Grillen zirpten. Der abgestandene Geruch von Sonne und Hitze wehte um Bens Nase, dabei war es kurz vor Mitternacht. Der Sommer roch nach Urin und Scheiße – zumindest am Gelände hinter dem Bahndamm, mit dem toten Gras und Müll zwischen den Halmen. Warum war der Bahnbereich immer eine hygienische Todeszone? Ob Unterführungen, Toiletten, Gleise, Wiesen – suchte man den dreckigsten Ort einer Stadt, musste man nur nach Schienen suchen.
Scheiß Menschen! Ben schaute sich um, ließ den Rucksack auf den Boden plumpsen und holte eine Sprühdose heraus. ›Scheiß Menschen‹ – gutes Motto, doch Ben hatte bereits eins. Die Dose klackerte, als er sie schüttelte. Er liebte dieses Geräusch, ebenso wie das »Pfffft, Pffffft, Pffffft«,wenn er die Wand einer Lagerhalle ver(un)zierte.
Die Nacht brachte keine Abkühlung. Dennoch hüllte sich Ben in einen Kapuzensweater. Schweiß kitzelte an seinen Schläfen, der Oberlippe, dem Rücken, doch das war der Preis für Anonymität, den Hass und die Liebe.
Ben war einundzwanzig und fertig mit der Welt. Scheiß Menschen. Scheiß Herz.
Ein dumpfer Schlag gegen die Schulter riss Ben aus dem Schlaf. Die Sonne blendete, jeder Muskel brannte. Ben blinzelte. Seine Augen waren verklebt, sein Blick verschwommen.
»Fünf nach sechs, Arschloch!« Jochen boxte Ben so empfindlich gegen die Brust, dass ihm die Luft wegblieb.
»Selber Arschloch!«, murmelte Ben, als sein Bruder, bereits halb aus dem Zimmer war.
Jochen blieb stehen. »Was?«
»Nichts!« Rasch setzte sich Ben auf und spannte alle Muskeln an.
»Was hast du gesagt?«
»Nichts.« Ben unterdrückte ein Gähnen. Sein Kiefer krampfte. Nur drei Stunden Schlaf. Mal wieder.
Jochen baute sich vor ihm auf und streckte die Hand nach ihm aus. Obwohl Ben rasch zurückzuckte, packte Jochen ihn und verdrehte ihm die Ohrmuschel. Um dem Schmerz auszuweichen, ging Ben mit der Drehung mit, indem er Wirbelsäule und Hals überstreckte. Jochen war brutal. Eines Tages würde er ihm mit bloßer Hand das Ohr abreißen. Angeblich hatte er das schon mal gemacht. Unabsichtlich. Beim Kampf mit einem Junkie.
Jochen kam Ben so nah, dass sich beinahe ihre Nasenspitzen berührten. »Du kleine Kröte glaubst, du kannst mich verarschen?«
Speicheltröpfchen benetzten Bens Gesicht. Der Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen. Sein Herz stolperte über Wut und Verzweiflung. Seine Wangen glühten. Scheiße. Seine Schwäche weckte den Sadisten.
»Also?« Jochen verdrehte das Ohr ein Stückchen weiter.
»Also was?«, krächzte Ben. Seine Stimmbänder verhärteten. Das Heulen stecke ihm im Hals wie ein Span.
»Was hast du gesagt?«
Jochen zu provozieren war unklug, ihn anzulügen sinnlos. Er würde es wittern. »Arschloch!« Bens Blick wurde verschwommen. Nicht heulen, nicht heulen, nicht heulen.
»Flennst du jetzt, Schwuchtel?«
Ben schluckte tapfer, schnaufte vor Schmerzen, blähte die Nasenflügel.
Jochens Augenbrauen formten einen einzigen borstigen Balken. »Wenn du heulst, gibt’s Schwitzkur!«
Fick dich!, dachte Ben, ich hoffe, heut schießt dich einer über den Haufen! Er versuchte, die Wut im Bauch kalt werden zu lassen, eiskalt wie Hass. Könnte er seine Gefühle abschalten, könnte ihm Jochen nichts mehr anhaben, wäre er ihm ebenbürtig. Aber Ben war alles andere als kalt und viel zu nah am Wasser gebaut – er heulte nicht nur vor Trauer, sondern auch vor Wut, Hass, Verzweiflung, Liebe.
Eine Träne zitterte auf seinen Wimpern, klammerte sich mit letzter Kraft an Bens Unterlid. Nicht blinzeln.
Jochen grinste dreckig. Scheiße.
Bens Bruder hegte eine bizarre Faszination für Tränen. Vermutlich, weil er selbst keine vergoss. Niemals. Ben hatte ihn noch nie weinen sehen – nicht, als ihre Eltern bei einem Unfall gestorben waren, nicht, als Hasso vergiftet worden war, nicht, als ihre kleine Schwester tot im Wald aufgefunden worden war. Jochen kannte nur Aggression und Faszination. Letztere für die eigenartigsten Dinge. Bens Erröten, Bens Tränen, Bens Einnässen aus Angst. Die kalte Begeisterung für Schwäche fand Ben gruseliger, als die impulsive Gewalttätigkeit.
Jochen lauerte. Er glotzte auf die zitternde Träne und harrte, gleich einem Raubtier vor dem Versteck seiner Beute, auf ihren Sturz. »Versager! Mädchen! Schwuchtel!«
Ben mahlte mit dem Kiefer, kämpfte. Stolz. Ein bisschen davon war immer noch da. Das Ohr pulsierte. Der Schmerz jagte den Herzschlag in die Höhe. Vielleicht sollte sich Ben einfach gehenlassen. Jochen würde ohnehin nicht aufgeben. Er war geil darauf, Ben zu demütigen.
»Du bist schuld, an Ines’ Tod. Du bist schuld, dass sie gefoltert wurde, bis ihr kleiner Körper kaputtging. Was hast du gemacht, als du sieben warst, hm Bennilein? Ich weiß es. Du hast mit Puppen gespielt. Klein-Ines hätte sicher auch gern mit Puppen gespielt, aber du musstest dich ja von deinem Schwuchtelfreund begatten lassen, statt auf sie aufzupassen. Weißt du, was sie mit ihr gemacht haben? Erst haben sie …«
»Hör auf!« Heiße Tränen stürzten über Bens Wimpern, dann ging alles verdammt schnell. Knie und Ellenbogen schürften über den Teppich, die Schultern schmerzten unter unnatürlichen Verrenkungen und Bens Gesicht wurde brutal in Jochens nasse, behaarte Achsel gepresst. Jochen krallte ihm die Finger in den Hinterkopf und riss ihm ein paar Haarbüschel aus.
Ich sollte mir den Schädel rasieren. Bens Brustkorb krampfte. Wie immer presste er im Reflex die Lippen zusammen und hielt die Luft an, um den säuerlich-würzigen Gestank nicht aufnehmen zu müssen. Als er schließlich doch Luft holen musste, bekam er keine. Zu tief steckte sein Gesicht in Jochens klebriger Achsel. Panisch riss Ben den Mund auf und schmeckte Schweiß. Dicke, sperrige Haare kletterten auf seine Zunge.
Ben würgte. Er drohte zu ersticken. Verzweifelt bohrte er die Finger in Jochens Muskeln, doch Jochen würde ihn erst loslassen, wenn er aufgab.
Den Überlebensinstinkt des Körpers zu überwinden erforderte enorme Willenskraft – nahezu unmenschliche Beherrschung – doch Ben gelang das Kunststück. Aus purer Notwendigkeit. Er ließ Arme und Beine sinken, kämpfte gegen die Krämpfe seines Körpers an. Stellte sich tot.
Jochen ließ von ihm ab. Genug gespielt.
»Du musst mehr essen!« Rob warf Ben zwei in Folie verpackte Sandwichs zu.
Statt die Päckchen zu fangen, hob Ben die Arme zur Abwehr. Sie fielen auf seinen Schoß und kullerten von da unter den Stuhl. Rasch klaubte Ben die Jause auf und nuschelte ein kaum hörbares »Danke.«
»Du fängst wie ein Mädchen!«, meinte Rob, schüttelte den Kopf und stellte Ben zwei Dosen Cola hin.
In der Werkstatt roch es nach Öl, Benzin, Lack. Hier in der Halle war es weit kühler als draußen. Der Sommer hatte den Höhepunkt erreicht.
Unter einem der reparaturbedürftigen Autos rollte Kai hervor und warf Rob einen amüsierten Blick zu. »Apropos Mädchen … du glaubst nicht, was passiert ist, als du einkaufen warst!«
Bitte nicht. Ben senkte den Blick. Das von Jochen malträtierte Ohr pulsierte noch immer.
Kai erhob sich, schlenderte zum Tisch und ließ sich auf einen Klappstuhl plumpsen. Mit lustloser Neugier durchstöberte er Robs Einkauf. »Der Hofer war da, um den Wagen von seiner Frau abzuholen, und faselte die ganze Zeit davon, wie löblich er es findet, dass wir auch Mädchen eine Chance geben …« Kai lachte und boxte Ben gegen den Oberarm – direkt auf eine blaugelbe Erinnerung an Jochen. »Erst wusste ich nicht, worauf er hinauswollte, bis ich bemerkt habe, dass er unserem Hübschen hier dauernd auf den Arsch glotzt.«
Ungläubig hob Rob die Augenbrauen und blickte zwischen Kai und Ben hin und her. »Echt?«
Ben wurde immer kleiner und starrte Löcher in die Tischplatte.
»Hofer also schaltet voll in den Flirtmodus und schnurrt Ben von der Seite an, ob die Jungs« – er zeigte belustigt auf sich selbst und Rob – »auch anständig zu ihm sind.«
Verhalten prustete Rob los.
Kai kicherte. »Und Ben – so cool – drehte sich um, mustert Hofer von Kopf bis Fuß und brummt: ›Ja, geht so.‹ Hofer wird erst weiß, dann rot, dann hören wir nur noch quietschende Reifen.«
Rob und Kai brachen in schallendes Gelächter aus.
Das ist nicht komisch, dachte Ben, doch er sagte nichts. Er sagte nie etwas. Dass er kaum redete, bemängelten seine Kollegen zwar oft und gerne, aber was sollte Ben schon sagen? Ich hasse die Welt? Ich hasse das Leben? Lieber verrichtete er schweigend seine Arbeit. Leben war Demut und Durchhalten – und es war Paul.
Sechs Monate zuvor. Winter. Heiligabend lag in der Vergangenheit, Neujahr in der Zukunft. Ben stand auf der Brücke über der Südbahn und wartete auf den nächsten Zug. Seine Fersen fanden auf dem Vorsprung kaum Halt und seine Schultern schmerzten von der Verrenkung, sich am Geländer im Rücken festzuklammern. Der eisige Wind stach in den Fingern, den Wangen, der Nasenspitze. Ben drohte zu stürzen ehe der Dreiundzwanzig-Uhr-dreißig-Zug kam. Vereinzelt knallte ein verfrühtes Feuerwerk. Aus Bens Mund stießen flüchtige Atemwölkchen.
Immer wieder sammelten sich Tränen und machten seinen Blick verschwommen. Ben hatte keine Angst vor dem Sprung oder dem Ende. Er fürchtete nur, den Zug zu verpassen. Der nächste ging erst wieder um vier Uhr dreißig. Fünf Stunden würde Ben nicht mehr warten können.
Er dachte an Wachsmalstifte. Er dachte an grüne Speichelflecken in der Form von Neuseeland auf Lenas Brust. Wenn Jochen spürte, dass Ben abhauen wollte, besuchten sie ›die graue Zelle‹, wie Jochen seine Ex nannte.
»Jetzt ist sie die grüne Zelle«, hatte Jochen mittags gelacht, nachdem Lena einen grünen Stift zerkaut und dabei auf ihre geblümte Bluse gesabbert hatte. Zweiunddreißig und am Arsch. Einst vögelte sie Jochen und liebte Ben. Ihre Worte. Fatale Worte. Eine beiläufige, scherzhafte Bemerkung. Jochen liebte es, zuzusehen, wie sie zerbrach. Er war fasziniert davon, wie das richtige Wort einen milchigen Schleier über ihren leuchtenden Blick legen konnte. Er wurde geil, wenn aus ihrem Gesicht alles Lebendige wich. Sie hatte versucht zu entkommen und war gescheitert. Seitdem galt sie als Beispiel. Sollte Ben auch nur den Gedanken hegen, abzuhauen, würde er enden wie ›die graue Zelle‹.
»Kauf auf dem Heimweg Wachsmalstifte.« Wenn Jochen das sagte, wusste Ben, dass sie wieder zu seinem Beispiel fahren würden, dass Jochen Ben zwingen würde, Lena die Stifte zu schenken, dass er sich kaputtlachen würde, wenn sie dann davon abbiss, kaute, bunt sabberte. Jochen ergötzte sich an seinem eigenen Ekel und auf der Heimfahrt betonte er unentwegt, wie lustig es doch wäre, würde Ben Regenbögen sabbern.
Himmel ja, hatte Ben heute Mittag gedacht, lieber regenbogensabbernd im Heim herumsitzen, als in deiner Nähe sein. Jochen hatte diesen stummen Widerstand gespürt und Ben später daheim gezwungen, Wachsmalstifte zu essen und sich selbst aufs Shirt zu spucken. ›Vorgeschmack‹ hatte er das genannt und sich halbtot gelacht. Leider nicht ganztot.
Nun sollte das alles ein Ende haben. Entweder am Friedhof, neben den Eltern und Ines – oder sabbernd in einem Rollstuhl neben Lena. Egal. Hauptsache weg von Jochen.
Die Gleise schoben sich zusammen, schmiegten sich aneinander, überkreuzten sich, trennten sich wieder, drifteten auseinander. Wieder kullerten Tränen über Bens Wangen, stürzten in die Tiefe. Ben fühlte nichts. Zumindest wollte er nichts fühlen. Die Kraft, die seine Finger wie Stahlseile an das Gelände heftete, war bloß ein Reflex, ein Instinkt – und diesen zu überwinden hatte Ben tausendmal geübt. Jeder Tag war ein Krieg gegen Reflexe, eine Schlacht gegen Instinkte. Bald war es vorbei. Bald. Wenn endlich der Dreiundzwanzig-Uhr-Dreißig-Zug kam.
»’Tschuldigung, kannst du mir sagen, wie spät es ist?« Eine angenehme, männliche Stimme drang an Bens Ohr, irgendwie melodiös. Den Worten folgte angestrengtes Keuchen.
Wer kam auf die bescheuerte Idee, einen Suizidanten nach der Uhrzeit zu fragen? Vorsichtig drehte Ben den Kopf, um den Irren anzusehen. Er stand hier zwar freiwillig über dem Abgrund, hatte jedoch Höhenangst.
Ein Jogger. Definitiv ein Verrückter. Wer joggte bei minus zehn Grad zwischen Heiligabend und Neujahr gegen Mitternacht alleine im Industriegebiet? Der Verrückte trug eine Mütze, tief in die Stirn gezogen. Seine Wangen pulsierten rot und aus dem Mund stießen Wölkchen. Er streifte Ben mit einem Blick aus dem Augenwinkel und begann mit läufertypischen Dehnübungen. Direkt neben ihm am Geländer der Brücke.
»Ähm … gegen halb zwölf«, sagte Ben und beobachtete den Verrückten bei seinen Turnübungen.
»Bringt das was?« Der Läufer nickte zu Ben, übers Geländer und runter zu den Gleisen. Er fragte das so selbstverständlich, als interessierte ihn das Erfrischungsversprechen eines Fitnessdrinks. Ich glaube ja nicht an Elektrolyte, aber ich vertraue vollkommen deinem Urteil.
Ben war verunsichert. Misstrauisch musterte er den Läufer und ließ ihn schließlich aus den Augen, um in die Tiefe zu blicken. »Ich hoffe doch.«
Er schwankte gefährlich. Alles drehte sich. In der Ferne tauchten drei Lichter auf und bildeten ein imaginäres Dreieck. Bens Herz raste. Es war so weit. Der Schall eilte dem Zug über die Schienen voraus, die Lichter näherten sich schnell.
Jetzt.
Ben ließ los. Die gefrorenen, verkrampften Finger lösten sich nur schwer. Er breitete die Arme aus und ließ sich fallen. Der Zug raste unter ihm hinweg. Die Beine baumelten über den vorbeiflitzenden Dächern der Waggons. Heißer Atem am Ohr. Ächzen. Druck gegen die Brust. Ben brauchte fast eine Minute, um zu kapieren, was hier passierte, dass er nicht fiel – warum er nicht fiel. Der Zug bretterte davon, die Stille eroberte wieder die eisige Nacht, der Läufer hielt Ben von hinten über dem Geländer umklammert.
Die Enttäuschung stach in Bens Brust. Zugleich kam die Angst vor der Tiefe. Panisch ruderte er durch die Luft, versuchte, das Gelände zu fassen zu kriegen, doch die Finger waren taub. Der Läufer sprach mit ruhiger Stimme, obgleich er alle Kraft benötigte, Ben festzuhalten, und leitete ihn besonnen an. Ben agierte mechanisch, konnte sich hinterher kaum an Anweisungen erinnern, folgte nur roboterhaft den Worten des Läufers.
Als er endlich auf der anderen Seite des Geländers in Sicherheit war, klammerte er sich an den Fremden, der ihm das Leben gerettet hatte. Er fühlte Dankbarkeit. Dabei wollte er wütend sein. Der Läufer hatte ihn mit der Rettung zurück in die Hölle geschickt. Trotzdem fühlte sich Ben erleichtert. Er wollte nicht sterben, er wollte weg von Jochen und für Sekunden, für Bruchteile von Sekunden, dachte er, wenn ich bereit bin, für die Flucht zu sterben, dann schaffe ich sie auch lebend.
Der Fremde – von Bens Überschwang überrumpelt – ließ die Umarmung zu und legte schließlich zögernd die Arme um ihn. Er spendete Trost. Ben wusste nicht, wie lange sie so standen, fest umklammert, vom eisigen Wind attackiert.
Irgendwann löste sich Ben, flüsterte er ein »Danke« und lief davon.
Es klopfte und Ben öffnete. Vor der Tür stand ein Polizist. Irgendein Kollege von Jochen. In dieser dunkelblauen Kluft sahen sie alle gleich aus. Einer wie der andere. Ben hasste sie, weil sie Jochen liebten. Sie lachten über seine Witze, ließen sich von seiner spendablen Ader beeindrucken, genossen seine Anwesenheit. Jochens Fassade war ein Meisterwerk der Transformation. Jeder kannte ein anderes wahres Gesicht. Für Jochens Kollegen war er der Kerl, auf den man sich ›hundert pro‹ verlassen konnte, die Nachbarn sahen in ihm den ›hilfsbereiten jungen Mann‹, die Frauen den charmanten Liebhaber – und Ben das Tier hinter allem.
»Jochen ist noch unter der Dusche.« Ben ließ den Polizisten an Ort und Stelle stehen, um in sein Zimmer zurückzukehren.
»Geht’s dir besser?«, fragte der Polizist, trat in den Flur und schloss die Tür hinter sich.
Ben hielt inne. »Besser? Wieso besser?« Was hatte Jochen auf dem Revier erzählt? Doch nicht schon wieder von psychischen Problemen. ›Säen‹, nannte Jochen das. Er befruchtete die Wahrheit für die Notwendigkeit, Ben für unzurechnungsfähig zu erklären. So etwas ging nicht über Nacht, das wusste Jochen, daher erzählte er immer wieder herum, Ben hätte Probleme.
»Neulich Nacht ging’s dir ja nicht so gut.« Der Polizist schien in Bens Augen etwas zu suchen.
»Neulich …?« Ben glupschte ihn entgeistert an. In Uniform, ohne die tief ins Gesicht gezogene Mütze und die rotgefrorenen Wangen, hätte er ihn fast nicht wiedererkannt. »… du bist … der Läufer?«
»Paul!« Routiniert streckte der Polizist eine Hand aus und zog sie zurück, ehe Ben zugreifen konnte. Eine ungewohnt unsichere Geste für einen Bullen. Er musterte Ben von Kopf bis Fuß. »Du bist Ben? Du bist Jochens Bruder?«
»Ich weiß, ich sehe ihm nicht gerade ähnlich.« Gott sei Dank. Die Leute irritierte, dass Jochen, der Stier, ein Kalb zum Bruder hatte, zierlich, unsicher, lange Wimpern – ein Mädchen.
»So hab ich das nicht …« Paul klopfte gegen die Brusttaschen seiner Uniform, zog ein Kärtchen heraus und streckte es Ben hin. »Vielleicht … du solltest mit jemandem reden …«
Ben griff nach der Karte und warf einen Blick darauf. ›Psychotherapeutische Praxis …‹ Rasch reichte er sie Paul wieder zurück. »Danke … ich komm schon klar.«
»Sicher?«
Ben nickte. Er musste an die Umarmung denken. Zwischen dem Läufer mit der Mütze und dem Uniformierten lagen Welten, sie waren wie zwei verschiedene Personen. Irgendwie ging das im Kopf nicht zusammen. Plötzlich kam Ben ein schrecklicher Gedanke. Ihm wurde siedend heiß und sein Herz polterte wie verrückt. »Hast du …«, er blickte den Flur abwärts Richtung Badezimmertür. Wenn Jochen erfuhr, dass Ben versucht hatte, sich umzubringen …
»Keine Sorge.« Paul griff nach Bens Hand, schob die Karte hinein und umschloss sie mit beiden Händen. »Überleg’s dir.« Sein Blick wurde auf eine wunderbar sanfte Art eindringlich. »Bitte.«
Ben schluckte. Sein Herz hämmerte.
Im Bad wurde es still.
Rasch zuckten beide zurück und Ben ließ die Karte in der Hosentasche verschwinden. »Okay.«
Im Wartezimmer stand ein Aquarium. Fische glotzten heraus. Ben wandte den Blick ab und betrachtete ein modernes Bild. Expressionistisch. Impressionistisch. Irgend so etwas, den Unterschied hatte er noch nie erkennen können. Er dachte an Wachsmalstifte. Ob Lena, ehe sie wegen Jochen verrückt geworden war, auch einen Arzt aufgesucht hatte? Hatte sie den Versuch unternommen, sich zu retten? Kurz vor ihrem misslungenen Suizidversuch hatte sie Ben einmal angesehen, als käme sie aus einer fernen Zukunft, in der sie das Ende der Welt gesehen hatte, und sagte: »Lauf!« Mehr nicht.
Jetzt, wo Ben darüber nachdachte, fiel ihm auf, dass es das Letzte war, das sie zu ihm gesagt hatte, ehe sie den Verstand verloren hatte. Lauf!
Wachsmalstifte schmeckten nicht halb so ekelig wie Jochens Achseln. Ob die Therapeutin das interessierte? Was würde sie von Ben wissen wollen? Er war nicht zum ersten Mal bei einem Seelenarzt. Kurz nach dem Tod der Eltern musste er vom Jugendamt aus ein paar Mal mit einem Psychologen sprechen. Dessen Interesse galt den Toten und Bens Matratze, die er trotz seiner zwölf Jahre wieder nächtens einnässte. Jochen, der vorbildliche, verantwortungsbewusste Bruder, der ›Freund und Helfer‹, interessierte ihn nicht.
Später, als die schreckliche Sache mit Ines passiert war, musste Ben wieder zu einem Psychologen. Genau ein Mal. Er war vierzehn und nutzte die Chance, über Jochen zu sprechen. Der Arzt wies Ben zurecht. Jochen hätte es nicht leicht, sich trotz des tragischen Unfalls der Eltern und dieser furchtbaren Tragödie mit Ines um ihn zu kümmern. Niemand könnte sich vorstellen, was Jochen durchmachen musste, und doch riss er sich zusammen, ließ er den Job nicht darunter leiden, kümmerte er sich vorbildlich um seinen undankbaren, pubertären Bruder.
Als Jochen herausfand, was Ben dem Arzt zu erzählen versucht hatte, sperrte er ihn eine Woche lang in der Toilette ein. Ohne Essen. Wenn Ben Durst hatte, musste er aus der Klomuschel trinken. Er wäre eine Ratte, sagte Jochen, er würde das verdienen. Lektionen in Demut.
Sollte Ben von all diesen Bagatellen erzählen? Gewiss würde die Therapeutin Ben belächeln, wenn er von den Schwitzkuren berichtete, vom Wachsmalstiftfressen, davon, seinen Lohn bei Jochen abliefern und eine kranke Freundin besuchen zu müssen. »Was willst du ihnen denn erzählen?«, spottete Jochen immer, wenn Ben drohte, ›ihn auffliegen zu lassen‹, und zog dann alles ins Lächerliche, bis es wirklich bloß klang wie die albernen Neckereien unter Brüdern – nicht nett, aber harmlos. Niemand würde Ben glauben wie schlimm sich das anfühlte. Er würde sich bloß zum Idioten machen, als labil gelten. Jochen würde dann erzählen, dass sich Ben noch immer einnässte und ihn entmündigen lassen …
Pauls eindringliche Bitte und die Erinnerung an die Umarmung ließen Ben nicht mehr los. Sein sanfter Blick war so wohltuend, so motivierend, so heilsam gewesen, dass Ben Mut gefasst hatte. Er war nur wegen Paul hier. Aber der war Polizist. Wie Jochen. Für jede Situation ein anderes Gesicht, eigens zugeschnitten, perfekt, wie am Reißbrett entworfen.
Ben war für ihn gewiss bloß ein Projekt, ein Merksatz aus einem Handbuch, kein Mensch. War er auf eine weitere professionelle Manipulation hereingefallen? War das hier eine Falle? Jochen machte ihn nicht achtsam, sondern blind, und wenn nicht durch Paul, so würde er spätestens an Bens Verhalten herausfinden, dass er Hilfe in Anspruch genommen hatte. Die Mechanik einer Lüge war Jochen so vertraut wie seine eigene Seele. Seine ganze Seele war eine einzige Lüge.
Ben sprang hoch und wollte flüchten, da öffnete sich die Tür zum Praxisraum und eine Frau, die mehr wie eine Studentin, denn Therapeutin aussah, lächelte ihn an.
»Benjamin?«
Als hätte sie ihn durch das Aussprechen seines Namens mit einem Bann belegt, konnte sich Ben nicht mehr bewegen, starrte sie bloß an wie ein geblendetes Reh.
Sie trat zur Seite und gewährte Ben einen Blick in den behaglich eingerichteten Praxisraum. Mit einer Armbewegung lud sie ihn ein, hereinzukommen.
Ben erstarrte. Jochen! Sein Bruder erhob sich vom Sofa und blickte ihn ernst an.
Lauf!
Bens Füße fühlten sich an wie in den Boden genagelt. Jochen schritt quer durch den Raum auf ihn zu. Vier Meter. Vier Sekunden, um abzuhauen, doch selbst vier Sonnensysteme und die Unendlichkeit reichten nicht, um ihm zu entkommen. Jeder Muskel in Bens Körper verspannte sich. Panik. Lähmung. Resignation. Erst dann konnte Bens Hirn die visuellen Eindrücke sortieren – schälte die Angst von der Silhouette. Da kam ein Polizist auf ihn zu, aber es war nicht Jochen, sondern Paul.
Erleichtert atmete Ben auf. Die Muskeln gaben nach. Er schwankte, doch der Alarm in seinem Kopf hörte nicht auf, zu schrillen. Was machte Paul hier? War er auch in Therapie? Lauerte Jochen hinter der Tür?
Die Therapeutin nickte Paul zu, marschierte an Ben vorbei und verließ den Raum. Gehetzt blickte Ben ihr nach. Wer mit dem Feind kollaboriert, ist ein Feind. Alle kollaborieren mit dem Feind. Eine Lektion, die Ben schon vor Jahren gelernt hatte. Wie dumm, sie wegen einer Umarmung und eines sanften Blicks missachtet zu haben.
»Komm!« Paul streifte Bens Unterarm, als hätte er ihn packen wollen und sich im letzten Moment umentschieden. Er nickte zum Sofa und Ben folgte ihm, weil man einem Polizisten folgte. Als Paul einladend auf die Sitzfläche klopfte, setzte er sich neben ihn. Im Kopf schrillte noch immer der Alarm, aber der Körper mochte es, neben Paul zu sitzen. Er fühlte sich wohl – in Sicherheit.
Jeder andere Körper ist eine Bedrohung. Jedes Verlangen bringt maximales Unglück. Hast du vergessen, was mit Ines passierte, als du das erste Mal liebtest? Jochen findet dich, er besitzt dich, straft jede deiner Schwächen. Jochen ist egal, dass du schwul bist, aber ihm ist nicht egal, dass du ein Mensch bist, dass du lieben kannst. Dafür lässt er dich bluten, wann immer du dich hingibst.
Ben rückte ab, obgleich sich sein Körper nach Paul sehnte, und verknotete die Hände so fest im Schoß, dass die Knöchel knackten. Paul schien zu spüren, dass er Ben verunsicherte, und wandte den Blick ab. »Sie ist meine Schwester.«
Überrascht glupschte Ben ihn an, blickte Richtung Tür, dann wieder zurück zu Paul.
Der nickte und lächelte.
So lief das also. Paul sammelte die Verrückten ein, die ihm in seinem Job über den Weg liefen, und versorgte seine Schwester mit Klienten, damit sie diese schöne Praxis aufrechterhalten konnte. Die Sache hatte nur einen Haken.
»Ich hab kein Geld.« Ben bohrte sich die Fingernägel ins Knie. »Mein Bruder wird einer Therapie niemals zustimmen.« Er sprang hoch. »Aber danke.«
»Warte!« Paul packte Ben energisch am Handgelenk, schien darüber selbst zu erschrecken und ließ rasch wieder los. »Weißt du, warum ich Polizist geworden bin? Und Claudia Psychologin?«
Was sollte das jetzt? Ben zuckte mit den Schultern.
»Unser Vater …«, Paul schaute Ben forschend ins Gesicht, »… er war wie dein Bruder.«
Plötzlich war Ben, als risse ihm jemand die Kleider vom Leib und führe ihn nackt durch eine Manege, vorbei an hunderten von Schaulustigen. Sein Herz raste, der Fluchttrieb ließ seine Muskeln zittern, raubte ihm den Atem, doch er hatte gelernt, stillzustehen, auszuharren, jeden Instinkt niederzuringen. Seine Wangen brannten und Tränen ploppten über seine Wimpern, liefen ihm viel zu schnell übers Gesicht, tropften vom Kinn auf den Boden. Scheiße, warum nur war er so dünnhäutig? Er war das glatte Gegenteil von Jochen, körperlich wie seelisch …
Paul wirkte befangen, wetzte auf dem Sofa hin und her, wischte mit den Handflächen über seine Schenkel, dann erhob er sich, streifte mit den Fingern zögernd Bens Ellenbogen und umarmte ihn schließlich.
Lustlos blätterte Rob in den Sportseiten der Tageszeitung. Kai klickte auf seinem Smartphone herum und Ben glotzte auf das Sandwich in seiner Hand. Sein Magen war hart wie Stein. Ben schaffte es einfach nicht, den Mund zu öffnen, um abzubeißen. Das ging schon seit Wochen so und wurde von Tag zu Tag schlimmer. Als hätte sein Körper beschlossen, die Sache mit dem Sterben selbst in die Hand zu nehmen. Kein Schlaf. Kein Essen. Dafür ständiges Herzrasen. Hatte es früher noch Zeiten gegeben, in denen sich Ben von seiner Angst erholen konnte, war sie jetzt Dauerzustand.
Über die Zeitung hinweg warf Rob einen Blick auf das Sandwich. »Ist damit etwas nicht in Ordnung?«
Ben rang sich ein Lächeln ab und schüttelte den Kopf. »Doch, es ist … köstlich.«
»Und warum isst du es dann nicht?« Auffordernd hob Rob die Augenbrauen und schien zu erwarten, dass Ben einen Bissen machte, doch je mehr sich Ben unter Druck gesetzt fühlte, umso fester ballte sich die steinerne Faust im Magen und umso fester klebten Zunge und Gaumen zusammen. Das Sandwich schien regelrecht darauf zu lauern, in seinen Bauch zu schlüpfen, um ihn von innen heraus aufzufressen.
»Ich … ich … kann n…«
Plötzlich johlte Kai auf – eine Mischung aus Aufschrei und Lacher. Erschrocken fuhren Ben und Rob zu ihm herum. Kai schwenkte das Smartphone. »Er hat wieder zugeschlagen!« Begeistert setzte sich Kai auf und wischte mit den Fingern emsig auf dem Display herum. »Moment.«
Ben legte das Sandwich auf den Tisch zurück und öffnete eine der Coladosen. Ohne dieses Zuckergesöff kam er kaum durch den Tag. Es war aktuell die einzige Zufuhr von Kalorien. Auch das Koffein konnte er mehr als dringend brauchen.
Triumphierend schob Kai das Smartphone über den Tisch. Auf dem Display strahlte das Foto einer Fabrikwand mit einem Graffito.
›Fuck the Police‹
Begeistert klatschte Kai in die Hände. »Der narrt die jetzt schon seit vier Monaten!«
Rob runzelte die Stirn. »Und sie wissen immer noch nicht, wer er ist?«
»Genial oder? Das ist mal ein echter Held. Solche Menschen brauchen wir.«
Ben wurde schwindelig.
»Da hat wohl jemand einen Hass auf die Polizei!«, meinte Rob.
»Jeder hat einen Hass auf die Polizei!«, erwiderte Kai und funkelte Ben herausfordernd an. »Ist doch so, oder?«
»Lass ihn!«, bat Rob.
Kai schob Ben das Smartphone unter die Nase. »Was sagt dein Bruder dazu?«
»Du sollst ihn in Ruhe lassen!«
»Schon gut!« Kai schnappte sein Smartphone, lehnte sich zurück und tippte wieder darauf herum. »Wirst du deinem Bruder erzählen, dass ich mit dem Feind sympathisiere?«
Kaum merklich schüttelte Ben den Kopf und blickte verlegen auf seine Knie.
»Kannst ihm ruhig sagen!«, tönte Kai großspurig.
Rob seufzte und rollte mit den Augen.
Neugierig musterte Kai Ben von der Seite. »Wie findest du das, was der Typ da macht?«
Anstrengend, dachte Ben. »Kriminell.«
Kai zischte verächtlich. »Pfts. Kriminell. Natürlich ist es kriminell. Aber die Gesetze sind ebenfalls kriminell und damit auch alle, die sie durchsetzen!« Kai lehnte sich vor und funkelte Ben provokativ an. »Dein Bruder ist ein Krimineller. Das kannst du ihm ruhig so sagen!«
Ganz deiner Meinung, dachte Ben.
Rob legte die Zeitung zur Seite. »Krieg dich wieder ein, Kai!«
»Ist doch wahr! Wenn wir uns immer an die Regeln gehalten hätten, würden wir heute noch mit dem Faustkeil arbeiten.«
»Apropos Arbeit!« Rob lehnte sich zurück und schwenkte die Bierdose, um herauszufinden, wie viel noch drin war.
»Oh-oh! Wenn man vom Teufel spricht!« Kai straffte die Schultern.
Rasch drehte sich Rob um und folgte Kais alarmierten Blick.
Ben wurde kurz schwarz vor Augen.
Im grellen Sonnenlicht erschienen zwei beinahe identische Silhouetten – Männer in Uniform, athletisch gebaut, federnder Schritt – Zwillinge des Grauens. Nur, dass Ben den einen hasste und den anderen liebte. Zwei Männer, die sich in diesem Augenblick so unendlich glichen und für die Ben doch so verschieden fühlte. Furcht und Begehren schlenderten wie eine einzige Gestalt auf ihn zu. Erst als sie nah genug waren, fiel ihre Gleichheit auseinander, entstand eine Kluft, wie sie größer nicht sein konnte, bauten sich Hass und Liebe zu gleichen Größen nebeneinander auf, zerrissen und zerquetschten Ben.
Ein Augenpaar fräste sich in ihn, zersetzte seine Seele, das andere hielt ihn, speiste ihn, schützte ihn. Verschreibe dich einer Mission. Leiste Widerstand – da drin! Pauls Hand wärmte noch immer Bens Brust, dabei war es Monate her, dass sie da gelegen hatte. Halte durch.
Geräuschvoll dominant stellte Jochen eine Sprühdose auf den Tisch.
Rob stand schlagartig der Schweiß auf der Stirn. Kai grinste dreckig. Ben schluckte schwer.
»Ihr habt ein Problem!«, sagte Jochen.
»Klacker, klacker, klacker … Pfffft, pfffft, pfffft.«
Ben machte ausladende Bewegungen. Seine Arbeit wurde vom Zirpen einiger Grillen begleitet. Ein Windhauch raschelte mit den kniehohen, vertrockneten Grashalmen. Davon abgesehen war es still. Orangefarbenes Licht von der Straßenlaterne sorgte für ausreichende Beleuchtung. Hier draußen, alleine, fern von allem, konnte Ben durchatmen, konnte er sich einreden, frei zu sein.
Den halben Nachmittag hatten Jochen und Paul in der Werkstatt herumgeschnüffelt, Rob, Kai und Ben ausgehorcht. Der Sprayer bediente sich aus dem Lager der Werkstatt. Die Halle war zu schlecht gesichert. Keine Überwachungskameras. Bens Fingerabdrücke auf den Dosen waren keine Überraschung, er arbeitete tagtäglich damit.
Ben hatte ein bombensicheres Alibi. Er lebte in derselben Wohnung wie der gefürchtetste Gesetzeshüter der Region. Niemand war so verrückt, den kleinen Bruder dieses tollen Hechts zu verdächtigen und das Mädchen würde es nie wagen, diesem kontrollsüchtigen Gott die Stirn zu bieten.
Mit schmatzenden Geräuschen kündigten die Schienen einen Zug an.
›Padamm, Padamm, Padamm.‹
Ohrenbetäubend brausten die Güterwaggons an Ben vorbei, der Fahrtwind wirbelte Werbefolder und Plastiktüten hoch. Sekunden, in denen das Sprayen lautlos war, in denen die Grillen stumm zirpten, in denen Metall auf Metall die Welt flutete.
Plötzlich wurde Ben von hinten gepackt und gegen die Mauer gedrückt. Eine Hand umfasste jene mit der Spraydose – sie rutschte ihm aus den Fingern und kullerte geräuschlos über den Schotter. Warmer Körper. Atem am Ohr. Metall auf Metall. Staubiger Wind. Ausharren. Warten. Der letzte Waggon nahm den Lärm mit sich mit, zog die Stille wie eine Fahne hinter sich her, deckte die Nacht damit zu.
»Bist du völlig übergeschnappt?«
Gänsehaut. Ben schloss die Augen, stöhnte leise. An diesem Punkt in seinem Leben spielte nichts mehr eine Rolle. Sollte Jochen ihn zusammenschlagen, hinter Gitter bringen, einweisen lassen, töten – Ben war das Einerlei. Dass er nicht davonkam, wusste er schon lange, aber Jochen würde mit ihm zusammen untergehen.
»Was soll diese bescheuerte Aktion?« Der Atem der Worte kitzelte in Bens Ohrmuschel. Das Mauerwerk scheuerte an seiner Wange. Der Griff des Polizisten war fest, aber nicht grob.
»Widerstand«, ächzte Ben, »Mission.«
Der kräftige Körper im Rücken fixierte ihn nicht bloß, er war Halt, er war Sicherheit. Kurz ließ Ben alle Anspannung aus seinem Körper fahren, testete, wie sicher er gehalten wurde.
Sehr sicher. Er fiel nicht.
Paul drehte ihn herum und Bens Knie gaben nach, doch er fing sich rasch wieder. Paul stabilisierte ihn. »Doch nicht auf diese Art! Ich meinte das mehr … metaphorisch.« Paul schüttelte den Kopf. »Da drin …«, er legte, wie damals in der Praxis, die Hand auf Bens Brust. »Ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt. Ich dachte, du hättest das verstanden.«
Traumwandlerisch starrte Ben Pauls Adamsapfel an, wollte sich nach vorn kippen lassen, sich gegen die harte Brust lehnen. Er fühlte sich wie betrunken, wie im Rausch. Unterzuckert, übermüdet, geil – alles war egal, Hauptsache, die Angst verschwand endlich. Die Knochen waren es leid, sie zu dulden.
Paul schaute Ben eindringlich an. »Herrgott! Wenn Jochen das rauskriegt!« Er schnaubte und rollte hilflos mit den Augen. Er hatte Angst. Angst, die Ben nicht mehr verspürte. »Willst du, dass er dich umbringt? Und du weißt, dass das nicht nur ein geflügeltes Wort ist!«
Ben zuckte mit den Schultern und schielte auf Pauls glattrasiertes Kinn. »Egal. Soll er doch.«
Entsetzt klappte Paul den Mund auf und zu. Seine sanften Augen weiteten sich alarmiert und seine schönen Lippen formten ungesagte Worte, ehe Paul betroffen zwischen ihnen hervorstieß: »Was? Was redest du denn da?«
Bens Tränen kamen eruptiv, unerwartet, waren plötzlich da. Eben noch hatte er sich so stark gefühlt – gefühllos, fast wie Jochen, allmächtig, bar jeder Furcht – doch nun schlug das Gefühl mit voller Härte zu, schwappte hoch wie eine Welle. Von der Ferne her hörte Ben ein Schluchzen. Sein eigenes. Er sagte etwas, aber es war so diffus, als stünde eine Flasche Wodka zwischen seinem Hirn und seiner Zunge.
»… es ist alles egal, ich will nicht mehr, du hältst mich einfach nur hin, du willst mir gar nicht helfen, du spielst doch auch nur mit mir, du hast gesagt, es dauert nur ein paar Wochen, sechs Monate ist das her, sechs verdammte Monate, ich glaub dir nicht, du hast dich mit ihm angefreundet, du hilfst zu ihm, du denkst doch auch, dass ich bloß ein labiler Psycho bin und entmündigt gehöre, nur zu, nur zu, macht mit mir, was ihr wollt, mir egal, ich bin eh schon nicht mehr da, wäre also nur eine Formalität, mir egal, dass du mich nicht …, mir vollkommen egal, ich mache mir keine Hoffnung mehr, dass du mich siehst, mich, und nicht bloß ein Projekt, einen Nagel für Jochens Sarg. Wenn du es genau wissen willst, ich hasse dich, ich hasse dich, ich hasse dich …«
Ben ließ zu, dass Paul ihn umarmte, drückte sich dankbar an seinen kräftigen Körper, krallte sich an ihm fest, schluchzte. »Ich hasse dich, ich hasse dich, ich hasse dich.«
»Schschsch!« Paul streichelte über Bens Rücken, kraulte ihm zärtlich den Nacken. »Ich halte dich nicht hin, Ben. Das alles ist nur viel komplexer als ich angenommen hatte. Jochen ist echt gut.«
Mit geballten Fäusten aber kraftlos trommelte Ben gegen Pauls Schulterblätter. Gut? Nun kam ihm auch noch Paul damit? Gut! Wenn Jochen ›gut‹ war, dann war Ben schlecht. Dann verdiente er …
»Versprich mir, dass du damit sofort aufhörst.« Paul meinte die Graffiti. »Ich bin kurz davor, ihn wegen Ines festzunageln. Mach jetzt keinen Unsinn, Ben, bitte!« Letzteres flüsterte er eindringlich und sein Atem pustete über Bens Haar.
Die Augen geschlossen, die Nase verstopft, presste Ben das Gesicht an Pauls Schulter. Er wollte nichts von Durchhalten hören, von Starksein, von Vernunft und den Dingen, die besser würden. Er wollte jetzt frei sein. Er wollte Paul jetzt. Oder gar nicht. »Aber …«
»Wir haben doch darüber gesprochen, Ben. Er würde es wittern, wenn wir ihm etwas verheimlichen. Selbst wenn du ein brillanter Lügner wärst … du hättest keine Chance gegen ihn. Wir hätten keine Chance.«
Ben löste sich aus der Umarmung und zeigte auf das Graffito. »Und was ist damit? Er hat vier Monate lang nichts rausgekriegt. Ich kann ihm etwas vormachen. Wenn ich das hier machen kann, dann auch mit dir zusammen sein.«
Verdutzt blinzelte Paul ihn an und schluckte. »Das soll ein … Liebesbeweis sein? Ben … du … das ist unnötig … Es ist ein sinnloses Risiko – viel zu gefährlich …«
»Das ist mir egal.«
Paul rang mit sich, schnaubte, schüttelte den Kopf, fuhr sich übers Gesicht. Schließlich schaute er Ben bis in die zerschrammte Seele. »Verdammt … Ben!«
Er machte einen Schritt auf ihn zu, drückte ihn gegen die verwitterte Mauer, umfasste seinen Kopf und schnappte nach seinen Lippen. »Verdammt …«, nuschelte er zwischen zwei gierigen Küssen, drängte sein Becken gegen Ben und ließ eine Hand zwischen ihre erhitzten Körpern abwärts gleiten. Hastig schob er Bens Shirt hoch, um an den Gürtel zu kommen, nestelte hektisch an Bens Jeans herum, knöpfte sie flink auf und schob die Hand in den Slip. Seine Finger tasteten zwischen Bens Schenkel und schlossen sich um sein Geschlecht …
Ben stöhnte in den Kuss, streckte sich unter einem erregenden Schauer durch und hielt sich an Paul fest, zitternd vor Erregung. Es war weniger Lust als Gier. Pauls Berührungen waren geschickt, zielführend, viel zu effizient. Nur wenige Sekunden, in denen Stoff raschelte, die Grillen schwiegen, zwei Männer keuchten, dann krampfte Ben, wimmerte und entlud sich in Pauls Hand. Während die Ekstase noch in seinem Hirn kitzelte, küsste Paul zärtlich, fast beruhigend vom Kiefer bis zum Ohr und von da den Hals abwärts.
Vom Rausch der Lust noch ganz benommen blinzelte Ben über Pauls Schulter hinweg – und erstarrte. Unter der Laterne stand Jochen, der Blick kalt, wie sonst nur hinter geschlossenen Türen.
Ben rubbelte mit der rauen Seite eines Topfschwamms über Ines’ Daumennagel, um den blauen Glitzerlack runterzubekommen. Ines quengelte.
»Da gibt es so eine Flüssigkeit, damit geht das ganz einfach«, erklärte Tim, der etwas ratlos vor dem Geschwisterpaar kauerte. »Verwendet meine Pflegemutter immer. Hab ihr sowas nicht hier? Ich schau mal ins Bad …«
»Spar dir das«, murmelte Ben. »Siehst du hier irgendwen, der Nagellack benutzt?« Er drehte sich zu Ines herum und strubbelte durch ihr Haar. »Abgesehen von der kleinen Hexe hier?«
Sie senkte den Blick. »Aber alle Mädchen in unserer Klasse haben …« Sie verstummte. Sie wusste, warum Ben so panisch reagierte. »Tut mir leid.«
»Tina und Meli kommen auch dauernd mit sowas an«, meinte Tim und zwinkerte Ines zu. Sie lächelte scheu.
»Aber deine Pflegeeltern sind nicht wie Jochen«, platzte Ben heraus und prüfte ratlos Ines’ Daumen. Über dem Knöchel zeigte eine feine Hornhaut, dass sie noch immer Daumenlutschte. Den Großteil des Lacks hatte Ben schon abbekommen, aber die Mädels hatten ziemlich dick aufs Nagelbett gekleckst und da konnte Ben nicht brutal rumschrubben, ohne Ines wehzutun. Er seufzte und schüttelte gefrustet den Kopf. Wenn Jochen den Lack entdeckte … nein! Er durfte davon nicht Wind bekommen!
»Was meinst du, kleine Hexe?« Ben zeigte auf die blauen Ränder des Daumennagels. »Kannst du das hier runterknabbern?«
Ines fuhr überrascht zu Ben herum und glupschte ihn ehrfürchtig an. »Echt?«
»Ausnahmsweise! Und kein Wort zu Jochen, okay?«
Sie nickte eifrig und glotzte begeistert auf ihren Daumen.
Tim grinste Ben verheißungsvoll an, wackelte mit den Augenbrauen und deutete mit dem Kopf Richtung Zimmer.
Bens Bauch kribbelte. Vorhin, als sie zu dritt von der Schule heimgegangen waren, hatten er und Tim erstmals Händchen gehalten. Es hatte sich aus Spaß ergeben. Erst war Ines zwischen ihnen beiden an den Händen gelaufen, dann hatte Tim herumgealbert und darauf bestanden, auch Mal in der Mitte gehen zu dürfen, weil er noch nie in der Mitte gegangen wäre und Ines war in das Spiel sofort mit Eifer eingestiegen. Auch Ben durfte mal in der Mitte gehen.
So, wie Tim die Finger in Bens Hand geschoben hatte, war das kein alberner Scherz gewesen. Seit einigen Wochen schon passierten sie, diese kleinen Berührungen, die Gänsehaut auslösten, die im Bauch kribbelten, die Bens Herz zum Rasen brachten – und sie wurden immer unzufälliger. Bei den vielen sanften Alibirangeleien hatte Ben schon mehrmals Tims Ständer bemerkt und es darauf angelegt, dass Tim auch seine Erektion entdeckte.
Vorhin hatte Tim mit den Fingerkuppen auffällig sanft Bens Handfläche gestreichelt, und anschließend ihre Finger miteinander verschränkt. Damit bekam das alles plötzlich eine ernste Komponente, etwas Offizielles. Auch wenn sie darüber noch kein Wort verloren hatten, war Ben davon überzeugt, dass das nur bedeuten konnte, dass sie nun richtig zusammen waren. Ben hatte also seinen ersten richtigen Freund – und der hockte bei ihm im Wohnzimmer und wollte mit ihm ins Zimmer verschwinden.
Dabei durfte Tim eigentlich gar nicht hier sein. Niemand durfte in die Wohnung, den Jochen nicht ausdrücklich eingeladen hatte – aber hätte Ben seinen Freund vor der Tür stehen lassen sollen? Außerdem hatte Tim angeboten, bei der Sache mit Ines’ Nagellack zu helfen, auch wenn er dann bloß zugesehen und wenig brauchbare Ratschläge erteilt hatte.
Du solltest jetzt gehen, dachte Ben, doch die Hormone ließen nicht mit sich verhandeln. Er wandte sich an Ines. »Wenn du Jochen nicht verrätst, dass Tim hier war, darfst du dir Cartoons ansehen, okay?«
Ines jauchzte begeistert auf, nickte heftig und umarmte erst Ben, dann Tim. »Ich verrate nichts. Ehrenwort!« Sie hopste zum Fernseher, schnappte sich die Fernbedienung und kniete sich nur einen Meter vom Bildschirm entfernt auf den Boden.
»Nicht so … nah.« Ben schüttelte seufzend den Kopf, wusste er doch, dass Ines ihn nicht mehr hörte. Cartoons hypnotisierten sie.
Tim sprang hoch und schaute Ben seltsam an, irgendwie verführerisch. Wortlos und mit weichen Knien tappte Ben an Tim vorbei, streifte dabei wie zufällig seine Hand und ihre kleinen Finger verhakten sich. Mit polterndem Herzen führte Ben erstmals seit dem Unfalltod der Eltern vor zwei Jahren jemanden in sein Zimmer, und er wusste, dass sie zusammen nicht, wie einst, Computerspiele zocken würden.
Was er allerdings nicht wissen konnte, war, wie teuer ihnen allen diese Liebe noch zu stehen kommen würde.
Ein ungeschriebenes Gesetz besagt, dass, wenn ein Raum keine Fenster hat und in ihm das Grauen weilt, mindestens eine der kalten Neonröhren flackern muss. Die Stahlfronten der Kühlkammern multiplizierten die schaurige Atmosphäre. Ben spürte seine Beine nicht mehr, nur die warme Hand, die seine hielt, so fest, dass die Knöchel knirschten. Das flache Gebirge aus weißen Laken wirkte so unscheinbar, dass Ben Hoffnung schöpfte. Fünf Meter. Sekunden für das letzte Aufbäumen absurder Spekulationen.
Ein Waschbär. Ein Kitz. Das Laub einer jungen Ahorn – feinsäuberlich zusammengetragen. Eine Wurzel mit
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Kooky Rooster
Bildmaterialien: Kooky Rooster
Tag der Veröffentlichung: 10.11.2014
ISBN: 978-3-7368-5474-1
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Den Geschundenen.
Was ihr braucht, ist eine Menge Glück, das ihr ertragen müsst.