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Vorwort

 

Obwohl ich rückblickend vermutlich schon als Kleinkind an Depressionen litt, brauchte ich viele, viele Jahre, ehe ich mich dazu bekennen – ehe ich den Mut aufbringen konnte, diese Krankheit zu akzeptieren und mir Hilfe zu holen.

Idealerweise hatte ich immer dann (Nerven-)Zusammenbrüche, wenn niemand da war, wenn niemand mein Elend sehen konnte, wenn ich Zeit und Raum dafür hatte. In diesen Stunden und Tagen, oftmals nachts oder am Wochenende, hatte ich ein Gespür für die Gefahr, die mit dieser Krankheit einherging, und entschied nicht selten, mir am nächsten Morgen oder am Montag Hilfe zu holen. Doch am nächsten Morgen oder am Montag wollte ich von all dem nichts mehr wissen. Ich sagte mir, das wäre ein einmaliger, jämmerlicher Ausrutscher gewesen, Schwamm drüber, weitermachen. Mitunter ging das über Monate hinweg täglich und wöchentlich so dahin. Durch meine neurotische Komponente hatte ich einen gigantischen Zwang, nach außen hin Normalität zu simulieren, während in mir nur noch die Dampfschwaden eines Schlachtfeldes dahinpafften.

Irgendwann begann ich, aufzuschreiben, wie es mir geht, das Elend in Worte zu fassen. Für mich selbst. Um mich zu erinnern, zu ermahnen, mich dazu zu zwingen, Hilfe aufzusuchen. Doch wenn ich stark genug war, aufzustehen, theoretisch stark genug war, Hilfe zu suchen, dachte ich, ich hätte es überwunden. Ich las die Texte oft nicht einmal, sondern warf sie sofort weg. Sie waren mir peinlich. Jämmerliches Geschreibsel, Beweise meines Versagens.

So ging das über Jahre. Manchmal schaffte ich es tatsächlich, einen Termin bei einem Arzt zu machen, sagte ihn aber bald darauf aus Scham wieder ab. Ich bin doch nicht verrückt. So sicher ich mir war, spätestens seit meinem zwölften Lebensjahr Depressionen zu haben, so groß war meine Angst davor, diese Diagnose gestellt zu bekommen. Noch konnte ich mir einreden, ich wäre nur wehleidig, überempfindlich, ein Jammerlappen, wenn sie aber erst einmal schwarz auf weiß stünde, dann wäre ich amtlich krank.

Mehrere Anläufe brach ich ab, sobald ein Therapeut weitere Schritte einleiten, einen Befund schreiben und meinen Hausarzt involvieren wollte. Ich lief davon. Ich nahm mir vor, ab jetzt mit gutem Willen einfach nicht mehr depressiv zu sein. Funktionierte natürlich nicht. Diese Feigheit hätte ich mehrmals fast mit dem Leben bezahlt. Aber irgendwann, beinahe zu spät, will ich sagen, schaffte ich es.

Als diese Diagnose endlich auf dem Papier stand, als sie endlich offiziell war, fühlte sich das nicht so furchtbar an, wie ich immer gefürchtet hatte. In gewisser Hinsicht war es sogar eine Erleichterung, und der erste Schritt zu einer Besserung. Ich lernte zu akzeptieren, dass meine Depression keine Laune ist, kein Versagen meinerseits, dass es einfach eine scheiß Krankheit ist, aber dass man etwas tun kann und daran nicht zwingend sterben muss.

Leider werde ich das Ding nicht mehr los. Vielleicht habe ich zu lange gewartet, sodass es chronisch ist, oder ich bin eben einfach so. Ich habe mich arrangiert, lebe damit, dass es gute und schlechte Zeiten gibt. Immerhin ermöglicht mir diese Tiefe, in die mich die Krankheit immer wieder zerrt, auch mein kreatives Potential auszuschöpfen. Die Tendenz, wegzulaufen, ist nach wie vor da, heute, indem ich schreibe wie besessen. Die »Dame in Schwarz« kommt trotzdem regelmäßig und ich höre ihr gut zu, sie hat mir tatsächlich oft Wichtiges zu sagen.

Auch heute noch verfasse ich während der düsteren Zeiten Texte, die sich mit Depression befassen. Oft erschaffe ich depressive Protagonisten und Kurzgeschichten rund um Depression, Burnout und Amoklauf, die ich aber ebenso wie früher, wieder lösche und verwerfe. Wer liest diesen düsteren, selbstmitleidigen Scheiß? Wen interessieren schon die seelischen Qualen gestörter Protagonisten? Das passt nicht zu Gay-Romance und Homoerotik. Überhaupt hat Depression wenig mit Sexualität oder sexueller Ausrichtung an sich zu tun, in der Regel bedeutet sie das vorläufige Ende von Sexualität.

Zugleich merke ich aber vor allem durch meine düstereren Gay-Romance-Geschichten, dass prinzipiell ein Interesse an dem Thema besteht. Dass nicht jeder Leser den Schritt in die Schwärze meiden will. So mancher, der so etwas kennt, sucht auch Gesellschaft. Ich selbst hätte und habe einst viel von depressiver Kunst, ob in Musik, Text oder Bild, profitiert. Anders, als Gesunde oft meinen, zieht es nicht zwingend runter, sondern ist es Depressiven Gesellschaft. Wir sind nicht alleine. Wir sind nicht abnormal oder verrückt. Eine der schönsten Erfahrungen war, einstmals Foren für Depressive aufgesucht zu haben.

Ich habe mich daher dazu entschlossen, hier Geschichten, vielleicht auch Bilder und Gedichte zu sammeln, die sich rund um das Thema Depression, Burnout und Amoklauf drehen. Statt sie gar nicht erst zu schreiben, oder nach dem Schreiben zu löschen, werde ich sie nun festhalten und hier veröffentlichen.

Da es nicht um Gay-Romance und Homoerotik geht, auch wenn ich einige Protagonisten schwul sein lassen werde, verfasse ich dieses Buch unter meinem Pseudonym Adele Ekeltrosh, um Enttäuschung und falsche Erwartung zu vermeiden.

Auch werde ich keine Rundmails schreiben, wenn ich neue Geschichten hochlade. Sollte aber jemand dennoch Interesse haben, informiert zu werden, vermerkt das in einem Kommentar. Ich fasse das dann für einen Newsletter zusammen.

Eure

Kooky Rooster alias Adele Ekeltrosh
 

1| M., eine Komödie zum Dreißigsten.

 

M. lachte viel und laut. Er sprach viel und schnell. Bei keinem der Leute auf der Party blieb er länger als drei Minuten stehen, dann wurde er nervös, dann musste er sich mit stärkeren Reizen ablenken. Er horchte auf die Musik, zog sie durch die Ohren hinein bis in die Knochen, tanzte kurz aber aggressiv, dann kam er sich blöd vor und verließ den Raum, um in einen anderen zu gelangen. Die Toilette mied er, weil es da ruhig wäre. Weil er da alleine wäre. Es durfte nicht abreißen, das Tun und Reden und Machen und Hören und Sehen. Es war völlig unwichtig, worum es ging, Hauptsache, es ging.

Immer wieder strich die Schwärze wie ein hauchdünnes Seidentuch über sein Gesicht, machte es glatt, ließ für Bruchteile von Sekunden alle Anspannung aus seinem Körper rutschen. Der Schwindel griff nach ihm. Von der Hölle herauf streckte sich eine Hand nach seiner Seele aus, dann wechselte M. schnell den Standort, gesellte sich rasch zu ein paar Leuten, drängte sich ins Gespräch, erzählte einen Witz, lachte. Über dem Abgrund schwebend erwachte die Gabe der Spontanität. Wenn das Leben davon abging, zu fliegen, dann gelang das auch. M. kam in Fahrt. Ein Witz jagte den anderen, nichts war ihm heilig, ein satirischer Moment jagte den nächsten, sein komödiantisches Talent zündete einen Flow. Wie auf einer Welle surfte M. dahin, und um ihn herum bildete sich eine Traube Menschen, die lachte, bis ihr die Tränen lief.

Du solltest Kabarettist werden, sagte jemand.

Herrlich, sagte ein anderer und wischte sich Lachtränen aus dem Augenwinkel.

Hör auf, ich kann nicht mehr, meinte eine Frau und hielt sich den Bauch.

Doch M. hörte nicht auf. Er konnte nicht aufhören. Dass er von Klippe zu Klippe sprang, sich mit den Fingerkuppen von Vorsprung zu Vorsprung hangelte, unter ihm das Nichts, die Hölle, ahnte keiner. Nächste Pointe, nächste Lacher, keine Pause, kein Halt. M. blickte auf die offenen Münder, die geschwollenen Backen, die tränenden Augen, die bebenden Brüste, die Hände, die auf Schenkel klopften. Er erschuf jede Welle neuen Lachens, dessen quirligen Töne wie Spott über ihm hinwegpolterten. M. war allein. Er stand auf der einen, sie auf der anderen Seite. Es gab praktisch keine Verbindung. Wie bescheuert Lachen klang, wenn man es nicht verstehen konnte. Nächste Pointe, etwas Selbstironisches diesmal. Witze auf Kosten des Komikers waren die besten. Lachen. Jaulen. Grölen. Allein. So scheiß allein. M. könnte aufstehen, sich umdrehen, weggehen. Aber er lachte, klopfte auf den Tisch, warf die nächste Pointe hinterher. Sie tummelten sich geradewegs durch seine Kehle, die Witze, türmten sich auf, konnten kaum schneller ausgesprochen werden, als sie sich über seine Lippen drängten, doch gemach, gemach, nicht vergeuden, nicht zu schnell anbringen.

Wieder die schwarze Hand, diesmal von vorne, als ragte sie aus den Rippen der anderen, wie ein Schatten, groß und bedrohlich. Näherte sich ihm. Der Schweiß stand auf M.s Schläfen, vom Lachen, von der Angst. Er wollte gerne weglaufen, sich verkriechen, niemanden hören, niemanden sehen, um durch all diese lachenden Fratzen nicht so sehr an sein Anderssein und seine Einsamkeit erinnert zu werden. Familie, Arbeitskollegen, Freunde. Seinetwegen waren sie hier, seinetwegen lachten sie. Dreißig war ein schönes Alter. Mitten im Leben. Weit davon entfernt, alt zu sein – aber auch kein naiver Jungspund mehr. Die Jugend des Alters und das Alter der Jugend. Reif, aber nicht abgeklärt. Jung, aber nicht mehr grün hinter den Ohren.

Einige hier kannten ihn genau so lange, wie er alt war. Dreißig Jahre. Aber niemand kannte M., und M. war sich nicht sicher, ob er sie kannte. Aber er wusste, wie er sie zum Lachen bringen konnte. Zu selten, aber heute war ein guter Tag. Der irgendwann vorüberging.

Das Gewicht kroch immer wieder gleich trägen Gifts in M.s Gelenke. Die Brust wurde ihm eng, das Herz wurde zwischen zwei Buchseiten gepresst, fest, fest, wie ein Gänseblümchen zum Trocknen. Bald würde es knistern, flach sein, ein ideales Lesezeichen im Buch eines sinnlosen Lebens.

M. lachte beim Abschied. Ja, es war ein ausgesprochen gelungener Abend. Er winkte, er schüttelte Hände, er verteilte Küsse auf Wangen, er zog die Arme um seinen Körper und wankte durch die Kälte heimwärts.

Unterwegs wollte er umkehren, die Zeit zurückdrehen. Er hörte noch das Lachen, sah die fröhlichen Gesichter. Gesellschaft. So anstrengend sie war, so froh er war, da raus zu sein, so sehr sehnte er sie zurück. Nein, so sehr fürchtete er das Loch, das vor ihm lauerte wie das Innere eines Darms. Er wurde verdaut, schon seit Langem.

 

Mitsamt Mantel und Schuhe ließ er sich aufs Sofa fallen, zog die Beine an. Beinahe hätte er sich einfach auf die Stiegen im Treppenhaus gelegt, zu schwer war sein Körper, die Lebensgeister waren verdampft. Noch immer tobten die Stimmen des Abends durch M.s Kopf. Er lächelte. Es war ein Krampf, ein Zwang, den das Echo des geselligen Abends forderte. Durch M.s Kopf hallten die Worte, die er gesprochen hatte. Dumme Sätze, verabscheuenswürdig, blöd, verachtend. Er hasste sich dafür. Für den Tonfall. Er schämte sich. Nach und nach tröpfelten Sätze in sein Bewusstsein, die er vor Jahren gesagt hatte, belanglose Sätze in belanglosen Situationen. Sie terrorisierten ihn mit Schuldgefühlen, obgleich M. nichts Verwerfliches an ihnen fand. Sie fühlten sich einfach furchtbar daneben an. Selbst ein fröhlicher Gruß vor fünfzehn Jahren gab ihm nun Ohrfeigen links und rechts.

M. bemerkte, dass er zitterte. Ein Schüttelfrost ließ seine Zähne klappern. Krämpfe, die nicht in seinem Körper waren, sondern in der Luft um ihn herum. Die schwarze Hand griff von unten in ihn hinein, durch den Bauch, schloss die Faust um seine Seele, packte sie, riss daran, riss sie aus der Brust, und zerrte sie mit einem Ruck abwärts ins Nichts.

Der Schmerz ließ M. aufjaulen. Er heulte, krümmte sich zusammen, hielt sich den Kopf, rollte sich auf den Rücken, wimmerte, winselte. Vielleicht wurde er jetzt endlich verrückt. Mittlerweile piesackten ihn keine konkreten Erinnerungen mehr, jetzt war es der namenlose Schrecken. Sein ganzes Selbst war falsch. Er war ein Versager. Er war nichts. Er war wertlos. Es war ein Verbrechen an der Welt, dass er lebte. Die bloße Existenz war eine Schuld, die er ewig würde büßen müssen. Der Schmerz packte M., schleuderte ihn von einer Zimmerecke zur anderen, zertrat ihn unter den Füßen, bespuckte ihn.

M. fühlte die Hand seines Vaters, wie sie immer und immer wieder seinen Hinterkopf schlug. Nicht körperlich schmerzhaft, aber demütigend. Er hörte den Klaps gegen den Schädel, das Knistern seiner Haarsträhnen, die unter dem Schlag zerwuschelten. Es hörte nicht auf. Die Hand hatte ihn zuletzt vor vierzehn Jahren so getroffen. Vater war tot. Dennoch fuchtelte diese Hand immer und immer wieder über M.s Hinterkopf. Eine Arie der Demütigung. Du bist Abschaum. Du bist nichts Wert. Schäme dich.

Irgendwann kam der Schmerz, der nicht greifbar und doch so präsent war, zu einem Höhepunkt. Von der einen zur anderen Sekunde, als risse ein Gummiring, kehrte Ruhe ein. Plötzlich schnellte die Spannung aus M.s Gesicht, jeder Muskel ließ los, begann eiskalt zu kribbeln, als hätte er sich einen Nerv eingeklemmt, dann fühlte er nichts mehr. Als wäre der Körper nicht Teil seines Selbst, als wäre er ein interesseloser Bewohner dieser nutzlosen Fleischmasse in diesem nutzlosen Leben, saß er darin wie ein Fremder, wie ein Besuchter. M. war versteinert. Stillstand. Draußen zwitscherten die ersten Vögel in die beginnende Dämmerung. M. schlief ein.

Kehle und Zunge brannten, als M. erwachte. Dem Licht nach musste es Nachmittag sein. Der Schweiß klebte an seinem Körper. Er musste dringend trinken. Er musste dringend pissen. Er konnte sich nicht bewegen. Als hätte die Schwerkraft über Nacht ein Vielfaches zugelegt, hing er im Sofa und schaffte es nicht einmal, einen Arm zu heben. An seinen Schläfen klebte Salz und die Augen waren zugeschwollen. Minutenlang verfluchte M., dass er aufgewacht war, dass er nicht einfach verreckt war. Die wahre Verschwörung des Lebens gegen ihn war die Hartnäckigkeit desselben. Wie sehr beneidete M. die Leute, die einfach so starben, grundlos, im Schlaf. Wie sehr beneidete er die Toten überhaupt, dafür, dass sie tot waren, dass sie es hinter sich hatten. Anders als andere, die Trauer empfanden, freute er sich für jeden, der starb.

Die Zeit blieb stehen. M. fühlte nichts als diese unerträgliche Abgeschlagenheit. Nichts hatte Relevanz. Warum pisste er sich nicht einfach an? Er könnte liegenbleiben, bis er verdurstet war, dem Gefühl nach konnte das nicht mehr lange dauern. Seine Nieren schmerzten, die Schläfen pochten. Das waren die einzigen Gefühle. Wehwehchen überall im Körper. Der Rest, die Seele, war eine Aschewüste. Leblose grauweiße Nebelwelten.

Überlegungen reiner Vernunft siegten irgendwann und M. stand auf, um aufs Klo zu gehen. Das hieß: Er setzte sich auf, blieb eine Stunde oder eine Woche sitzen, Zeit verging nicht und verflog zugleich. Obwohl erst dreißig schob er sich Schritt für Schritt Richtung Toilette, wie ein Neunzigjähriger. Immer wieder verlor er das Gleichgewicht, musste sich festhalten. Schwindel packte ihn, in der Wirbelsäule schien jeder Nervenstrang freizuliegen.

Irgendwann fand sich M. im Bad wieder. Aus dem Mantel zu schlüpfen hatte fast eine halbe Stunde benötigt. Immer wieder hielt er mitten in Bewegungen oder Wegen inne, weil sie keinen Sinn ergaben, weil es keine Rolle spielte. Wozu ins Bad gehen? Wozu durch den Flur gehen? Wozu waschen, trinken, pissen? Wozu diesen verhassten Kadaver durch die Gegend schleppen und ihn instand halten? Fast eine Viertelstunde hatte er mitten beim Ausziehen des Mantels innegehalten, wie eine Statue, weil ihm der Grund entfallen war, es zu tun. Ebenso war ihm aber auch der Grund entfallen, es nicht zu tun. Wozu sollte er den Mantel ausziehen? Wozu anziehen?

Der Abend dämmerte, als M. es endlich schaffte, sich nackt in das kalte Email der Badewanne zu legen. Er hätte vorher Wasser einlassen müssen, aber er hatte sich wahrscheinlich nicht entscheiden können. So weit vorausplanen, war im Moment nicht seine Stärke. M. fühlte sich mehr wie ein Tier, denn ein Mensch, das instinktgetrieben für seine eigene Erhaltung sorgt. Ein Tier, das einen harten Lebenskampf auf der Straße hinter sich hatte und halbtot im Tierheim aufgenommen worden war. Doch M. war kein Tier und er hatte keinen harten Überlebenskampf hinter sich. Er war ein Niemand. Er hatte einen guten Job, er sah nicht schlecht aus, er war einigermaßen beliebt, zumindest gab es Menschen, die ihn schätzten. Er hatte es zwar nicht leicht gehabt, aber alles andere als richtig schwer. Dass er sich trotzdem wie der letzte Dreck fühlte, dass er all das Gute nicht spüren konnte, machte ihn zum Versager. Ja, er war ein Nichtsnutz. Er hatte nichts von alldem verdient, das er hatte. Warum verreckte er nicht endlich?

Mit zitternden Fingern betätigte er die Stellschrauben des Wasserhahns und die Wanne füllte sich. Erst mit zu heißem, dann mit zu kaltem Wasser. M. zwang sich zu einer realistischen Bestandsaufnahme seines Zustands. Hatte es in seinem Leben je schöne Momente gegeben? Vermutlich. Sonst wäre er nicht hier. Aber er erinnerte sich nicht daran. Alles, was er hätte auch nur im Entferntesten als schön oder gelungen hinstellen können, erschien ihm wie eine Lüge, eine Heuchelei, ein wertloses oberflächliches Spiel, nur so tun als ob. Nur die düsteren, versagenden, schlimmen, schrecklichen Stunden waren echt und ehrlich. Denn so war die Welt. Ein hassenswerter, kalter Ort in dem Menschen wie Raubtiere umherzogen und für den eigenen Vorteil andere opferten. Es gab nichts Gutes. Das war das Fazit. Alles Gute war nur Fassade. Hinter jedem Sonnenschein steckte die Schwärze des Alls, das weit umfassender, tiefer, unendlich war. M. wusste, dass er nichts vom Ausmaß des wirklich Schrecklichen wusste, den Dingen, die passierten, während er hier ein Bad nahm. Es wurde vergewaltigt, gefoltert, ermordet, unabhängig davon, ob die Opfer Frauen, Männer, Kinder, Babys oder Tiere waren – nur eines war sicher: Die Täter waren Menschen. Menschen wie M.

Warum nahmen die Leute das hin? Warum nahm M. das hin? Weil man nichts machen konnte. Weil die Welt nun einmal ein schrecklicher Ort war und es war endlich an der Zeit, das zu kapieren und die Konsequenzen daraus zu ziehen.

Plötzlich bekam M. Angst, sich selbst zu töten. Zu sehr wollte er es. Zu plausibel waren die Argumente dafür. In seinem Geiste ging er, wie so oft, mögliche Szenarien durch. Am Einfachsten wäre jetzt etwas Schnelles, Gewalttätiges. Er könnte aus dem Fenster springen oder sich ein Messer in die Brust rammen. Aber irgendwie wollte er nicht sterben. In erster Linie, weil er sich dafür schämen würde. Wie grotesk das war, war M. klar. Wenn alles egal war, dann auch, wie er starb. Dann war egal, wie man ihn fand. Dann war eben alles egal. Aber das war es in all der Wüste trotzdem nicht. Und dafür konnte sich M. wiederum hassen.

Inkonsequenz, welch verabscheuungswürdige Feigheit.

M. stieg aus der Wanne, nass wie er war, tappte er ins Wohnzimmer, hoffte, dass er ausrutschte, und sich das Genick brach. Hoffte, ein Hirngerinsel würde ihn von einer zur nächsten Sekunde dahinraffen. Ein für sein Altern untypischer Herzinfarkt würde ihn töten. Es war der Wunsch zu leben, der die Gefühle wieder hervorholte, der ihn heulen ließ wie ein verwundetes Tier. Er suchte im Internet nach Notrufnummern. Bisher hatte er so etwas noch nie beansprucht. Bisher war er aber auch noch nie so nah dran gewesen, sich zu töten und zugleich Leben zu wollen.

Einen Suizidversuch hatte er schon hinter sich, aber damals … das war anders, das war damals, das zählte nicht, er war jung und dumm und hatte geglaubt, das Leben hätte noch etwas Schönes für ihn übrig. Er hatte es mit dem Tod erpressen wollen. Rücke das Gute raus. Jetzt! Er hätte es richtig machen sollen, damals, nicht so feig. Jetzt war er dreißig und hatte allerlei geschafft, aber änderte das etwas? Nein. Alles, was er erreicht hatte, zeigte ihm nur, was für ein Versager er war, weil er es einfach nicht aus seinem Elend herausschaffte. Weil er es einfach nicht schaffte, glücklich zu sein, oder auch nur normal. Immer nur diese tonlose Schwärze, der Schmerz, das Gefühl, ein Nichts zu sein, ein Versager, nicht existieren zu dürfen.

Er wählte die Nummer. Besetzt. Er wählte sie nochmal. Irgendwann ging jemand ran. Hallo?Mir geht es schlecht. Ich denke an Selbstmord.Hallo? … Hallo?Hallo, ich rufe an, weil …Hallo? Aufgelegt.

Ratlos glotzte M. auf sein Telefon. Das sollte ihn davon abhalten, sich umzubringen? Warum hatte ihn der Mann auf der anderen Seite der Verbindung nicht gehört? War M. sogar für einen Hilferuf zu blöd? War er für den Notruf zu wertlos? Vielleicht war das ein Zeichen. Gewiss war das ein Zeichen. Der Tag war gekommen. Dreißig war eine runde Zahl. Geburtstag und Todestag in einem, das hätte etwas Poetisches.

Plötzlich läutete das Telefon. M.s Bruder. Na? Wie geht es dir? – Gut. – War ein toller Abend, gestern. – Ja, war super. – Alles klar? – Alles bestens. – Was machst du? – Ich … M. schaute sich um, blickte an seinem nassen, nackten Körper runter, stumme Tränen liefen über seine Wangen. Aufräumen. Ich räume auf. Er griff automatisch zur Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein. Und ich schaue dabei eine dieser dämlichen Serien, haha. Sie redeten zehn Minuten. Über das Fernsehen, die Party, Politik. M. lachte viel und laut. Er sprach viel und schnell. Dann legten er auf.

Für Sekunden war die Welt da gewesen, jetzt war sie wieder weg.

14.10.2018

 

 

 

Bin einfach nur noch erschöpft von dem Leben, das ich führe. Wo hab ich mich so falsch entschieden? Wann bin ich so katastrophal abgebogen? Momentan fühle ich mich, als wäre alles, das meinem Alter entspricht (oder dem, was man da erreicht haben sollte, oder Gleichaltrige) auf einer Art Schiff, das von der Küste losfährt, und ich habe es irgendwie verpasst, an Bord zu gehen. Ich hatte zwar noch einige Nachfristen bekommen, die sind aber nun vorbei. Ich könnte jetzt nur noch den Weg schwimmen, um es noch zu schaffen, aber das Schiff ist schon so weit weg. Ich fühle mich zurückbleiben an einer Küste ohne Leben, ohne Zukunft, in der ich mich von den Resten der Vergangenheit ernähre wie ein Eichhörnchen, das vergessen hat, Vorräte zu sammeln. Zu dumm zum Leben. Das fällt mir da nur ein. Ich habe irgendwo etwas gravierend falsch gemacht. Schon sehr, sehr früh, wenn ich mir alles so ansehe. Irgendwo als Kind, oder Teenager, und tausend Mal seither. Tausend Fehlentscheidungen, die eine Autobahn in diese Wüste gebaut haben, in dieses Nichts, das jetzt mein Leben ist.

Depressive Episode

 

 

Und sie hat mich wieder.

Wenn Coaches und Laien glauben, es besser zu wissen als Fachärzte mit zehnjähriger Ausbildung und zwanzigjähriger Berufserfahrung

 Ich bin depressiv. Das ist nichts Neues hier. Vor ein paar Wochen habe ich es geschafft, einen Facharzt aufzusuchen. Das war eine riesige Hürde, da unter anderem Antriebslosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Sinnlosigkeit, sowie Scham und Schuld starke Symptome von Depressionen sind. Man glaubt also nicht, dass es hilft, man muss sich gegen die bleierne Schwere und das Dickicht der Sinnlosigkeit durchkämpfen. Nicht umsonst gibt es eine Strafgebühr, wenn man den Termin nicht einhält. Sofort nach dem Anruf schämte ich mich dafür, Hilfe zu brauchen und einen Termin zu haben, wo man mir doch eh nicht helfen kann. Aber die Kohle, immerhin satte 35,- trieb mich schließlich hin.

Mir wurden drei verschiedene Medikamente verschrieben. Die einen sorgen für mehr Antrieb und sollen stimmungsaufhellend wirken. Die anderen helfen beim Ein- und Durchschlafen. (Mitunter lag ich bis zu sechs Stunden wach pro Nacht, zugemüllt mit schrecklichen Gedanken.) Und die dritten stabilisieren die Stimmung, also diese schlimmen Talfahrten sollten abgemildert werden.

Da ich mit meiner Depression offen umgehe, habe ich auch offen zugegeben, dass ich nun Tabletten nehme. Und das erzeugte interessantes Feedback. Vor allem Laien, die persönlich keine Depression kennen, die keine medizinische Ausbildung haben, und die auch nicht nach Depressionen recherchiert haben, fühlten sich ermächtigt, die Behandlungsmethode meines Psychiaters infrage zu stellen. Sie waren strikt gegen Tabletten. Sie waren sogar dagegen, dass ich einen Arzt aufgesucht habe. Sie haben mir wieder einmal bewusst gemacht, warum viele Betroffene über ihre Krankheit schweigen. Warum Depressionen noch immer Tabu sind.

Denn es wird einem immer noch vor allem von Laien (und das sind die meisten) das Gefühl gegeben, nur faul und ein Versager zu sein, sich gehen zu lassen, sein Leben falsch zu leben, es sich bequem zu machen, sich hängen zu lassen, nicht zu wollen, sich nicht zu bemühen, wehleidig zu sein und feige. Laien nehmen sich selbst als Maßstab. Das, was sie für eine Depression halten, ist maximal eine leichte depressive Verstimmung, wenn es im Leben gerade nicht gut läuft. Oder ein Bad-Hair-Day. Oder auch Trauer um eine geliebte Person oder ein geliebtes Haustier. Trauer ist gesund, sollte ausgelebt werden und geht vorbei.

Eine Depression ist NICHT gesund. Sie besteht auch nicht aus Trauer, sondern aus Leere und Hoffnungslosigkeit. Sie besteht aus Sinnlosigkeit und Schuldgefühle. Sie besteht aus Selbsthass und Terror durch die eigenen Gedanken. Sie besteht aus dem Wunsch, zu sterben, nötigenfalls durch die eigene Hand. Eine Depression ist eine Krankheit. Sie ist keine Stimmung, auch, wenn sie sich auf die Stimmung schlägt. Ich kann es nicht oft genug betonen: eine Depression ist eine Krankheit, die in zu vielen Fällen tödlich verläuft. Sie hat Auswirkungen auf den Körper, wie Schlaganfälle und kardiovaskuläre Erkrankungen, sie fördert Demenz und sorgt nicht nur wegen der Suizidgefahr für eine geringere Lebenserwartung. Noch mal für Laien: eine Depression ist eine Krankheit. Eine schlimme Krankheit. Menschen, die auch andere schlimme Erkrankungen kennen, wie Herzinfarkte oder so ernste Autoimmunerkrankungen, dass sämtliche ihrer Gelenke operativ ausgetauscht werden müssen, sagen selbst, eine Depression ist schlimmer. Viel schlimmer. Es gibt Menschen, die Krebs Depressionen vorziehen, wenn sie beides kennen.

Warum betone ich das so?

Eben, weil ich an Depressionen leide, suche ich im Internet immer wieder nach Artikeln und Beiträgen dazu. Ich bin auf der Suche nach möglichen Hilfsmitteln, nach neuen Forschungsergebnissen, nach allem, das mir helfen könnte, diesen Seelenkrebs loszuwerden. Vor allem, seit ich die Tabletten nehme, ist auch der Antrieb dafür wieder da, und Hoffnung, dass es möglich ist.

Dabei stoße ich vor allem auf Youtube immer wieder auf Coaches, die sich an das Thema herantrauen. Diese Coaches haben keine medizinische und fachärztliche Ausbildung. Folgt man ihren stümperhaften Vorschlägen, einer Depression beizukommen, wird sehr schnell klar, dass sie auch nicht zu diesem Thema recherchiert haben, und niemanden kennen, der eine Depression hat oder hatte. Es sind Coaches der Tschakka-Methoden, die sich darauf spezialisiert haben, gesunde Menschen für Reichtum, Erfolg und Liebesglück fit zu machen. Ob ihre Methoden gesunden Menschen helfen, kann ich nicht beurteilen. Aus meiner Perspektive kommen sie über Küchenphsychologie nicht hinaus und ignorieren vollkommen die psychologische Realität von Menschen.

Es gibt dieses Phänomen: Wenn man eine Zeitschrift liest, und da kommt ein Artikel über etwas, wo man Profi ist, stellt man beispielsweise fest, dass siebzig Prozent der Informationen falsch oder fehlerhaft sind, also die Materie nicht korrekt wiedergeben. Blättert man weiter zu einem Thema, in dem man nicht firm ist, nimmt man aber an, aus dem Artikel wertvolle und korrekte Informationen zu erhalten. Wenn ich also betrachte, welchen gefährlichen Schmafu diese Coaches in Sachen Depressionen von sich geben, ist anzunehmen, dass ihre Methoden für Erfolg, Liebe und Reichtum nicht weniger stümperhaft wie gefährlich sind. Ein guter Coach würde sich so sehr an das Thema Depression heranwagen, wie an jenes über Herzoperationen.

Ich gebe zu, der Beitrag hier geht auf einen speziellen Coach zurück, den ich vor einigen Wochen gesehen habe. Seine Heilmethode bestand aus grammatikalischen Spitzfindigkeiten. Man sei nicht depressiv, man habe Depressionen. Man sei also nicht, sondern habe. Um diese seine Erkenntnis zu verbreiten, brauchte er geschlagene zwanzig Minuten. Offensichtlich hat mich das mehr aufgeregt, als ich es zunächst wahrhaben wollte, denn Wochen später beschäftigt es mich immer noch.

Die Fehlannahme, die Gesunde haben, wenn sie Depressiven Ratschläge erteilen, ist jene, dass es Dinge gibt, die einem Spaß machen. Unter anderem schlagen sie einem genau das vor. Sie glauben, es gibt Dinge, die Depressiven gut tun. Sie können dieses Gefühl der Leere und der umfassenden Sinnlosigkeit nicht begreifen. Was ja gut und gesund ist, nur eben qualifiziert sie das nicht, Depressiven Ratschläge zu erteilen, oder ihnen gar von Arztbesuchen und Therapiemethoden Abstand zu nehmen. Denn ja, einem Depressiven werden von Laien auch Therapien und Rehaaufenthalte abgeraten. Man müsse es selbst schaffen. Denn der Gesunde habe seinen Bad-Hair-Day ja auch selbst bewältigt. Jeder wäre man schlecht drauf, da müsse man sich eben selbst einen Arschtritt verpassen. Und wenn man dann rausgehe, merke man, dass es einem gut tue.

Das stimmt eben nicht.

Wer in einer tiefen Depression steckt, sammelt vielleicht alle Kraft, die er hat, um gute Mine zum bösen Spiel zu machen. Er geht mit raus, er macht mit. Aber es geht ihm dadurch nicht nur nicht besser, sondern oft sogar schlechter. Einerseits, weil das eine übermenschliche Kraftanstrengung ist, und man danach noch erschöpfter ist als zuvor. Andererseits, weil man sich als Versager fühlt, weil man daraus keine Freude ziehen kann. Man fühlt sich schuldig gegenüber jenen, die sich um einen bemühen. Man leidet noch mehr darunter, nicht mehr zu fühlen wie einst. Die Suizidalität nimmt zu!!! Die meisten Depressiven werden das aber niemals zugeben, weil sie vor dem Laien, der sich bemüht, nicht undankbar dastehen wollen. Weil sie vor ihm nicht als unwillig dastehen wollen. Depressive beginnen, sich von anderen zurückzuziehen. Weil sie sich als Last empfinden, als Bürde. Sie denken, und das nicht zu unrecht, sie ziehen andere nur runter, bringen sie gegen sich auf.

Und das wird ihnen auch gespiegelt. Eben durch unqualifizierte Äußerungen, durch Abraten von Tabletten und Therapien. Durch den Irrglauben, Depressiven ginge es besser, wenn man ihnen erzählt, wer es schlechter als sie hat. Ziehen sich Gesunde tatsächlich an hungernde Menschen und missbrauchten Kindern, gefolterten Mordopfern, krebskranken Verwandten und Obdachlosen hoch? Also ich als Depressiver werde dadurch noch depressiver. Einerseits, weil ich mich dadurch noch mehr als Versager fühle, weil ich doch "alles habe" und dennoch nicht positiv denken kann. Andererseits, weil es mir beweist, was für eine verkommene Spezies Menschen sind, wie schlecht die Welt, wie schlimm das Leben ist. Es macht mich suizidal, weil ich keine Lösung sehe, weil das Leben weniger lebenswert ist.

Leider wird es immer Menschen geben, die glauben, zu wissen, was Depressionen sind, ohne je welche gehabt zu haben, und ohne dazu recherchiert zu haben. Vor allem jene, denen die Empathie fehlt, Depressionen zu begreifen, sind am Eifrigsten, sie zu bagatellisieren, von Behandlung abzuraten und sie als reinen Charakterfehler zu sehen. Ironischerweise glauben viele dieser Menschen auch, dass Krebs ein Charakterfehler ist, und nicht mit der Schulmedizin geheilt werden sollte. Na ja. Bis sie selbst erkranken halt. Ob an Depression oder Krebs.

Ein Grund, warum Depression so gerne bagatellisiert wird, ist gewiss auch die Sprache und wie inflationär Leute sagen, sie wären depressiv, bloß, weil sie mal einen schlechten Tag haben, eine Trennung oder einen Trauerfall hinter sich haben. Aber wie schon erwähnt, hat Trauer nicht viel mit Depression zu tun. Es gibt parallelen, das schon, aber es sind dennoch grundverschiedene Sachen. Auch ich kenne Trauer um verstorbene Freunde, Elternteile und Haustiere oder nach Trennungen. Es sind schlimmer Ereignisse, die verletzen, wund machen, brauchen, um zu heilen. Aber sie heilen. Die Trauer ist in all ihrer Tragik etwas, das sich richtig anfühlt, etwas, das gesund ist, vor allem etwas, das man auf irgendeine Weise fühlt. Man beschäftigt sich vor allem mit dem Gegenstand des Betrauerten. Dem Verstorbenen oder dem Verflossenen.

Eine Depression ist etwas ganz anderes. Man kreist destruktiv um sich selbst, wobei man nicht trauert, sondern bestenfalls hasst. Man fühlt nichts, es gibt kein Ende, keinen Ausweg, keine Vision, keine schönen Erinnerungen. Depression ist das Arschloch, das dir einredet, dass dein Leben schon immer scheiße war und immer scheiße sein wird. Sie nimmt dir Erinnerungen an alles Gute, oder behauptet, alles Gute wäre nur Fake gewesen, hättest du dir bloß schöngeredet. In Wahrheit, so behauptet die Depression, ist alles schon immer schwarz, sinnlos, schrecklich und leer gewesen. Bei Trauer hat man schöne Erinnerungen, man vermisst sie schmerzlich, man trauert um Potenzial, um eine Zukunft, die man sich ausgemalt hat, und die nicht eintrifft. Bei Depressionen gibt es keine Zukunft, keine schönen Erinnerungen, kein Potenzial und keine Vision.

Es gibt Menschen, die trotz Tabletten und Therapie nicht gesund werden. Das heißt aber nicht, dass diese Heilmethoden nicht wirken. Sie wirken nur nicht bei jedem. So, wie nicht jeder nach einer Chemo wieder gesund wird, aber doch ein so großer Prozentsatz, dass sich eine Behandlung auf jeden Fall lohnt. Etwas sechzig bis siebzig Prozent der Depressiven können geheilt werden. Die Chancen stehen zwar schlechter als bei den meisten Krebsarten, aber man hat eine Chance. Und wer nicht geheilt werden kann, kann durch Tabletten und Therapien immerhin eine Strategie entwickeln, damit trotzdem halbwegs okay durchs Leben zu kommen. Die Medizin schreitet voran und es entstehen immer wieder gewagte, aber erfolgreiche Methoden. Wie etwa Gehirnschrittmacher oder auch die verschriene Elektrokrampftherapie.

Ihr Laien, glaubt bloß nicht, nur, weil ein Depressiver auf euch "normal" und "gesund" wirkt, er hätte keine Depressionen. Euretwegen verstellen wir uns, euretwegen wenden wir das bisschen Kraft, das wir haben, auf, so zu tun, als wäre alles okay. Weil eure Ratschläge uns noch kränker machen. Weil eure Unterstellungen uns suizidaler machen. Weil wir wissen, wie tödlich es ist, wenn ihr uns von Medikamenten und Therapien abratet. Wir spielen euch etwas vor, um euren Mangel an Mitgefühl und Wissen zu überleben.

Eine Depressive, die sich mal Luft machen musste.

Depressive Episode 2017

 

Ich war so kurz davor, komplett den Verstand zu verlieren, dass ich mich lange wunderte, warum es nicht schon längst passierte.

Es gab keine Heimat, keinen Rückzug, keine Geborgenheit. Jede Sekunde konnte der Krieg losbrechen. Ich lebte mit angehaltenem Atem und verkrampftem Bauch. Jedes Geräusch durchzuckte mich mit säuerlichem Adrenalin. Schmerzhafte Sticke. Die Gedanken waren schwarz. Selbst die Sonne war schwarz. Der blaue Himmel. Das Lächeln der Leute. Und es war keine warme, samtene Nachtschwärze, sondern die Schwärze eines klammen Abgrundes. Die Schwärze eines kalten Falls ohne Aufprall.

Meine Nerven fühlten sich an wie eine Gitarre mit nur einer Saite, an der beständig eine Nagelfeile kratzte.

Ich wusste nicht, was ich tun konnte, um diesen Zustand zu beenden. Ich wusste nicht, was mich glücklich machen würde. Ich wusste nicht einmal, ob meine Gefühle und Gedanken echt waren und die winzigen Funken Sehnsucht nur Idiotie, eine unerreichbare Vision, die mit mir nichts zu tun hatte.

Es schien in mir zu sein. Das Ich. Ein Gewicht, das sich nicht abschütteln ließ. Stellte ich mir vor, unter Freunden zu sein, war es, als trage ich diese kalte Schwärze mit, und im Kontrast zum goldenen Schein der Geselligkeit wäre sie viel tiefer, schwärzer, kälter.

Oder waren nur die Lebensumstände beschissen? Ich lebte meinen Traum und er war ein Albtraum. Ich wünschte, ich hätte einen beschissenen Job. Da hätte ich die Hoffnung, ihn zu kündigen. Aber ich hatte keinen Job. Ich war selbständig mit dem Beruf, den ich seit meiner Kindheit ausüben wollte. Ich war gut. Ich hatte Fans. Und es ging mir elend. Ich wurde unfähig. Der bloße Gedanken ans Schreiben verursachte mir Übelkeit, Angstzustände, Panik.

Nein, ich war kein edler Literat, kein Genie, das sich die Pein der Kunst leisten konnte. Ich war nur irgendeine Frau in mittleren Jahren in einer uninteressanten Kleinstadt, die in einer mittelmäßigen Altbauwohnung lebte und an sich selbst litt. Ich schrieb Romanzen, die ich nie erleben konnte. Ich legte alle meine ungelebten Sehnsüchte in diese Geschichten. My lack of romance. Das klaffende Nichts meines Lebens. Zu wenig geküsst. Zu wenig geliebt. Zu wenig Romanze, Herzklopfen, Kennenlernen, Ausprobieren.

Ich war ein Lebensversager. Schon in den Dingen, die ich liebte, nicht in der Lage, sie richtig zu tun. Manchmal frage ich, ob es etwas gibt, das ich wirklich liebe. Ob ich nicht der wandelnde Nihilismus bin. Aber selbst für den Nihilismus benötigt man Hingabe. Hingabe, zu der ich nicht fähig bin.

Alles ist halb und leer und mangelhaft.

Immer öfter denke ich an den Tod. Ans Sterben. Daran, einfach von hier abzuhauen. Diesem nie enden Wollenden entfliehen. Wenn ich nur daran denke, dass alles immer weitergeht, möchte ich einschlafen vor Erschöfpung. Es macht mir Angst, es raubt mir den Atem. Ruhe. Ich brauche Ruhe und ersticke in ihr.

Ist mein Zustand exklusiv? Geht es allen so? Glaube ich bloß, dass mein Leid, mein Gefühl, jede Sekunde des Lebens wäre wie ein Reibeisen, dass Schichten meiner Haut abhobelt, einzigartig wäre? Vielleicht ist das das Leben. Vielleicht ist es einfach so, und ich mag es nicht akzeptieren. Selbst nach dreiundvierzig Jahren nicht.

Oh Müdigkeit. Bleiernde Müdigkeit. Ich möchte schlafen. Für immer. Möchte entkommen.

Wäre Durchdrehen eine Erlösung? Würde ich, wenn ich alles an den Wahnsinn verloren habe, erkennen, wie wertvoll das war, was ich gehabt habe?

Insane.

So kurz bin ich davor, alles kurz und klein zu hauen. So oft füllt mich dieser Impuls und ich schlucke, schlucke, schlucke ihn runter. Schon vor einer Weile sind meine Tränen versiegt. Ja, manchmal weine ich sie noch, um eben nicht zuzuschlagen. Aber ich merke, wie sie sich verwandeln, wie sie in mir zu Blei werden, zu Stahl, zu Hass. Zunehmend laufen sie an meinem Inneren herunter wie Säure, fressen mich auf. Ich roste. Und beständig nagen die Ratten meiner Angst und das Nagen ihrer spitzen Zähne hallt blechern durch meine Seele.

Bin ich schon tot?

Nein. Wohl nicht. Leider.

Noch nie konnte ich das Leben als Geschenk betrachten. Es ist eine Bürde. Schon immer dachte ich, wahrer Hass auf diese Welt offenbart sich darin, das Leben weiteren Wesen aufzubürden. Leben schenken? Welch schaler Zynismus. Leben antun. Leben kotzen. Leben aufbürden. Mit Leben bestrafen.

Warum sehe ich das so? Sehen es alle so, tun aber so, als liebten sie es, zu leben? Ist es gar nicht blanker Hass, wenn sie Leben schenken? Glauben sie etwa, das Leben wäre gut, fühle sich gut an? Fühlt es sich für andere gut an?

Warum?

Warum nicht für mich?

Ich befinde mich auf der Flucht und es gibt keinen Zufluchtsort. Flüchte ich mich in den Schlaf, lauern Albträume. Ich erwache nicht, weil ich ausgeschlafen und erholt bin, sondern weil mich Schmerzen plagen. Ich möchte am liebsten ewig schlafen, aber bohrende, ziehende Schmerzen hindern mich. Und wenn ich erwache, erwache ich im nächsten Albtraum. Ein Albtraum, durch den ich krieche, vor dem ich irgendwann in den Schlaf flüchte, in andere Albträume.

Ich bin tottraurig.

Das ist eine Erkenntnis.

Das ist ein Geständnis.

Ich weiß nicht, warum, und weiß zugleich, dass ich es besser weiß, als ich wahrhaben möchte. Ich bin tottraurig und alles, was ich tun kann, um das zu ändern, würde mich verzweifeln lassen. Ich sitze in der Falle. Wenn ich nur den Versuch unternehme, an so etwas wie Zukunft zu denken, schnürt sich meine Brust zu, mir wird die Luft knapp.

Meine Seele ist wie Blei. Meine Gelenke brennen. Meine Muskeln fühlen sich an wie Baumrinde, trockene, knarzende Baumrinde. Ich will einfach nur schlafen.

Für immer.

Aber ich darf nicht. Man lässt mich nicht. Dreiundvierzig ist nichts. Ich muss vielleicht noch zwanzig, dreißig, gar vierzig Jahre. Vielleicht ist das hier gerade Mal Halbzeit.

Der Gedanke ist grausam.

Sehe ich Menschen, die älter sind, die so viel mehr leben als ich, frage ich mich, wie sie das tun. Woher nehmen sie die Kraft? Woher die Zuversicht für den Tag? Was treibt sie an? Was ist ihr Geheimnis, ihr Motor? Und warum tuckert meiner dahin, röchelnd, mit so wenigen ranzigen Tröpfchen.

Noch ein Mal so lange leben.

Scheiße. Der Gedanke erwürgt mich.

Ich kann nicht mehr zählen, wie oft am Tag ich mir wünsche, irgendetwas würde mich aus dem Leben zerren. Ein Stich im Herzen und ich wünsche mir einen Herzinfarkt. Ein Stich in der Schläfe und ich wünsche mir einen Schlaganfall. Ich wünsche mir Krebs. Wenn ich mich gegen meinen Willen beschweren muss, in diesem Lokal, wünsche ich mir, einer der Türken verliert die Geduld und sticht mich ab.

Ich wünschte, meine Wohnung läge höher, ein Sprung vom Balkon wäre tödlich. Ich wünste, ein Amokläufer oder Terrorist würde jenen Platz in die Luft jagen, auf dem ich mich befinde. Kollateralschaden. Ja, das wärs.

Ich weiß, das ist feige. Ein anständiger Mensch erledigt die Sache selbst. Er hofft nicht auf die Fragilität der Biologie und den Wahnsinn der Welt. Wenn man es darauf anlegt, sind das äußerst unzuverlässige Faktoren. Wie schnell Menschen sterben, und wie schwer es ist, zu sterben.

Ich sollte es aktiv tun. Selbst. Diesen Mut aufbringen. Mir ein Wie erarbeiten. Mir ein Wann ausdenken. Vielleicht das Wieso erklären. Vielleicht ist da hier das Wieso, und ich fürchte, es wirft mehr Fragen auf, als es beantwortet.

Kann mir jemand helfen? Ist Hilfe von Außen überhaupt möglich? Wenn ja, woher? Wenn ja, wie, so ohne Druck. Wie soll man Hilfe bekommen, wenn einen schon die Nichthilfe unter Druck setzt. Noch mehr Erwartungshaltung: genese. Sorge dafür, dass meine Hilfe dir hilft. Du musst nur wollen. Du musst, du musst, du musst. Forderungen.

Versagen.

Man sagt, viele Selbstmörder wollen nicht an sich sterben, sie wollen nur nicht so leben, wie sie es tun. Aber sie haben keinen Glauben daran, dass es möglich ist. Ich denke, das trifft es. Nein, sterben möchte ich nicht. Theoretisch ist das Leben ganz schön. Nur in der Praxis ist es ein Albtraum.

Was müsste anders sein, damit ich gerne lebe? Was müsste anders sein, damit es mir besser geht? Diese Fragen kann ich nicht beantworten. Oder will ich nicht? Sie benötigen den Glauben an Möglichkeiten. Ich meine, ich könnte ja sagen, ich möchte ein Einhorn sein, als Einhorn fände ich das Leben klasse. Was hülfe es mir? Ich kann keines sein, also Peng?

Nun, bar jedes Zynismus. Gibt es in mir Träume, selbst wenn sie unerfüllbar sind? Gibt es Dinge, die sich ergeben müssten, die ich erreichen müsste, um etwas zu verbessern? Um gerne zu leben?

Wahrscheinlich wäre es insgesamt schon einmal erleichternd, wenn ich wirtschaftliche Sicherheit hätte. Wenn ich wüsste, ich könnte achtzig werden, und wäre jeden Tag davon finanziell abgesichert. Wenn ich nicht ständig das Damoklesschwert über mir hätte, auf der Straße zu landen, weil ich das alles nicht hingriege. Weil ich nicht schreiben kann. Weil ich nicht arbeiten kann. Weil ich depressiv bin.

Zu wissen, mir kann zumindest nichts Weltliches passieren, auch wenn mich Depressionen in die Knie zwingen, das wäre schon eine enorme Erleichterung. Aber totale Illusion. Es gibt für jemanden, der auf diese Weise kaputt ist, wie ich es bin, keine weltliche Rettung. Aber gut, fahren wir fort.

Ich wünschte …

Ich wünschte …

Ich weiß es nicht. Ich denke daran, nicht bloß wirtschaftlich zu überleben, sondern sogar »ganz gut« zu überleben. Beispielsweise, indem ich einen kleinen Garten oder einen schönen Balkon hätte. Indem ich ein eigenes Zimmer hätte, absperrbar. Indem ich nicht bei jedem Nahrungsmittel, das ich kaufe, auf den Preis schauen müsste. Indem ich mir ohne schlechtes Gewissen ein Buch oder einen Film kaufen könnte. Vielleicht, das wäre ein süßer Luxus, wenn ich alle ein oder zwei Jahre für einige Tage Urlaub machen könnte. Ein paar Tage allein in einer Almhütte, fernab von allem. Oder ein, zwei Tage in einer fremden Stadt, um dort durch die Straßen zu laufen und das Fremde zu atmen.

Das wäre schon mal ein Anfang.

Es würde Einiges erleichtern.

Aber das ist nur die Grundlage. Der Boden, auf den ich aufprallen kann. Der Ort, an dem ich leiden kann.

Aber was würde das Leid schmälern?

Mir fallen immer weniger Gründe ein. Immer weniger Ideen. Weil ich sie mir nicht erlaube. Weil ich sie für unmöglich halte. Weil ich fürchte, dass sie nichts ändern werden.

Keine Angst haben. Das wäre schon mal was. Keine Angst vor Lärm und Wut. Keine Angst vor Geräuschen.

Keine Angst vor ihm.

Ich sage es so ungern. Ich winde mich so heftig. Aber ich ertrage ihn immer weniger. Wenn er gut gelaunt ist, dann liebe ich ihn, dann mag ich ihn. Aber immer mehr wird das alles von der Angst gefressen. Der Angst, dass er über den Lärm wütend wird. Der Angst, dass er deswegen auszuckt. Am meisten aber hasse ich, wie ich mich verändere. Er erpresst mich. Er setzt mich unter Druck. Entweder ich tu etwas gegen den Lärm, oder er verlässt mich. Er zwingt mich, zur Polizei zu gehen. Er zwingt mich, auszuziehen. Er zwingt mich, zu entscheiden, entweder ich handele gegen meine Natur, oder er geht.

Vernünftig wäre, ihn gehen zu lassen. Das denke ich mir immer öfter. Zumal eben seine Launen immer mehr das Gute fressen. Denn ist es nicht der Lärm des Lokals, dann der Lärm der Nachbarn. Und ist es beides nicht, dann eine Fliege. Und ist es das nicht, dann die Computer und das Internet. Es ist immer was. Und es ist immer schlimm. Und wenn es das nicht ist, dann sind es die Nachrichten. Dann ist es der aktuelle Kampf um die Mindestsicherung.

Es herrscht Krieg.

Immer.

Ich fühle mich so zersetzt.

Und doch hat er so viele Aspekte, die ich liebe.

Aber was ist davon noch übrig. Ich kann ihn nicht küssen. Seit Jahren nicht, obwohl mir vor Sehnsucht nach Küssen manchmal das Herz bricht. Aber es geht nicht. Wegen seiner Zähne. Lange war es seine Scham, doch mittlerweile ist es ein dermaßen übler Geruch aus seinem Mund, dass ich mich abwenden muss, kommt er mir nah.

Sex ist ebenso lange nicht mehr möglich. Ich habe ihn aufgegeben. Den Sex. Für mein Leben. Ich denke, ich werde nie wieder in meinem Leben Sex haben oder küssen. Zumindest nicht, wenn er an meiner Seite bleibt. Weil er sich nie die Zähne wird richten lassen. Nach bald acht Jahren glaube ich nicht mehr daran. Wenn ihm nicht einmal die Liebe oder Sex Grund genug sind. Dann heißt das, ihn zu lieben, für den Rest des Lebens abstinent bleiben.

Mittlerweile habe ich meine Libido und meine Hoffnung so weit runtergetaktet, dass mir das sogar egal geworden ist. Die paar Tage im Monat, an denen ich deswegen fast kotzen muss vor Sehnsicht, die halte ich aus. Die sind nicht mehr der Rede wert. Das ist eher noch ein kleiner süßer Luxus unter meinen Gefühlen.

Der Gedanke, ihn gehen zu lassen, tut weh. Auf so vielen Arten. Er fühlt sich falsch an. Aber leider zunehmend auch immer mal richtig. Es ist nicht das Alleinsein, das mich abhält, wenngleich es kein erbaulicher Gedanke ist. Es ist er, seine Person, die Gespräche, seine Art, die ich schmerzlich vermissen würde.

Dennoch. Ist die Waage noch ausgeglichen? Seit einigen Wochen nicht mehr. Eine Waage kann nicht ausgeglichen sein, wenn ich in Angst vor jedem Lebenszeichen lebe, das ich von ihm höre. Wenn sich alles in mir verkrampft, wenn er kommt. Wenn ich mich freue, wenn er lächelt, nicht weil er lächelt, sondern weil ich erleichtert bin, dass er nicht wütend ist.

Ich hasse es, wenn er mich unter Druck setzt. Und das tut er. Immer mehr fühle ich mich nicht mehr wie ich selbst. Seit Wochen drifte ich immer mehr von mir weg. Es ist kein Leben mehr, es ist ein Überleben. Es ist ein robben von Minute zu Minute. Ich erwarte nicht mal mehr Glück, ich möchte nur nicht total verzweifelt sein.

Das ist doch kein Leben.

Aber ihn ziehen lassen?

Manchmal durchbohrt mich eine unfassbare Angst, dass nicht ich es bin, die Wahnsinnig wird, sondern dass er es ist. Dass seine extremen Reaktionen auf Lärm ein Symptom sind. Denn so schlechthörig bin ich nicht, wie er behauptet. Er tut, den Lärm betreffend, so, als würden die Wände erzittern. Klar ist es immer irgendwie laut, aber nie so, wie er tut. Und so oft höre ich es gar nicht. Null. Nada. Und jedes Mal, wenn ich dann hingehe, wenn ich fordere, es zu hören, haben sie gerade abgedreht.

Das passiert zu oft.

Werden wir seit Wochen von zunehmendem Wahnsinn terrorisiert, der nur in seinem Kopf stattfindet? Okay, er hat Aufnahmen gemacht. Aber diesen »Lärm« sieht man mehr, als man ihn hört. Er muss ihn extrahieren, extrapolieren. Wenn er so dermaßen laut wäre, wie er sagt, spräche das alles für sich. Müsste er nicht dem Geräusch nachgehen.

Mir macht das Angst.

Zu all dem Stress. Zu all der Angst vor seinen Wutausbrüchen. Vor all der Qual, die ich fühle, wenn er mir Ultimaten stellt, mich zwingt und drängt, zu tun, was meiner Natur widerstrebt, ist die Furcht am Schrecklichsten, dass es beginnender Wahnsinn ist.

Zunehmend misstraue ich meinen Sinnen, meinen Gedanken, meinen Gefühlen. BIN ich schwerhörig? Das Katastrophale ist, dass ich selbst beginne, Gespenster zu hören. Ich habe solche Angst davor, dass er wegen Lärm austickt, dass ich, wenn er da ist, nur noch Krawall im Kopf höre.

Das ist nicht gut.

Das ist gar nicht gut.

Aber wem kann ich mich anvertrauen? Mit wem kann ich reden? Wer kennt mich und ihn gut genug, um mir sagen zu können, ob ich durchdrehe, ob er durchdreht, was hier eigentlich passiert.

Jedenfalls drehe ich durch.

Langsam.

Aber sicher.

Ich spüre mich so todsicher auf den Abgrund zurollen. Manchmal scheine ich nur einen Atemzug davon entfernt. Dann wieder denke ich, es könnte noch einige Tage dauern.

Und dann?

 

Depressive Episode 2020

 

Seit ich die *** nehme, befällt mich eine ganz eigene Art von Suizidalität. Es ist eine Art Suiziddruck. Ich habe das Gefühl, wahnsinnig zu werden. Durch die unaushaltbaren Gefühle durchzudrehen. Ich habe das Gefühl, es gibt keine Zukunft, es wird niemals Hoffnung geben. Ich bin der absolute Versager. Selbstmord ist die einzige logische Konsequenz.

In diesen Zuständen erscheint mir der Schritt zur Tat so nah, so unfassbar nah, wie etwa gleich aufs Klo zu gehen, oder mir was zu trinken zu holen. Es scheint banal, alltäglich, nur eine Formalität. Es ist keine Frage mehr, ob, nicht einmal mehr, wann, sondern nur noch: wie.

Ich verbiete mir, über das Wie nachzudenken, weil ich merke, dass ich zu unsortiert zur Tat schreiten könnte. Aber klar, Ideen kommen trotzdem hoch. Ich schiebe sie weg, weil ich mir denke: solange ich nicht über das Wie nachdenke, solange kann es nicht passieren.

Ich weiß nicht, ob das so ist. Bis jetzt scheint es zu klappen. Aber im Hinterkopf rennt es trotzdem. Da brauen sich ständig Methoden zusammen. Ich blende sie aus. Ich habe mir vorgenommen, bis zum Ergebnis der Diagnostik durchzuhalten. Ich habe mir vorgenommen, bis zum nächsten Termin beim Psychiater zu überleben.

Solche Abkommen treffe ich bereits mit mir. Weil es zu einfach wäre. Weil es mich so treibt, so zwingt.

Ich habe keinen Grund mehr, zu leben. Das ist es. Furztrocken.

In den letzten Wochen habe ich sehr zugenommen. Mein Körper fühlt sich ekelhaft an, ich mag mich nicht fühlen, mag mich nicht bewegen, mag nicht raus. Ich ekele mich vor mir selbst und anderen Menschen. Ich hasse mich, halte mich für verachtenswert, für nicht lebenswert. Ich werde niemals Liebe erleben. Ein so fettes, faules, hässliches Schwein, wie ich es bin, wird niemals jemanden finden, der es mag.

Die Libido ist tot. Vollkommen. Sogar der Versuch, mich meinem letzten Schwarm zu nähern, um irgendwas zu fühlen, verlief ergebnislos. Ich fühle nichts. Versuche, diese Gefühle irgendwie künstlich hochzuholen, verenden in Frustration, weil ich nichts fühle. Wozu also schlank sein? Wozu leben? Dieses dicke, abscheuliche Stück Fleisch durch die Gegend schleppen, bis dieser Drecksbeutel von Herz endlich aufhört zu schlagen? Wozu warten? Worauf? Dass irgendetwas besser wird?

Es wird nichts besser.

Es wird nie wieder was besser.

Mein Zug ist abgefahren. Plan B habe ich gelebt. Plan A in den Sand gesetzt. Plan C gibt es nicht. Oder, man könnte sagen, Plan C ist das Ende. Endlich Frieden. Das Martyrium beenden. Einen Organismus aus dem Leben treten, der sowieso nie hätte geboren werden sollen. Ach hätten Muttis Abtreibungsversuche doch funktioniert. Jetzt muss ich mich selbst abtreiben.

Ich hätte nie leben dürfen. Es war ein Fehler der Natur, dass ich überlebt habe, dass ich lebe,

Ich war nie lebensfähig.

Dass ich existiere, ist ein Fehler.

Ein Irrtum.

Wozu sollten eigentlich gerade Fremde, wie Ärzte, Sanitäter oder Therapeuten Interesse haben, mich am Leben zu erhalten? Ich trage nichts bei.

Wäre ich jung, könnte eventuell meine Arbeitskraft ein Grund sein. Oder meine Gebärfähigkeit. Aber jetzt bin ich nur ein Nichts. Weder arbeitsfähig noch reproduktionsfähig. Ich bin nur noch eine Last. Es gibt keinen wirtschaftlichen Nutzen, mich am Leben zu erhalten. Einen sozialen Nutzen sowieso nicht.

Ich würde es verstehen, wenn mich einer liebte, seinetwegen zu kämpfen. Aber das tut keiner. Das tat nie einer.

Ich bin ein Versager.

Menschlich. Beruflich. Sozial.

Ich habs verkackt.

Nachwort

 

 

Dieses Buch hat und hatte bisher mehrere Kapitel, Geschichten, Texte. Leider ist es Symptom der Depression, MEINER Depression, sie wieder zu löschen. Aus Scham. Aus Selbsthass. Selbstverachtung. Das Gefühl, ein Versager zu sein. Keinen interessierts. Es zieht nur runter. Es ist wertlos.

Dreck.

Daher ist es schwer für ein Kapitel, hier zu überdauern.

War anders geplant.

Impressum

Texte: Kooky Rooster
Bildmaterialien: Kooky Rooster
Tag der Veröffentlichung: 27.08.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dem morgigen Tag.

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