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Es ist schon eine Weile her, aber ich kann mich noch gut erinnern an die Zeit, als ich ein Schneemann war. Ziemlich aufregend war es vom Himmel zu fallen und auf die Welt zu kommen als kleine, weiße Schneeflocke.
Und als ich frisch gelandet war hab ich auch gleich festgestellt, dass ich nicht alleine war, sondern einer von Tausenden. Naja, ehrlich gesagt hab ich das nicht gleich festgestellt. Eigentlich hab ich bloß gedacht: Ich bin eine Schneeflocke! Juhu!

Und auf einmal konnte ich etwas hören. Ich hörte: Ich bin eine Schneeflocke! Juhu!
Ich hörte es aber viel lauter als zuvor und in viel mehr Stimmlagen. Es wurde auch wohlig kälter um mich herum. Und dann konnte ich anfangen zu sehen. Das Erste was ich sah, war eine andere Schneeflocke, die sich mir direkt ins Gesicht drückte!
Ins Gesicht?
Und so langsam begriff ich, dass ich begreifen konnte, denn ich hörte eine laute, fremdartige Stimme von hoch oben: Ich mache einen Schneemann!

Ja, genau, das war es! „Ich bin eine Schneeflocke- Juhu“ wurde zu „Wir sind ein Schneemann - Juhu“ wurde zu „Ich bin ein Schneemann!“.
So wurde ich ein Schneemann.
Ich konnte ein Bisschen sehen, ich konnte hören und ich konnte denken. Wow! Und ich konnte auch übelkeit empfinden, denn etwas trug mich zwischen Himmel und Erde wild wackelnd durch die Welt.

Doch das vergaß ich schnell, als es auf einmal heller wurde und eine freudige Stimme rief: „Oh - Das ist der süßeste, schönste Schneemann, den ich je gesehen habe!“
Sowas hört man gerne merkte ich sofort daran, dass mir warm ums Herz wurde.
Ums Herz?
Nein, es waren diese warmen Hände, die mich umschlossen. Und dann erfuhr ich, dass ich sogar Angst empfinden konnte. Nur weswegen, das wusste ich nicht. „Ojeh, er schmilzt!“ – ja, das war es! Ich schmolz! Da hat man ja auch allen Grund zur Angst! Hilfe! Was sollte ich nur tun?

Dann ließ mich die warme Hand vorsichtig los, setzte mich auf einen wunderbar kalten Boden und machte das Licht aus.
Das war es. Ich konnte nichts mehr sehen und ich konnte auch nichts mehr hören. Aber immerhin schmolz ich nicht mehr. Mein Leben war gerettet!

Doch bald schon schnitt mich die Kälte anstatt mir wohl zu tun und ich vermisste das Licht und die Geräusche um mich herum. Aber als eines Tages das Licht wieder anging und die warme Hand mich hochhob, in die Welt der Farben und der Melodien, da folgte auf den Moment des Genusses doch nur wieder die Angst vor dem Schmelzen.


Schmelzen, was ist das eigentlich?, fragte ich mich als ich wieder alleine in der dunklen Kälte stand. Und nach nur kurzer Zeit vermisste ich die Welt außerhalb meines Zimmers, wie ich die kleine, dunkle Kältezone seit einiger Zeit nannte, noch viel mehr als je zuvor. Sogar die schmelzende, warme Hand fehlte mir. Ich würde vielleicht gerne in dieser Hand schmelzen, dachte ich, sie hat etwas. „Komm und hol mich! Bitte schmilz mich! Ich will nur noch einmal die Musik hören und nie wieder Sehnsucht haben!“schmetterte ich ununterbrochen gegen die Türe. Aber es tat sich nichts. Ich wurde nicht gehört.

Was war noch mit mir in diesem Raum? Und wie groß war dieser Raum? Gab es noch mehr Eingänge? Gab es noch jemanden wie mich? All diese Fragen quälten mich, bis zu jenem Tag.

Es wurde hell, die warme Hand ergriff mich und meine Angst schwieg vor der Herrlichkeit der Farben, Stimmen und sogar Gerüche. Ein großes Durcheinander von Reizen, Gefühlen, Erlebnissen, Ideen und Gedanken stürmten auf mich ein; manche schön, manche schrecklich, wieder andere waren unbeschreiblich. Wieder hörte ich die Stimme: „Er kann nicht länger im Tiefkühlschrank bleiben. Draußen ist es vielleicht auch kalt genug.“

Ich spürte wie ein Film Schmelzwasser um mich herum streichelte und fühlte, dass die warmen Hände kälter wurden. Sie ließen mich los und setzten mich auf Nichts – weder warm noch kalt. Ein Teil von mir blieb an den warmen Händen zurück, wahrscheinlich weil sie meine erste große Liebe waren. Und als meine aufkeimende Angst vor dem Alleinsein sich gerade aufbäumen wollte, sah ich die Sonne. Sie schien auf mich und ihre Strahlen schmolzen mich langsam dahin. Die Wahrnehmungen wurden etwas schwächer, aber mein Bewusstsein blieb. Auf einmal war ich viel schneller und viel beweglicher.


Seitdem habe ich viel erlebt und viel gesehen.
Mein Leben war gerettet.
Zum 2ten Mal.
Immerhin das, was ich für Leben hielt und halte.
Was da wohl noch kommt?


...ich bin eine Schneeflocke - Juhu!

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 07.01.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
meinem Mann

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