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Mathias Schuster bretterte  mit seinem Volkswagen Passat, Kombiausführung, über die in Mitleidenschaft gezogene erste Autobahnspur. Dicke Schneeflocken hafteten sich an seine Frontscheibe, um dort gleich wieder zu schmelzen und von den Wischern beiseite geschoben zu werden. Es war Ende Januar und dicke Eiszapfen hingen von den trübgrauen Leitplanken. Er blickte erneut in den Rückspiegel. Der zwölf Wochen alte Hundewelpe, der auf der in dunklem Bezug gehaltenen Rückbank saß, ließ sich auf das Polster fallen und kratzte sich mit einem genüsslichen Gesichtsausdruck sein Hängeohr. Tapsig setzte er sich im wackeligen Auto wieder auf und blickte interessiert nach draußen.

Mathias seufzte tief, als der Welpe seinen Kopf wieder nach vorne zu ihm streckte: „Bleib schön sitzen, wir sind gleich da“, stammelte er wie benommen.

Vier Wochen war es nun her, dass Sammy, so hatte ihn Lea, seine Tochter getauft, bei ihnen eingezogen war. Der Schäferhundmischling hatte mit seinem tiefschwarzen Fang und dem semmelfarbenen Brustkorb sofort das Herz der Familie Schuster gestohlen. Kurz vor Weihnachten war es dann soweit gewesen, Sammy war alt genug, um von seiner Mutter getrennt zu werden und zog bei der dreiköpfigen Familie ein. Mathias und seine Frau fanden es unglaublich rührend, wie sehr sich die sechsjährige Lea um den Vierbeiner kümmerte, das Glück der Familie schien grenzenlos.

So berauschend die ersten Tage mit dem neuen Familienmitglied auch waren, so schnell stellte sich auch der Alltag wieder ein. Der Hund musste alle zwei Stunden raus, auch nachts, was wiederum hieß, Mathias hing mit rot umrahmten Augen wie ein Mehlsack auf seinem Büroarbeitsplatz, einen Kaffee nach dem anderen schlürfend, was auch dem einen oder anderen Kollegen, der es nicht so gut mit ihm meinte, aufgefallen war. Sammy biss Leas Barbie den Kopf ab, worauf sie nicht wieder aufgehört hatte zu weinen, bis Mathias ins Auto gesprungen war und eine Neue besorgt hatte. Auch mit anderen Hunden vertrug sich Sammy nicht besonders, was Probleme aufwarf, wollte die Familie doch im Februar eine Woche Skiurlaub in Tirol machen und ihn derweilen bei einem Hundesitter unterbringen. Regelmäßige Tierarzttermine rissen zudem ein nicht unbeachtliches Loch ins Budget der jungen Familie. Je größer die Kluft zwischen Sammy und dem Rest der Familie wurde, desto mehr zerbiss und zerkratzte wiederum der Hund, fordernd nach Aufmerksamkeit. Es schien, als ob sie nicht über dieselbe Sprache verfügten, Mathias verstand den Hund nicht und er war sich sicher, der Hund verstand auch ihn nicht. Die Summe dieser Umstände bildeten schließlich die Basis für eine Entscheidung, die Mathias nun vollstrecken musste, deshalb waren sie gemeinsam im fahlen Licht des scheidenden Tages unterwegs.

Mathias lenkte seinen Wagen auf einen Autobahnparkplatz und drehte den Motor ab. Nach einem kurzen Blick ringsum stieg er aus und öffnete die hintere Tür. Sammy begrüßte ihn mit einem energischen Schwanzwedeln. Das Paar grünschimmernder Welpenaugen funkelte ihn voller Vorfreude auf den kommenden Spaziergang an.

„Scheiße mach es mir doch nicht so schwer“, seufzte Mathias leise, ehe er dem Hund seine Leine anlegte und ihn in ein kleines Wäldchen, das direkt an den asphaltierten Parkplatz angeschlossen war, führte.

Mathias schien es plötzlich furchtbar eilig zu haben. Er knotete die Leine am erstbesten Baum fest und ohne zurückzublicken, hastete er wieder zum Auto. Sammy sah ihm gespannt nach, und als er sein Herrchen aus den Augen verlor, begann er in einem hellen Ton zu bellen, den der aufkommende Sturm, der wie Peitschenhiebe um seine Ohren wirbelte, gierig verschlang. Frustriert stemmte sich der kleine Vierbeiner gegen die gespannte Leine, dass es ihm die Kehle zuschnürte, aber das war egal, er musste um jeden Preis bei seinem Herrchen bleiben, alleine war er schutzlos und verloren.

Kraftlos von den Strapazen der letzten Minuten tat Sammy einen Schritt zurück und blickte sich im Getöse um. Kahle Bäume und struppiges Gebüsch ragten rings um das kleine Geschöpf auf, wie die Mauern um Alcatraz. Ein zwei Meter hoher Maschendrahtzaun begrenzte das kleine Wäldchen, dahinter tat sich ein Feld auf, dessen gepflügter Boden wie Wellen im Eismeer wirkten. Sammy stand auf gut zehn Zentimetern Pulverschnee, dessen Kälte seine Beine erzittern ließen. Seine Rute, die zuvor noch vor Aufregung wild umher gewedelt hatte, verkrampfte er nun zwischen die Beine, um seinen nackten Welpenbauch vor der immer stärker werdenden Kälte zu schützen. Leise schluchzte er ein trauriges Lied vor sich hin, in der Gewissheit, dass er hier völlig alleine war und es Nacht wurde.

Sammy rollte sich zu einem kleinen Häufchen Elend am gefrierenden Boden zusammen und war in Gedanken bei seinem Rudel, wo er die Nächte im großen Bett verbracht hatte und auch Lea zu ihnen gekrochen war und sie wie eine glückliche Familie unter der warmen Decke geschlummert hatten. Traurig fiepte er vor sich hin, die Augen im stärker werdenden Sturm fest zusammengekniffen.

Geräusche, die Sammy nicht kannte, ein Gurren, dessen Richtung kaum auszumachen war, Schritte in der Ferne ließen ihn aufschrecken. Er blickte sich um, aber er war immer noch alleine. Plötzlich sah er ein kleines Tier, wie es geschickt von einem Ast zum anderen sprang und schließlich einen Baumstamm entlang nach unten lief. Nun stand das Tier, nicht weit von Sammy entfernt, aufrecht auf seinen Hinterpfoten und blickte ihn mit zwei glitzernden, schwarzen Knopfaugen an. Der mit dunkelbraunem Fell bedeckte Körper des Tieres endete in einem langen, buschigen Schwanz, ein scheinbar widerspenstiges Haarbüschchen ragte von seinem Kopf nach oben, während ein weißer Streifen im Fell vom Hals bis zu den Hinterbeinen verlief. Sammy wusste nicht, was er davon halten sollte, also tat er einen Schritt auf das seltsame Wesen zu und versuchte mit schnaubenden Geräuschen, bei denen seine feuchte Nasenspitze wild umher tänzelte, dessen Geruch wahrzunehmen. Nach kurzer Zeit des gegenseitigen Beobachtens, lief das Tier zu einem Baum, scharrte energisch Schnee, Blattwerk und Erde zwischen zwei Wurzeln beiseite, bis es schließlich mit einer Nuss, die es gekonnt in den Vorderpfoten hielt, wieder aus dem gegrabenen Loch auftauchte. Gierig kaute es an der Frucht, Schalenteile flogen wild umher als die Hülle knackend aufbrach, die Backen füllten sich während das Tier eifrig das Zerkaute hinunterschluckte. Als es fertig war, drehte es sich um, huschte einen Baum vertikal hinauf und verschwand in der Nacht.

Sammy sah dem Tier noch einige Zeit nach, dann rollte er sich, dicht an einem kahlen Busch auf dessen Windschattenseite, zusammen und steckte den Kopf zwischen seine Pfoten. Sein ganzer Körper bebte vor stechendem Schmerz, den ihm die Eiseskälte zufügte, aber was sollte er denn machen, er war hier angeleint worden und konnte sich nicht selbst befreien. Wenig später riss ihn ein Rascheln im Gebüsch aus seinen Gedanken. Sammy fuhr auf, blickte ringsum und da, zwischen den beiden dicht aneinander wachsenden Tannen sah er zwei blitzende Augen auf ihn gerichtet. Das waren nicht die Augen des seltsamen Tieres, das er zuvor beobachtet hatte, diese Augen hatten etwas Wildes und Beängstigendes, und sie fixierten ihn ohne auch nur den Bruchteil einer Sekunde abzulassen. Sammy musste nicht so erfahren wie sein Herrchen sein, um zu wissen, dass er gerade in die Augen eines Räubers, eines Fleischfressers starrte und er als Opfer auserkoren worden war. Das Tier trat aus dem Schatten. Weiße Zähne blitzten wie Rasiermesser in seinem Gesicht, die rotbraune Zeichnung seines Felles glänzte im Mondschein,  der listige Blick war auf eine leicht zu erlegende Beute gerichtet. Der Fuchs ließ sich alle Zeit der Welt, er trat näher an Sammy heran, umkreiste ihn und es schien ihm zu gefallen. Gierig leckte er sich die langgezogenen Lefzen seines spitz zulaufenden Fanges. Dann ging alles ganz schnell, mit einem weiteren Schritt setzte er zum Sprung an.

In diesem Moment erleuchteten die Scheinwerfer eines auf den Parkplatz zufahrenden Autos das Wäldchen hell, als der Fahrer in die Kurve lenkte. Wie vom Blitz getroffen erstarrte der Fuchs beim Anblick der beiden riesigen Augen in der Bewegung, dann rannte er um sein Leben. Er lief den eng gestrickten Maschendrahtzaun entlang, ehe er durch ein frisch gegrabenes Loch neben einem Zaunsteher hindurch schlüpfte.

Sammy stand die Panik ebenso ins Gesicht geschrieben. Er sah sich um. Er war noch kein besonders guter Läufer, außerdem war er an den Baum gefesselt, also beschloss er, in den nahegelegenen Busch zu klettern, um sich bestmöglich zu verstecken. Als er unter dem Geäst hervorlugte, sah er gerade noch, wie der Fahrer wieder in seinem Auto Platz nahm und den Parkplatz verließ.

Sammy war zu erschöpft, um sich nach dem Fuchs umzusehen. Mittlerweile zitterte er am ganzen Leib und er vermochte kaum noch seinen Kopf zu heben. Wenig später lag er mit halb geöffneten Augen auf dem schneebedeckten Boden und spürte, wie das Leben langsam aus seinem Körper entwich und Schwärze ihn mit gierigen Klauen umfing.

Der morgendliche Himmel war klar und die ersten zaghaften Sonnenstrahlen wagten sich hinter dem Hügel hervor. Schmelzwasser lief in kleinen Rinnsalen über den Asphalt des Parkplatzes.

„Geht nicht zu weit weg, hört ihr?“, rief eine Frau mittleren Alters ihren beiden Töchtern zu.

„In zwei Stunden sollten wir wieder zu Hause sein“, sagte ihr Mann und nippte genüsslich am Kaffee den er gerade aus der Thermoskanne geleert hatte. Er lehnte sich genüsslich an die Lehne der Parkbank und schloss für ein paar Minuten seine von der langen Autofahrt erschöpften Augen.

Ihre siebenjährige Tochter spielte währenddessen mit ihrer Schwester auf der schneebedeckten Wiese.

„Hör zu Tamara, spielen wir Versteckten …“, rief sie ihrer um einen Kopf kleineren Schwester zu.

Tamara nickte vergnügt: „Ich schaue weg und du versteckst dich.“

Während Tamara zurück zur Bank lief, ihren Kopf im Schoß der Mutter vergrub und laut zu zählen begann, sah sich Sandra hastig nach einem Versteck um. Das kleine Wäldchen am Rand der Wiese sollte gut genug sein. So schnell sie ihre Füße trugen, lief sie über das schneebedeckte Gras, während sie immer wieder über ihre Schulter blickte, um zu kontrollieren, ob ihre Schwester ihr auch wirklich nicht nachschaute. Als sie im Dickicht der Bäume und Sträucher verschwand blieb sie stehen und sah sich um.

„Der Busch da drüben ist ideal“, flüsterte sie leise und lief darauf zu. Ein paar Meter davor blieb sie abrupt stehen. Irgendetwas lag dort. Zögernd ging sie noch ein paar Schritte darauf zu. Sie betrachtete das Objekt stirnrunzelnd.

„Wer bist du?“, fragte sie leise und beugte sich hinunter.

Der aus schwarzer und semmelbrauner Farbe gemusterte Hund öffnete langsam die Augen ohne den Kopf anzuheben, während ihn schwere Krämpfe durchzuckten.

„Ist dir kalt?“

Sie griff dem Welpen vorsichtig ans Halsband und löste die Leine davon ab. Danach öffnete Sandra ihre rosa Skijacke, nahm das zittrige Bündel auf und steckte es darunter. Sanft streichelte sie dem Welpen über den Kopf.

„Ich werde dich zu Mama und Papa bringen, die wissen sicher was zu tun ist.“

Vorsichtig umschlang sie den Hund mit beiden Armen, verließ das Wäldchen und stapfte über die Wiese.

„Schaut, was ich gefunden habe“, rief sie ihren Eltern zu.

Synchron drehten sich beide um, auch Tamara blickte interessiert auf.

„Oh mein Gott“, rief ihre Mutter fassungslos, „das ist ja ein Hund.“

Sie nahm den Welpen an sich und begutachtete ihn: „Du zitterst ja am ganzen Leib!“, sie wandte sich ihrem Mann zu, „Georg, pack alles zusammen und lass uns in der nächsten Ortschaft einen Tierarzt suchen.“

„Ist gut! Kommt Kinder, helft mir.“

Monate waren ins Land gezogen und der strenge Winter war endgültig einem lauen Frühling gewichen. Es war Nacht und Sammy tapste über den Flur, mit seiner Schnauze stieß er die angelehnte Tür auf und durchquerte das Zimmer. Mit einem Satz sprang er in das Bett und kuschelte sich unter die warme Decke. Sandra streichelte ihm liebevoll über den Kopf, drehte sich um und schlief weiter.

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Tag der Veröffentlichung: 03.02.2013

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