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Inhalt

 

 

Krankhaft Loyal

Basti und Jonas, beste Freunde seit Kindheitstagen, leben in der kuscheligen Nestwärme kleingeistigen Dorflebens. Stundenlang können sie über krude Verschwörungstheorien palavern, aber über das, was zwischen ihnen steht, verlieren sie kein Wort. Nie. Niemals. Und dabei bringen sie es auch noch fertig, das für eine Stärke zu halten.

 

Kussdefizit

Pauls Sehnsucht nach Küssen nimmt vernichtende Züge an. Er kann an kaum etwas anderes mehr denken und öfter, als ihm lieb ist, weint er sich deswegen sogar in den Schlaf. Leise. Heimlich. Damit sein Freund nichts davon merkt. Als er vor Sehnsucht nach Zärtlichkeit fast krepiert, trifft er sich mit Marius, einem Leidensgenossen aus einem Internetforum, der mit seinen siebenundzwanzig Jahren bereits davon überzeugt ist, in seinem Leben nie wieder zu küssen.

 

CoronaEin Film Noir mit Werbeunterbrechung

Martin: Ein blaugrauer Nachtfilm für dadaismuszersetzte Intellektuelle.

Oliver: Prototyp für Werbeversprechen von Bausparverträgen. Garantiert Fair Trade und frisch gepresst!

Nebenrollen: Ein poetischer Clown. Ein Nilpferd.

 

Herr meiner Sinne

»Wissen Sie, wie es ist, wenn man jemanden liebt, den man nicht lieben darf?« Ein schüchterner Laborassistent verzehrt sich seit zwanzig Jahren heimlich nach seinem Professor, einem angesehenen, verheirateten Mann und Vater. In einer verzweifelten Nacht passiert etwas, das alles ändern könnte …

 

E.Q.Null

Marvin ist … speziell. Deswegen sucht er einmal wöchentlich Dr. Handler auf. Doch statt über seine Probleme zu sprechen, beschäftigt er seinen Psychiater mit simulierten Symptomen, zu denen ihn die Beipackzettel seiner Psychopharmaka inspirieren. Eines Tages trifft er im Wartezimmer auf einen ganz und gar seltsamen Patienten und spioniert ihm hinterher …

 

Freund meines Bruders

An einem Frühsommerabend sucht ein Junge den Kumpel seines Bruders auf, um ihm endlich zu gestehen, wie er für ihn fühlt. Unsicherheit, Verlangen, Angst und Zerrissenheit drohen jedoch, dieses zarte Pflänzchen des Mutes niederzuringen.

 

Pi liebt

Oder: Die Blöße der Ofenkartoffel unter der Alufolie.

Pi liebt. Pi liebt mit Haut und Haar. Pi liebt Marv. Pi ist ein Freak. Auf einer Grillfeier kulminieren seine unterdrückten Gefühle in einem verstörenden Liebestourette.

 

Krankhaft Loyal

 

 

»Kennedy wurde vom CIA erschossen.«

»Nine Eleven war ein Inside-Job.«

»Bielefeld gibt es gar nicht.«

»Die Mondlandung wurde in einem Filmstudio aufgenommen.«

»Liebe.«

Felix und ich starren Basti an.

»Liebe?«, schießt gleichzeitig aus unseren Mündern.

Basti nickt und zuckt mit den Schultern als wüsste er nicht, was unser Problem ist.

»Wir sind bei Verschwörungstheorien«, erklärt Felix.

»Ja. Ich weiß.« Basti setzt den Bierkrug an die Lippen und stellt fest, dass er leer ist.

»Liebe …«, ich mache eine theatralische Pause, bis ich Bastis volle Aufmerksamkeit habe, »… ist keine Verschwörungstheorie.«

»Doch.« Mit einer Hand deutet er der vorbeiflitzenden Kellnerin, noch eine Runde Bier zu bringen. Er scheint mit seiner Ansicht völlig im Reinen.

Felix dagegen rutscht unruhig hin und her. »Ach ja? Wenn du Liebe für eine«, er malt mit Fingern Gänsefüßchen in die Luft, »Verschwörungstheorie hältst, dann erkläre mir bitte mal, warum ich Sophie nächsten Samstag heiraten werde.«

»Zwänge. Soziale und wirtschaftliche Zwänge.«

Wunder Punkt. Blutiger, eitriger, geschwürdurchwachsener Punkt. Ich möchte zu ein paar beschwichtigenden Worten ansetzen, da kommt die Kellnerin herbeigetrappelt, stellt die überschäumenden Krüge auf den Tisch, sammelt die leeren Gläser ein und eilt wieder davon.

»Nur, weil Sophie schwanger ist und ihr Vater mein Boss, heißt das noch lange nicht, dass ich sie nicht liebe!«

Mir wird heiß.

»Ich sage ja nicht, dass du sie nicht liebst, weil du sie wegen diverser ungünstiger Umstände heiraten musst, sondern dass du sie nicht liebst, weil es Liebe nicht gibt.«

»Mein Kind ist kein diverser ungünstiger Umstand!« Felix schlägt mit der Hand auf den Tisch. »Und ich liebe Sophie.«

Lächelnd lehnt sich Basti zurück. »Yeah! Und Oswald erschoss Kennedy, Al Quaida rammte das World Trade Center, die Amis sind auf dem Mond gelandet …«

»Basti«, murmle ich leise, doch es ist zu spät. Über den Tisch und die Krüge mit frischem Bier streckt sich Felix’ kräftiger Arm, bildet eine Gerade, der dumpfe Aufprall klingt absurd belanglos, und noch während Basti benommen rückwärts taumelt, schüttet Felix ihm sein Bier ins Gesicht.

»Ich. Liebe. Sophie!«, schreit er. »Auch wenn ihr Vater der Provinz-Capone ist!« In einem Anfall von Anachronismus krempelt Felix erst nach dem Kinnhaken die Ärmel hoch, realisiert, dass ihn alle Augenpaare belustigt betroffen anschielen, und stürzt aus dem Lokal.

»Awa … Scheiße!« Basti reibt sich den Kiefer und fährt mit der Zungenspitze die Zahnreihen entlang.

An den Nebentischen wird gekichert und getuschelt.

Mein Herz tut weh. Ich hasse Gewalt. Wenn jemand nur einen aggressiven Ton anschlägt, versteife ich mich. Lieber schweige ich der Harmonie Willen oder mache Kompromisse, bis mein Rückgrat bricht, als Zorn oder Wut zu ertragen.

Entsprechend hilflos sitze ich nun Basti gegenüber und wirke traumatisierter als er. Zumindest grinst er, hebt den Krug und drückt ihn kühlend gegen seinen Kiefer.

»Die Wahrheit ist schmerzhaft«, murmelt er und so, wie er das sagt, meint er keineswegs sich selbst.

»Du glaubst doch nicht wirklich daran, oder?«, frage ich. »Dass Liebe eine Verschwörungstheorie ist.« Und um auf den Punkt zu kommen: »Warum musstest du Felix so provozieren?«

»Ich hab ihn nicht provoziert«, behauptet Basti und führt den Krug vom Kinn zum Mund, trinkt einen großen Schluck und kühlt dann wieder seinen Kiefer.

»Du hast ihm unterstellt, er würde Sophie nur heiraten, weil sie schwanger und reich ist.«

»Falsch. Ich habe behauptet, dass er sie nicht liebt.«

»Woher willst du wissen, dass er sie nicht liebt?«

»Weil die Liebe eine Erfindung der Medien ist.« Das sagt er mit einem Brustton der Überzeugung, der mir Gänsehaut über den Rücken jagt.

»Du glaubst den Scheiß wirklich?«

»Die Liebe wurde im achtzehnten Jahrhundert von ein paar Schriftstellern erfunden. Frustrierte, wohlhabende Hausfrauen wollten den hanebüchenen Mist, den sie da lasen, in Realität umsetzen. Weißt du, das ist wie mit diesen Jungs, die einen Porno sehen und dann eine Frau suchen, die das alles mitmacht. Genauso suchen sich die Frauen seitdem einen Blöden, der diesen ganzen romantischen Firlefanz mitmacht. Und weil die Männer denken, wenn sie den romantischen Firlefanz mitmachen bekommen sie das, was sie im Porno sehen – läuft das Rädchen. Die Idee verkauft sich s a g e n h a f t. Sogar wenn es nicht funktioniert – früher oder später ist jeder frustriert, hält sich für unzulänglich, verraten, zu hässlich, benachteiligt, rennt zum Therapeuten, schluckt Pillen, säuft, kauft sich massenhaft unnötiges Zeug – das ist ein Bombengeschäft.«

»Oh mein Gott«, murmle ich und glotze Basti betroffen an. »Du glaubst das wirklich.«

»Überleg mal, was alleine die Musikindustrie damit umsetzt, unser Gehirn mit der Vorstellung zu waschen, wie sich Liebe anfühlen sollte, und dem kollektiven Jammergesang, wenn die Sache trotzdem nicht klappt. Oder Blumen … überhaupt Beweise. Liebesbeweise.« Basti schlägt einen spöttelnden Ton an. »Wenn es Liebe gäbe, müsste man sie nicht beweisen. Mal ehrlich: Wenn Liebe das große Ding wäre, wie immer behauptet wird, denkst du, ein bescheuerter Blumenstrauß oder ein Weißgoldring würden ausreichen, das darzustellen? Ich bitte dich!«

»Warst du denn nie verliebt?«, krächze ich, da ich vor Beklemmung kaum Luft bekomme.

Basti schüttelt den Kopf und mir wird noch ein bisschen kälter.

»Was ist mit Astrid?« Seine erste Freundin.

»Sex«, antwortet er wie aus der Pistole geschossen.

»Ich dachte, ihr seid verliebt gewesen.«

»Sexuelle Anziehung …«, sagt Basti abgeklärt, »… wird sehr oft mit Liebe verwechselt.«

»Aha. Und Lisa?« Seine letzte Freundin – die Trennung hat ihn echt mitgenommen.

»Eine Freundin.«

»Eine Freundin? Das war doch die Frau deines Lebens!«

»Sie war eine sehr gute Freundin …« Er blickt wenige Sekunden in sich hinein, dann ruckt er hoch, schaut mich ernst an, trinkt einen Schluck Bier und stellt den Krug entschlossen auf den Tisch. »Bis die Sache mit dem Sex kam.« Er sagt das in einem Tonfall, als erzähle er, bis der verdammte Krieg uns für immer auseinanderriss.

»Du hast sie geliebt«, ich suche in seinen Augen nach diesem Funkeln. »Du liebst sie noch immer.«

»Hörst du mir eigentlich zu?«, fährt er mich angesäuert an. »Es gibt keine Liebe!«

»Okay, okay«, beschwichtigend hebe ich die Hände. »Lisa war also friends with benefits

»Es gibt Freundschaft und es gibt Sex, und manchmal hat man das in einer Person vereint.«

»… dann ist es Liebe«, schließe ich feierlich.

»Dann ist es Freundschaft und Sex. Was ist so schlimm daran?« Seine Blicke durchbohren mich. »Wenn dir die Definition von Liebe so wichtig ist, warum benutzt du sie dann nur, um alles andere abzuwerten?« Er unterbricht sich und nickt weise. »Okay … das ist ja der Sinn von Gehirnwäsche. Sie soll ein Wertekonzept erstellen, um die Leute zu manipulieren.« Sein Blick wird weich. »Du kannst nicht anders.«

Wäre ich nicht so konfliktscheu, hätte ich jetzt am liebsten ebenfalls meine Faust über den Tisch geworfen.

»Vielleicht hast ja du noch nie geliebt! Ich schon!«

Sein Blick ruht väterlich sanft auf mir.

»Doch! Habe ich!«

Er lächelt mild.

»Was ist? Willst du mir etwa jetzt ausreden, dass ich«, ich senke die Stimme und sehe mich um: »Lukas geliebt habe?« Der Name bohrt noch immer einen Stich durch mein Herz. Er war meine erste große Liebe, aber nach drei Jahren trennte er sich von mir, weil er meinte, meine Angst wäre größer als meine Gefühle für ihn. Wenn er auch nur geahnt hätte, wie umfassend meine Ängste sind, hätte er gewusst, wie unendlich stark meine Liebe zu ihm sein konnte.

Basti hat mir monatelang bei meinem Selbstzerstörungstrip zugesehen, mich zu jeder Tages- und Nachtzeit aus den unmöglichsten Situationen gezerrt und nie auch nur ein Wort des Tadels verloren. Vermutlich, weil er durch Lisa genau wusste, was ich durchmache – nur wenige Wochen zuvor war seine Beziehung mit ihr ziemlich abrupt in die Brüche gegangen. Damals spielte ich seinen Schutzengel, sehr zu Lukas’ missfallen, der seit jeher eifersüchtig auf Basti war. Grundlos. Basti und ich sind die besten Freunde seit dem Kindergarten und er ist nicht schwul.

aber er sieht gut aus, hatte Lukas immer erwidert. Außerdem geht es nicht darum, wen ›er‹ ficken will, sondern wen ›du‹ ficken willst. An dieser Stelle begann ich dann immer, hysterisch zu lachen. Basti ficken? Ich bitte dich! So ein Quatsch! Über so etwas denke ich noch nicht einmal nach! Und das stimmt. Ich denke darüber tatsächlich nicht nach. Nie. Keine Sekunde.

»Bei euch finde ich es sowieso lächerlich, von Liebe zu quatschen«, sagt Basti.

»Euch?«

»Schwule«, präzisiert er und ich höre das Wort erstmals in Zusammenhang mit mir aus seinem Mund. Es klingt zu groß, sperrig, seltsam und so wie er es sagt, wie er mich dabei ansieht, entsteht in mir der Wunsch, das Thema zu wechseln.

»Zwischen Männern gibt es Freundschaften und – in eurem Fall halt – auch Sex. Aber ihr macht euch total lächerlich, von Liebe zu quatschen. Noch lächerlicher, als sich die Normalen schon machen.«

Wie an die Sitzfläche genagelt hocke ich da und fühle mich mit Eiswasser übergossen. »… normal«, wiederhole ich leise, während die Welt auseinanderbricht.

»Ich meine das als Kompliment …«, lenkt Basti ein, als ihm bewusst wird, dass er etwas Falsches gesagt hat. »… ich meine damit, dass ich euch einfach für vernünftiger … intelligenter … gehalten habe …«

»Geh!«, flüstere ich, da ich selbst nicht in der Lage bin, aufzustehen.

»Jonas …«

»Geh!«

»Ich habe mich vielleicht unglücklich …«

»Verschwinde!«, fauche ich ihn an und bin von der Aggressivität in meiner Stimme überrumpelt. Ich will es sofort nochmal probieren. »Hau ab!«, schreie ich ihn an und bereue es prompt, als ich sein verdutztes Gesicht sehe. Schweigend steht er auf und verlässt das Lokal. Nur der Tatsache, dass ich mich noch immer nicht bewegen kann, ist geschuldet, dass ich ihm nicht nachlaufe. Deswegen hasse ich Wut und alles, was damit zu tun hat. Der Schatten von Zorn heißt Schuldgefühl und schiebt sich vernichtend über die Seele.

Scheiße.

Irgendwie will noch gar nicht recht ankommen, was gerade passiert ist. Ich weiß auch nicht, was mich mehr erschüttert. Dass Basti offenbar noch nie geliebt hat, oder dass er mich … uns … für lächerlich, unnormal und liebesunfähig hält.

Dass ich schwul bin, war zwischen uns nie Thema. Im wahrsten Sinne des Wortes. Wir haben nie darüber geredet. Kann man kaum glauben, wenn man bedenkt, dass wir seit unserem vierten Lebensjahr beste Freunde sind, aber es ist wirklich so.

Das soll jetzt keine Entschuldigung werden – Lukas hat das immer aufgeregt, wenn ich das als Argument hervorbrachte – aber wir leben in einem kleinen Dorf, in dem jeder jeden kennt und in dem der soziale Status die Währung ist, die zählt. Hier ist man nicht schwul. Homosexualität ist etwas, das gelangweilte Großstädter als eine Art Performancekunst zelebrieren, um zu provozieren. Hier ist man auch vieles anderes nicht. Atheist zum Beispiel. Oder Anarchist. Oder schwarz. Man bleibt nicht unverheiratet und kinderlos, außer man ist behindert. Unser Dorf ist ein selbstreinigendes und damit selbsterhaltendes System, denn wem diese Werte nicht passen, der zieht weg und wer nach solchen Werten sucht, der zieht zu. Es gibt also keinen Grund, etwas an der Meinung, der Einstellung, dem Leben oder den Werten zu ändern.

Wie alle Teenager träumten auch Basti und ich einst von der abenteuerlichen Flucht aus der beklemmenden Enge und suchten als Vorgeschmack an den Freitagabenden die Städte heim. Damals war ich davon überzeugt, der einzige Schwule im Ort zu sein, und war daher von der allgemeinen Auffassung davon verunsichert. Ich war kein gelangweilter Großstädter, mit Kunst hatte ich nichts am Hut und vor Provokation hatte ich richtig Schiss. Wenn einer bloß die Augenbrauen verzog, war ich über alle Berge. Dass ich trotzdem auf Jungs stehe, erklärte ich mir eine ganze Weile mit einer tragischen Verwechslung bei der Geburt. Vielleicht hatte man mich im Krankenhaus mit dem Baby eines gelangweilten Künstlerehepaars vertauscht oder so. Bescheuerte Theorie, aber ich war jung und verzweifelt und suchte nach plausiblen Erklärungen für mein Anderssein.

Die lieferte mir dann das Internet, das ich nur für diesen Zweck erkämpfte, weil ich wusste, dass man da über alles Informationen einholen konnte. In der Schule oder bei Freunden traute ich mich nicht, nach diesem Thema zu suchen und meine Familie gehörte zu einer der letzten, die einen Internetanschluss bekam.

So lange ich am Computer saß, fühlte ich mich normal. Klar. Es war normal, normal, normal. Das wurde sehr oft betont, es gehörte zur politisch korrekten Meinung, das zu betonen, und daher taten es die Leute in sämtlichen Kommentaren und Texten. Man konnte fast glauben, es wäre tatsächlich normal. Aber kaum bewegte ich mich vom Monitor weg, war ich ein Alien. Inkognito. Der große Vorteil im Gegensatz zu einem, sagen wir mal, Schwarzen, war, dass man mir das Schwulsein nicht ansah.

Ich lernte den Begriff Coming-out und wie wichtig es auf lange Sicht für ein aufrechtes Leben wäre, sich zu offenbaren. Wenn man aber so konfliktscheu ist wie ich, wenn man eine solche Panik davor hat, abgelehnt zu werden, kann man sich nicht vorstellen, dass es besser sein soll, wenn das ganze Dorf weiß, dass man schwul ist. Ich denke, die meisten Schwulen ziehen nur in die Stadt, weil man sich dort besser verstecken kann, weil man sich in einem kleinen Kreis zwar offenbaren, vor den meisten Menschen auf der Straße aber doch unsichtbar bleiben kann. Im Dorf geht das nicht. Weiß es einer, wissen es alle, und man begegnet niemals jemandem, der es nicht weiß. Das hielt mich bisher von meinem Coming-out ab.

Nur Basti weiß bescheid, und das auch eher … nun ja … Statt ihm einfach zu sagen, dass ich auf Männer stehe, schleppte ich ihn vor Jahren Mal in eine Schwulenbar in der Stadt. Mein Plan sah vor, dass ich theatralisch tadaaaa trällern würde und dann sollte ihm alles klar sein. Als wir dann aber dort waren und ich Bastis große Augen und sein schiefes Grinsen sah, bekam ich kalte Füße und tat so, als hätte mich jemand mit der Empfehlung dieses Lokals nur verarschen wollen.

In den Monaten darauf sprach ich diesen Ausflug mehrmals an, als Auftakt zu meinem Coming-out, doch am Ende stellte ich diesen Abstecher in die Schwulenbar bloß als eine witzige Anekdote dar.

Herausgekriegt hat er es dann beim nächsten Zeltfest. Oder eher dahinter. Er erwischte mich mit einem Jungen aus dem Nachbarort inflagranti. Und sagte nichts. Wortlos drehte er sich um und verschwand wieder im Festzelt.

Wir verloren kein Wort darüber.

Seitdem sind acht Jahre vergangen und Basti ist noch immer der Einzige im Ort, der weiß, dass ich schwul bin. Er ist der Einzige, der meine Freunde kennengelernt hat. Waren wir zusammen in der Stadt unterwegs, sah er mich auch mit Kerlen Händchen halten und knutschen.

Aber es war nie ein Thema zwischen uns.

Bisher dachte ich, das wäre ein Beweis seiner Loyalität, seines unverkrampften Umgangs mit dem Thema, seiner Toleranz und Akzeptanz, seiner Freundschaft.

Vielleicht habe ich mich in ihm getäuscht.

Vielleicht haben wir nie darüber geredet, weil es ihm unangenehm ist, weil er es nicht ernst nimmt, weil er damit nicht umgehen kann und will.

Einmal erzählte ich ihm, dass Lukas auf ihn eifersüchtig wäre. Basti grinste, sagte echt?, und ging zum nächsten Thema über. Ich fand das damals ziemlich cool und selbstbewusst, aber jetzt …

 

~ * ~

 

Wir sitzen in einem Striplokal. Eine nacktbusige Frau wälzt sich auf Felix’ Schoß und die anderen Jungs grölen. Jeder Einzelne wäre jetzt gerne an seiner Stelle – und würde es im Laufe des Abends vielleicht noch sein. Nur zwei Leute lässt das erotisierende Treiben kalt. Mich und Basti.

Die ganze Woche haben wir uns nicht gesehen – im stillschweigenden beiderseitigen Einvernehmen. Offiziell schmolle ich, inoffiziell habe ich einfach nur Schiss und keine Ahnung, was ich sagen soll. Mich beschäftigt, dass er noch nie verliebt war. Niemand, der jemals verliebt gewesen ist, kommt auf die bescheuerte Idee, Liebe wäre eine Verschwörungstheorie.

Er tut mit leid.

Es tut mir leid.

Ich betrachte ihn aus dem Augenwinkel. Lukas hat recht, er sieht gut aus, und auch wenn ich darüber nicht nachdenke, bisher nie darüber nachdachte, von der Bettkante würde ich ihn nicht schubsen. Okay, es ist völlig illusorisch, dass es jemals eine Situation geben könnte, in der es auch nur ansatzweise dazu kommen könnte, dass wir beide … aber rein hypothetisch, in einem Paralleluniversum …

Basti mag verrückt und ein bisschen borniert sein, wie alle im Dorf, aber ich liebe ihn.

Mein Herz bleibt stehen.

Was habe ich da eben gedacht?

Mir wird heiß, mein Kopf beginnt zu brennen. Gottseidank ist es hier drin dunkel und bunte Scheinwerfer verfälschen die Farben, sonst würde mein Kopf bis in den Nachbarort strahlen. Die Luft ist auf einmal furchtbar stickig. Ich muss raus hier. Sofort.

 

Die kühle Nachtluft streichelt angenehm über meine glühende Haut. Von drinnen tönt der Bass der Musik. Mein Mangel an Begeisterung für die Damenwelt wird bald auffallen. Vielleicht sollte ich einen plötzlich aufkeimenden Magen-Darm-Infekt vorschieben und heimgehen. Andererseits: Morgen ist die Hochzeit und da will ich dabei sein.

Viele glauben, nur weil man schwul ist, muss man die Stadt mögen oder sein Heimatdorf fürchten. Klar, in den Teenagerjahren war die große weite Welt verlockend, aber – nennt mich einfältig und feige – ich wollte hier nie weg. Ich mag in der Nähe meiner Familie sein, ich mag die Leute hier, die Gegend, das Dorf. Warum sollte ich all das aufgeben, nur weil ich einen Mann liebe? Warum sollte es irgendwen was angehen, mit wem ich mein Bett und mein Leben teile? Ich möchte dazugehören. Ich mag die kuschelige Kleingeistigkeit des Dorfes. Ein Feigling wie ich, der Nestwärme braucht, kommt damit besser klar als mit der Kälte der Großstadt. Ich weiß gerne, wer um mich herum ist.

Lukas hätte kein Problem damit gehabt, in einem Dorf zu leben, obwohl er aus der Stadt kam. Aber er hatte ein Problem damit, dass ich nicht zu ihm als Mann stand. Ich kann ihm keinen Vorwurf machen, er wusste nicht, was er da verlangte. Er hatte keine Ahnung, was es bedeuten würde, es meinen Eltern zu erzählen, meiner Schwester, meinen Kumpels. Bald wüsste es der ganze Ort. Man kann sich nicht aussuchen, wer es erfährt und dann gibt es keine Insel mehr, kein Inkognito. Alle würden einen immer nur ansehen und sich vorstellen, wie man Sex hat.

Ich möchte mir das bei neunundneunzig Prozent der Dorfbewohner nicht vorstellen und ich habe kein Interesse daran, dass neunundneunzig Prozent der Dorfbewohner zu Gast in meinem Bett sind.

Aus diesem Grund hielt mich Lukas für einen Feigling.

Aus diesem Grund wiegt Bastis Schweigen so viel.

Lukas stellte mich eines Tages vor die Wahl: Liebe oder Lüge. Ich sagte: Liebe und Lüge. Er erwiderte: Das passt nicht zusammen.

Nun. Bei Basti ist die Sache einfach. Da er nicht an Liebe glaubt, ist die Lüge keine Konkurrenz.

Wow.

Das ist es wohl. Wir sind beide auf eine Weise kaputt, die unsere Freundschaft so rein macht. Das ist gut. Und das ist scheiße.

Mein Blick fällt auf die weiße

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Kooky Rooster
Bildmaterialien: Kooky Rooster
Tag der Veröffentlichung: 19.01.2015
ISBN: 978-3-7368-7232-5

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Achtung: Dies ist die überarbeitete Fassung von "Kussbilanz, Kurzgeschichten – Band 1", und enthält zwei Bonusgeschichten.

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