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Gute Vorsätze

 

 

»Ich möchte zehn Kilo abnehmen.«

»Ich will aufhören zu rauchen.«

»Ich hab mir vorgenommen, weniger Alkohol zu trinken.«

»Ich geh ab sofort drei Mal pro Woche in die Kraftkammer. Dieses Jahr krieg ich einen richtigen Hardbody.«

High Fives wurden getauscht, auf die Vorsätze wurde angestoßen. Es gab das Henkersbier, die Henkersmahlzeit, die Henkerszigarette.

»Das neue Jahr beginnt eh erst mit dem Zweiten, oder?«, versicherte sich Ronny. Offensichtlich wollte er sicherstellen, dass er noch Henkers-extremcouching betreiben konnte, ehe er in der Muckibude seinen Körper stählen musste.

Dann fiel ihnen endlich auf, dass Simon noch keinen Vorsatz in die feuchtfröhliche Runde geplärrt hatte. Mit seiner Coke-light saß er still da wie immer und bewunderte die Präsenz und Selbstsicherheit seiner Freunde.

»Na, Simon? Was hast du dir für 2020 vorgenommen?«

Simon zuckte mit den Schultern und drehte das Glas zwischen seinen Fingern. Nicht mehr mitgehen, wenn seine Freunde einen draufmachen wollten? Weil er dann eh nur still danebensaß und ihnen beim Spaß haben zusah? Was eigentlich nur nervte und er sich erstens fragte, warum er sich das antat, und zweitens, wann er abhauen könnte, ohne blöde Bemerkungen zu ernten.

Wobei, die erntete er doch sowieso. Weil er Cola statt Bier trank, weil er lieber Salat als Burger aß, weil er lieber joggte, statt zu rauchen und weil er sich lieber im Internet Wissen aneignete, statt Bingewatching zu betreiben. Und der wohl schmerzhafteste Punkt: Während seine Freunde Frauen und Männer flachlegten, träumte er bloß von Liebe. Aber um sie zu erfahren, müsste er rausgehen. Unter Männer. Er müsste sich auch mal in Lokalen umsehen, und nicht nur auf die Tischplatten starren. Er müsste auf den Flirt eingehen, wenn ihn einer ansprach, statt die Anrede für ein Fachgespräch zu halten und es so schnell wie möglich zu beenden. Er hatte sie nicht drauf, die Sache mit Menschen, und die Sache mit Liebe. Ein Wunder, dass sich seine Freunde immer noch mit ihm abgaben.

Okay. Er war immer nüchtern. Er konnte sie stets heimbringen. Und er konnte eben wegen seiner Andersartigkeit ganz gut zuhören und brauchbare Ratschläge erteilen. Womit hätte er auch die Leiden seiner Freunde übertrumpfen sollen? Mit seinen Erkenntnissen, über die genetischen Eigenheiten von Fadenwürmern?

»Komm schon, Simon, du hast dir doch sicher was vorgenommen«, meinte Bruno, dem nicht schaden würde, statt zehn dreißig Kilo abzunehmen.

»Was soll er sich schon vornehmen?«, fragte Josef, der schon seit Jahren bei den Anonymen Alkoholikern vorstellig sein sollte.

»Lasst ihn doch, er will so bleiben, wie er ist«, rief Martin, der Kettenraucher.

»Du darfst«, grölten sie im Chor und lachten.

»Ich fange zu rauchen an«, murmelte Simon.

»Was?«, fragte Martin.

»Ich werde zu rauchen anfangen«, sagte Simon lauter und erntete verdutzte Blicke. »Und ich werde zehn Kilo zunehmen, Fett, keine Muskeln«, fügte er hinzu, ehe sie Worte fanden. »Ich lege mir einen Netflix und Amazon Prime Account zu und werde jede Serie bingewatchen, die angeboten wird. Dazu saufe ich mindestens ein Sixpack Bier die Woche – und eine Flasche Wodka.«

Simon empfand eine gewisse Genugtuung, dass seine Freunde zur Abwechslung mal nicht wussten, ob das ein Witz war, oder ernst gemeint. Es fühlte sich an wie ein Rausch, so im Mittelpunkt zu stehen und seine ständig einander übertrumpfenden Freunde sprachlos zu sehen.

»Und ich habe mindestens einen One-Night-Stand pro Woche«, hörte sich Simon sagen.

Natürlich war das nur ein Scherz. Das alles war nicht eine Sekunde ernst gemeint. Er wollte ihnen einfach nur eine runterhauen, verbal. Denn wenn er eines wusste, dann, dass keiner von ihnen seinen Vorsatz länger als bis zum dritten Januar durchhalten würde. Ronnie zog es vielleicht eine Woche durch, er war der zäheste unter ihnen. Aber dann würde er sein Sportpensum durch doppelten Chilleifer neutralisieren. Er würde ein Marshmallow bleiben, so, wie Martin auch noch in einem Jahr an einem Lungenkarzinom arbeiten würde und Bruno acht Kilo würde abnehmen müssen, um auf das heutige Gewicht zu kommen.

Das alles wollte ihnen Simon mit seiner Ansage ins Gesicht klatschen.

Bruno fand als Erstes Worte. Er hob seinen Bierkrug an. »Na endlich.«

»Wird aber auch Zeit«, meinte Martin.

»Am Ende wirst du noch ein richtiger Junge«, rief Josef.

»Auf deine genialen Vorsätze«, sagte Ronnie und sie hoben ihre Bierkrüge.

Simon nahm sein Colaglas, um mit ihnen anzustoßen.

»Nein, nein.« Josef nahm es ihm aus der Hand und schaute sich nach dem Kellner um. »Ab jetzt stößt du mit Bier an.«

»Hier«, sagte Martin, als vor Simon ein beschlagener Bierkrug landete, über dessen Rand Schaum floss, und schob ihm seine Zigaretten hin.

Pikiert blickte Simon auf die Packung. Wie kam es, dass alle anderen Scherze machen konnten, die auch als solche verstanden wurden, aber wenn er einen Witz bemühte, nahm man ihn für bare Münze? War er echt so ein Spielverderber?

»Eigentlich«, begann er und verstummte. Er wollte kein Spielverderber sein. Er war ja nicht absichtlich enthaltsam und brav. Noch weniger war er es, um den anderen ihre Verderbtheit vorzuhalten. Er war eben einfach so. Und er war wohl jemand, dem man keinen Sarkasmus zutraute.

»Ab Zweiten«, sagte er daher, um sich an Ronnies Kraftkammergalgenfrist festzuhalten. Stand ihm denn nicht auch eine … Henkers-Abstinenz zu?

»Papperlapapp am Zweiten«, rief Josef. »Du musst jetzt mit mir saufen, weil ab Zweiten darf ich nicht.«

»Und ich will ein Mal nicht der einzige Raucher sein«, meinte Martin.

Mist. Simon hatte mit einem Mal zu viele und zu wenige Hände. Sollte er erst mit den anderen anstoßen? Sollte er sich erst eine Zigarette anstecken? Die aufmerksamen, ja regelrecht neugierigen Blicke seiner Freunde setzten ihn zusätzlich unter Druck. Jetzt konnte er keinen Rückzieher machen. So unwohl er sich fühlte, so sehr freute es ihn auch, dass sie ihn wenigstens ein paar Momente für ihresgleichen hielten. Dass sie ihm zutrauten, eine wilde Sau zu sein.

Die Packung Zigaretten fühlte sich in seinen Händen falsch an. Ihm war, als sähe die ganze Welt, dass er zum ersten Mal im Leben eine Zigarette aus einer Schachtel pfriemelte. Ungeschickt pflanzte er den Glimmstängel zwischen seine Finger und führte ihn so lässig, wie er nur konnte, zum Mund. Erst dann begriff er, dass er das Ding auch anzünden sollte. Während er mit beiden Händen damit kämpfte, das Feuerzeug anzukriegen, wackelte die Zigarette peinlich zwischen seinen Lippen. Er wusste nicht genau, wie viel Druck er auf den Filter ausüben sollte.

Dass ihn alle anstarrten, machte die Sache nicht einfacher.

Plötzlich tippte ihn jemand an. »Hey. Nicht da herin.« Dann legte sich eine Hand schwer und warm auf seine Schulter. »Damit geh bitte vor die Tür, ja?«

Vor Schreck fiel Simon die Zigarette aus dem Mund. Noch ehe er ihn sah, roch er ihn – und er roch gut. Der Kellner lächelte ihn an und zuckte freundlich mit den Augenbrauen, als wollte er ihm etwas signalisieren. Auch seine Hand ließ er eine Sekunde länger als nötig auf Simons Schulter ruhen. Als wäre es für diesen Hinweis überhaupt nötig gewesen, ihn zu berühren.

»Danke«, sagte Simon. Weil der Kellner ihm die beste Ausrede geliefert hatte, jetzt nicht rauchen zu müssen. Und weil er ihn davor bewahrt hatte, einen Fauxpas zu begehen. Etwas, das Simons Freunden übrigens nicht in den Sinn gekommen war.

»Kann ich dir noch eine Cola bringen?«, fragte der Kellner, neigte sich halb über Simon und wischte mit einem Lappen über die Tischplatte. Sein Duft machte Simon ganz wirr im Kopf.

Simon wollte schon Ja sagen, da kam ihm Josef zuvor: »Nein, der sauft 2020 nur noch Bier – gell, Simon?« Er boxte ihm spielerisch in den Ellenbogen.

Mit einem verzweifelten Grinsen sah Simon zum Kellner hoch. Eine Mischung aus Entschuldigung und Hilferuf. Vielleicht verbat der Kellner ihm ja das Bier und gab Simon damit einen Vorwand, sich aus der Affäre zu ziehen.

»Ach so?«, sagte der Kellner stattdessen, wieder mit diesem eigenartigen Lächeln, stützte sich einen Moment auf Simons Lehne auf, als wollte er sich länger mit ihm unterhalten, und berührte ihn dabei am Rücken. Da rief ihn einer der anderen Gäste und er eilte davon, um eine Bestellung aufzunehmen.

»Ich glaub, dem gefällst du«, meinte Ronnie, ohne abzuwarten, bis der Kellner außer Hörweite war.

Simon wollte im Boden versinken. »Schscht«, machte er geduckt und schien erst dadurch zu erreichen, dass sich der Kellner gemeint fühlte. Er drehte sich zu ihm um, schmunzelte, dann kümmerte er sich um die Gäste.

»Scheiße«, entkam es Simon. Er griff zu seinem Bierkrug, um seine zitternden Finger zu kaschieren, und tauchte die Oberlippe in den Schaum.

»Hey, was ist mit anstoßen!«, rief Josef.

Mit heißem Kopf hob Simon sein Bier und klirrte damit gegen die Krüge seiner Freunde. Dabei registrierte er, dass der Kellner zu ihm hersah. In seinem Bauch gab es einen Stich.

Natürlich war ihm der Kellner schon früher aufgefallen. Mitunter war er sogar der Grund, warum sich Simon die Saufabende seiner Freunde antat. Stumm danebensitzen und den hübschen Mann anschmachten, wie er von Tisch zu Tisch flitzte und hochkompetent Getränke servierte. Simon mochte sein offenes Lächeln und manchmal stellte er sich vor, er lächelte ganz besonders ihn an. Natürlich redete sich Simon das nur ein, das war ihm nur zu bewusst. So was passierte, wenn man schüchtern war und so gut wie nie Männer traf. Man bezog jedes höfliche geschäftsmäßige Lächeln auf sich persönlich. Ob Busfahrer, Verkäufer oder eben der Kellner in diesem Pub. Simon bildete sich immer gleich irgendetwas ein. Spielte aber eh keine Rolle, weil er ohnehin zu feige war, irgendetwas zu machen, und spätestens daheim sah er auch wieder die Realität. Nämlich, dass er unsichtbar war und sich nie einer für ihn interessieren könnte. Und selbst wenn …

Im Unterschied zu freundlichen Busfahrern und Verkäufern konnte Simon den Kellner einen ganzen Abend lang beobachten. Und damit konnte er sich weit öfter und nachhaltiger irgendetwas einbilden. Die Realität ließ sich dadurch auch etwas länger Zeit, ihn einzuholen, meistens gestattete ihm seine Fantasie, bis zum nächsten Morgen in der Illusion zu schwelgen, dem Kellner nicht völlig wurscht zu sein.

Deswegen hatte Ronnies Anspielung auch so getroffen. Weil Simon genau das hoffte, und fürchtete, das vermeintliche Interesse des Kellners könnte Platzen wie eine Seifenblase, sobald man ihm draufkam. Weil es eben kein Interesse war, sondern allenfalls der Versuch, mehr Trinkgeld zu bekommen.

»Na, was ist, Simon, kommst du mit raus eine rauchen?«, fragte Martin.

Simon nickte erleichtert und stand auf. Er musste raus hier, musste sich der peinlichen Situation entziehen, dass der Kellner vielleicht gehört hatte, was Ronnie gesagt hatte, und jetzt glaubte, Simon wolle was von ihm. Ihm war unerträglich heiß und er sehnte sich nach der kalten Winterluft vor der Tür.

Bewusst den Kellner und die anderen Gäste ignorierend eilte Simon zum Ausgang. Ein richtiger Tunnelblick – alles, was er sah, war die Tür. Ob Martin ihm folgte, interessierte ihn erst, als er draußen war und sich ein paar Rauchern gegenübersah, die sich nach ihm umdrehten.

Schlagartig fühlte sich Simon deplatziert – und war erleichtert, als Martin zu ihm herauskam. Mit einem Grinsen hielt Martin ihm die offene Zigarettenpackung hin. »Ziehst du das jetzt echt durch?«

Aber so was von. Jetzt erst recht. Simon nickte cool und zupfte einen Glimmstängel heraus.

Martin gab ihm Feuer und beobachtete ihn amüsiert.

Wie zu erwarten, stach der Rauch in den Lungen und trieb Simon die Tränen in die Augen. Er musste husten und rang um Luft.

Martin lachte und klopfte ihm auf den Rücken. Die anderen Raucher dämpften bibbernd ihre Zigaretten aus und drängten sich an ihnen vorbei zurück ins Lokal.

»Wie kommts?«, fragte Martin, als sie alleine waren. »Woher der plötzliche Sinneswandel? Den ich übrigens sehr cool finde.«

Simon zuckte mit den Schultern. Er würde nicht zugeben, dass er eigentlich nur einen Witz gemacht hatte und keinesfalls vorhatte, diese Vorsätze umzusetzen. Er würde heute Nacht mitspielen, weil Silvester war, aber ab morgen würde er wieder sein ganz normales Leben leben. Vermutlich würde sich eh keiner an seine Vorhaben erinnern. Beziehungsweise würde ihm keiner damit kommen, da sie selbst ihre ja auch nicht umsetzten.

»Em?«, ertönte die Stimme einer kleinen Frau mit blondem Pagenkopf und schwarzem Lippenstift.

Sofort änderte Martin seine Pose vom laschen Sack zum brünstigen Auerhahn.

Simon kannte die Frau. Sie hieß Babsi und war Martins erklärte Nicht-Freundin. Das hieß, sie redeten sich beide ein, voneinander nichts zu wollen, außer gelegentliche One-Night-Stands. Nur dass sie diese seit Wochen ausschließlich miteinander und mit schöner Regelmäßigkeit vollzogen. Martin wurde nicht müde, zu betonen, wie nicht-verknallt er in diese Frau war, und Babsi wurde nicht müde, zu demonstrieren, wie sehr sie über ihm stand, während sie den halben Abend auf seinem Schoß saß.

Dass ihnen diese Show längst nicht mehr gelang, und sie alle anderen bereits als Paar sahen, bemerkten sie nicht. Babsis künstliche Wimpern klimperten und Martins Brust platzte bald.

Simon war mit einem Mal vergessen – beziehungsweise so unsichtbar wie eh und je. Ein bisschen verloren und deplatziert stand er mit dem Glimmstängel herum und wartete darauf, dass er von alleine herunterbrannte, während sich Martin und Babsi gegenseitig präkoital aufzogen. Dabei bewegten sie sich immer weiter von Simon weg, redeten immer leiser, als wäre ihnen der unscheinbare Zeuge peinlich.

Simon überlegte, ob er die halbe Zigarette ausdämpfen und wieder reingehen sollte, da ging die Tür des Lokals auf und … der Kellner kam heraus. Er wirkte überrascht, Simon hier zu sehen, sein Blick huschte zur Zigarette, dann bemerkte er Martin und Babsi, die nichts mehr von der Welt um sich herum mitkriegten.

Der Kellner grinste ein bisschen dreckig, als er sich wieder Simon zuwandte, und rauchte sich eine an. Den blauen Dunst mit einem tiefen Seufzen über Kopf in die Nacht blasend, lehnte er sich neben Simon gegen die Mauer. Dann musterte er ihn. »Seit wann rauchst du?«

Simon erinnerte sich an die Zigarette in seiner Hand, die zur Hälfte aus einem Ascheast bestand, und führte sie zum Mund. Die Asche bröselte über seinen Arm und rieselte zu Boden. Simon nahm unabsichtlich einen tiefen Zug, seiner Lunge gab es einen Stich und er musste husten.

Für Sekunden war er mit allen Sinnen damit beschäftigt, wieder Luft zu kriegen. Irgendwie am Rande registrierte er, dass ihm der Kellner auf den Rücken klopfte und ihm mit der anderen Hand sanft die Zigarette abnahm. Besonders registrierte Simon, wie die Finger des Kellners dabei seine streiften. Ein Moment, von dem er wünschte, er könnte ihn für immer einfrieren.

Der Kellner dämpfte die Zigarette aus, ohne die Hand von Simons Rücken zu nehmen. »Gehts wieder?«, fragte er.

Simon unterdrückte weiters Husten und nickte.

»Lang rauchst du noch nicht, oder?«, fragte der Kellner.

Simon schüttelte den Kopf und krächzte unter einem quälenden Hustenreiz: »War die erste.«

»Die erste? Überhaupt?«

Simon nickte und blickte ihm scheu ins Gesicht. Der Kerl stand verdammt nah – aus dieser Nähe hatte er ihn noch nie gesehen. Und auf Augenhöhe. Es war ein kribbelnd schönes Gefühl. Dann sprang Simons Aufmerksamkeit am Kellner vorbei zu Martin und Babsi, die dabei waren, sich wild die Zungen in den Mund zu stecken.

Der Kellner registrierte das und drehte sich um. Sie sahen dem knutschenden Pärchen ein bisschen länger zu als angebracht. Simon wurde die körperliche Nähe des Kellners immer bewusster. Sein Herz begann zu rasen und die Luft wurde ihm knapp. Diesmal aber nicht vom Rauch. Alles in ihm sehnte sich danach, den kleinen Abstand zu überwinden und dem Kellner einen Kuss auf die Stelle zu drücken, wo sich Kiefer und Ohr trafen.

Da wandte sich der Kellner wieder um und wirkte ein wenig überrascht über diese Nähe.

Simon blickte rasch auf seine Schuhspitzen, begriff, dass sie nicht halb so schön waren wie der Kellner, und sah dem Mann wieder ins Gesicht. Er wollte diese seltene Gelegenheit nutzen, ihn anzusehen, ihn sich einprägen. In wenigen Sekunden war alles vorbei und es würde nie wieder zu so einem intimen Moment kommen.

Der Kellner schmunzelte. »Schaut so aus, als würde dein Freund nicht mit euch ins neue Jahr rutschen.«

»Mhm«, machte Simon, weil er nicht wusste, was er sonst sagen sollte. Küssen war wie ein Virus. Das hatte er schon öfter beobachtet. Fing irgendwo ein Pärchen an, dauerte es oft nicht lange, und es wurde in mehreren Ecken geknutscht. Und wer niemanden zum Knutschen hatte, verspürte einen gewissen Schmerz im Magen, der weggespült werden wollte. Simon war dieser Verlauf eines Abends immer grundpeinlich gewesen, weil er nicht mehr wusste, wie er sitzen und wohin er schauen sollte.

Irgendwie wünschte er sich jetzt, das Kussfieber würde von Martin und Babsi auf ihn und den Kellner übergreifen. War natürlich ein total bescheuerter Gedanke.

Allmählich wurde ihm kalt, aber er wollte den Moment nicht unterbrechen. Der Kellner hatte die Zigarette erst zur Hälfte aufgeraucht. Auch er war ohne Jacke hier herausgekommen.

»Und was hast du heute noch so geplant?«, fragte der Kellner und musterte Simon.

»Nix.«

»Keine Party oder so?«

Simon schüttelte den Kopf.

»Das heißt, du bist hier, wenn das neue Jahr beginnt?«

So weit hatte Simon noch nicht gedacht – aber der Gedanke gefiel ihm. Er musste gegen seinen Willen schief grinsen und nickte.

Die Augenbrauen des Kellners zuckten. »Schön«, sagte er, brachte enttäuschende Distanz zwischen sich und Simon und sah sich dabei zu, wie er seine Zigarette ausdämpfte. Er zog die Tür auf und deutete Simon, ihm voraus das Lokal zu betreten. »Dann sehen wir uns also zum Jahreswechsel«, sagte er, als Simon an ihm vorbeiging.

»Schaut so aus«, murmelte Simon. Im selben Moment wollte er sich auf den Mund hauen. Schaut so aus?

»Wo ist der Martin?«, fragten die anderen, als er sich wieder an den Tisch setzte.

»Babsi«, sagte Simon nur, griff zu seinem Bierkrug und leerte ihn zur Hälfte. Eine beunruhigende Nervosität hatte von ihm Besitz ergriffen, die seinen Bauch in einen Schraubstock quetschte. Unauffällig sah er zum Kellner, der damit beschäftigt war, Gäste zu bedienen. Dass er eben noch mit ihm vor dem Lokal gestanden hatte, dass sich ihre Finger berührt hatten, erschien ihm plötzlich so irreal. Er wollte es wiederholen. Immer und immer wieder. Vielleicht war es doch keine so schlechte Idee, mit dem Rauchen anzufangen. Blöderweise war mit Martin der einzige Raucher weg und damit die Gelegenheit, vor die Tür zu gehen. Mist.

»Was sagt ihr? Schauen wir ins Rox?«, fragte Bruno gegen halb zwölf, nachdem er eine Weile wild auf seinem Smartphone herumgeklickt hatte. »Die Vroni und die anderen sind dort und meinen, es ist eine echt coole Stimmung dort.«

Simon war, als hätte ihm Bruno eine runtergehauen. Mittlerweile hatte er sein zweites Bier fast zur Hälfte geleert und verspürte eine angenehme Gelassenheit, einen warmen Flow und den Anflug von Mut und Möglichkeiten. Er hatte immer weniger Hemmung, zum Kellner zu schauen, und traute sich sogar, ihn anzulächeln, wenn sich ihre Blicke trafen. Simon war ein bisschen, als steckten in seinem Kopf Daunen statt einem Hirn, und er ertappte sich dabei, immer wieder unqualifizierte Meldungen in die Runde zu werfen. Keinem fiel auf, dass er Blödsinn plapperte, sie waren eher erfreut, dass er auf einmal so viel redete.

Aber die ganze gute Stimmung, die ganze Ausgelassenheit, war in dieser Sekunde dahin. Simon geriet in Panik.

»Martin und Babsi sind auch dort«, las Bruno von seinem Smartphone ab.

»Lokalwechsel?«, stellte Josef in den Raum und sah sich um. Seinem Blick nach hatte er sich bereits dafür entschieden.

Auch Ronnie richtete sich interessiert auf. »Warum nicht?«

»Simon?«, fragte Josef, als wäre seine Meinung nun, da er Alkohol trank, etwas Wert.

»Ich bin für Bleiben«, sagte Simon entschlossen.

Ronnie grinste. »Ist es wegen dem Kellner?«

»Nein?«, presste Simon ertappt heraus. Schlagartig wurde ihm brennheiß. »Ich finde es hier nur gemütlicher. Im Rox ist es immer so voll.«

»Darum gehts ja«, erklärte Josef. »Mehr Leute, mehr Stimmung.«

»Außerdem sind da mehr schwule Männer«, tönte Bruno. »Da ist die Chance auf einen One-Night-Stand viel größer.«

Simon hätte am liebsten Brunos Stimme leiser gedreht. Oder am besten ganz abgeschaltet. Unauffällig schaute er sich nach dem Kellner um. Hoffentlich hatte er es nicht gehört.

»Du willst es ja krachen lassen, oder?«, pflichtete Ronnie ihm bei.

Nicht so laut, wollte Simon flehen, und sagte gedämpft: »Ja, aber nicht heute.«

»Warum nicht?«, fragte Josef. »Wann, wenn nicht zu Silvester, sind die Chancen auf Sex mit einem Fremden am besten?«

In dem Moment marschierte der Kellner zum Nebentisch. Dabei lächelte er Simon zu, wie jedes Mal, wenn sich zufällig ihre Blicke trafen. Simons Herz trommelte und seine Wangen brannten.

»Könnt ihr ein bisschen …«, begann Simon und verstummte. Würde er seine Freunde bitten, leiser zu reden, oder sich zusammenzureißen, würden sie nur noch lauter und peinlicher werden.

»Zahlen bitte«, rief Bruno dem Kellner zu.

Simons Herz zog sich zusammen.

Der Kellner wandte sich vom Nebentisch ab. »Geht ihr leicht schon?« Er warf Simon einen verwunderten Blick zu.

Simon fixierte stumm fluchend die Tischplatte.

Der Kellner kassierte von Bruno, Josef und Ronnie ab und wandte sich als Letztes mit der geöffneten Geldbörse an Simon. »Du gehst auch schon?«

Simon schnappte nach Luft, starrte ihn betroffen an. Er wollte nicht gehen, aber was sollte er sonst tun? Alleine hier am Tisch sitzen und aufs neue Jahr warten? Vermutlich würde sowieso nichts passieren. Der Kellner wäre zu beschäftigt. Außerdem, was sollte passieren? Simon steigerte sich nur in was rein. Statt sich hier vor dem Kellner zum Idioten zu machen, war es besser, mit seinen Freunden mitzuziehen – und sich woanders zu betrinken.«

»Zwei Bier und eine Cola«, sagte er ungewollt schroff.

Der Kellner zuckte mit den Augenbrauen, dann tippte er die Preise ins Boniergerät und nannte die Summe. Anders als bei den anderen legte er das Gerät ab, stellte sich so nah neben Simon, dass er mit dem Ellenbogen beinahe seine Schulter berührte, und neigte sich, als er das Wechselgeld aus der Börse fischte, ein bisschen zu ihm herab.

Simon war sich nur zu bewusst, dass ihn seine Freunde mit einem Grinsen musterten. Hatte der Kellner den anderen das Wechselgeld auf den Tisch gelegt, hielt er es Simon hin, bis dieser die Hand aufhielt. Ihre Finger berührten sich.

»Dann wünsch ich dir einen guten Rutsch«, sagte er und lächelte Simon an.

»Holla«, meinte Ronnie, als der Kellner weg war. »Dem gefällst du aber wirklich.«

»Blödsinn«, murmelte Simon mit pochendem Kopf und steckte seine Brieftasche ein.

»Vielleicht solltest du doch bleiben«, meinte Josef und grinste.

Die Bemerkung ignorierend pflückte Simon seine Jacke von der Stuhllehne.

Als sie an der Bar vorbei zum Ausgang marschierten, kamen sie am Kellner vorbei, der ihnen zum Abschied zunickte. Simon war der Letzte. Für ihn gab es kein Nicken, nur einen seltsamen Blick.

Rasch schaute Simon zu Boden, wollte nur noch weg hier. Zugleich hatte er das Gefühl, um etwas betrogen zu werden.

»Warte«, rief der Kellner, als Simon bereits halb bei der Tür draußen war, und eilte auf ihn zu. Er kramte mit einer Hand in der Tasche seiner Jeans, zog die Faust daraus hervor und hielt sie Simon auffordernd hin.

Überrumpelt hielt Simon die Hand auf und der Kellner umfasste sie mit der einen und drückte mit der anderen einen kleinen, pieksigen Gegenstand hinein. »Guten Rutsch«, sagte der Kellner.

Noch ehe Simon etwas erwidern konnte, eilte der Kellner zu einem der Tische. Überfordert sah er ihm nach, dann trat er hinaus ins Freie, wo seine Freunde, vor Kälte die Schultern hochgezogen, auf ihn warteten.

»Was wollte er?«, fragte Ronnie.

Simon schüttelte den Kopf. In seiner Faust piekte der kleine Gegenstand. Er spürte noch immer die Hände des Kellners an seinen Fingern. Während sich seine Freunde raschen Schrittes Richtung Rox aufmachten, ließ sich Simon ein wenig zurückfallen und öffnete unter einer Laterne die Faust.

Auf seiner Handfläche saß ein winziges rosa Schweinchen aus Hartgummi. Es war wohl der gewöhnlichste und am weitesten verbreitete Glücksbringer für Silvester, aber für Simon hatte er die Symbolkraft einer Welt, die ihm zu Füßen gelegt wurde.

»Wo bleibst du?«, rief Bruno.

Seine Freunde waren bereits zehn Meter voraus. Vereinzelt krachten die ersten Silvesterraketen. Alles in Simon wehrte sich, weiterzugehen. Er wollte zurück.

Aber was dann?

Seufzend schob er die Faust mit dem Schweinchen in die Jackentasche und holte auf. Widerwillig folgte er seinen Freunden ins Rox, begrüßte Vroni und Martin und Babsi und all die anderen, ohne sie richtig wahrzunehmen. Irgendwie kriegte er mit, dass Ronnie und Josef eine Bemerkung über das Interesse des Kellners an Simon machten. Für sie war das ein Running Gag. Brühwarm erzählten sie den anderen von Simons Vorhaben, die Sau rauszulassen. Martin berichtete, dass Simon geraucht hatte. Josef, dass er zwei Bier getrunken hatte.

»Außerdem will er jede Woche im neuen Jahr einen One-Night-Stand haben«, meinte Bruno.

»Mindestens einen«, korrigierte Ronnie grinsend.

Vroni musterte Simon kritisch. »Und wie willst du das anstellen?«

Gar nicht, dachte Simon, zuckte mit den Schultern und spielte mit dem Schweinchen in seiner Jackentasche. Er würde ein weiteres sexloses Jahr verbringen, so sah es aus. Selbst, wenn er seinen Vorsatz ernst gemeint hätte … er hatte keinen blassen Schimmer, wie er es anstellen sollte, dass jemand mit ihm rummachen wollte.

»Tinder«, schlug Martin vor.

»Heißt für Schwule Grinder«, erklärte Babsi.

Vroni schürzte die Lippen. »Ja, das könnte vielleicht sogar klappen.«

»Nur noch fünf Minuten«, schrie der DJ ins Mikrofon.

»Prooost«, rief Josef und alle stießen mit Bier und Cocktails an. »Aufs alte Jahr.«

Martin und Babsi versenkten sich wieder in einen innigen Kuss. Bruno und Vroni sahen ihnen einen Moment zu, dann einander an. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die beiden Dickerchen ebenfalls rumschmusen würden.

Simon musste an den Kellner denken. Er wollte nicht hier sein. Noch nie hatte er sich so dermaßen wo weggewünscht wie jetzt, und das mochte was heißen. Nein, er wünschte sich nicht bloß von hier weg, er wünschte sich woanders hin. Er streichelte das Schweinchen in der Jackentasche.

»Zwei Minuten«, rief der DJ und die Menge begann zu kochen.

Plötzlich wurde Simon von einem Entschluss gepackt. Er stellte sein Bier ab, wandte seinen Freunden den Rücken zu und drängte sich durch die Menge raus dem Lokal. Ihm war egal, was mit seinen Leuten wurde, er hatte nur ein Ziel.

Während aus den Lokalen und Häusern Menschen mit Sektgläsern strömten, Kinder ihm Kracher vor die Füße warfen und der Himmel immer öfter von voreiligen Raketen aufblitzte, eilte Simon immer schneller durch die Nacht.

Von Weitem sah er, dass fast alle Gäste des Pubs auf dem Bürgersteig standen und die Sekunden zum Silvesterknall runterzählten. Der Besitzer hatte einen Lautsprecher in die Tür gestellt, aus dem ein Countdown lief.

Als Simon ein paar Meter vom Pub entfernt war, ploppten Sektkorken, ging das Feuerwerk los, begannen die Glocken zu bimmeln und aus den Lautsprechern tönte ein »Prosit 2020«. Dann begann der Neujahrswalzer.

Simon sah sich suchend um. Die Leute stießen mit Sektgläsern an, umarmten und küssten sich und wünschten einander ein frohes Neues Jahr. Einige begannen Walzer zu tanzen. Der Lärm des Feuerwerks war ohrenbetäubend.

Kein Kellner.

Panisch ließ Simon den Blick mehrmals durch die Menschenmenge schweifen. Nein. Er war nicht da.

Einer Eingebung folgend betrat er das Lokal. Wärme schlug ihm entgegen. Es war völlig leer gefegt. Alle Gäste waren draußen.

Der Kellner stand hinter der Bar und sortierte Gläser in den Geschirrspüler.

Was auch immer sich Simon vorgestellt hatte, das war es nicht. Der Kellner sah ihn kurz an, dann räumte er weiter Gläser in die Spülmaschine.

Simon kam sich auf einmal unfassbar blöd vor. Was hatte er denn erwartet? Dass ein Hartgummischweinchen ein Liebespfand war? Er hatte ja gewusst, dass er keinen Alkohol vertrug. Verloren stand er herum und sah zu, wie der Kellner die Spülmaschine schloss und das Gerät einschaltete. Dann drehte er sich herum, stützte sich mit beiden Händen auf den Tresen und sah Simon abwartend an.

»Ich wollte dir nur …«, Simon schluckte, »… auch einen guten Rutsch wünschen.« Oh Mann. Er machte sich gerade so was von zum Idioten. »Ja … also …« Simon kratzte sich im Nacken. »Ich geh dann mal wieder.«

»Warte«, sagte der Kellner und kam hinter der Bar hervor.

Simon blieb stehen. Sein Herz hämmerte, seine Knie wurden weich. Schnurstracks marschierte der Kellner auf ihn zu, legte ihm einen Arm um die Taille, zog ihn an sich und ergriff seine linke Hand. Sein leicht kratziges Kinn streifte Simons Wange. Er begann, mit ihm eine sehr enge, intime Form des Walzers zu tanzen. Sein Atem streifte Simons Ohr. Nach einigen Schritten drückte er Simon fester an sich, schmiegte seine Wange an Simons Wange, seufzte ihm ins Ohr.

Simon schloss die Augen und genoss die Nähe dieses fremden Körpers, der ihm in seiner Härte und Wärme so vertraut erschien. Es war, als befände er sich erstmals im Leben am richtigen Platz. Vorsichtig traute er sich, eine Hand auf den Rücken des Kellners zu legen, spürte unter dem Hemd die Muskeln. Am Rande bekam er mit, dass der Walzer zu Ende war und die Gäste wieder ins Lokal tröpfelten.

Der Kellner löste sich aus der Umarmung, schenkte Simon ein Lächeln und strich ihm vom Ellenbogen abwärts über den Unterarm. »Meine Schicht ist um zwei zu Ende«, sagte er leise.

Simons Herz hüpfte. »Okay.« Er blieb stehen, bis der Kellner zu einem der Tische eilte, dann drehte er sich um und verließ das Pub.

Was war das eben gewesen? Und warum hatte ihm der Kellner gesagt, wann die Schicht zu Ende war? Wollte er, dass Simon dann kam? Wozu? Okay, nach diesem engen, zärtlichen Tanz hatte er eine vage Idee, aber er konnte es nicht glauben. Das passte nicht zu seinem Leben. So etwas passierte ihm nicht.

Er wälzte sich durch die Menschenmenge im Rox und gesellte sich wieder zu seinen Freunden. Er konnte nichts dagegen tun, dass ihm ein dämliches Grinsen im Gesicht klebte.

»Wo warst du denn?«, fragte Bruno.

Simon zuckte nur mit den Schultern und bestellte eine Cola. Sein Bier hatte in der Zwischenzeit einen Abnehmer gefunden, oder war abgeräumt worden.

»Cola?«, fragte Josef enttäuscht. »Was ist mit deinem Vorsatz?«

Simon grinste nur blöd. Noch immer fühlte er den Körper des Kellners an seinem, konnte an nichts anderes denken, als ihn nachher wiederzusehen. Er hatte ihm das Ende seiner Schicht verraten. Das hätte er doch nicht getan, wenn er nicht wollte, dass Simon dann kam.

Simon wollte nüchtern sein. Vollkommen klar. Er wollte nicht, dass, was auch immer passieren würde, vom Suff verwaschen wurde. Auch, wenn er nicht genau wusste, ob er nur aufgeregt war oder panische Angst hatte.

Als Martin ihn provokant fragte, ob er mit raus eine rauchen gehen wolle, sagte Simon zu. Nicht, weil er rauchen wollte, sondern weil er der Menschenmenge entkommen wollte, weil er Frischluft brauchte und Abwechslung. Weil er hoffte, die Zeit verginge durch den Ortswechsel schneller.

Draußen nahm er zwar eine Zigarette an, steckte sie aber in die Jackentasche, statt sie zu rauchen. Martin war zu betrunken, es zu bemerken.

Je mehr es auf zwei zuging, umso nervöser wurde Simon. Er zappelte herum, schaute ständig auf die Uhr, trat von einem Bein aufs andere. Schließlich erklärte er den anderen mit glühenden Wangen, er wäre müde und wolle heim. Diverse Versuche, ihn zum Bleiben zu überreden, wehrte er ab. Dann boxte er sich durch die Menschenmenge hinaus ins Freie.

Unterwegs begegneten ihm Betrunkene. Auf dem Asphalt lagen leere Feuerwerkskörper und zerbrochene Flaschen. Immer noch knallte es vereinzelt und in manchen Seitengassen zelebrierten torkelnde Teenager heulend Dramen.

Die Luft war stickig, als Simon das Pub betrat. Sein Bauch kribbelte. Er, er hatte nackte Angst. Dass der Kellner noch da war. Dass er vielleicht nicht mehr da war. Das Lokal hatte sich merklich geleert. Nur an zwei Tischen fanden ein paar Stammgäste kein Ende.

Simon schaute sich um, suchte nach dem Kellner, doch hinter der Bar stand lediglich der Besitzer und diskutierte mit einem Stammgast. Er entdeckte Simon und nickte ihm zu. »Was kann ich dir einschenken?«

»Ich wollte nur … ist der Kellner noch da?«

»Der Pauli?«, fragte der Inhaber.

War das sein Name? Simons Herz schlug schneller. »Ich glaub, ja.«

»Hinten.« Der Inhaber deutete mit dem Kopf Richtung Toiletten.

Simon war zugleich erleichtert und panisch, dass – Paul – offensichtlich doch noch da war. Mit weichen Knien setzte er sich in Bewegung und suchte den hinteren Teil des Pubs auf. Neben den Türen zu den Gästetoiletten befand sich eine, auf der »Nur für Personal« stand.

Simon hatte zu viel Respekt davor, sie zu öffnen. Die Hände in den Taschen vergraben marschierte er auf und ab. Sein Bauch kribbelte, sein Herz hämmerte, seine Finger quetschten das Glücksschweinchen.

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und – Paul – stürzte heraus. Offensichtlich hatte er nicht mit Simon gerechnet. Er prallte erschrocken zurück, dann begann er, übers ganze Gesicht zu strahlen. »Du bist echt gekommen.«

Simon schluckte. Sein Bauch kitzelte. »Was sonst?«, krächzte er.

Paul schmunzelte. »Was sonst.« Sein Blick glitt an Simons Körper rauf und runter. »Kommst du mit zu mir?«

Wow. Das war … direkt. Panik packte Simon. Binnen Sekunden explodierten in seinem Kopf Bedenken und Möglichkeiten. »Okay«, sagte sein Mund, ehe er zu Ende gedacht hatte. Ein Schauer schüttelte ihn. Vielleicht hätte er doch mehr trinken sollen.

Paul schulterte seinen Rucksack und marschierte Simon voraus Richtung Ausgang. »Chiao«, rief er dem Chef zu und trat hinaus ins Freie.

Schweigend marschierten sie nebeneinander durch die Nacht. Simon konnte gar nicht glauben, was hier passierte. Dass er neben jenem Mann herging, von dem er seit Wochen schwärmte.

Plötzlich berührte etwas seine Finger. Paul nahm seine Hand, lächelte ihn. Den Rest der Strecke legten sie Händchen haltend zurück.

Vor einem Wohnhaus ließ Paul Simon los, um den Schlüssel aus seiner Jeanstasche zu fischen und aufzusperren. Schweigend stiegen sie die Treppe in den zweiten Stock hoch und Simon hatte die Chance, Paul auf den Hintern zu schauen.

Vor einer unscheinbaren Wohnungstür blieben sie stehen. Einen Moment später betrat Simon Pauls Reich.

Paul schloss ab und ließ den Rucksack zu Boden plumpsen. Nebeneinander schlüpften sie aus ihren Stiefeln, richteten sich auf, sahen sich an. Paul machte einen Schritt auf Simon zu, legte ihm eine Hand auf den Kiefer und sah ihm abwechselnd tief in die Augen und verlangend auf die Lippen.

Dann neigte er sich vor und küsste ihn.

Simon zerfloss. In seinem Kopf machte es Klick. Alle Bedenken waren wie fortgewischt. Alles, was er wollte, war mehr. Mehr Paul. Küssend schoben sie einander ins Schlafzimmer, küssend warfen sie sich aufs Bett und küssend zogen sie sich langsam aus.

 

~ * ~

 

»Und?«, fragte Bruno Ende Januar, nachdem er gestanden hatte, zwei Kilo zugelegt zu haben. »Wie schaut es bei euch mit den Vorsätzen aus?«

»Scheiß auf hardbody, die neue Staffel von Modern Family ist gerade rausgekommen«, meinte Ronnie.

»Ohne Alk komm ich wegen Mord an meinen Kollegen ins Gefängnis«, verteidigte Josef sein Bier.

»Ich hab mir vorgenommen, dann in der Fastenzeit weniger zu rauchen«, belog sich Martin.

Die Blicke wanderten zu Simon. Vor ihm auf dem Tisch stand ein Coke.

»Das mit dem Alk und dem Rauchen hast du ja nicht lange durchgehalten«, meinte Josef.

»Und wie es ausschaut, wirst du auch nicht fett.«

»Lass mich raten, Netflix und Prime hast auch noch nicht«, riet Ronnie.

Simon strich über das beschlagene Colaglas und schürzte die Lippen.

»Nach den One-Night-Stands frag ich lieber gar nicht«, meinte Bruno.

Die anderen lachten.

In Simons Gesicht zwang sich ein Grinsen.

Die Augen der Freunde wurden tellergroß. »Ernsthaft?«, fragte Ronnie.

Simon schmunzelte und zuckte mit den Schultern.

»Du verarschst uns«, unterstellte Josef ihm.

»Wie viele?«, fragte Martin.

Simon blickte zu Paul, der gerade mit den Getränken herbeieilte. Sie lächelten sich an. Geschäftig stellte Paul die zweite Runde Bier ab und sammelte die leeren Krüge ein. Dann schenkte er Simon ein weiteres Lächeln und verschwand wieder.

»Vier«, sagte Simon und schaute Paul auf den knackigen Hintern.

»Jede Woche einer«, rechnete Bruno aus.

»Pro Woche«, fügte Simon hinzu und trank betont cool einen Schluck Cola.

Die Gesichter seiner Freunde entgleisten. Sie mussten ja nicht wissen, dass er all die One-Night-Stands mit ein und demselben Mann gehabt hatte.

 

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Tag der Veröffentlichung: 31.01.2020

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