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Wer hat Cyrano verschissen!

 

 

 

»Das geht gar nicht, Cyrano!«

Ein heißer Blitz fuhr durch Eriks Körper, als er seine Stimme in diesem tadelnden Ton hörte. Er – Jonas Keilmann, Lehrer für Deutsch, Biologie und Zeichnen – ließ von Roxane ab und eilte zu Erik. Bei jedem Schritt, den er näherkam, raste Eriks Herz schneller. Jonas sah nicht aus wie ein Lehrer, sondern wie ein … junger Gott war vielleicht übertrieben, Rockstar traf es schon eher. Groß, sportlicher Gang, schwarze kurze Locken, dunkle weiche Augen, ein Grübchen am Kinn und je eines in den Wangen, die sich tief in die Lachfalten bohrten. Jonas lächelte viel und oft, fuhr ein wuchtiges Motorrad und bestand darauf, dass die Schüler ihn Jonas nannten und Du zu ihm sagten. Er war unglaublich lässig und behandelte die Schüler nicht wie asoziale Kreaturen, die man zurechtbiegen musste, sondern als wären sie Kumpels seiner Motorradgang.

Ob er eine Gang hatte, wusste Erik nicht. Wie wohl jedes Mädchen hier war auch er nur aus einem Grund in der Theatergruppe: um Jonas nahe sein zu können, um von ihm bemerkt zu werden, um ihn nicht nur im Unterricht um sich zu haben, um von ihm zu träumen und auf ihn zu hoffen. Vermutlich wurde Jonas in den feuchten, jungfräulichen Teenagernächten hunderte Male geküsst, erhielt Liebesschwüre und … war jedem seiner Fans schon seit langem heimlich verfallen, rang schon lange gegen seine Gefühle und das Verbot, mit Schülern etwas anzufangen und hauchte ›Marie‹ und ›Karin‹ und ›Sabine‹ und ›Jasmin‹ und ›Michaela‹ und ›Jana‹ … und ›Erik‹.

So, wie Jonas jetzt auf Erik zuschritt, energisch, den Blick von seinem Scheitel bis zu seinen Zehen gleitend, hatte er es auch heute Vormittag getan, während des Matheunterrichts, hatte Erik in seine Arme gerissen, seine Lippen an sein Ohr gedrückt und geflüstert …

»Du siehst aus wie ein Clown!«

Erik hielt die Luft an, die Fäuste um den Bund der viel zu weiten und viel zu kurzen Hose geballt.

»Wer hat das genäht?«, fragte Jonas, und weil Erik bloß lautlos den Mund auf und zu machte, drehte er sich herum und rief in die wuselige Hektik: »Wer hat Cyrano verschissen!«

Das war der Grund, warum die Jungs ihn mochten. Jonas nahm kein Blatt vor den Mund, fand Schimpfwortkassen infantil und fluchte selbst wie ein Rohrspatz. Oh ja, er wusste, wie die Jugend zu nehmen war.

»Kann ich was dafür, dass er ausgerechnet jetzt beschließt zu wachsen?«, verteidigte sich Karin schroff. Ihre Methode der Anmache war die rotzfreche Punkgöre.

Ich habe nicht beschlossen zu wachsen, wollte Erik sagen, aber wie immer, wenn Jonas in seiner Nähe war, brachte er kein Wort heraus. Nur Text. Nur wenn er in seiner Rolle war, konnte er sich frei bewegen und reden und Jonas ansprechen – der dann einige Meter entfernt verkehrt herum auf einem Stuhl saß, die Arme lässig über die Lehne verschränkt, wachsam wie ein Löwe. Aber nun stand Jonas so nah, dass Erik ihn riechen konnte, dass er den Lufthauch spüren konnte, wenn er sich bewegte und – es mochte vielleicht über diese Distanz unmöglich sein – die Hitze seines Körpers fühlen konnte.

Erik verglühte und hatte diese verdächtig brennenden Flecken auf den Wangen.

»Kannst du das umnähen, so dass es ihm morgen Abend zur Vorstellung passt?« Jonas schaute Karin fragend ins Gesicht. In die Augen. Er schaute ihr in die Augen.

Jetzt fühlte sich Erik wie Cyrano, der seine Liebe an Christian verlor. Sein Kostüm waren die geflüsterten Liebesworte. Sein Wachstumsschub hatte Jonas mit Karin vereint. Knisternde Sekunden, die in Eriks Magen wie Quecksilber kochten.

»Unmöglich!« Karin begann, unwillig an Eriks Hose herumzuzupfen. »Ich kann sie vielleicht enger machen, aber nicht länger. Es ist kein Stoff mehr übrig.«

»Das ist beschissen«, murmelte Jonas und schaute Erik direkt in die Augen.

Binnen Sekunden verlor sich Erik in diesen tiefen dunklen Tümpeln. Er löste sich in ihnen auf, war nur noch Herzschlag.

Dann grub sich ein Lächeln in Jonas’ Gesicht, ein Lächeln, das nur Erik gehörte, ihm allein. »Wer hätte auch gedacht, dass ein Siebzehnjähriger wächst, hm?«

Oh Gott! Eriks Knie wurden so weich, dass er beinahe zu Boden tropfte. Jonas hatte ihm gegenüber einen Scherz gemacht, einen seiner anbetungswürdigen Sarkasmen angebracht. Ihm gegenüber! Erik. Hatte ihn behandelt wie einen … Freund.

Erik wollte irgendetwas Cooles erwidern und riss bloß die Augen auf, nicht aber den Mund.

Jonas durchbohrte ihn mit einem Blick, als warte er auf eine treffende, eloquente Bemerkung, den Beweis, einen ebenbürtigen Mann vor sich zu haben. Doch Erik grinste bloß schief – grinste nicht einmal, sondern verzog nur den Mund.

»Was machen wir denn da?«, fragte Jonas.

Wir? Das klang sehr … nah, sehr vertraut. So hatte er Karin nicht angesehen. So intim hatte er mit ihr nicht gesprochen.

Sie jedoch fühlte sich gemeint. »Ja, was weiß ich …«

Plötzlich streckte Jonas seinen Arm aus und seine Hand landete auf Eriks Schulter. Warm. Kräftig. Brüderlich. Sinnlich. Erik war drauf und dran, den Kopf zu neigen und ihm die Finger zu küssen. Er liebt mich.

»Ich lass mir was einfallen.« Jonas zwinkerte.

Da rief jemand nach ihm.

Als wäre Erik von Jesus berührt worden – besser: von Kurt Cobain, von Jim Morrison, von … Gott selbst – fühlte er sich wie in goldenes Licht getaucht, die Stelle an der Schulter pulsierte und Glück rieselte in jede Faser seines Körpers.

Jonas wollte über ihn nachdenken. Über ihr gemeinsames Problem.

Erst Stunden später, als Erik in seinem Bett lag, kam er sich lächerlich vor, größenwahnsinnig. Wie konnte er sich einbilden, dass Jonas ihn bemerkt hatte? Er nannte ihn Cyrano. Vermutlich wusste er nicht einmal, wie der Schüler hinter der Rolle hieß – und es interessierte ihn nicht die Bohne. Es gab kein gemeinsames Problem. Erik war im vergangenen Jahr einfach in die Höhe geschossen und vom pummeligen Kind zum schlaksigen Jugendlichen mutiert. Ein Umstand, den er schon seit Jahren herbeigesehnt hatte. Er, der Spätzünder, der noch Anfang des Schuljahres ausgesehen hatte, als hätte er sich in der Klasse geirrt, zwischen all den pickeligen Riesen, die nach Schweiß oder Menstruation stanken, gehörte jetzt zu den größeren Schülern, und dafür hatte er mit grässlichen Wachstumsschmerzen bezahlen müssen.

Fühlte er sich zuvor wie ein Jugendlicher in einem Kinderkörper, fühlte er sich jetzt wie ein Kind im Körper eines Jugendlichen. Was ihm im Spiegel entgegenblickte, stimmte nicht mit dem überein, wie er sich selbst empfand. Wie sehr hatte er sich immer gewünscht, schlank zu sein und groß, hatte sich immer vorgestellt, wie selbstbewusst er dann wäre, wie beliebt, wie schön. Doch seine Seele war immer noch ein kleiner Fettsack und die Schönheit verbarg sich unter Pickel, so sie überhaupt an ihm zu finden war.

Und das waren nicht die einzigen Dinge, die nicht mehr zusammenpassten. So hatte er sich auf den Stimmbruch gefreut, hatte es kaum erwarten können, sein kräftiges männliches Stimmorgan zu entfalten. Doch das Ergebnis der Mutation war enttäuschend. Erst enttäuschend instabil, dann enttäuschend … leise, irgendwie heiser. Eine denkbar schlechte Entwicklung für einen angehenden Schauspieler. Monatelang hatte Erik befürchtet, Jonas könnte ihm wegen seines Gekiekses und Gekrächzes die Hauptrolle entziehen. Doch Jonas schien es nicht zu bemerken, nicht wie die zu kurze Hose jedenfalls. Als wäre er taub auf dem Ohr für kraftvolle Bühnenstimmen, dabei war er sonst sehr anspruchsvoll.

Ein Aspekt, der Erik genug Munition für waghalsige Hoffnungen gab. Vielleicht empfand Jonas etwas für ihn, sah aus Liebe über diesen Makel hinweg. Momente des Hochgefühls und des Liebeswahns, die immer nur Minuten andauerten, ehe Erik im finsteren Loch der Bedeutungslosigkeit und Depression versank. Nur, weil sich Jonas fürs Theater einsetzte, hieß das nicht, dass er schwul war. Er fuhr Motorrad, das war ja wohl sehr männlich, oder? War schwul sein unmännlich? Erik war sich nicht sicher. Wenn er sich selbst zum Maßstab nahm, dann … ja. Im Vergleich zu den Jungs in seiner Klasse, das laute, grölende Volk, das Rülpswettbewerbe veranstaltete und versuchte, einander Fürze anzuzünden … fühlte sich Erik wie ein Mädchen. Sogar gegenüber vielen Mädchen fühlte er sich wie ein Mädchen. Gegenüber Karin etwa, die sich mit bewundernswert rauem Selbstvertrauen durch die Welt bewegte, während Erik heimlich Liebesgedichte schrieb.

Ganz genau.

Er war das, was man eine Memme nennt. Ein Weichei. Er hörte The Doors, er hörte Nirvana, er litt wie ein echter Poet und schrieb Gedichte über die Liebespein und die Ungerechtigkeiten des Lebens. Wenn ein Jim Morrison das machte, oder ein Kurt Cobain, dann war das cool, denn das waren schöne Männer mit einer atemberaubenden Ausstrahlung. Aber wenn ein kleiner, dicker Junge mit blonden Locken und Brille Gedichte schrieb, war das einfach nur erbärmlich.

Okay. Stopp. Erik war nicht mehr klein und er war nicht mehr dick, aber er war meilenweit davon entfernt, cool zu sein.

Erik grapschte Notizblock und Kugelschreiber vom Nachtkästchen und begann zu schreiben:

 

Dort, wo's über meinen Rippen ist,

entsteht ein riesiglicher Riss.

Daraus will fließen reiner Schmerz

und mit ihm mein ganzes Herz.

 

Rauf auf die Bühne, Aramis!

 

 

 

In einem weiten Hemd, aus dessen Ärmel man je ein ganzes Kleid hätte nähen können, dafür aber nur in Unterhose und Socken, lief Erik hin und her.

Alle anderen Schauspieler steckten bereits in ihren üppigen Kostümen, selbst die Mädchen, die Soldaten spielten und aufgeklebte Schnauz- und Spitzbärte trugen. Roxane beschäftigte sich seit einer halben Stunde mit ihrem Dekolletee, das ihr offenbar nicht üppig genug sein konnte. Erik hatte beobachtet, wie sie heimlich ein ganzes Shirt ins Kleid gestopft hatte. Selbstverständlich verfolgte sie damit nicht das Ziel, Cyrano oder Christian zu verführen, sondern Jonas.

Jonas, der vergessen hatte, sich um Eriks Hosenproblem zu kümmern und angesichts der käsigen, nackten Storchenbeine seines Hauptdarstellers erblasst war.

Das Publikum füllte den Saal und der Schulleiter machte Stimmübungen für seine Ankündigung. Wenn Jonas nicht bald auftauchte, würde Cyrano halbnackt auf der Bühne erscheinen. Damit würde der Abend den Verlauf eines wiederkehrenden Angsttraumes nehmen, der Erik im Vorfeld der Aufführung heimgesucht hatte.

Das Gemurmel im Saal wurde immer satter, der Schulleiter rückte seine Krawatte zurecht und verschwand auf der Bühne. Gedämpft drang seine unlustige Ansprache bis an Eriks Ohr. Einige Mädchen steigerten sich in Panikattacken hinein, fächerten sich Luft zu, hielten sich an den Händen und versicherten sich, jeden Moment zu sterben, doch nur einer hatte einen Grund, sich das zu wünschen.

Erik begann, hektisch die zu kurz geratene Hose von Cyrano zu suchen. Lieber ein Clown als ein Exhibitionist. Besser, sie lachten über die Hochwasserhose als über seine käsigen Storchenbeine.

»Hast du irgendwo meine Kostümhose gesehen?«, fragte Erik Roxane, die ihn seltsam betroffen anschaute und ihre linke Brust zurechtrückte. Himmel, bald würde sie über diese Stoffberge nicht mehr drübersehen können.

»Ich dachte, die ist dir zu klein.«

»Ich kann ja wohl nicht so auf die Bühne«, grummelte Erik und ließ den Blick über ihr Frontgesäß gleiten. »Du hast sie doch nicht …?«

»Hier bist du!«, rief Jonas, als hätte er seinen Hauptdarsteller überall, nur nicht hinter der Bühne vermutet. Er war außer Atem und in Eriks Bauch platzten Glücksbläschen bei der Vorstellung, dass sich Jonas nur seinetwegen gestresst hatte. Er hatte sich für Erik ins Zeug gelegt. Für ihn war er gelaufen. Für ihn hatte er die letzten Minuten vor dem Auftritt mit Suchen verbracht, statt damit, das Ensemble zu beruhigen, das sich ob seiner Abwesenheit in kollektive Hysterie hochgeschaukelt hatte.

»Hier – zieh die an.« Jonas reichte Erik eine Lederhose.

Sie war überraschend schwer. War das … Jonas’ Hose? Erik entfaltete das Teil. Es war eine dieser coolen Motorradhosen, wie sie Harley-Davidson-Fahrer trugen.

Erik wurde heiß. Sehr heiß. Hatte Jonas sie getragen? Hatten seine Beine darin gesteckt? Unwillkürlich hob Erik die Lederhose an seine Nase. Sie roch nach Leder. Wenig überraschend. Aber … waren da nicht auch Spuren von … Jonas? Konnte man Lederhosen waschen?

»Na los, worauf wartest du?«, drängelte Jonas, dann fiel sein Blick auf Roxanes Dekolletee. »Was ist denn da passiert, Dolly?«

Enttäuscht, dass sich Jonas so leicht von ihm ablenken ließ, wandte sich Erik ab. Auf einem Bein springend fädelte er einen Fuß ins Hosenbein. Im Gegensatz zu Jeans war das Leder verdammt sperrig und schwer, doch für Leder war es wiederum sehr geschmeidig und wie von selbst rutschten Eriks Knie, Hintern und Schritt in die Ausbuchtungen. Offensichtlich war diese Hose oft getragen worden. Das seidige Futter schmeichelte sich an Eriks Haut – irgendwie war das wie Secondhand-Kuscheln. Seine und Jonas’ Beine rieben sich aneinander … wenn auch mit einer sehr großzügigen Übersetzung.

Ein Gedanke, der zusammen mit der Aufregung vor dem Auftritt und Jonas’ Nähe eine unheilvolle Hormonmischung erzeugte. Wenigstens war das Leder recht steif und die Hose um die Hüften ein wenig zu groß. Mit einem unauffälligen Griff legte Erik seine Erektion so, dass sie nicht weiter auffiel, und wurde vom Gedanken gepeinigt, wie demütigend es wäre, wenn er sich auf der Bühne in Jonas’ Hose ergießen würde.

Plötzlich ein Pfeifen. Ein Ein-Bauarbeiter-sieht-eine-scharfe-Braut-Pfeifen. Erik glaubte es gelte Roxanes Vorbau, doch als er sich umdrehte, lächelte Jonas ihn hingerissen an.

»Wow. Du könntest Christian spielen.«

Wie ein Faustschlag rammte sich die Enttäuschung in Eriks Magen. Hatte er etwas falsch gemacht? Warum wollte Jonas ihn so knapp vor dem Auftritt von der Hauptrolle abziehen?

»Jetzt haben wir ein neues Problem. Cyrano darf unmöglich schärfer als Christian aussehen.«

Die Worte kletterten wie Flammen über Eriks Haut. Schärfer als Christian? Wie meinte Jonas das? Christian wurde mangels Jungs in der Theatergruppe von Marie gespielt. Hieß das, Jonas fand Erik schärfer als ein Mädchen?

Eriks Herz begann, wie verrückt zu wummern. Er verlor sich in Jonas’ Lächeln. Schärfer als Christian. Das war ein Kompliment. Das war … ein gigantisches Kompliment. Roxanes Miene verriet, dass auch andere das so auffassten. Unter den eifersüchtigen Blicken der Mitschülerinnen setzte Jonas Erik den riesigen Hut mit der Feder auf, zupfte an seinem Hemd herum und sagte leise: »Rauf auf die Bühne, Aramis!«

Erik begriff nicht. War er im falschen Stück? Die beinahe geflüsterten Worte kitzelten und tanzten in seinem Ohr. Dann entdeckte er sein Spiegelbild. Er sah aus wie ein Musketier. Ergriffen starrte Erik den jungen Mann im Spiegel an, den nicht einmal die aufgeklebte lange Nase entstellen konnte. Vor einigen Monaten hatte er noch den perfekten Cyrano abgegeben, klein, pummelig, hässlich, aber jetzt … Mit dieser Erscheinung hätte sich Erik selbst als Christian besetzt.

Ein Blick zu Jonas. Der lächelte und zwinkerte. Schon wieder. In Eriks Herz platzte Glück und Euphorie floss bis in jeden Winkel seines Körpers. Genau im richtigen Augenblick erhielt er einen Selbstvertrauensboost. Er spielte um sein Leben. Er gab alles. Er ging in der Rolle auf. Er wuchs in das Stück hinein, durchlebte Glück, Schmerz und Verzweiflung am eigenen Leib und konnte zum Ende hin im Publikum vereinzeltes Schluchzen vernehmen, das aus der atemlosen Stille drang. Er selbst verlor Tränen des Bedauerns über sein eigenes Schicksal als Cyrano.

 

Willst du spielen?

 

 

 

Schweiß klebte das Futter an Eriks Beine. Nicht ganz unabsichtlich hatte er einfach vergessen, die Lederhose auszuziehen und Jonas zurückzugeben, als sie losgezogen waren, um in einem nahen Pub den gelungenen Auftritt zu feiern.

Es war das erste Mal, dass Erik in einem derartigen Lokal war – das erste Mal, dass er überhaupt mit Freunden unterwegs war.

Er war ein Sonderling, der seinen blassen Kopf in Bücher versenkte, statt herauszufinden, wozu das Leben ihm Hormone und Mitmenschen geschenkt hatte. Worte wie Clique kannte er nur aus Büchern, ausgelassene Tage am Baggersee oder auf Ferienlager ebenfalls. War eh viel lustiger und spannender als in Realität, redete er sich gerne ein. Selbstschutz. Wie sollte er sonst Sehnsucht ertragen? Die Figuren in Büchern waren interessanter und ihre Dramen ergreifender als im echten Leben – und ungefährlicher. Erik konnte mit den Protagonisten durch die Fettnäpfchen der Pubertät und der Liebe schreiten, ohne selbst in Gefahr zu geraten, sich zu demütigen. Nur wenn es ans Körperliche ging, wurde es emotional brenzlig, denn manche Bücher waren hinterhältig. Manchmal reichten nur wenige Wörter, und Erik verging vor Qualen, die die Sehnsucht nach einem Kuss erzeugte, oder die Vorstellung, den Kopf an jemandes Schulter zu lehnen. Und natürlich alles andere auch, das nie genau beschrieben wurde und daher erst recht Fantasien weckte, die Erik tagelang beschäftigten.

Seine Lippen, seine Hände, seine Schultern – alles an ihm – war jungfräulich. Nicht nur, was Liebesdinge betraf, sondern auch, was Freundschaften betraf. Es war nicht so, dass er überhaupt niemanden hatte. Mit manchen Sitznachbarn oder wenn er für Klassenarbeiten mit jemandem zusammengewürfelt wurde, ging es manchmal sogar recht lustig zu, aber nie kam es so weit, dass Erik jemanden einen Freund nennen konnte – oder jemand in ihm einen Freund sah. Dazu waren die Kontakte schlicht zu kurz und oberflächlich geblieben.

Als wäre die Gesellschaft hier im Pub tiefgründiger. Aber Erik war auch nicht wegen der Kollegen aus der Theatergruppe hier, die im Endorphinrausch des gelungenen Auftritts den Anschein erweckten, der verschworensten Gemeinschaft der Welt anzugehören. Alle waren plötzlich beste Freunde und erklärten einander unentwegt die Liebe, vor allem, je später der Abend wurde.

Obwohl Erik versuchte, sich einzubringen, blieb er irgendwie außerhalb. Als wäre die Theatergruppe mit einer Nanooberfläche beschichtet und er ein Tropfen, der daran abperlte. Ein wenig hilflos versuchte er, sich von den anderen abzuschauen, wie man ein Gespräch begann, doch ihm fiel nichts Geistreiches ein und kam jemand auf ihn zu, reagierte er zu träge, weil er zu lange nachdenken musste, was er sagen sollte. Bis er bereit war, den Mund zu öffnen, wandten ihm seine Mitschüler bereits den Rücken zu und amüsierten sich ohne ihn.

Jonas war mitten unter ihnen und unterhielt sich blendend. Erik versank in den Lachfalten, den weichen Augen, den breiten Schultern, den schmalen Hüften. Selbstvergessen bewunderte er die festen Schenkel, die spitzen Knie, diese unglaublich lässige Körperhaltung. Wie Erik trug Jonas eine Lederhose, doch an ihm sah sie besser aus. Immerhin wusste Erik, dass man durch sie hindurch wenig spürte, und so bekam Jonas wohl nicht jede Mädchenhand mit, die sich auf seine Schenkel oder seinen Hintern verirrte. Dass er auf die Avancen nicht einging, ermutigte Erik. Vielleicht war Jonas doch schwul.

Plötzlich blickten ihn die unergründlichen Tümpel über all die Köpfe hinweg direkt an. Eriks Herz blieb für einen Augenblick stehen und rumpelte dann umso heftiger los. Verschüchtert drehte er sich um, weil er nicht glauben konnte, dass Jonas wirklich ihn anschaute. Doch hinter ihm war nur ein Raum, in dem über einem Billardtisch eine blaue Rauchwolke hing.

»Willst du spielen, Aramis?«

Jonas stand auf einmal direkt hinter ihm und seine Stimme spülte wie warmes Wasser in Eriks Nacken.

Verzweifelt versuchte Erik, seiner Kehle ein Geräusch abzuringen, da streifte etwas seinen Hintern. War das Jonas? Hatte er ihm eine Hand auf den Po …? Erik verglühte und Schweißtröpfchen sprossen auf seiner Oberlippe.

»Na komm.« Jonas marschierte an ihm vorbei in den Billardraum und Eriks Blick rutschte auf seinen knackigen Arsch. Oh Gott, der Kerl war ein … Gott.

Erik fühlte sich plötzlich wie in einem dieser Filme aus den Achtziger Jahren, in denen ein einsamer Motorradheld auf Reisen in ein Kaff kam und dort naive Bauerntölpel beim Billardspiel abzockte, während die naiven Bauerntölpel ihrerseits glaubten, den Motorradhelden abzuzocken. Das alles endete in einer Schlägerei, bei der mindestens ein Queue zu Bruch ging, die Bauerntölpel gedemütigt wurden und der Motorradheld mit der schönsten Braut des Lokals durchbrannte.

Ich will die Braut sein, dachte Erik und streichelte mit Blicken den Arm, mit dem Jonas einen Queue aus dem Ständer fischte, und die Hand, mit der er routiniert nach der Kreide griff. Auffordernd lächelte er Erik zu.

Erik schluckte. Er hatte noch nie Billard gespielt. Er hatte noch nie einen Queue in der Hand gehalten, geschweige denn einen Billardtisch aus der Nähe gesehen. Doch zugeben, dass er gar nicht spielen konnte, wo er – er – ihm die alleinige Aufmerksamkeit schenkte?

Nervös schaute sich Erik nach den anderen um. Sie ließen Jonas einfach so gehen? Träumte er das alles bloß? Hatte ihm jemand Drogen in die Cola geschüttet und nun glaubte er, von Jonas zu einem Spiel aufgefordert zu werden, während ihn in Wahrheit ein hundertdreißig Kilo schwerer Fernfahrer mit Asterixbart provozierte?

Wertvolle Sekunden verstrichen, in denen Erik mit seiner Unsicherheit kämpfte, dann tröpfelten nach und nach die Mädchen herein. Karin, die blauhaarige Punkgöre, schnappte sich ohne Umschweife einen Queue und begann so routiniert wie Jonas, die Spitze mit der Kreide zu bearbeiten.

Chance vertan.

Jonas und Karin lieferten sich ein so geschmeidiges Spiel, als verbrächten sie ihre Nachmittage zusammen bei Turnieren in rauchgeschwängerten Bäuchen finsterer Kneipen, während Erik im Pubertätsmief bei Algebra und Karl den Großen dahindöste. Die Würmer der Eifersucht wühlten durch Eriks Gedärme. In Karin sah er die schärfste Konkurrenz, obwohl alle Mädchen um Jonas’ Aufmerksamkeit buhlten und rein statistisch selbst die Uninteressanteste unter Ihnen mehr Chancen als Erik hätte.

Es lag an Karins Reife. Ihre Lässigkeit spielte in Jonas’ Liga und die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich durch die Welt bewegte, war seiner ebenbürtig. Wenn Erik davon ausging (und er ging davon aus), dass Jonas auf Erwachsene stand, dann hatte Karin – realistisch betrachtet – die besten Karten. Sie war die ideale Rockerbraut. Sie war die Schöne, die der Motorradheld auf seine Maschine schwang, um mit ihr Richtung Sonnenuntergang zu brausen.

Doch wer hielt sich bitteschön mit der Realität auf, wenn der Traummann sämtliche Sinne in rosa Plüschdecken hüllte?

Erik lehnte am Türrahmen, die Faust um die Flasche Cola geballt, und schaute zu, wie sich Jonas und Karin ein weiteres Turnier lieferten. Revanche. Die Mädchen an den Wänden blühten wie Rosen, als wären sie die Trophäen, die es zu gewinnen gäbe.

»Ich hasse sie«, riss Marie Erik aus den Gedanken. Jene Marie, die Christian gespielt hatte. Jene, die nicht so scharf war, wie Erik.

»Ich auch.« Erik seufzte.

»Blöde Schlampe«, ergänzte Marie.

»Ja genau … blöde Schlampe.« Selbstvergessen betrachtete Erik den Adamsapfel, als sich Jonas dicht über den Tisch neigte, um die Bälle in Augenschein zu nehmen. Erik versuchte, was die Jungs in seiner Klasse den ganzen Tag über bei den Mädchen versuchten: Jonas so tief in den Ausschnitt zu schauen wie möglich. Doch Jonas trug ein Shirt und tiefer als bis zur Mulde, in der Schlüsselbein und Halssehnen zusammenliefen, langte sein Blick nicht.

»Du hast phänomenal gespielt.« Marie rempelte Erik mit dem Ellenbogen. »Du solltest Schauspieler werden. Richtiger Schauspieler. Du hast es geschafft, dass ich mich für die Rolle des Christian schäme, weil ich dir Roxane ausspanne …«

»Danke«, sagte Erik. Er sollte jetzt auch etwas Nettes über ihr Schauspiel sagen, oder zumindest irgendwas, um das Gespräch in Gang zu setzen, aber ihm fiel nichts ein.

»Stehst du auf sie?«, fragte Marie und deutete zu Jasmin, die Roxane gespielt hatte.

Die Frage fühlte sich an, als hätte sie ihm eiskaltes Wasser ins Gesicht gespritzt. »Oh, Gott, nein.«

Marie kicherte. »Dann hast du wirklich gut gespielt. Ich hätte schwören können, dass du auf sie stehst. Ich musste am Schluss sogar heulen.«

»Tut mir leid.«

»Spinnst du?« Marie gab Erik einen Klaps auf den Hinterkopf. »Du darfst dich doch nicht dafür entschuldigen, dass du Leute mit deinem Spiel mitreißt.«

Plötzlich weiteten sich ihre Augen, als erschiene hinter Erik … Jim Morrison.

»Komm her, mein Held der Stunde.« Jonas schob Erik eine Hand in den Nacken, vergrub die Finger im Haar und kam ihm mit dem Gesicht so nah, als wollte er ihn hier vor allen küssen.

Erik atmete erregt auf. Seine Lippen pochten und binnen Sekunden füllte sich sein gesamtes Becken mit kochender Lava.

»Du warst der Hammer.« Jonas funkelte ihn stolz an. Seine Locken kitzelten, dann lehnte er seine Stirn an Eriks Stirn. »Der Hammer!«, wiederholte er leise, umfasste Eriks Gesicht mit beiden Händen und schob ihn etwas von sich weg, um ihn sich genauer anzusehen. »Schau nicht so erschrocken.« Jonas begann zu lachen – nein, erst zu lächeln, ein Lächeln, das nur Erik galt, das vielleicht etwas scheu war, vielleicht ein bisschen intim – dann erst begann er zu lachen und wuschelte Erik durchs Haar. »Komm schon, Aramis, erweise mir die Ehre eines Spiels.« Dann wandte er sich ab und Karin streckte Erik mit einer großzügigen Geste ihren Queue hin.

Zögernd ergriff Erik den Holzstock und wankte wie schlafwandlerisch auf den Tisch zu. Er würde sich blamieren. Vor allen Mädchen und vor Jonas würde er sich zum Idioten machen. Egal, ob er vorher sagte, dass er nicht spielen konnte oder ob er es ihnen bewies, indem er es vorführte. Still verfluchte er sich, bei dem Spiel mit Karin nicht aufgepasst zu haben – vielleicht hätte er die Regeln extrapolieren können.

Jonas hob den Holztriangel hoch, der als Rahmen für die Ballformation diente, und nickte Erik auffordernd zu. Erik sollte nun den weißen Ball anstoßen. Damit erschöpfte sich sein Wissen über Billard. Wie idiotisch sich eine Pose doch anfühlte, die man bloß nachäffte. Während Erik versuchte, sich mit größtmöglicher Anmut über den Tisch zu beugen, wurde ihm bewusst, dass er nicht den blassesten Schimmer hatte, wie er den Queue im Detail halten sollte. Und ihm wurde weiters bewusst, dass Cyranos Hemd zwar beim Fechten schick aussehen mochte, oder beim Rezitieren ergreifender Gedichte, aber beim Billard zu einer nahezu tödlichen Falle wurde. Wie der Rock eines Mädchens legte sich ein Ärmel über die Bande, während sich der Stoff des anderen Ärmels mit dem Queue verhedderte.

Soweit dazu. Eriks Anmut glich einem Ritter in einer Rüstung aus Blecheimern und rostigen Regenrinnen, der auf einem alterslahmen Esel durch den Nieselregen trabte. Bis er den Queue aus den schier endlosen Weiten seines Ärmels befreit hatte, dampften seine Wangen. Die Trophäen in der Rosenhecke kicherten. Karin schüttelte den Kopf und zischte belustigt.

»Zieh es aus.« Jonas trank einen Schluck aus seiner Bierflasche und als er sie absetzte, griff sofort ein Mädchen danach wie ein devoter Diener in einem Film über die Dekadenz todgeweihter Königshäuser. »Mit dem Hemd kannst du nicht spielen.«

Ich soll mit nacktem Oberkörper spielen? Erik krallte die Finger in den Stoff über seinem Bauch und blickte zu den Mädchen, um sich zu vergewissern, dass sie diesen gewagten Vorschlag ebenfalls vernommen hatten. Den lustig tanzenden Lichtreflexionen in ihren Augen nach zu urteilen: ja.

Eine seltsame Form von Erregung nahm von Erik Besitz. Einerseits peinigten ihn Scham und Angst, denn der Fettsack in seiner Seele hatte keine guten Erfahrungen damit, seinen Wanst zur Schau zu stellen. Der frisch geschlüpfte Aramis dagegen erinnerte sich, dass er mittlerweile einen Körper hatte, auf den er stolz sein konnte. Kein Wanst, dafür Schultern, die diese Bezeichnung verdienten. Die Vorstellung, Blicke könnten seinen noch so ungewohnt erwachsenen Körper streicheln, ihn vielleicht durch Bewunderung direkt in Eriks Bewusstsein hämmern, war erbaulich. Und dann war da noch Jonas. In der Umkleide des Theaters hatte er schon öfter Eriks nackten Oberkörper gesehen, aber das war eher wie ein Unfall gewesen, ein Abfallprodukt des Umziehens. Und selbst diese flüchtigen Momente hatten Eriks Blut zum Kochen gebracht.

Während Erik noch mit sich kämpfte und zwischen Angst und Verwegenheit, Scham und Mut schwankte, schlüpfte Jonas aus seinem Shirt. Einfach so. Das Kleidungsstück verschwand dort, wo die Flasche Bier verschwunden war, und statt des Aufdrucks eines CD-Covers blickten nun zwei centgroße Nippel auf gestählten Brustmuskeln in den Raum. Eingegossen in das etwas asymmetrische Sixpack lockte der Bauchnabel, von dem ein sparsam bewachsener Pfad aus schwarzen Locken in den Bund der tief sitzenden Lederhose führte.

»Gleiche Bedingungen«, erklärte Jonas so selbstverständlich, als entgingen ihm die Speichelfäden in den Mundwinkeln der Mädchen. »Soll doch fair bleiben.«

Fair? Eine solche Einschätzung konnte nur der Naivität eines jungen Gottes entspringen. Angesichts dieser Perfektion fühlte sich Erik bereits nackt, obwohl er sein Hemd noch anhatte, und jede Hoffnung, dass sein Körper scheue Bewunderung hervorrufen könnte, zerfiel wie ein Vampir im Sonnenlicht zu Asche.

Umständlich wühlte er sich aus dem Hemd und wollte sich den Stoff vor lauter Scham am liebsten um den Kopf wickeln. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass auch für ihn ein Schatten aus der Wand huschte, um sein Hemd an sich zu nehmen. Marie. Sie strahlte Erik an, reichte ihm den Queue und die Flasche Cola für einen herzhaften Schluck. (Erik konnte sich nicht erinnern, irgendetwas davon aus der Hand gegeben zu haben.)

Obgleich es im Lokal stickig war, strich ein kühler Lufthauch über seine Haut. Erik beugte sich über den Tisch, und während er herauszufinden versuchte, wie er den Queue fixieren musste, um einen sauberen Stoß zu vollziehen, wurde ihm bewusst, dass er seinen in Leder gepackten Hintern rausstreckte. Wenn das nur ansatzweise so köstlich aussah wie bei Jonas, dann … hoffte er, dass kein Fernfahrer mit Asterixbart anwesend war.

Erik musste an die Szenen in Filmen denken, in denen erfahrene Männer naive Bräute in die Kunst des Billardspielens einwiesen. Er stellte sich vor, wie sich Jonas von hinten an ihn schmiegte, die Haut seines Bauches und seiner Brust Eriks Rücken berührte, wie er den Schritt gegen Eriks Hintern presste und seine kräftigen Arme um Eriks Arme schlang, wie sein warmer Atem in seinen Nacken blies …

Klonk. Plonk. Donkdonkdonk.

Blicke schwirrten durch den Raum. Die Mädchen und Jonas duckten sich, dann rollte unter dem Billardtisch der weiße Ball hervor – direkt vor Eriks Füße, als hätte ihn ein treuer Hund apportiert.

Karin prustete als Erste los, dann lachte auch Jonas und erst mit Verzögerung der Rest der Gruppe.

Da Erik nicht wusste, was er sonst machen sollte, grapschte er nach dem Ball und widerstand der Versuchung, sich unter dem Billardtisch zusammenzurollen. Als er sich aufrichtete, stand Jonas neben ihm, so dicht, dass sein Duft direkt bis in Eriks Hirn stieß. Behutsam nahm Jonas ihm den Ball aus der Hand. Ihre Finger berührten sich.

Erik keuchte auf. Wie durch einen Zauber gebannt stand er da und starrte auf den grünen Filz des Billardtisches.

Jonas brachte den Queue in Position und streifte dabei seinen Ellenbogen. Haut an Haut. Sanft streichelte Jonas Eriks Taille, legte ihm eine Hand auf die Seite und richtete sich schließlich auf. Seine Schulter war zum Anbeißen nah. Mit einem Lächeln auf den Lippen wandte er sich Erik zu, seine Hand rutschte hoch und zwischen ihren nackten Oberkörpern verdichtete sich die Luft. Ihre Lippen waren nur ein keusches Wippen voneinander entfernt …

»Könntest du …«, die Tümpel seines sanften Blickes flossen direkt hinein in Eriks Herz und ließen ihn schaudern, »… etwas Platz machen?«

Oh … natürlich … Erik wuchtete den tonnenschweren Rucksack der Enttäuschung zur Seite. Als hätte er seinen Körper in die Ecke des Raumes gestellt und sein Hirn in einen Fernseher verfrachtet, schaute er Jonas dabei zu, wie er um den Tisch tigerte, Bälle einschätzte, sich bückte und aufrichtete, stieß und jauchzte. Dies alles mit dem beeindruckenden Spiel der Muskeln und Sehnen unter der Haut, und dem knackigen Hintern, der das schwarze Leder spannte.

Plötzlich wankte Jonas einen Schritt vom Billardtisch zurück und lächelte Erik an. Eine Sekunde, zwei, drei, sieben … Glücksfunken stoben aus Eriks Leib, während er die Liebe auf einem weißen Rappen herbeigaloppieren sah. Jonas wackelte mit den Augenbrauen, nickte und aus seinem Lächeln wurde ein breiteres Lächeln, es wurde Glück, es wurde … die Welt.

»Was ist? Spiel!«, rief jemand. Karin. Oder Marie. Oder irgendein anderes Mädchen.

»Du bist dran, Aramis«, sagte Jonas schließlich, da Erik ihn bloß verliebt anstarrte.

Auf dem grünen Filz lagen diverse Bälle im Sternbild des großen Wagens. Verlegen kratzte sich Erik hinterm Ohr, marschierte langsam um den Tisch herum und tat so, als tüftele er angestrengt an einer perfiden Strategie. Doch alles, woran er denken konnte, war, dass Jonas jetzt Zeit hatte, ihn anzusehen, dass die Mädchen ihn ansahen, dass er halbnackt war und dass die Formation der Bälle vermutlich keine drei konzentrierte Runden um den Tisch erforderte.

Ene, mene, muh, und draus bist du!

Erik nahm die ausgezählte Kugel ins Visier, beugte sich elegant über den Tisch – das hatte er ja nun ausgiebig studiert – und wurde von aufgeregtem Geschnatter unterbrochen. Die Reaktion der Mädchen – und Jonas – wies darauf hin, dass er etwas Entscheidendes falsch machte, und sie seine Aktion entweder für eine klasse Satire oder grenzenlose Idiotie hielten.

Okay. Zweiter Versuch.

Als wäre es tatsächlich bloß ein Witz gewesen, richtete sich Erik schief grinsend wieder auf, marschierte weitere drei Runden um den Tisch und versuchte einen anderen Auszählreim.

Ich und du, Müllers Kuh, Müllers Esel, der bist du.

Wunderbar. Gelb, diesmal. Doch noch ehe Erik den Queue an den gelben Ball setzen konnte, fing das Gelächter und Gemurre erneut an.

Okay. Jetzt war es raus.

Mutlos ließ Erik die Schultern sinken und streckte den Queue Richtung Rosenhecke. Doch diesmal schnappte keine Hand danach, als hätte er ihn mit seiner Stümperhaftigkeit vergiftet.

»Du weißt nicht, wie man das spielt?«, fragte Jonas in einem Tonfall, als hätte Erik gerade behauptet, noch nie von einem Element namens Wasser gehört zu haben.

Gekicher. Karin seufzte und verdrehte die Augen wie eine Mutter, die die Faxen ihres Kindes dicke hatte. Irgendwo in dieser Wand aus Mädchen steckte Cyranos Hemd, in das sich Erik verkriechen wollte – und dann raus hier, weg, nicht einfach bloß nach Hause, sondern aus der Stadt, dem Land, dem Kontinent …

»Warum sagst du das denn nicht gleich?«, fragte Jonas so lieb, dass Erik abbremste und hurtig auf den Kontinent zurückruderte, ins Land, in die Stadt, direkt herein ins Lokal und in seine Haut. »Es ist im Grunde nicht so schwer«, begann Jonas und erklärte dann etwas über halbe und ganze Bälle, erläuterte die Rolle des weißen und des schwarzen Balles und unter welchen Umständen ein Spielerwechsel erfolgte. Dabei versenkte er eine Hand im Maul des Billardtisches und klaubte nach und nach sämtliche Bälle heraus, drehte sie gelegentlich wie Eva die verbotene Frucht im Paradies (während Karin im Hintergrund zischelte wie eine Schlange), und legte sie allmählich in einer Dreiecksformation auf.

Erik versuchte, zu folgen. Gott weiß, er versuchte, jede Information in sich aufzusaugen, doch die Wörter, die über Jonas’ Lippen sprangen, diese weichen, vollen Lippen über dem sinnlichen Kinn mit dem Grübchen, und der Adamsapfel, der sich hob und senkte und den Blick geradezu verführte, weiter abwärts zu reisen, über die Furchen und Hügel der schönsten Landschaft der Welt, einem Männerkörper. Jonas’ Männerkörper …

»Verstanden?«, fragte Jonas plötzlich mittendrin.

Nein. Kein Wort.

Erik nickte, den Mund zu einem stummen Ja geöffnet.

»Gut«, ein zufriedenes Lächeln erhellte Jonas’ Gesicht, »dann kommen wir zur Technik.« Er platzierte seine Finger auf dem grünen Filz und ließ den Queue darübergleiten. Vor und zurück. Er veränderte die Fingerstellung und schob den glatten Schaft wieder darüber. Es war verwirrend. Es war erotisch. Erik nickte konzentriert, lenkte den Blick dahin, wohin Jonas zeigte, Ellenbogen, Schultern, Finger, Augen, Ball. Zweifellos war interessant, was Jonas dazu erklärte, doch es kam nicht in Eriks Hirn an, das vom wohligen Rauschen der Erregung durchgespült wurde.

Dann schien die Einführung in das Spiel beendet und erst jetzt bemerkte Erik, dass er nicht der einzige ahnungslose Schützling gewesen war, für den Jonas alles erklärt hatte. Den Kopf von Wissen schwer gefüllt lehnten sich die Mädchen wieder gegen die Wände und Erik hätte sonst was darum gegeben, ihre Schädel knacken zu können, um die neuen Informationen daraus zu löffeln. Hatten sie sich wirklich auf den Inhalt der Lektion konzentrieren können, obwohl Jonas mit nacktem Oberkörper vor ihnen herumgetanzt hatte?

Schließlich befand sich Erik wieder in der Ausgangsposition. Der weiße Ball blinzelte die Dreiecksformation herausfordernd an und wartete nur darauf, dass Erik ihm einen kräftigen Schubs verpasste. Umständlich legte er die Finger auf den Filz, wie es Jonas vorgemacht hatte, doch seine waren nicht so schön und …

»Nein … pass auf … so …« Jonas stellte sich neben Erik und zeigte ihm noch einmal, wie er die Finger positionieren musste, und weil sich Erik dumm anstellte, berührte er seine Hand, um sie korrekt zu platzieren. Dann packte er Eriks andere Hand und schob sie auf den Griff des Queues weiter nach hinten, umschloss sie behutsam mir seinen Fingern …

»Aua!«

Klonk. Plonk. Donkdonkdonk.

»Aaaahrg!«

Entsetztes Aufstöhnen in der Rosenhecke.

Erik folge den Blicken der Mädchen, die – ihre Hände auf ihre offenen Münder gepresst – einen Ausdruck reinen Schmerzes zeigten.

Zusammengekrümmt stand Jonas da, die Faust in den Schritt gepresst, die Adern an seinen Schläfen traten hervor. Er war rot im Gesicht, so rot.

»Du Vollidiot!«, herrscht er Erik an. »Willst du mich kastrieren?«

Der weiße Ball kullerte scheu unter dem Billardtisch hervor – und kam vor Eriks Schuhspitzen zu liegen.

 

GuteN …

 

 

 

Erik hockte so weit von der Theatergruppe entfernt, wie die Räumlichkeiten des Lokals zuließen, und zupfte am Etikett einer Flasche Bier. Musik und Puls hämmerten durch seine Adern und vermengten sich zu einem Rauschen, das langsam den Rhythmus verlor und Ruhe versprach.

Bis vor einer halben Stunde hatte Erik in seinem Leben noch keinen Tropfen Alkohol angerührt. Ein Geständnis, das ihm Marie nicht abnahm, die ihm rund zwanzig Minuten lang dabei zugesehen hatte, wie er in blindem Selbstzerstörungstrieb fünf Cola-Rum runtergekippt hatte. Unablässig hatte sie auf ihn eingeredet und Sachen gesagt, wie: »Er hat es nicht so gemeint … Ich halte dich nicht für einen Vollidioten … Ich glaube nicht, dass du ihn wirklich kastriert hast …«

Doch für Trost war Erik unempfänglich. Auch, wenn nicht er den Schlag in die Hoden abbekommen hatte, schmerzte sein Sack, umso mehr, je öfter er diese grauenhafte Szene in seinem Inneren abspulte. Hätte ihn nicht überrascht, wenn er auf der Toilette nachgesehen hätte, und nur noch roten Matsch in seinem Slip vorgefunden hätte.

Verdient hätte er es. Jawohl, verdient!

Wie konnte er nur! Erik war weiß Gott schon einigen Jungs über den Weg gelaufen, die einen saftigen Tritt in die Eier mehr als verdient hatten, aber Jonas? Der tollste, beste, liebenswerteste Mensch auf diesem Planeten? Der einzige Mann, dem Erik jederzeit die Eier abgeleckt hätte – ausgerechnet ihm – au, au, au!

Der Alkohol machte den Schmerz nicht weg, er machte die Demütigung nicht weg, er machte den Hass nicht weg, den Erik auf sich selbst verspürte, aber er vermischte alles zu einem Brei, den er schlucken konnte. Hart, scharf und kalt wäre er an den Brocken der Selbstverachtung erstickt.

Eigentlich hatte Erik sofort das Pub verlassen wollen, nach Hause laufen, sich im Bett verstecken, unter dem Bett, unter den Dielen, im Keller, unter der Erde, mit dem Erdkern verschmelzen … aber sein Körper hatte ihn nicht gehen lassen. Seine Selbstachtung hatte ihn nicht gehen lassen. Nicht das Zuviel, sondern das Zuwenig davon. Denn egal wie schlimm die Situation war, Erik wollte jede Sekunde in Jonas’ Nähe auskosten. Man hätte ihm die Gedärme aus dem Bauch reißen, und wie Girlanden aufhängen können, er wäre geblieben, nur um Jonas anschmachten zu können.

Aber nüchtern war das nicht mehr zu ertragen. Das ganze Leben war nicht mehr zu ertragen. Und Marie sowieso nicht. Niemals hätte Erik gedacht, dass er ein Mädchen – dass er überhaupt jemanden würde anschreien können, oder auch nur etwas unhöflicher wegschicken. Doch er konnte offenbar. Marie hatte heftig gezuckt und in ihren Augen hatte sich Wasser gesammelt, so heftig hatte er sie angefahren, ihn in Ruhe zu lassen.

Sie hatte genug Selbstachtung, das Lokal zu verlassen und nach Hause zu laufen.

Der Magen brannte und Säure blubberte immer wieder bis zum Hals hoch. Wenn Erik den Blick durchs Lokal schweifen ließ, kippte es manchmal ein wenig, wie bei einer Fahrt mit einem Karussell, aber mit einem Blinzeln stand alles wieder still. Dann sah er, wie die Theatergruppe mit Jonas an der Bar Spaß hatte. Sie hatten ihn vergessen oder straften ihn – zu Recht – mit Verachtung. Erik vermutete, dass sie jetzt, wo er ein Geächteter war, noch viel, viel mehr Spaß hatten als jemals zuvor. Karin stand Jonas mit einer Selbstverständlichkeit zur Seite, als wäre sie seine Frau.

Mit jedem Pochen im Kopf und im Herzen rückte die Gruppe ein bisschen weiter weg – bis sie auflachte. Dann riss sich Erik vom trüben Blick auf die Flasche los, zuckte hoch, blinzelte den Schwindel weg …

So schlimm konnte der Schlag nicht gewesen sein, wenn Jonas seelenruhig an der Bar hocken und schallend lachen konnte. Vielleicht hatte sich der Vollidiot gar nicht auf den Stoß in die Weichteile bezogen. Vielleicht war es eine grundsätzliche Feststellung gewesen, die endlich, endlich einmal hatte ausgesprochen werden müssen.

Erik leerte die Bierflasche in einem Zug, stellte sie unauffällig auf den Nebentisch und bestellte noch eine Cola-Rum, nein, gleich zwei, seine Begleitung komme gleich. Die Kellner interessierten seine Rechtfertigungen herzlich wenig. Erstens bediente ihn sowieso fast jedes Mal ein anderer. Zweitens war ihnen egal, ob sich jemand abschießen wollte. Drittens hatten sie keine Nerven, seinen umständlich konstruierten Erklärungen zu folgen, vor allem, als sich Erik mit jedem weiteren Glas intensiver auf eine deutliche Aussprache konzentrieren musste. In einem Anflug von alkoholbedingtem Größenwahn dachte Erik, dass Jonas den Vollidioten zurücknehmen würde, wenn er hören könnte, wie eloquent er sich mit dem Personal unterhielt.

Ob Erik jetzt den Mund vor Jonas aufbrächte? Alkohol löst Hemmungen und vor allem die Zunge. Sagte man zumindest. Also müsste Erik, rein theoretisch natürlich, mehr zustande bringen, als ein stummes ›A‹. Aber das würde er nie herausfinden, denn Erik würde den Teufel tun, sich zu den anderen zu gesellen. Der Geächtete konnte im Land bleiben, aber er musste sich nicht zwingend auf den Marktplatz stellen.

Wieder ein Auflachen. Der scharfe, kalte Speer des Ausgeschlossenseins trieb sich tiefer in Eriks Brust. Die Sehnsucht, dazuzugehören, trieb ihm Tränen in die Augen.

»Allergie«, erklärte er dem Kellner tapfer, als dieser die beiden Cola-Rum abstellte. Jetzt wäre Erik gerne umarmt worden. Jetzt hätte er sich so gerne, so unerträglich gerne, in Jonas’ Arme geschmiegt. Er wollte gehalten werden, getröstet. Er wollte, dass ihm jemand sagte, dass er ein liebenswerter Mensch war.

Warum hatte er Marie weggeschickt? Sie hatte lieber das Lokal verlassen, als sich der Gruppe anzuschließen. Das war doch voll loyal.

Erik setzte ein Glas an die Lippen und kippte den Inhalt in einem Zug runter. Die Übelkeit schlug ihm mit der Faust in den Magen, aber er hielt tapfer durch. Das Lokal wurde zum Karussell und diesmal half es nicht, zu blinzeln. Die Musik klang gleichzeitig wie von weit her und tief in Eriks Kopf. Jetzt war – fast – alles egal. Das Herz war so schwer, dass es sich nicht mehr sorgen konnte, die Gedanken so träge, dass sie im Morast der Schuld verendeten. Erik erreichte das Vorstadium zum Einzeller. Er war fast glücklich fasziniert vom Rauschen seines eigenen Blutes und davon, wie weich, wie verdammt weich und angenehm sein Unterarm war, auf den er die Stirn gebettet hatte. Seine Nasenspitze berührte die Tischplatte, und minutenlang erreichte Erik ein Stadium, in dem es nur Sein gab. Dann realisierte er, dass dieses angenehm warme Gefühl auf seinen Lippen Speichel war, sein eigener Speichel, der unter seinem Mund bereits eine Pfütze gebildet hatte.

Erbärmlich, dachte Erik, aber es fühlte sich nicht erbärmlich an. Vielmehr war es so, als säße in ihm ein vollkommen klarer, nüchterner Erik und beobachte und kommentiere seinen Zustand. Er sagte monoton so Dinge wie: Du hockst in einem Pub. In einer Ecke. Allein. So groß ist das Lokal nicht, aber im Abstand von zehn Metern ist niemand mehr da. Ich glaube, sie ekeln sich vor dir, weil du so ein jämmerliches Bild abgibst. Die Leute an der Bar haben Spaß. Sie lachen wieder auf. Du bist denen egal. Niemand kümmert sich um dich. Apropos, irgendwie musst du heute Nacht noch nach Hause kommen. Mama und Papa werden über deinen Zustand nicht glücklich sein. Na ja, sie sind bisher eh verwöhnt worden. Du bist viel zu brav, wenn du nicht gerade Göttern die Eier zermatschst. Da steht noch eine unangetastete Cola-Rum. Wenn schon, denn schon. Die kannst du nicht stehen lassen, das wäre Verschwendung. Außerdem könntest du dann viel länger und intensiver in diesem bamstigen Zustand bleiben. Der ist doch eigentlich recht kommod. Du musst nur den Kopf heben. Jetzt die Hand ausstrecken. Das Glas nehmen, genau, jetzt anheben. Die Lippen sind etwas weiter links, richtig, und jetzt … du musst das Glas schon etwas höher …, kippen, genau … und nun schlucken, einfach reinlaufen lassen. Gute N…

 

Kommt das öfter vor?

 

 

 

Jemand würgte grässlich. Kaltes Licht blitzte gelegentlich zwischen Eriks Lider. Die Knie schmerzten. Es war kalt. Eisig. Die Kleidung klebte klatschnass an der Haut. Mit tauben Fingern versuchte Erik, sie sich vom Leib zu reißen, aber er kriegte den Stoff nicht richtig zu fassen. Sein Kiefer steckte in einer Art Sperre. Etwas Raues wanderte seine Zunge hoch, dann wieder das würgende Geräusch. Wärme. Wohlige Wärme. Schmerzen im Magen. Wieder ein wenig Klarheit. Etwas Weiches, Warmes legte sich gegen Eriks Stirn, stützte ihn. Wärme floss über Eriks Kehle hoch. Druck gegen die Brust. Kalte Keramik. Säure auf der Zunge zog weitere Wärme hoch.

»Ja, brav«, sagte jemand beruhigend.

Erik wurde umklammert. Der Magen krampfte. Immer öfter nun. Mit jedem Schwall kehrte Klarheit zurück. Und Schmerz. Körperlicher Schmerz. Erschöpfung. Die Klarheit blieb nie lange, aber lange genug, um in den geblinzelten Augenblicken zu begreifen, wo er war. Auf einer Toilette. Nicht daheim. Es stank. Würzig nach Urin. Süß nach Cola. Scharf nach Alkohol. Säuerlich nach Erbrochenem. Aber da war noch ein Geruch. Erik kannte ihn, konnte ihn aber nicht zuordnen. Er mochte ihn und für Minuten wurde es zu seiner Mission, herauszufinden, was verdammt noch einmal hier so gut roch, in diesem Elend, in diesem Tal der Schmerzen.

»Noch einmal, komm«, säuselte die beruhigende Stimme. Jetzt nahm Erik das Gewicht wahr, das ihn umfing. Jemand hielt ihn umklammert, stützte ihn, hielt seinen Kopf, wischte mit dem Daumen über das verklebte Kinn und die verklebten Wangen.

Erik versuchte, der Aufforderung zu folgen. Er wollte der Aufforderung nachkommen. Nicht nur, weil sie so freundlich formuliert wurde, sondern weil ihn das Erbrechen erleichterte. Aber er konnte gerade nicht, als hätte sein Magen beschlossen, sich nicht jedem Willen sklavisch zu beugen.

In Eriks Kopf klang es völlig klar, als er »Ich kann nicht« sagte, doch das, was er hörte, seine eigene, fremde Stimme, nuschelte nur eine Ansammlung sinnloser Laute.

Die Hand wanderte von der Stirn abwärts auf Eriks Kiefer. Derselbe Klammergriff wie vorhin. Sperriger Druck gegen die Lippen, raues Streichen über die Zunge, dann zog sich der Magen wie von selbst hoch. Erik schloss die Augen und ließ sich gehen. Für Momente lösten sich alle Widerstände, dann kam wieder der Krampf.

Gelegentlich kam jemand herein, fragte etwas, sagte etwas, und nur nach und nach begriff Erik, dass es jemand aus der Theatergruppe war. Und dann wurde ihm bewusst, was er irgendwie die ganze Zeit über schon gewusst hatte: Jonas war bei ihm. Er hielt ihn fest. Er steckte ihm den Finger in den Mund. Er säuselte Trost und Aufforderungen. Er streichelte ihm über den Kopf.

Erik verfluchte seinen Zustand, weil er alles hatte, was er sich immer gewünscht hatte, und es nicht genießen konnte. Nüchtern hatte er in Jonas’ Armen liegen wollen, und, mein Gott, er hätte mehr als einen Finger in den Mund genommen. Aber alles, was Erik fühlte, war Schmerz und die klamme Kleidung, Scham und Dankbarkeit. Er rutschte in Jonas’ Schuld, mit jeder Sekunde tiefer. Dass Jonas ihn rettete, fühlte sich nicht annähernd so gut an, wie sich Erik das immer vorgestellt hatte. Es war so beschämend und demütigend.

»Schulligung«, nuschelte er, erbrach sich wieder und bemerkte, dass er heulte. Gott wie elend konnte sich ein Mensch noch fühlen? Er war doch schon durch die Hölle gegangen. Er litt doch schon. Jetzt konnte es doch dann mal gut sein.

»Was machst du nur«, sagte Jonas – es war eine Feststellung, als wüsste er sehr genau, was Erik da getan hatte, und warum er es getan hatte. Und weil er es so nett sagte, so verständnisvoll, tat es Erik noch viel, viel mehr leid. Er wollte vor Jonas nicht heulen, aber sein Körper gehörte ihm gerade nicht. Nicht einmal die Seele gehörte ihm. Er war eine Geisel des Alkohols, und der befahl nun, dass Erik schluchzen sollte wie ein Kind und unentwegt irgendwelche Worte des Bedauerns lallen. Dieses trotzige, todtraurige Kind genoss auch noch, in all seiner Scham – und dafür würde es sich noch ewig verachten –, wie fürsorglich Jonas war, wie er ihm die Wangen streichelte, durchs Haar fuhr und ihn dann und wann umarmte.

»Das wird wieder … alles ist Okay … heute geht es dir noch gut im Vergleich zu morgen …«

Jonas machte keine Vorwürfe, er schimpfte nicht, er drohte nicht. Immer wieder umfasste er Eriks Gesicht und blickte ihm prüfend und tief besorgt in die Augen. »Wie geht es dir?«

Eriks Antwort wandelte sich allmählich von »Pfiffm« zu »Beschissen.« Bei all dem Elend, den Schmerzen, der um sich greifenden Scham, kitzelte der Bauch, wenn Jonas ihm so direkt in die Augen schaute. Dann speisten sich die Tränen aus einem anderen Pool. Nicht Reue, sondern Einsamkeit.

Irgendwann – mittlerweile konnte Erik die Augen offenhalten, er konnte eigenständig sitzen, er konnte Worte hervorpressen, die man zumindest nach dem dritten Nachfragen verstand – erinnerte er sich, dass er Jonas die Liebe erklärt hatte. Richtig greifbar war diese Erinnerung nicht. Wie die glitschige Seife eines vagen Gedankens, mehr ein Gefühl. Die Vorstellung, dass er Jonas halb bewusstlos das Herz geöffnet hatte, ließ Erik fast verbrennen. Aber er wusste eben nicht sicher, ob er es getan hatte. Aber wenn er nachfragte, und es gar nicht gesagt hatte, würde Jonas mit der Frage davon erfahren.

Erik wandelte durch das nächste Zimmer der Hölle. Die von jetzt an immerwährende Unsicherheit, dieses nagende Gefühl, dass er Jonas die Liebe gestanden haben könnte, aber eben nicht die Gewissheit, dass er es getan hatte. Und das war ja nicht irgendein Geständnis, nichts, das man so dahinsagte und das keinerlei Bedeutung hatte. Wie Jonas darauf reagierte, war essentiell. Wenn er nicht reagierte, war es Ignoranz, und das war wieder etwas anderes, als überhaupt kein Liebesgeständnis erhalten zu haben.

Erik schlug den Kopf gegen die Fliesen. Ein Teil von ihm schwor, nie wieder Alkohol zu sich zu nehmen, ein anderer Teil wünschte sich diesen Zustand des Nichtseins herbei, der ihn für Momente aus dem Bewusstsein gehoben hatte. Denn je klarer Erik wurde, und von klar war er noch meilenweit entfernt, umso besser erinnerte er sich an das, was dem Besäufnis vorausgegangen war. Reue war ein hässlicher Rahmen für ein Bild, das man von sich haben konnte.

Irgendwann verlagerte Erik, auf Jonas’ Vorschlag hin, seinen Platz von der Toilette an einen Tisch. Jonas stellte ihm ein Glas Wasser nach dem anderen vor die Nase. Oder war es stets dasselbe? Erik hatte jedenfalls ständig einen vollen Krug vor sich, obwohl er immer wieder daraus trank.

Irgendwann hörte der Raum auf, sich zu drehen. Von einer Sekunde zur anderen stand er still – und das fühlte sich nicht gut an, denn ab da ging die Übelkeit erst richtig los. Aber keine, die erbrochen werden wollte, sondern eine brutale Geißel.

»Ich will sterben«, sagte Erik. Die ersten drei klaren Worte, die er in Jonas’ Gegenwart hervorbrachte.

»Willst du nicht«, meinte Jonas lapidar, als ginge es bloß ums Wetter.

Erik ließ den Blick durch das fast leere Lokal schweifen. »Wo sind die anderen.«

»Längst daheim – wo du auch sein solltest.«

»Es tut mir …«

»Hör auf, dich zu entschuldigen, das macht es auch nicht besser.«

»Entschuldi… tut mir … hmpf.« Erik senkte den Blick und bemerkte, dass Jonas mit dem Bein wippte. Sein ganzer Körper war angespannt, er verknotete seine Finger, sein Blick schmetterte hektisch durch den Raum und er saß da, als wollte er jeden Moment hochspringen und weglaufen. Immer wieder holte er Luft, um etwas zu sagen, und stieß sie wortlos wieder aus.

Er will nach Hause, dachte Erik, ich halte ihn auf, ich nerve ihn. »Wie spät ist es?«

Jonas zupfte sein Smartphone aus der Gesäßtasche und blickte aufs Display. »Halb vier.«

Erik wurde heiß. »Oh.«

»Deine Eltern …«, begann Jonas, presste die Lippen zusammen und musterte Erik. »Fragen die sich, wo du bleibst?«

Ehrlich gesagt … Erik wusste es nicht. Er war noch nie aus gewesen. Er hatte noch nicht ein Mal woanders als zu Hause übernachtet. Vermutlich fiel es auf, wenn er nicht daheim war. Andererseits waren seine Eltern viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Gut möglich, dass sie noch gar nicht bemerkt hatten, dass er nicht daheim war. Beide kämpften mit Einsparungsmaßnahmen und Umstrukturierungen in den Firmen, in denen sie angestellt waren. Seit Jahren war das Thema Nummer Eins. Dass Erik die Hauptrolle in einem Theaterstück spielte, interessierte sie nicht. In ihren Augen war das nichts Handfestes. Gedichte, Bücher, Musik, Zeichnungen … all das war für sie nichts Reales.

Aber vielleicht war für sie ein Rausch etwas Handfestes, ein Sohn, der die halbe Nacht wegblieb und sich halb ins Koma soff. Ein Sohn, der schwul war und in den Lehrer verknallt. Irgendetwas davon musste sie doch beeindrucken, oder?

»Nein«, sagte Erik. »Was mich betrifft, haben sie das Fragen abgestellt, als ich darauf Antworten geben konnte.« Als Jonas ihn betroffen anschaute, fügte er hinzu. »Da wurde es für sie anstrengend.«

Oh, verflucht, warum klang das so, als wäre er das Opfer der Nation? Erik hatte doch alles. Zumindest alles, was sich ein Siebzehnjähriger wünschen konnte, von Sex und Liebe und Freunde abgesehen. Und das mit dem Ausgehen – die Eltern hatten es nie verboten. War es seltsam, dass Erik nie auf die Idee gekommen war, dass Ausgehen eine Option war?

»Heißt das, wenn du in den Morgenstunden heimkommst und riechst wie ein Schnapsladen, ist ihnen das … egal?«

Jonas wirkte richtig betroffen und Erik geriet in Versuchung, die Opferkarte auszuspielen. Aber auch hier: Er wusste es nicht. Möglich, dass es seine Eltern entsetzte und sie ihn mit Hausarrest bis ans Lebensende bestraften. Möglich aber auch, dass sie sich dachten: Endlich, wir haben schon geglaubt, es ist ein Alien. Möglich aber auch, dass sie gar nicht reagierten, es einfach hinnahmen oder ignorierten.

Aber wollte Erik zugeben, dass er Jungfrau war? In jeder nur erdenklichen Hinsicht? (Vom ersten Vollrausch abgesehen.) Sollte Jonas wirklich erfahren, dass Erik noch nie aus gewesen war? Noch nie gesoffen hatte? Und dass er zwar gänzlich ohne sexuelle Erfahrung war, aber Jonas jederzeit ohne mit der Wimper zu zucken den Schwanz lutschen würde? Nun, das mit der Wimper … ihm würde vor Aufregung das Herz aus dem Hals Springen und seine Erektion würde selbst eine robuste Lederhose aufschlitzen, aber … doch, ja, bekäme er die Chance, würde er nicht zögern. Das war ja nichts annähernd so Schlimmes, wie reden. Es gab tausende, vielleicht sogar Millionen Arten, das Falsche zu sagen, dagegen waren die Gefahren, beim Blasen etwas falsch zu machen, geradezu grotesk gering.

Erik blickte Jonas auf die Lippen. Wie war die Frage doch gleich gewesen? »Ich bin kein … Ghettokind oder so … sie haben einfach nur viel um die Ohren. Wirtschaftskrise.«

Jonas hob die Augenbrauen.

»Es beruht auf Gegenseitigkeit«, setzte Erik nach. Unter Jonas’ Blick fiel ein Blatt nach dem anderen ab. »Ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht. Wir kennen uns kaum. Seit ich auf die Welt gekommen bin, haben wir uns irgendwie auseinandergelebt.« Oh, Gott! Was für ein Segen war doch der übliche Mutismus in Jonas’ Gegenwart. Sollte das ein Versuch sein, witzig und cool zu wirken? Wenn ja, wäre es entschieden besser, Erik würde auf der Stelle wieder zur verklemmten Spaßbremse.

»Kommt das öfter vor?«, fragte Jonas.

Was? Grottenschlechte Witze zu reißen?

»Dass du dich derart volllaufen lässt«, präzisierte Jonas.

Mit einem Schlag rutschte Erik in die Realität zurück, als wäre sein Wunsch in Erfüllung gegangen, wieder uncool und unlustig zu sein. Als er den Mund öffnete, war er nicht sicher, ob auch ein Ton herauskommen würde. »Ich wollte dir nicht wehtun … da unten.«

Jonas begann zu grinsen. »Ach was … bin selbst schuld, wenn ich mit einem Anfänger ohne Suspensorium Billard spiele.«

Erik schluckte. Dass er ein Anfänger war, war Fakt. Das konnte niemand ernsthaft bestreiten. Dennoch tat diese Bemerkung abartig weh.

Ein Schatten zog über Jonas’ Gesicht. »Hast du dich etwa deshalb volllaufen lassen? Weil du mir ein Halleluja beschert hast?«

Schuldbewusst senkte Erik den Blick.

»Oh nein!« Über den Tisch hinweg griff Jonas nach Eriks Händen. »In so einem Fall musst du mir einen ausgeben, nicht dir selbst! Ich meine – dir selbst kannst du doch eh nicht verzeihen, egal wie viel du säufst. Aber bei mir wärst du mit einem Bier reingewaschen. So läuft das, Okay?«

Machte sich Jonas über Erik lustig?

»Muss ich mir Sorgen machen, dass du dich bei der nächsten Gelegenheit ins Koma säufst?«, fragte Jonas.

Er machte sich Sorgen? Oder besser: Er zog in Erwägung, sich Sorgen zu machen, wenn Erik die Bereitschaft signalisieren würde, abzustürzen? Das klang zu verlockend.

»Ich habe bis heute noch nie Alkohol getrunken«, gestand Erik. Seine Wangen begannen zu glühen.

Überrascht kräuselte Jonas die Stirn. »Ernsthaft?«

Noch immer hielt er Eriks Hände. Warm. Sicher. Vertraut. Das Pochen der Aufregung kam nur schleppend, wie ein verwundetes Tier, und Erik wusste schon jetzt, dass ihn dieser Moment, diese Berührung, obwohl – weil – sie so beiläufig und unspektakulär war, sein ganzes Leben lang begleiten würde. »Ist das unvorstellbar?«

Jonas musterte ihn nachdenklich und knetete seine Hände. »Dass du dich nur wegen dieses Fauxpas betrunken hast? – Scheiße, Erik, ich trau dir tatsächlich zu, so naiv zu sein.«

Was für eine Ohrfeige! Was für ein Stich ins Herz! Was für eine Beleidigung! Natürlich war Erik naiv, das wusste er selbst, aber man konnte ihm dennoch kaum ein schlimmeres Vergehen unterstellen, abgesehen von Jungfräulichkeit.

»Ich glaub, es ist an der Zeit, dich nach Hause zu bringen«, meinte Jonas schließlich, drückte abschließend noch einmal Eriks Hände und stand auf.

 

Soll ich mit hochkommen?

 

 

 

Erik hockte im Taxi wie in einem Raumschiff. Neben ihm auf der Rückbank: Jonas. Der Taxifahrer lenkte den Wagen sanft aber mit Tempo in eine enge Kurve und Erik wurde gegen Jonas gedrückt. Fliehkraft, alkoholbedingte Ergebenheit und Sehnsucht nach Nähe – Erik hatte nicht die geringste Chance, sich dagegenzustemmen.

Jonas schenkte ihm ein nachsichtiges Lächeln, das Erik gerne als Sympathie gewertet hätte – oder Liebe. Aber die verdiente Erik nicht, nicht jetzt. Er zockte Jonas ab, das war die düstere Wahrheit zum Abschluss eines furchtbaren Abends, oder, mittlerweile, eines dämmernden Morgens.

Noch nie hatte Erik gelogen. Zumindest nicht aktiv. Er hatte vielleicht mal ein Ja mit einem Nein verwechselt oder etwas nicht mehr so genau gewusst, aber er hatte noch nie eine neue Wahrheit erfunden. Doch nun hatte er behauptet, er wohne in der Wolf-Müller-Siedlung, der heruntergekommensten Gegend der Stadt, in der die Wohnhäuser trostlos wie Silos in einer bedrohlichen Formation herumstanden. In diesem Bezirk der Stadt nannte man Park, was andernorts Bürgerinitiativen auf den Plan gerufen hätte. Auf Heranwachsende übte dieses Viertel ob seines Potentials für Mutproben eine magische Anziehungskraft aus. Angeblich wurde dort mindestens einmal im Monat jemand umgebracht.

Der perfekte Rahmen für einen nicht naiven Typen mit Alkoholproblemen. Diese Unterstellung nagte. Erik wollte Jonas nicht recht geben, indem er ihn direkt vor das niedliche, in saftiges Grün gepflanzte, Elternhaus lotste, dessen üppiges Carport von Rosen mit Adelstitel umrankt wurde und zwei auf Hochglanz polierten Mittelklassewagen Unterschlupf bot. Nichts war unromantischer als der Sprössling eines sich selbst überdrüssigen Vorstadtehepaares, der sich wegen einer Lappalie halb ins Koma soff.

Doch das vom Leben wenig begünstigte Genie, dessen Mutter im Delirium vor der Glotze dahinmoderte und dessen Vater sich noch vor der Geburt aus dem Staub gemacht hatte, und das sich dennoch als Cyrano in die Herzen des Publikums spielte … Ließ das nicht das Herz eines ambitionierten Lehrers höher schlagen? Erik, der geschundene Poet, der seinen Kummer in Alkohol ertränkte, weil er Anerkennung nicht verkraften konnte und sich schlechter, oh so viel schlechter als seine schnieken Mitschüler fühlte?

Doch das war nicht der einzige Grund. Eriks Elternhaus lag nur wenige Straßen vom Lokal entfernt – mit dem Taxi vielleicht eine Fahrt von einer oder maximal zwei Minuten. Die Wolf-Müller-Siedlung allerdings lag am anderen Ende der Stadt. Rund zwanzig Minuten Fahrt, die Erik mit Jonas auf der Rückbank des Taxis verbringen konnte. Eine halbe Ewigkeit. Ein Zeitraum, in dem weiß Gott was passieren konnte. Das Romantikareal in Eriks Hirn lief auf Hochtouren.

Und Jonas lächelte.

Wann immer Erik in einer Kurve gegen ihn gedrückt wurde, lächelte er. Die Grübchen an den Wangen jagten Eriks Puls hoch, doch der Blick auf das Taxameter schnürte ihm die Kehle zu. Jonas würde tief in die Tasche greifen müssen. Und das alles, weil Erik eine Aura der Verwegenheit aufbauen und das Image des Naivlings abschütteln wollte. Erik würde mindestens zwei Stunden durch den Morgen heimwärts latschen müssen – in seinem Zustand genug Strafe für den Abend, die Nacht, die Lüge.

»Ich wusste gar nicht, dass du hier wohnst«, sagte Jonas betroffen, als sich das Taxi dem düsteren Viertel näherte. Die Schlieren von rostigen Fensterbrettern und lieblos in Balkone gepferchte Satellitenschüsseln ließen die Häuser noch verwahrloster erscheinen. Eriks Magen krampfte sich zusammen und er war drauf und dran, darum zu bitten, schleunigst von hier zu verschwinden. Stattdessen zeigte er wahllos auf eines der Häuser.

»Da. Da ist es.«

Jonas neigte sich zu ihm, um durch das Fenster auf seiner Seite die Häuserfront hochzusehen.

»Dreizehnter Stock«, sagte Erik. Seine Nasenspitze war Jonas’ Ohr so nahe, dass er es beinahe streifte. Am liebsten hätte er die Arme um Jonas geschlungen und ihm die Lippen in den Nacken gepresst.

»Dreizehn? Wirklich?«

Erik nickte bemüht betroffen und blickte ebenfalls die Hausfassade hoch, so dicht an Jonas’ Wange, so himmlisch dicht – er bräuchte sich nur ein wenig neigen, um sich an ihn zu schmiegen. Mundwinkel an Mundwinkel, so würden sie sich finden, ihre Lippen, und wie selbstverständlich würden sie in einen Kuss sinken …

»Elf!«, rief Erik rasch, als ihm halb bewusst wurde, dass diese Häuser keine dreizehn Stockwerke besaßen. Hitze breitete sich von seinem Bauch weg aus und rasch zählte er die Balkone … »Ich meinte natürlich zehn.« Oh, verdammt.

Aus dieser unerträglichen Nähe blickte ihm Jonas in die Augen, die Brauen zu einem misstrauischen Schwung gehoben. Zu Recht.

Erik versuchte, sich eine Rechtfertigung für seinen Irrtum zurechtzuzimmern, doch sein Gehirn, das ohnehin schon auf Sparflamme lief, ruckte noch ein oder zwei Mal, dann erlahmte es restlos. Erik wünschte, die Zeit bliebe stehen.

»Soll ich mit hochkommen?«, fragte Jonas.

Mit hochkommen? In Filmen war das ein Synonym für Sex.

»Wegen deiner Eltern, meine ich.«

Beschämt senkte Erik den Blick und schüttelte den Kopf. Der Gossenpoet spielt die Gewalttätigkeit seiner alkoholkranken Eltern herunter.

»Sicher?« Behutsam schob Jonas eine Hand in Eriks Nacken, legte den Kopf schief und versuchte, ihm ins Gesicht zu sehen. »Es ist keine Schande, Hilfe anzunehmen, Okay?«

Erik nickte stumm. Das Gewicht der warmen Hand ließ seine Augenlider flattern und rang ihm ein Seufzen ab, bei dem ihm die Brust zu platzen drohte.

»Sieh mich an«, bat Jonas leise – und Erik gehorchte. »Ich hoffe, du weißt, dass du dich jederzeit an mich wenden kannst, wenn du Probleme hast. Egal worum es geht. Ich bin für dich da. Ich bin auf deiner Seite.«

Eriks Augen begannen zu brennen. Er musste blinzeln, aber er schämte sich für dieses Bedürfnis und binnen Sekunden flüchtete sein ganzes Selbst in die banale Problematik der Augenbefeuchtung.

»Und mach dir bitte keinen Kopf, wegen der Sache«, Jonas deutete mit einem kurzen Nicken in seinen Schritt. »Was mich betrifft, ist das längst vergessen, Okay?«

Immer noch kämpfte Erik gegen das Blinzeln an. Er konnte es nicht einfach tun, weil es zu einem bewussten Akt wurde und damit Bedeutung erlangte. Tat er es auf die falsche Art, würde er sich verraten, seine Lüge, seine Gefühle – oder er würde Jonas signalisieren, dass er ihm nicht glaubte. Im richtigen Moment auf die richtige Art zu blinzeln wurde zum Dreh- und Angelpunkt der Welt. Die Augen brannten immer schlimmer.

»Alles in Ordnung mit dir?« Jonas streichelte mit seinem Daumen – gedankenverloren? – bewusst zärtlich? – Eriks Nacken und wie von selbst klappten endlich die Augenlider zu.

Erik nickte.

Als würde er ihm nicht recht glauben, schickte Jonas einen kritischen Blick über Eriks Stirn, seine Augen, seine Lippen, musterte flüchtig das romantische Hemd und verfing sich im gewagt tiefen Ausschnitt. Als stünde auf Eriks flacher Brust ein Befehl, straffte Jonas plötzlich die Schultern und zog die Hand aus seinem Nacken.

»Gib mir dein Handy.«

Was? Eriks Herz setzte für einen Schlag aus.

»Du hast doch ein Handy, oder?«

Hastig zupfte Erik sein Telefon aus der Gesäßtasche und reichte es Jonas. Was hatte er damit vor? Doch nicht etwa … die Eltern anrufen? Panisch schaute Erik dabei zu, wie Jonas konzentriert auf den Tasten herumdrückte.

Er berührte Eriks Hab und Gut!

»Wenn irgendetwas ist …«, begann Jonas und streckte Erik das Telefon wieder hin – doch als der danach greifen wollte, zog er es flink zurück –, »… egal was, rufst du mich an! Verstanden?«

Erik nickte und Jonas legte ihm das Handy sanft in die Hand. »Du findest meine Nummer unter ›Jonas‹.«

Das Telefon war noch warm von seiner Berührung.

»Erik?«

Mit großen Augen glupschte Erik Jonas an.

»Jederzeit! Okay?«

Ergriffen blickte Erik auf seinen nun wertvollsten Besitz in seinen Händen und nickte.

»Das ist übrigens meine private Nummer, ich wäre dir also sehr dankbar, wenn du sie nicht in der Schule herumreichst.«

Die private Nummer? Was für ein Ritterschlag!

»Steigt jetzt jemand aus? Oder wie gehts weiter?«, brachte sich der Taxifahrer in Erinnerung.

»Ich ruf dich an«, sagte Erik hastig, vom aggressiven Tonfall des Taxifahrers geweckt, und tastete nach dem Türgriff. »Versprochen.«

»Halt die Ohren steif, Aramis«, rief ihm Jonas hinterher, dann fiel die Autotür ins Schloss.

Erik stolperte über seine eigenen Füße und fing sich im letzten Augenblick, die Hände panisch um das Telefon gekrallt. In der schalen Hoffnung, Jonas hätte diesen peinlichen Vorfall nicht bemerkt, drehte er sich um und … winkte. Er winkte ihm. Wie peinlich! Wie idiotisch!

Jonas lachte, zwinkerte ihm zu, nickte, dann lehnte er sich zurück und das Taxi brauste davon.

Wie von Gott berührt, stand Erik da und starrte dem Auto hinterher, dann wandte er sich dem Telefon in seiner Hand zu und klickte neugierig durch die Kontaktadressen. Vor Scham begann er zu glühen. ›Mama‹, ›Papa‹, ›Oma‹, ›Opa‹, ›Omi‹, ›Opi‹, ›Jonas‹. Die typische Telefonliste eines verwahrlosten Kindes. Klar. Jetzt wusste Jonas, dass Erik keine Freunde hatte. Stillschweigend verfluchte er sich, dass er seine Eltern und Großeltern nicht unter ihren Vornamen eingespeichert hatte. Wobei – unter ›Brigitte‹, ›Richard‹, ›Selma‹, ›Franz‹, ›Anna‹ und ›Josef‹ vermutete man eher eine Bingo-Gruppe als eine Gang aus dem Randbezirk. Vielleicht sollte Erik ihre Namen ändern – in Gangsternamen. ›Miss M‹, ›Big D‹, ›Sell Ma‹, ›O-Pi-Frank‹ … ach verflucht. Wie oft würde Jonas denn in die Gelegenheit kommen, seine Kontaktdaten zu durchstöbern? Der Schaden war bereits angerichtet!

Etwas Nasses traf Eriks Scheitel, dann senkte sich der graue Schleier harmonischen Prasselns über die Dächer und Straßen der schlummernden Stadt. Regentropfen fraßen dunkle Flecken in der Größe von Zwei-Euro-Stücken in den Asphalt – platsch, platsch, platsch – bis alles mit einer glänzenden Patina überzogen war.

Behutsam stopfte Erik Hände und Telefon in die Hosentaschen, zog die Schultern hoch und machte sich auf den Heimweg.

 

Sieht nicht aus wie Rocky.

 

 

 

Sie standen plötzlich vor ihm. Erik hatte so verbissen zu Boden gestarrt, während er gegen den Regen, die Müdigkeit, den Schmerz und die Übelkeit anmarschierte, hatte sich wie in Trance auf die kleineren und größeren Abweichungen im Asphalt unter seinen Schritten konzentriert, sodass er sie nicht hatte auf sich zukommen sehen.

»Was haben wir denn da?«

Vier oder fünf Kerle im Alter zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig bauten sich vor Erik auf. Sie hatten offenbar zu viel von allem, vor allem von Testosteron, Langeweile und Alkohol.

»Was ’n das für ’n Aufzug, bist du Clown, oder was?« Sie lachten. Mindestens zwei von ihnen benötigten etwas mehr Platz zum Stehen und torkelten beim Auflachen gefährlich rückwärts.

»Cyrano«, rutschte Erik im Reflex über die Lippen. »Ich bin kein Clown … das ist Cyrano … ich bin Schauspieler …«

»Zürrawas?«

»Schauspieler? Wie Rocky?«

»Sieht nicht aus wie Rocky.«

»Du meinst Stallone! Stallone ist Schauspieler! Rocky ist nur die Rolle, Mann!«

»Sieht aber nicht aus wie Stallone.«

»Sieht aus wie ’ne Schwuchtel.«

Erik schluckte und machte unauffällig einen Schritt rückwärts. »T-theater. Ich sp-spiele im Theater …«

»Theater? So wie Romeo und Julia?«

Erik nickte vorsichtig. »Nur dass ich Cyrano …«

»Romeo und Julia ist doch ein Film, Mann! Der verarscht uns doch bloß.«

»Romeo und Julia ist für Schwuchteln!«

»Das ist von Shakespeare, du Banause.«

»Shakespeare ist ’ne Schwuchtel, so wie der da!«

Erik machte einen weiteren Schritt zurück. Alles, was ihm in diesen Sekunden durch den Kopf ging, war: Sie dürfen mir nicht das Handy wegnehmen!

»Blödsinn. Romeo und Julia ist von DiCaprio.«

»Du bist echt ein Vollhonk!«

»DiCaprio ist auch ’ne Schwuchtel …«

Erik wankte zwei weitere Schritte rückwärts, dann drehte er sich rasch um und rannte, was das Zeug hielt. Nicht gerade einfach mit Schwindel, rebellischem Magen, pochenden Kopfschmerzen und bleierner Müdigkeit.

»Hinterher!«, brüllte einer der Kerle. »Lasst ihn nicht entkommen!« Die Schritte der Horde näherten sich rasch.

Flink bog Erik in die nächste Seitengasse und rannte die Strecke, die er gekommen war, zurück. Der Regen peitschte ihm ins Gesicht und eine Sturmbö zerrte am verflucht weiten Hemd. Die Ärmel blähten sich wie Fallschirme. Wenigstens waren seine Verfolger ähnlich lädiert wie er selbst – ein hastiger Blick zurück zeigte ihm, dass zwei von ihnen in einem Abstand von rund zehn Metern über den Boden kullerten. Aber drei der Typen waren noch immer im Rennen – und zumindest einer von ihnen holte beängstigend rasch auf.

Als Erik wieder nach vorn blickte, stolperte er über seine eigenen Füße. Wild ruderte er mit den Armen, prallte gegen eine Hausmauer, schrammte mit der Schulter die raue Fassade entlang, der Stoff zerriss und er schürfte sich schmerzhaft die Haut ab. Im letzten Augenblick fing er sich.

»Renn, du Schwuchtel, renn!«, schrien seine Verfolger. »Wenn wir dich kriegen, …«

Erik schlug einen Haken um die nächste Häuserecke und prallte fast gegen eine alte Frau mit Regenschirm, die ihren Hund Gassi führte. Gerade so wich Erik zur Seite, bekam einen gefährlichen Linksdrall und kullerte in ein üppiges Gebüsch. Darunter hockte das Gerippe eines Fahrradständers, an den die rostigen Überreste vergessener Räder gekettet waren. Da ihn der Schwindel beim Versuch aufzustehen ein weiteres Mal zu Boden drückte, und die Schritte rasch näher kamen, kroch Erik panisch und auf allen Vieren unter das Gebüsch. Die Lederhose schützte seine Knie vor Schotter, Kronkorken und Glassplittern, aber die Handballen brannten wie Feuer.

Die Kerle hatten die Hausecke erreicht und hielten keuchend inne.

»Wo ist er?«

»Zeig dich, du feige Sau!«

Erik kauerte sich zusammen und wagte kaum zu atmen. Ein Kunststück nach dieser Rennerei. Um seine Kondition war es nicht gerade gut bestellt, vor allem nach dem Vollrausch. Die Lungen brannten und der Mund füllte sich mit metallischem Geschmack. Beim Versuch, das Schnaufen und Husten zu unterdrücken, musste Erik würgen. Ihm wurde schwarz vor Augen und er biss sich auf die Faust, um bei Bewusstsein zu bleiben.

»Habt ihr ihn verloren?«

»Weit kann er nicht sein!«

»Komm raus, du Schwuchtel! Wir finden dich sowieso!«

Die Kerle schlenderten auf Erik zu und strichen um das Gebüsch herum, so nah, so verdammt nah, dass die Schuhspitzen von einem nur eine Handbreit neben Eriks wippten. Es war eigentlich nicht möglich, dass sie ihn nicht sahen.

In der Hoffnung, so bliebe er für sie weiterhin unsichtbar, presste Erik die Augen fest zusammen. Bei Kindern funktionierte das.

»Weit kann er nicht sein!«

»Wenn ich den in die Finger krieg, dann …!«

»Genau! Wir dürfen nicht zulassen, dass sich die Schwuchtel in unserer Straße rumtreibt …«

»Mann, was hast du immer mit deinen Schwuchteln … bist fixiert oder was?«

Die anderen lachten dreckig.

»Ich bring dich um!«

Gerangel, über Schotter schürfende Schritte, Ächzen. Klang nicht so, als würden die Typen sich untereinander schonen.

»Hey! Mann! Lasst uns lieber den Clown suchen!«

»Hehe, bist wohl auf Clowns fixiert, hä?«

»Alter, du bist so hirnfrei!«

Wieder Gerangel, Stöhnen, Ächzen.

»Hört mal kurz auf! Hab was gehört!«, rief einer und innerhalb einer Sekunde herrschte Stille. Nur das Rauschen des Regens bedeckte die Gasse.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Kooky Rooster
Bildmaterialien: Kooky Rooster
Tag der Veröffentlichung: 26.04.2015
ISBN: 978-3-7396-0711-5

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