14. Dezember 2018,
11:32, Buslinie F
Du wusstest nicht,
wem du ein Lächeln schenktest.
Aber ich wusste
etwas damit anzufangen.
Es war nicht so, dass Rick sterben wollte, er wollte nur nicht mehr leben. Großer Unterschied. Hätte man ihm eine Waffe in die Hand gedrückt, er hätte sich nicht erschossen. Er hätte sich nicht an ein Seil geknüpft, egal wie einladend es vor seiner Nase vom Dachbalken gebaumelt wäre. Und die Tabletten, die man ihm gegeben hätte – friedlich und schmerzhaft einschlafen, für immer – er hätte sie nicht genommen. Aber wenn er abends im Bett lag, und versuchte zu schlafen, wünschte er sich, andertags nicht mehr zu erwachen. Er stellte sich vor, wie ihn ein Tumor von innen zerfraß, fühlte aber nicht den Bedarf, das von einem Arzt verifizieren zu lassen. Nicht, weil der eh nichts gefunden hätte – es brauchte wohl mehr als den frommen Wunsch nach Krebs, um auch welchen zu bekommen –, sondern weil er, würde man tatsächlich etwas finden, vielleicht Gegenmaßnahmen einleiten hätte müssen. Ging er über die Straße, bei Grün – er war nur lebensmüde, nicht asozial – und da brauste ein Sportwagen heran, der seinen Bremsweg zu unterschätzen schien, oder ein überladener Lkw, der vielleicht nicht mehr rechtzeitig halten konnte, sagte er vor sich hin: »Ist gut, überfahre mich, Heilsbringer.« Ein bisschen pathetisch, aber Pathos kann man sich doch im vielleicht letzten Atemzug wohl noch gönnen.
Blöderweise litt Rick nicht an Krebs. Kein Führerscheinneuling, dem die PS über den Kopf wuchsen, führte ihn über den Haufen, und er erwachte jeden Morgen als eine Art bittere Ironie, als Beweis, dass das Universum zynisch war und es auf ihn persönlich abgesehen hatte, erfrischt und gesund.
Okay, vielleicht nicht immer so erfrischt, und ob eine solche seelische Verfassung als gesund betrachtet werden konnte, sei dahingestellt. Aber dafür, dass Rick so wenig Lebenswillen empfand, tat er doch so Einiges für eine Zukunft, die er nicht erleben wollte, oder einen Genesung, an die er nicht glaubte. Beispielsweise machte er Krafttraining, richtig böse Laster fielen ihm schwer (was manche als Grund seiner krankhaften Melancholie verorteten – lass doch mal locker, Mann –) und er nahm Tabletten gegen die Traurigkeit.
Der Unterschied zwischen Depression und Trauer, so sagt man, sei, dass Depression mit einem überwältigenden Gefühl von Schuld einherginge. Einer Schuld, die in keiner Relation zu tatsächlich Verwerflichem stand. Laut Untersuchungen waren Depressive nicht in der Lage, ihre Schuld in einem Kontext zu moralischen Werten und der Gesellschaft zu sehen. Auch beschuldigten sie nicht andere, sondern alleine sich selbst. Vielleicht war Depression überhaupt weniger eine Erkrankung, die an Trauer erinnerte, als eine Erkrankung übersteuerter Reue.
Das war Ricks neueste Erklärung für seinen Zustand, und sie gefiel ihm ganz gut, in dem Maße, wie ein Depressiver überhaupt an irgendetwas Gefallen finden konnte. Schuld war in der Tat das Gefühl, das ihn niederdrückte, seine Gedanken in Geiselhaft nahm und ihm jeden konstruktiven Blick in die Zukunft versperrte. Denn was hatte der ultimativ Schuldige mehr verdient, als die Hölle? Eine Hölle, die man sich freilich schuf, nicht bewusst und doch irgendwie bewusst. Am besten wäre das so erklärt:
Nehme an, du bist ein normaler, gesunder Kerl in normalen gesunden Umständen. Du hast einen netten Job, könnte besser bezahlt sein, aber du bist ganz gut darin und hast Chancen. Du hast eine passable Familie, sowohl jene, aus der du kommst, als auch jene, die du planst oder bereits am Umsetzen bist. Da du ein halbwegs okayer Mensch bist, hast du ein paar Freunde, manche eher lose, einige sind dir sehr nahe, und vielleicht engagierst du dich auch noch bei der Feuerwehr oder im örtlichen Verschönerungsverein. Wie auch immer, dein Leben ist okay. Deine Kinder und dein Partner lieben dich, deine Nachbarn grüßen dich, manchmal schauen sie auf ein Bier vorbei, deine Kollegen schätzen dich – du bist eben schlicht total okay.
Und dann wachst du eines Tages auf und stellst fest, dass du Hitler bist, oder Stalin. Dass du Millionen von unschuldigen Menschen getötet hast, perfektioniert getötet. Du gehörst zu den fünf grässlichsten Menschen, die je gelebt haben, jenen mit den größten Opferzahlen. Überdies hast du Millionen von Menschen so weit mit bewussten Lügen manipuliert, dass sie nicht nur glaubten, der Genozid wäre rechtens, sondern auch noch bereit waren, ihn umzusetzen. Brave Familienväter, die für deine Lügen Leute in Gaskammern gesteckt haben. Fürsorgliche Mütter, die für deine Manipulation Nachbarn verraten und dafür gesorgt haben, dass sie weggeholt werden. Sogar die Kinder hast du instrumentalisiert, damit sie ihre eigenen Eltern, ihre Schulfreunde und Lehrer verraten.
Du bist aber nicht der größenwahnsinnige Psychopath, der in seinem Narzissmus denkt, das alles wäre total okay so. Keiner, dem so wehgetan wurde, dass er diese Rache an der Menschheit für gerechtfertigt hält. Du bist das empfindungsfähige Wesen, das du bist. Du bist der, der du bist, der nette Kerl von nebenan, nicht ganz fehlerlos, aber kein Sadist.
Viel Spaß, mit dieser Schuld zu leben.
Das ist Depression.
Nun stelle dir vor, du gestehst jemandem, dass du Hitler bist, dass du Millionen Menschen auf dem Gewissen hast, auf jede nur erdenkliche Weise. Aber keiner glaubt dir. Geh mehr unter Menschen. Geh an die frische Luft. Lächle mal. Stelle dir vor, du bist der einzige Mensch auf der Welt, der weiß, dass er Hitler oder Stalin oder Mao oder Hannibal oder Pol Pot ist. Du kannst niemanden bitten, dir zu helfen, mit dieser Schuld zu leben. Du trägst sie. Du musst sie tragen. Solange du lebst. Und niemand, niemand jemals, wird auch nur ansatzweise begreifen, was das bedeutet. Du bist der einsamste Mensch auf der Welt. Keiner kann dir helfen. Wem auch immer du deinen Schmerz zuträgst, wahrlich zuträgst, wendet sich ab, nimmt dich nicht ernst, meint, du spinnst, gibt die Tabletten, und denkt, davon verschwände der Horror der eigenen Existenz.
Bist du der Ansicht, Hitler und all die anderen Vergleichbaren hätten sich am besten mit achtzehn selbst umgebracht, anstatt solche Massenvernichtung in die Wege zu leiten? Angenommen, du wachst als Hitler auf und weißt, was du tun wirst, du weißt, egal was passiert, du wirst es tun, weil das dein Schicksal ist, die einzige Chance, die du hast, um den Massenmord zu verhindern, ist, dich umzubringen – würdest du es tun?
Suizidal Depressive empfinden sich so. Sie sind eine Bürde für die Welt, für jeden, den sie kennen. Sie gehen allen auf die Nerven. Selbst, wenn sie in der Lage sind, ein bisschen von dem zu zeigen, wer oder was sie sind, niemals werden sie zeigen können, was es wirklich heißt, sie zu sein. Und ehrlich, es würde auch keiner verstehen. Keiner jedenfalls, der das nicht selbst durchgemacht hat.
Und dann sag zu Hitler, der sich Millionen Tote vorwirft, er solle doch mal lächeln. Er solle es leichter nehmen, er solle loslassen. Ehrlich, würdest du das wirklich zu Hitler sagen, der dir von seinen Schuldgefühlen berichten würde? Du würdest sagen: Gut so, du Sau, leide. Möge dir niemals vergeben werden. Mögest du für immer in der Hölle schmoren. So mancher, der nicht einmal eine Spinne töten kann, würde ohne lange zu zögern Hitler töten, wenn er könnte, wenn er damit Millionen Tote verhindern könnte.
So sieht ein Depressiver die Welt. Niemand kann Sympathie für ihn aufbringen, denn er ist das Übel dieser Welt. Jedes nette Wort ist nur ein Witz, eine Verarsche, eine weitere Demütigung oder schlichter Wahnsinn. Wenns doch nur Verständnislosigkeit wär, aber es ist mehr als das: Es ist die Falschheit der Welt an sich.
Das war Rick. So begrüßte ihn der Tag. Vielleicht war er manchmal für Sekunden glücklich, vergaß beim ersten morgendlichen Blinzeln, dass er das verwerflichste Stück Scheiße im Universum war, aber sein Hirn servierte ihm diese Nachricht zuverlässig und prompt. Dass du den Nerv hast, aufzuwachen, Rick. Es gibt da draußen unschuldige Kinder mit Krebs, und du nutzlose Sau wachst gesund auf. Schämst du dich nicht? Wie viele Menschen haben auf dieser Welt kein frisches Wasser, kein Bett, kein Dach über dem Kopf? Und du Scheißeklumpen hast all das. Verdient? Nicht im Ansatz. Und du weißt so gut wie ich, es gibt nichts auf dieser Welt, das du tun kannst, um auch nur eine Sekunde dieses Lebens zu verdienen.
Und so weiter und so fort.
Das wirklich Tragische an der ganzen Sache war, dass man sogar damit irgendwie lernen konnte, zu leben. Nun, leben war vielleicht ein wenig waghalsig formuliert. Existieren traf es besser. Oder überleben. Irgendwie gingen die Minuten vorbei, die Stunden, die Tage, dann war wieder ein Jahr herum und er hatte wieder einen verschrumpelten, fauligen Lebensring mehr angehäuft.
Es war ein Klischee, dass Depressionen um Weihnachten herum schlimmer zu ertragen waren. Klischee ist das, was herauskommt, wenn etwas zu oft passiert. Wenn es quasi derartig Überrealität wird, dass es nervt, wenns wieder passiert. Der feminine Schwule. Der Depressive, der zu Weihnachten statt der Gans den Kopf in den Gasofen schiebt. Natürlich wurde es schlimmer. Was waren die leuchtenden Kinderaugen, die glänzenden Weihnachtskugeln, das Baby in der Krippe, die weißen Schneekristalle denn weniger, als das Fest der Unschuld? Man beschenkte sich. Man umarmte sich. Man liebte sich. Was könnte einem Menschen, der schuldig war, mehr wehtun?
Es war Folter. Reinste Folter. Also zog sich Rick zurück. Kein reumütiger Stalin möchte ein Geschenk bekommen, umarmt und geliebt werden, weil das seine Schuld potenziert. Als wäre das überhaupt noch möglich. War es. Für Depressive war alles möglich, wenn es dabei nur ordentlich bergab ging. Das schwärzeste Schwarz war nicht schwarz genug.
Stärker nur als der Tod, ist die Liebe. Das hatte Rick mal in einem Märchen gehört. War Schwachsinn. Stärker als der Tod war nur die Bürokratie, wusste jeder, der bereits einen Angehörigen verloren hatte. Aber manchmal war Rick romantisch, oder naiv, oder – wie er nun mal dachte – dumm genug, zu denken, dass Liebe vielleicht stärker als Depression war. Nicht, dass er glaubte, dass er liebenswert wäre, oder die Liebe sich je in seine Nähe wagen würde, aber Träumen, vor allem, wenn die schwarze Eminenz mal nicht da war, durfte er wohl noch.
War ja nicht so, als würde dieser spanische Inquisitor seiner Seelenpein für derlei Naivität nicht ohnehin die Geißel schwingen und ihm das Fleisch vom Leib peitschen. Aber da war der winzige Rebell in Rick. Vielleicht ein Überbleibsel aus seiner Jugend. Der naive Teenager, der nie bekommen hatte, was er wollte, und anstatt einfach zu krepieren, leistete er in Rick Widerstand: Ich gehe erst, wenn ich gekriegt habe, was ich will.
Zehn Prozent der Männer haben in ihrem Leben niemals eine Liebesbeziehung. Das ist etwas, das in diversen bunten Zeitschriften nie erwähnt wird. Weil keiner davon hören will. Weil sich keiner als potenzieller Teil dieser erbärmlichen Gruppe sehen will. Weil jeder, den dieses Schicksal trifft, denkt, er ist der Einzige auf der Welt, dem es so geht. Weil jeder dieser Männer bis zuletzt hofft, oder zu früh zu hoffen aufgehört hat.
Rick war vierzig und die Chancen standen immer besser, dass er zu diesen zehn Prozent der Männer gehörte.
Warum das so war?
Warum wurden manche depressiv und andere nicht? Eine Laune der Natur? Unglückliche Umstände? Gene? Pech? Was machte den einen stark und ließ den anderen zerbrechen?
Ricks Bruder war nur zwei Jahre jünger. Sie hatten dieselben Gene, waren im selben Umfeld aufgewachsen, waren von denselben Leuten und Geschehnissen beeinflusst worden, und doch war der Bruder alles andere als depressiv. Ein Sonnenscheinchen sogar, das nie Probleme gehabt hatte, Liebe oder Sex zu finden, und in der Verantwortung für zwei Töchter und einem kleinen, aufstrebenden Unternehmen zusammen mit seiner Frau aufging.
Wieso war das so? Wann war Rick zum Sorgenkind mutiert? Und wieso konnte er sich daraus nicht befreien? Oh, Versuche hatte er genug unternommen. Er hatte hart an sich gearbeitet. Vielleicht härter, als sein Bruder je hatte an sich arbeiten müssen – andererseits, woher sollte er das wissen? Er konnte doch nur in seinen eigenen Schuhen gehen. Aber es war zumindest nicht so, dass er sich seinem Schicksal ergeben hätte. Ja, es hatte Jahre gegeben, da hatte er gedacht, er hätte es geschafft. Er wäre jetzt wie alle anderen.
Er hatte Dinge erreicht, so war das nicht. Er war beruflich sogar ziemlich erfolgreich gewesen, hatte sogar mehrmals einen Abteilungsleiterposten angeboten bekommen. Er war sogar sehr kompetent, seine Chefs schätzten ihn, seine Kollegen mochten ihn. Rick war kein Ekel, aber er hatte niemals verstehen können, warum man ihn schätzte, mochte, für kompetent hielt. Es musste ein Irrtum sein. Er musste sie irgendwie betrogen haben. Vielleicht war er ein Hochstapler. Auf jeden Fall mussten sie etwas von dem, was er war, sagte oder tat falsch verstanden haben. Denn er war doch dieses Ekel. Dieses nutzlose Stück Scheiße. Er war Hitler, und wer schätzte schon Hitler, vor allem für seine Kompetenz?
Es war lächerlich. Daher hatte Rick auch diverse Angebote zu Mehr abgelehnt, oder irgendwie ignoriert, weil sie nur ein schlechter Scherz gewesen sein konnten. Man hatte ihn links und rechts überholt. Nicht eben ein Lebenslauf, der ihm half, wenn er nächtelang grübelte. Verpasste Chancen, misslungene Konversationen. Wie sehr sie ihn quälten, wieder und wieder und wieder. Und diese ewige Frage: Wann bin ich falsch abgebogen? Was hab ich falsch gemacht? Wieso war ich nicht besser? Warum mache ich alles immer kaputt?
Und die Liebe? Es hatte Chancen gegeben. Das sagte er sich an den guten Tagen. Chancen, die er vermasselt, die er nicht gesehen hatte. Chancen, die zu diffus gewesen waren, um sie zu begreifen, damals jedenfalls. Half aber nicht, sie heute besser wahrzunehmen. Oder es gab heute keine Chancen mehr. Wahrscheinlich war es das. Mit vierzig war seine Zeit herum. Die Zeit für Liebe. Und ehrlich? Er selbst wollte schon nicht mit sich zusammen sein, warum sollte er das von irgendjemandem sonst erwarten?
Das war in etwa die Gemütslage, das Mindset, die Programmierung, wenn man so will, die Laune des Tages, als er in den Bus stieg. Er stieg nur aus Protest in diesen Bus. Bis zu Mittag war er im Bett gelegen und hatte keinen Grund gefunden, aufzustehen. Eigentlich war er bereit gewesen, zu sterben. Eine Woche vor Weihnachten. Einfach liegen bleiben und warten, bis es vorbei war. Oder liegen bleiben, um sich zu bestrafen.
Wie auch immer, der Hass auf sich selbst hatte neue Dimensionen angenommen, dabei hatte er schon vor zwanzig Jahren gedacht, schlimmer ginge nicht. Es ging immer schlimmer, wenn es etwas gab, das ihm das Leben gelehrt hatte, dann das. Es gab kein Limit nach unten hin.
Viele Jahre seines Lebens hatte er sich nur deswegen nicht selbst umgebracht, weil er Angst hatte, es würde wehtun. Die Angst vor Schmerz war immer ziemlich zentral gewesen, was völlig abstrus war, bedachte man, dass er Depressionen hatte – ein Schmerz, den selbst Herzinfarktpatienten als moderat beschrieben im Vergleich zu so einer Depression. Trotzdem, er hatte immer schmerzlos sterben wollen, weswegen er sich auch immer für schmerzlose Varianten des Suizids interessiert hatte. Oder überlegt hatte, welche Methode wohl den wenigsten Schmerz mit sich brächte.
Das hatte sich geändert. Mittlerweile dachte er, dass er nur unter größten Schmerzen sterben wollte. Er wollte, ehe er abtrat, maximal leiden. Er wollte so dermaßen leiden, körperlich, dass er den Tod begrüßte wie einen alten Freund. Er wollte so verdammt grässliche Schmerzen haben, dass er das Leben so leichtfertig von sich werfen wollte wie eine Verpackung für Rasierklingen. Das war der Tod, der dem größten Sünder angemessen war. Das wäre Erleichterung. Vielleicht eine Chance auf Buße dafür, gelebt und Ressourcen verbraucht zu haben.
Der Gedanke tröstete ihn, dass der ultimative Schmerz beim Sterben seinem Leben einen Sinn geben würde. Nichts erschien ihm so unerträglich, wie einfach schmerzlos dahinzuscheiden. So insignifikant und wertlos, wie er gelebt hatte, abzutreten. Nein, nein. Wenigstens für sich selbst wollte er das größte Opfer bringen, die letzte große Herausforderung, vielleicht DIE Herausforderung. Vielleicht vergleichbar mit dem Schmerz bei einer Geburt? Das Glück über das neue Leben rechtfertigte die Wehen. So würde der Schmerz seines Todes sein Leben rechtfertigen. Irgendwie so.
Mit diesen Gedanken stieg er in den Bus. Er hatte seine Wohnung nur verlassen, weil er nicht mehr im Bett bleiben konnte, nicht in seinen vier Wänden. Weil ihn der Selbsthass erdrückte. Also raus in die eisige Kälte. Minus zwei Grad. Das biss in den Fingern, in den Zehen, in der Nase und es nagte an den Schenkeln. Es war eine Mischung aus brennendem und stechendem Schmerz, und das war genau das, was er, dieses Stück Scheiße, das er war, verdient hatte. Er hätte sich weniger anziehen sollen, um noch mehr von der Kälte gepiesackt zu werden. Aber der Ironie x-ter Teil: Er war kein Masochist. Auch hier: Absurd, bedachte man, dass Selbstgeißelung so etwas wie der Taktgeber seiner Seele war.
Den Kopf dermaßen in finsteren Wolken, legte er dem Busfahrer zwei Euro hin. »Ein Mal Erwachsener.« Seine Stimme klang fremd. Wie von weit her. Weit tiefer, als er sie selbst kannte. Sie verstörte ihn regelrecht.
Und dann blickte er in dieses lächelnde Gesicht. Zwischen Kappe und Schal lächelte ihn ein breites, sehr freundliches Gesicht an. Ein strahlendes Lächeln fast, aus hellen, freundlichen Augen. Ein Lächeln, so authentisch, so ehrlich, so offen und frei, dass Rick automatisch sein eigenes Gesicht zu einem Lächeln verzog. Es fühlte sich fremdartig an. Irgendwie gummig. Als würde er Muskeln nutzen, die er seit Jahren nicht mehr beansprucht hatte. Ein wenig kam er sich albern vor, aber dann gab ihm der Busfahrer das Restgeld in die Hand. Übliches Prozedere war, dass es einfach aus dem Münzspender auf einen Teller gedrückt wurde und der Fahrgast sollte es sich selbst nehmen.
Nein. Rick bekam nicht nur dieses Lächeln, das ihn total außer Gefecht setzte, ihm einen Strich quer durch die Rechnung seines düstergrauen Tages machte, er durfte fremde Finger berühren. Fingerkuppen, die über seinen Handteller strichen. Für einen körperlich ausgehungerten Menschen wie ihn war das mehr, als für andere eine stürmische Liebesnacht.
Rick war nicht doof, auch, wenn er anders empfand. Er wusste, dass er überreagierte. Dass einer wie er, der nie ein Lächeln bekam – weil er, wie man ihm sagte, selbst nie lächelte –, der nie jemanden berührte, jede noch so geringe Höflichkeit überbewertete. Überdies einer wie er, mit seinem Hang zum Grübeln und Rekapitulieren.
Die Depression hatte ihn noch nie etwas einfach so erleben lassen. Hatte noch nichts einfach stehen lassen können, wie es war.
Und so schwebte Rick zu seinem Platz, von dem aus er im Rückspiegel den Busfahrer sehen konnte, und fragte sich, was das eben gewesen war.
Der erste Gedankenreflex, weil am Wahrscheinlichsten: Rick hatte sich das alles nur eingebildet. Das Lächeln. Die Berührung der Fingerkuppen – seine Handflächen kribbelten davon noch immer. Dann kam der nächste Gedanke wie ein Beißreflex: Das Lächeln war reine Höflichkeit gewesen. Geschäftige Routine. Der Busfahrer hatte ihn als Mensch gar nicht wahrgenommen, nur als weiteren Fahrgast von Tausenden, die er so am Tag chauffierte. Warum sollte er ausgerechnet Rick wahrnehmen? Rick war niemand Besonderes, sah nicht mal jemand Besonderem ähnlich. Zudem war der Busfahrer, so weit Rick beurteilen konnte, mindestens zehn Jahre jünger als er.
Erfahrungsgemäß war er selbst unsichtbar. Insbesonders für jene Männer, die er hübsch fand.
War der Busfahrer hübsch?
War das relevant?
Er hatte Rick doch nur angelächelt, ihm das Restgeld in die Hand gedrückt. Das war – auch wenn Rick anders empfand – nicht dasselbe, wie ein Fick. Oder Liebemachen, wie Rick es lieber formulierte. Eins werden.
In ihm lebte aller schwarzer Bitterkeit zum Trotze ein Romantiker. Manchmal dachte er zynisch, er wäre bloß depressiv, weil er ein Romantiker war. Nun, er schaffte es, alles gegen sich zu verwenden.
Im Rückspiegel musterte er den Busfahrer. Ein Blick von seitlich oben, verzerrt, durch die Kappe sah er nicht gerade viel vom Gesicht. Eigentlich nur den Kiefer und den Mund. Nur manchmal, wenn der Blick des Busfahrers in diesen Rückspiegel fiel, um zu kontrollieren, ob bei den Fahrgästen alles okay war, konnte er das Gesicht sehen. Zumindest ungefähr. Rick sollte eine Brille tragen. Er konnte einfach nicht genug erkennen, auf diese Entfernung. Vor allem aber, ob der Busfahrer ihn sah. Ob er nur deswegen in den Rückspiegel schaute, um Rick zu sehen, um sich zu vergewissern, dass er noch da war. Weil Rick ihm gefiel.
Der Gedanke war völlig absurd, aber dieses Lächeln …
Rick fühlte sich hochgehoben. Er war nicht mehr derselbe, der in diesen Bus eingestiegen war. In der Tat war ihm, als lägen zwischen jenem Rick, der heute aufgewacht, der irgendwann aufgestanden und in die Kälte hinausmarschiert war, und jenem, der nun hier im Bus saß, Monate. Jahre.
Wegen eines blöden, geschäftsmäßigen Lächelns? Auf das sich Rick alles Mögliche einbildete? Für irgendjemanden auf der Welt attraktiv sein – oder zumindest ein Lächeln wert. Vielleicht war es auch nur Mitleid. Egal. Dieses Lächeln hatte ihm gegolten, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde, und das würde ihm nie wieder jemand wegnehmen können.
Vielleicht, so dachte Rick, gab es auf dieser Welt ja doch noch was Gutes.
Auch das gehörte zu seinem Zustand: so sehr er negative Dinge überbewerten konnte, konnte er das auch mit kleinen positiven Dingen. Und so, wie er die negativen Dinge zerdachte, tat er es auch mit den positiven. So, wie die negativen Dinge dann wuchsen, zu Riesen wurden, zu ganzen Universen, die ihn auffraßen, so schaffte er es auch, aus einem beiläufigen Blick in der Menge so etwas wie eine stürmische Affäre zusammendenken, in die er alle Sehnsüchte, alle naiven Hoffnungen und Träume pflanzte.
Er müsste denjenigen, der ihn da berührt hatte, nur irgendwo wiedersehen, und dann wäre seine Chance gekommen. Ach was, er und er wären so dermaßen füreinander geschaffen, ihre Anziehung so über alle Maße erhaben, vor allem erhaben über Vernunft, Verstand und Wissenschaft, dass sie wie Magneten automatisch aufeinander zusteuern würden, für den ganz großen Urknall der Liebe, der Ricks Dasein für immer verändern würde.
Nichts dergleichen war je geschehen. Wann immer er diesen Funken einer flüchtigen Sympathie auch hatte spüren dürfen, Rick hatte den dazupassenden Mann nie wiedergesehen. Oder nicht mehr erkannt. Das war wahrscheinlicher. Ein Funke war eben nur ein Funke. Ein kurzes Aufeinanderschlagen zweier Gegenstände, oder zweier Menschen. Ein Blinzeln in der Zeit. Verfehlten diese beiden Elemente ihr Ziel, gab es keinen Funken. Rick konnte also diesen Typen, mit denen er sich eine ganze Orgie der Liebe ausgemalt hatte, bereits hundert Mal begegnet sein, ohne es zu wissen.
Oder er war tatsächlich so von Pech verfolgt, dass da draußen ein Dutzend Männer herumlief, jeder von ihnen der absolut Richtigen für ihn, aber das Leben weigerte sich, sie auch nur je wieder in dieselbe Gasse zu leiten.
Es war also völlig stupid, anzunehmen, Rick würde den Busfahrer nach dieser Fahrt jemals wiedersehen. Gegen Ende der etwa zwanzigminütigen Fahrt war er sich sicher, dass ihn der Busfahrer längst vergessen hatte. Ja, dass Rick für ihn tatsächlich nichts weiter als einer von Tausenden Fahrgästen war, die ein routinemäßiges Lächeln bekamen. Vielleicht war Rick ihm tatsächlich sympathisch gewesen, aber meine Güte, einer, der so viele Menschen täglich traf, begegnete vermutlich jeden Tag einem Dutzend sympathischer Gesichter. Einer wie er hatte keinen Grund, an ein Lächeln alle Hoffnung zu hängen. Vermutlich führte er ein erfülltes Leben mit Frau und Kind und allem. Wie Ricks Bruder, nur dass er eben Busfahrer war.
Als Rick ausstieg, vermied er, noch einen Blick in den Rückspiegel zu werfen. Kein Abschiedsblick. Kein Versuch, herauszufinden, ob da was war. Mehr, als flüchtige Sympathie.
Werd erwachsen, Rick!
Erwachsen wäre gewesen, die Sache abzuhaken und bereits vergessen zu haben, als er den Gehsteig berührte. Den Busfahrer als nichts Weiteres zu sehen, als eine hübsche Blume am Wegesrand. Einen Blick wert, vielleicht sogar schön genug, um sich den Hals zu verrenken und das Smartphone für ein Foto zu zücken. Aber doch eben nichts weiter, als etwas beiläufig Schönes, das eben manchmal passierte. Auch einem Depressiven. Wobei es einem Depressiven nur passierte, um ihm die eigene Abartigkeit vorzuhalten, die eigene Verwerflichkeit, Hässlichkeit, Sinnlosigkeit.
Rick war nicht hässlich. Das konnte er ganz nüchtern über sich feststellen. Rein objektiv gesehen war er sogar attraktiv. Ja, tatsächlich, er war in der Lage, das zu erkennen. Er war sogar in der Lage, das Leuten zu glauben, die das behaupteten, wie seine Familie, die wenigen Freunde, die seine oft monatelangen Rückzüge überdauerten, und Kollegen. Das hieß aber nicht, dass er sich attraktiv fühlte. Das hieß nicht, dass er nicht ein Monster sehen konnte, wenn er sich irgendwo in einem Schaufenster spiegelte. Schön war er nur als abstraktes Bild, als wissenschaftliche Feststellung, als Theorie, aber nicht in seiner Realität. Dort stimmte so ziemlich nichts an ihm. Die Proportionen waren außer Rand und Band. Als betrachtete er sich durch Zerrspiegel. Ihm war durchaus zuzutrauen, zu sagen: Ich sehe gut aus, aber ich bin hässlich wie ein Monster.
War ein Mensch, der die größte Schuld auf sich geladen hatte, überhaupt in der Lage, sich selbst als jemand Attraktiven zu sehen? Was hatte Hitler gesehen, wenn er in den Spiegel geschaut hatte (und das hatte er doch oft genug), oder Stalin oder Mao oder, oder, oder? Hatten sie das, was sie getan hatten, von dem trennen können, was sie sahen? Hatte das Eine das Andere befeuert? Waren sie zwei Personen gewesen? Der private nette Kerl und der gefürchtete Massenmörder da draußen? Waren sich diese beiden jemals begegnet? Und wenn ja, wie hatte das ausgesehen? War das Gewissen Teil des Ganzen gewesen? Der Zündstoff, ohne den diese gewaltige Verbitterung, dieser Hass auf die Menschheit und der Vernichtungswille gar nicht funktioniert hätten?
Wie auch immer, Rick dachte über diesen Busfahrer nach. An diesem Tag. An den nächsten Tagen. Er holte sich das Lächeln in Erinnerung, ohne eine echte Erinnerung daran zu haben. Er sah nicht das Gesicht, nur das Lächeln. Wäre er in die Verlegenheit gekommen, den Busfahrer zu beschreiben, für einen dieser Phantombildzeichner, er hätte ihn nicht beschreiben können. Nur die Kappe, und dass das Gesicht breit gewirkt hatte. Konnte aber eben auch an dem Lächeln gelegen haben, das Rick so verstört hatte. Er hätte nicht sagen können, ob der Busfahrer lange schmale Finger, oder kurze dicke gehabt hatte, nicht einmal, ob seine Hände eher groß oder klein waren. Überhaupt hatte er nichts von seiner Größe oder Statur gesehen. Der Mann hatte hinterm Steuer gesessen.
Rick wollte sich kein Bild machen. Er wollte in diesen speziellen Bereich keine Sehnsucht hineininterpretieren. Gerade weil er nicht wusste, wie der Busfahrer aussah, wie groß er war und wie gebaut, hatte er genug Raum für – ja, für was eigentlich? Es gereichte nicht einmal für erotische Fantasien.
Was Rick tat, war Hunderte Male in diesen Bus einsteigen, Hunderte Male »Einmal Erwachsener bitte«, zu sagen, das Lächeln zu sehen, die Fingerkuppen und die Münzen in der Handfläche zu spüren. Und noch mal. Und noch mal. Es gab kein Danach. Keine Möglichkeiten. Keine Geschichten, die sich daraus entspannen. Keine Hoffnung.
Vielleicht war er endlich erwachsen geworden. Okay, erwachsen wäre gewesen, zu vergessen. Aber das war dann der nächste Schritt. Immerhin, er konnte die Sache so belassen, wie sie war. Ein Therapeut hätte das bereits als Erfolg gewertet.
Nach drei Tagen hatte sich die Erinnerung an diese paar Sekunden abgenutzt wie eine dieser alten Musik- oder Videokassetten, mit denen er noch aufgewachsen war. Spielte man sie zu oft ab, begann der Ton zu leiern, das Bild zu rauschen, irgendwann verhedderte sich das Band, zerknitterte beim Versuch, es zu entwirren, hinterließ Narben auf dem Magnetstreifen. Auch das gehörte noch dazu, aber irgendwann, irgendwann landete das Band in einer Schublade und wurde vergessen. Und wenn man es herausholte, hatten CDs und DVDs die Welt erobert, waren selbst diese Medien bereits veraltet, nicht einmal mehr MP3 und MP4 hortete man. Einem gehörte nichts mehr. Man mietete nur noch. Mietete Musik, Filme, Bücher. Die Welt war ein Leihhaus geworden, und nichts konnte kaputtgehört und kaputtgesehen werden. Die ewige Jugend der Kunst. Jeder hörte und sah dasselbe. Keine Kassette mehr, die im Sommer 1984 zu Tode gespielt wurde, aber gerade dieses charakteristische Leiern schenkte, das diesen alten Herzschmerz von einst wieder hochzuholen vermochte, einen noch ein Mal der Teenager sein ließ, der glaubte, die Liebe und sexuelle Gefühle erfunden zu haben.
So war das mit dem Busfahrer. Für alle Welt war er derselbe Kerl, abrufbar, aber durch häufiges Gesehenwerden nicht abnutzbar. Nur in Ricks Kopf nutzte er sich ab, verschwamm er, wurde immer unschärfer, verzerrter, war am Ende nicht mehr das Bild, sondern nur noch dieses Gefühl. Ein Gefühl ohne Bild. Die Erinnerung an etwas Gutes, das ihm widerfahren war.
Tag der Veröffentlichung: 30.12.2018
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