machte sich in Hirscher breit, aber jeder verarbeitete seinen Schmerz nun mal auf andere Art und Weise.
Frau Leitner lag auf dem Krankenbett, ihre Finger um die dünne Decke gekrampft, und sofort kamen mehrere Schwestern ins Zimmer gestürmt und kümmerten sich um die Frau, während ein Pfleger die beiden Beamten aus dem Raum wies.
Einig Tage später war es Gewissheit geworden. Der Bericht der Gerichtsmedizin ließ keinen Zweifel daran, dass Stefan Leitner ermordet worden war. Es wurden geringe Druckspuren in seinem Genick gefunden und eine Einstichöffnung auf seinem Rücken, genau durch einen Leberfleck hindurch, sodass es dem Gerichtsmediziner bei der äußeren Begutachtung zuerst gar nicht aufgefallen war.
„Das heißt also, der Mörder hat den Jungen am Hals gepackt, daher die Spuren im Genick“, führte Markus Meier aus, „dann hat er ihm gezielt mit der Kanüle durch das Muttermal gestochen und das Heroin injiziert.“
Inspektor Hirscher nickte zustimmend.
Momente des Schweigens machten sich breit.
„Sag mal“, fuhr Markus fort und kniff nachdenklich die Augen zusammen, „Herr Leitner macht doch auf selbstständiger Basis Tischlerarbeiten.“
„Ja und?“, horchte Hirscher auf.
„Dann muss er doch eine Werkstatt haben oder nicht?“
Wie vom Donner gerührt sprang Hirscher auf, als sei er plötzlich zwanzig Jahre jünger: „Markus, du bist genial! Hol dir deine Jacke, wir müssen los.
Mit einem lauten Quietschen der Scharniere öffnete sich die aus Holzleisten gezimmerte Tür des Kellerabteils und
Inspektor Hirscher schwenkte den Kegel seiner Taschenlampe durch den Raum. Akkubohrer, Hämmer, Feilen und ein Fuchsschwanz hingen feinsäuberlich auf einem Shadowboard, Holzlatten lehnten in einer Ecke. Eine Werkbank mit aufgesetztem Schraubstock dominierte die Mitte des Raumes. Hirscher tastete mit seiner Lampe die Wände ab: „Ah, da ist ja der Schalter.“
Er legte ihn um und sofort wurde der Raum vom grellen Licht einer sechzig Watt-Birne geflutet, die an einer Baustellenfassung von der Decke baumelte.
„Also gut, dann stellen wir die …“, Markus setzte einen verächtlichen Ton auf, „… sogenannte Werkstatt auf den Kopf.“
Die beiden Männer durchsuchten jeden Winkel des Kellerabteils, aber nichts Wegweisendes tat sich auf. Als alle Hoffnung zu schwinden schien, schrie Markus triumphierend auf: „Schau hier, ich hab da was!“
Hirscher fuhr herum und eilte zu ihm. Stirnrunzelnd begutachtete er das Objekt in der untersten Lade der Werkzeugbox, vor der Markus mit weit aufgerissenen Augen kauerte. Eine leere Spritze samt Kanüle.
„Ich wusste es doch, der Kerl hat Dreck am Stecken!“, ein leichtes Lächeln verdichtete die Falten um seine Augen. „Lass uns dem Scheißkerl einen Besuch abstatten!“
Wenige Stunden später hatte die Polizei Herrn Leitner festgenommen und in ein graues, fensterloses Verhörzimmer gebracht.
„Also noch einmal Herr Leitner“, knurrte Markus genervt, „warum haben Sie Ihren Sohn ermordet?“
Der Mann schüttelte abermals verwirrt den Kopf: „Ich habe meinen Sohn nicht ermordet, zugegeben, wir hatten nicht gerade das beste Verhältnis, aber ermorden?“
„Wir haben in Ihrem Werkzeugkasten die Spritze inklusive Kanüle sichergestellt, mit der Stefan ermordet wurde, die Gerichtsmedizin hat das mittlerweile bestätigt!“
„Dann muss sie jemand da reingelegt haben“, beharrte er.
Hirscher, der sich das ganze Verhör über sehr zurückgenommen hatte, rutsche auf dem unbequemen Klappsessel in der Ecke des Raumes hin und her.
„Erzählen Sie uns keine Märchen, Herr Leitner, seien Sie kooperativ, dann können wir vielleicht noch etwas für Sie tun.“
„Aber ich …“
Markus schlug mit der Faust auf die Tischplatte: „Seien Sie sich einer Sache bewusst. Wir werden Ihre Vergangenheit genau durchleuchten. Sie sind amtsbekannt, sie trinken wie ein Fass ohne Boden und sind gewalttätig, und was Ihren zweiten Sohn angeht, da werden wir noch einmal gründlich ermitteln, ob es wirklich ein Unfall war, oder ob Sie da vielleicht auch nachgeholfen haben!“
Leitner brach in sich zusammen: „Maxi war mein Ein und Alles“, schluchzte er mit tränengefüllten Augen, „niemals hätte ich ihm etwas getan, er ist im See ertrunken!“
„Und dann haben Sie begonnen, Ihren Kummer in Alkohol zu ertränken, oder vielleicht schon davor?“
„Ich …“, er pausierte und wischte über seine feucht-glänzende Stirn, „ja ich gebe ja zu, dass ich seit dem Tod meines Sohnes, mehr als gut für mich ist, trinke, aber …“
„Aber …“, fuhr ihm Markus erbost ins Wort, „… aber als wir gestern bei Ihnen im Krankenhaus waren, schienen Sie gar nicht so betrübt wegen Peter, wollen Sie uns etwas dazu sagen?“
Nun schien Leitner völlig gebrochen. Er verdeckte sein Gesicht mit seinen fleischigen Fingern und heulte, dass die Wände erzitterten.
„Jetzt ist es ja sowieso schon egal“, schluchzte er, als er sich wieder zu voller Größe aufrichtete, „Peter war nicht mein Sohn.“
Hirscher fuhr aus seinem Stuhl hoch: „Wie meinen Sie das?“ drängte ihn der in die Jahre gekommene Ermittler. Markus stand angesichts der Neuigkeiten fassungslos da, damit hatte er nicht gerechnet.
„Naja, als ich Lea, meine Frau, kennengelernt habe, da war Peter bereits ein Jahr alt.“
Hirscher riss die Augen weit auf.
„Egal, was ich tat, sie wollte mir nicht verraten, wer der Vater war, sie sagte immer nur, Peter sei ein Geschenk Gottes. Schließlich tat ich das, worum sie mich immer und immer wieder gebeten hatte, ich bestätigte die Vaterschaft und war fortan Peters leiblicher Vater.“
„Das reicht jetzt“, fuhr Markus, der sich wieder gesammelt hatte, dazwischen, er ging zur Tür und klopfte mit geballter Faust mehrmals dagegen. Zwei uniformierte Beamte betraten den Raum.
„Führen Sie ihn ab, er widert mich an“, Markus Augen blitzten vor Zorn, sein Brustkorb hob und senkte sich in raschen Zügen.
Am folgenden Morgen saß Inspektor Hirscher an seinem Schreibtisch und blätterte mechanisch Peter Leitners Akte immer und immer wieder durch. Ein Gefühl tief in seiner Magengrube flüsterte ihm zu, Herrn Leitner zu glauben, obwohl die Beweislast erdrückend schien.
Als er so vor sich hindachte, hatte er die Eingebung, nach der er die letzten Tage so verzweifelt gesucht hatte. Er ordnete die Stöße Papier chronologisch vor sich. Warum war ihm das nicht gleich eingefallen? Hirscher sprang reflexartig hoch. Die Papiere bestätigten, dass Peter Leitner laut Dokumenten erst ab einem Alter von einem Jahr existierte, sein Stiefvater hatte also recht. Es war kein amtliches Dokument vor dieser Zeit zu finden.
Mit zittrigen Fingern nahm er den Hörer von der Gabel und wählte eine Nummer. Stunden vergingen und mit ihnen die Anzahl der Nummern, die er wählte, bis ihm schließlich jemand das bestätigte, wonach er gesucht hatte, den wahren Namen von Peters Mutter, und es war nicht Frau Leitner. Als er ihn hörte, gefror ihm das Blut in den Adern und er musste sich erst einmal setzen.
Auf Hirschers Geheiß war Herr Leitner aus der Untersuchungshaft entlassen worden, und so saß er in seinem gemütlichen Lederstuhl, die Bürotür geschlossen und genoss
die Stille. Er würde den Schmerz, der ihn zuvor wütend durchzuckt hatte, nie wieder loswerden, dessen war er sich sicher.
Plötzlich sprang die Tür auf und Markus stürmte wutentbrannt in sein Büro „Wieso hast du ihn freigelassen, bist du noch bei Trost?“, fröstelte er ungehalten, während er mit seinen Armen wild gestikulierte.
„Setz dich erst Mal“, sagte Hirscher mit gedämpfter Stimme, der die Ruhe selbst zu sein schien. „Ich habe ihn freigelassen, weil ich den wahren Mörder gefunden habe.“
„Aber die Beweise sind eindeutig“, protestierte Markus.
„Das mag so sein, aber, um ehrlich zu sein, Herr Leitner ist ein Säufer.“
Markus nickte mehr verdutzt als zustimmend: „Ja und?“
„Ein Säufer mordet im Affekt!“, führte Hirscher aus, „er hätte Peter erschlagen oder aus dem Fenster gestoßen, aber er hätte niemals so einen raffinierten Mord begangen. Das erfordert eiskalte Berechnung, Planung und vor allem Insiderwissen, Wissen um Tatortermittlung.“
Markus Gesicht ging von Bestürzung in Verwirrung über: „Du meinst, einer von uns?“
„Ja, und ich denke, du weißt genau, wen ich meine!“. Er fixierte seinen Partner mit eiserner Miene.
„Wie meinst du das?“
„Du kannst aufhören, deine Scharade hat ein Ende.“
Markus sank in den Sessel vis à vis von Hirscher, Ärger machte sich in ihm breit, er wusste, dass es keinen Sinn mehr machte, zu lügen.
„Wie bist du draufgekommen?“, fragte er zynisch.
Markus richtete seinen Blick auf den Boden, er wagte es nicht, seinem Partner anzusehen.
„Zuerst einmal war dein Plan auffällig aalglatt. Ich hatte weder das Gefühl, dass Peter Leitner an einer selbst gesetzten Überdosis starb, noch das Gefühl, ein Trunkenbold könnte so ein Verbrechen begehen. Als Herr Leitner gestand, dass Peter nicht sein Sohn war, wusste ich, der Schlüssel lag in Peters wahrer Identität, ein Weg, von dem du, koste es was es wolle, ablenken wolltest. Spätestens im
Keller nahm ich Notiz von deinen Bemühungen, mich auf die falsche Fährte zu locken, du hast die Kanüle in die Werkzeugbox gelegt.“
„Hervorragend ermittelt“, spöttelte Markus, „aber das Motiv fehlt noch!“
„Das ist einfach, das älteste Motiv der Welt, Geld. Stefan Leitner, eigentlich Stefan Meier, war der Sohn deines Onkels, also dein Cousin, er wäre der Haupterbe gewesen. Warum Stefan zur Adoption freigegeben wurde, warum dein Onkel sämtliche Spuren seiner Vaterschaft verwischt hat, wird vielleicht nie geklärt werden, Tatsache ist, dass Peter trotz allem sein Sohn war.“
Hirscher stand von seinem Stuhl auf, öffnete die Tür und zwei uniformierte Beamte betraten das Büro: „Gehen wir, Markus“, sagte einer von ihnen in strengem Tonfall. Ohne Gegenwehr folgte Markus den Männern.

Impressum

Texte: R.N.
Tag der Veröffentlichung: 06.02.2013

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /