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Hundert und Dreißig Wochen

 

 

 

Ich blinzelte gegen den eisigen Wind an und versuchte, auf der digitalen Anzeige über mir die Ankunftszeiten zu entziffern. Der Zug hatte mittlerweile fünfzehn Minuten Verspätung. Wenn ich das geahnt hätte, hätte ich mich wärmer angezogen oder in meinem Auto gewartet.

Ich schlug den Kragen meines Mantels hoch und versuchte, mit den Händen meine Ohren zu wärmen. Es nützte nichts, denn auch meine Finger waren eiskalt, was nicht nur an den winterlichen Temperaturen lag – ich war nervös. Selbst im Hochsommer hätte ich kalte Finger gehabt und gezittert.

Ich hauchte in meine Handflächen und dachte darüber nach, in der Bahnhofshalle zu warten. Allerdings war es dort kaum wärmer und ›Halle‹ war eine bodenlose Übertreibung. Das hier war ein Dorf und der Bahnhof hatte längst keine Schalter mehr, sondern nur noch Fahrscheinautomaten. Die Halle war ein zugiger Raum, in dem es aufdringlich nach Döner roch, da sich in den ehemaligen Schalterraum ein Imbiss eingemietet hatte.

Endlich kam die Durchsage, dass der Zug in Kürze den Bahnhof erreichen würde und die Wartenden zurücktreten sollten. Für einen Augenblick wurden meine Knie weich und ein zäher Herzschlag dehnte sich bis in den Bauchraum aus. Ich straffte die Schultern und klappte den Kragen wieder fein säuberlich runter, obwohl der Winter sofort nach meinem Hals krallte. Ich strich über meine Haare und den Stoff meines schwarzen Mantels und warf einen Blick auf meine frisch geputzten Schuhe.

Unschlüssig schob ich die Hände in die Taschen, zog sie wieder heraus, trat von einem Bein aufs andere und suchte unter den Aussteigenden nach dem Mann, den ich losgelassen hatte, um mich meinem komplizierten Leben zuzuwenden. Hundertdreißig Wochen war es nun her, dass wir uns zuletzt gesehen hatten – zehn waren ursprünglich geplant gewesen. Das Leben hatte anderes mit uns vor – ich – hatte mich anders entschieden.

Er war nicht zu übersehen, stach schon von Weitem aus der trägen Masse der anderen Reisenden heraus. Nicht nur, weil er größer als die meisten war. Iltis wirkte mit seinen roten Jeans, der ärmellosen Strickjacke über dem dichten Strickpullover und seinem dicken, endlos langen Schal, den er in einem monströsen Wulst um seinen Hals geschlungen hatte und dessen Enden dennoch auf Höhe der Knie baumelten, regelrecht schrill. Dabei hatte die Wolle satte Naturfarben – beige, olivgrün und rostrot. Den Schal hatte er selbst gestrickt und war deshalb so lang geworden, weil sich Iltis vorgenommen hatte, so lange daran zu arbeiten, bis er zehn Zentimeter fehlerfrei hinbekam. Ich musste lächeln. Das war eine seiner typischen Aktionen, die ihn für mich so liebenswert machten.

Die großzügig geschnittene Kapuze hatte er über den Kopf gezogen und um seine Schulter hing eine riesige Tasche aus bunt bedrucktem Planenmaterial. Vermutlich war sie selbst gemacht oder aus dem Secondhandshop – wie fast alles, was Iltis besaß. Sein Blick schweifte suchend über den Bahnsteig und segelte dabei mehrmals glatt über mich hinweg. Offenbar erkannte er mich nicht, was mich nicht überraschte. Als wir uns zuletzt gesehen hatten, war ich ein ganz anderer Mensch gewesen. Unbekümmert, entspannt und leger gekleidet – das Klischee eines Studenten. Mein langes Haar hatte ich damals lose zu einem Pferdeschwanz gebunden, den Rasierer nur sporadisch benutzt, und ich trug zerschlissene Jeans, verwaschene Shirts, ausgeleierte Pullis und ausgelatschte Turnschuhe.

Heute traf man mich fast nur im Anzug an – ich war stets auf dem Weg von oder zur Firma, gestresst, angespannt und konzentriert. Meine Mähne war einem klassischen Herrenschnitt zum Opfer gefallen und mein Kinn stets glatt rasiert. Sowohl mein Mantel als auch meine schwarzen Schuhe hatten ein edles, zeitloses Design – vermutlich konnte man von Weitem kaum erkennen, ob ich Mitte zwanzig oder Mitte vierzig war.

Iltis blinzelte zu mir herüber. Er sah schlecht. Es vergingen ein paar Sekunden, ehe er mich erkannte, dann hob er ungläubig die Augenbrauen und eilte zielstrebig auf mich zu. Seine langen, schlanken Beine machten Riesenschritte und aus seiner Kapuze schlängelte sich eine hellblonde Strähne. Trug er sein Haar jetzt etwa lang? Iltis blickte ernst und konzentriert. Erst als er nur noch zwei Meter von mir entfernt war, entspannte sich sein Gesichtsausdruck und er begann zu lächeln. In seine Wangen bohrten sich tiefe Grübchen und seine Augen funkelten fröhlich. Ich blieb wie angewurzelt stehen, tat keinen einzigen Schritt, schluckte schwer und versuchte, die schmerzende Welle der Vertrautheit, die mich überrollte, tapfer hinzunehmen.

Iltis ließ die Tasche auf den Boden plumpsen, stürmte die letzten drei Schritte auf mich zu und schlang die Arme um mich. Er war dünn aber kräftig, hob mich hoch und wirbelte mich im Kreis herum. Ich versteifte mich, registrierte, dass einige Fahrgäste argwöhnisch zu uns herüberschauten, und lächelte entschuldigend. Es war wohl ein gewöhnungsbedürftiger Anblick, zu beobachten, wie ein geschniegelter Geschäftsmann von einem Punk überschwänglich begrüßt wurde.

»Erik, endlich!«, nuschelte Iltis an meinem Hals. Sein warmer Atem bereitete mir Gänsehaut.

Auch wenn seine Nähe qualvoll schön war, wagte ich es nicht, die Umarmung zu erwidern, und ließ mich danach abstellen wie ein kleines Kind. Unangenehm berührt huschte mein Blick über den Bahnsteig. Erst nachdem ich mich vergewissert hatte, dass uns niemand gesehen hatte, der mich oder meine Eltern kannte, schaute ich meinem Freund ins Gesicht.

»Schön dich zu sehen«, presste ich hervor.

Iltis ignorierte mein verklemmtes Gehabe, streichelte belustigt über meine kurzen Haare, ließ den Blick abwärts klettern, über meinen Hemdkragen mit dem Krawattenknoten, den teuren Mantel, die Anzughose und die edlen Schuhe. Er musterte mich, als hätte ich ein Faschingskostüm an und kicherte.

»Wie siehst du denn aus! Was haben sie mit dir gemacht?«, platzte es aus ihm heraus – viel zu laut für meinen Geschmack. Es war zwar typisch für meinen alten Studienfreund, sich mit Gefühlsregungen nicht zurückzuhalten, und genau das hatte mich an ihm auch immer fasziniert, aber hier in meinem Heimatdorf, wo man mich kannte, war mir das verdammt unangenehm.

»Vielleicht sprichst du ein bisschen leiser«, ermahnte ich ihn mit gedämpfter Stimme.

Iltis blickte mich verstört an und kräuselte die Stirn.

Prompt tat mir leid, meinen Freund zurechtgewiesen zu haben. Was war ich bloß für ein verklemmtes Arschloch geworden! So sehr ich mich auch auf seinen Besuch gefreut hatte, jetzt hatte ich das Gefühl, Iltis wäre ein Eindringling in meine gut geordnete, sittsame Welt, für den ich mich schämen musste. Wo war die unbeschwert frivole Haltung hin verschwunden, die ganze Welt wäre uns Untertan? Wir hatten auf die pikierte Reaktion der Leute gepfiffen, uns über ihren Starrsinn, ihr absurdes Sicherheitsbedürfnis, ihre kompromisslose Bereitschaft, sich unterzuordnen, lustig gemacht. Jetzt war ich selbst einer dieser angepassten Rekruten der Leistungsgesellschaft.

»Du bist assimiliert, mein Freund«, stellte Iltis fest.

Nur er schaffte es, so etwas glaubhaft und mit bitterem Ernst von sich zu geben. Er hatte mich binnen Sekunden durchschaut und das machte mich nervös. Ich, der taffe Geschäftsmann, schlitterte plötzlich über Glatteis, meine Mundwinkel wackelten und ich kicherte idiotisch. Iltis’ trockener Zusammenfassung meiner Lebensumstände konnte ich nicht widersprechen. Beschämt stellte ich fest, dass ich es noch nicht einmal schlimm fand, mich in den engen Rahmenbedingungen meines Daseins sicher zu fühlen. Es war gut, einen fest zugewiesenen Platz zu haben, nicht zu zweifeln, sondern einfach nur zu funktionieren. Rebellion war etwas für weltfremde Idealisten, die zu feige waren, ihre Rolle in der Gesellschaft zu akzeptieren.

Himmel! Ich dachte schon wie mein Vater! Dabei war es noch gar nicht so lange her, da war ich wie Iltis gewesen – führte ein unsicheres aber freies Leben. Feige, das war ich jetzt. Es war leichter, Verantwortung für Wildfremde, eine Firma und die Familie zu übernehmen, als für mich selbst einzustehen. Mir war das bewusst und ich fand das trotzdem Okay – obwohl Iltis’ Präsenz die Sehnsucht nach diesem winzigen Ding weckte, das man ›Ich‹ nannte, und auf dem in meinem Inneren ein Grabstein mit der Inschrift: ›Für dich gibt es keinen Platz in meiner Welt‹, stand.

Iltis musste sich nicht erst auffällig benehmen, um hier aufzufallen – seine Erscheinung reichte dazu völlig aus, noch dazu in Kontrast zu meinem seriösen Auftreten. Wie wir beide – leicht verunsichert von der Wirkung, die wir aufeinander hatten –, zu meinem Auto marschierten, musste beinahe zwielichtig wirken. Die Tatsache unserer Verschiedenheit war mir schreiend gegenwärtig – als wären die Kameras und Scheinwerfer hunderter Fernsehteams auf uns gerichtet. Einerseits beflügelte es mich, einen so alternativen Freund zu haben, weckte Iltis doch nostalgische Erinnerungen an meine belebend rebellischen Zeiten. Andererseits führte ich hier ein Leben, zu dem Rebellion nicht mehr passte, mir und dem Betrieb schaden konnte. Seriosität und Souveränität waren Schilde, die ich als künftiger Firmenchef auch privat hochhalten musste. Mit einem Punk gesehen zu werden – dem Klassenfeind – war eine denkbar schlechte Idee, vermutlich nicht nur für mich.

An diese Diskrepanz hatte ich nicht denken wollen, als ich Iltis eingeladen hatte – hatte nur ihn und mich gesehen, zwei Kerle, alte Freunde, nicht unsere Rollen. Mit jedem Schritt, den wir nebeneinander hermarschierten, wurde mir der Unterschied zwischen uns und unsere groteske Beziehung bewusster. Am liebsten hätte ich Iltis gebeten, umzukehren, wieder heimzufahren und damit das Aufleben lassen unserer Freundschaft abgebrochen, ehe es außer Kontrolle geriet. Doch die Sehnsucht nach ihm war zu schmerzhaft, der bloße Gedanke daran, ihn weiterhin vermissen zu müssen, unerträglich. Vermutlich brauchte ich ihn mehr als er mich, obwohl mein Leben bis hin zu meinem Begräbnis in ferner Zukunft verplant war, und Iltis nicht einmal wusste, wie seine Perspektive in einer Stunde aussah.

Unsere Schritte hallten durchs Parkdeck. Angesichts des Automeeres zückte ich meinen Schlüssel und drückte auf die Fernbedienung. Mit einem futuristischen Piepsen und einer beeindruckenden Lightshow meldete sich mein protziges Auto und wies uns den Weg. Der schwarze Lack glänzte teuer, ließ den Wagen funkelnagelneu wirken. Wieder wurde mir bewusst, dass ich nicht daran gedacht hatte, wie anders Iltis war, denn ich hatte die Limousine extra für ihn durch die Waschstraße gejagt. Es war der archaische Reflex gewesen, mit meinem Besitz anzugeben, für den ich mir nun wie ein Idiot fühlte – an Iltis ging so etwas vorbei.

Verunsichert beobachtete ich meinen Freund aus dem Augenwinkel. Solche Bonzenwägen hatten wir immer missbilligt, und als ich ihn gekauft hatte, hatten auch all unsere guten Argumente in meinem Hinterkopf geschrillt – aber ich hatte beflissen weggehört. Meine hehren Moralvorstellungen waren Luxus in einer Welt, in der ich mich präsentieren musste. Das Knöpfchen, mit dem ich mich abstellen konnte, war damals bereits regelrecht abgenutzt gewesen.

Würde Iltis von dieser Limousine auf mein Wesen schließen? Gab es eigentlich noch einen Unterschied zwischen meinem Haben und meinem Sein? Wenn jemand in der Lage war, ihn zu sehen – dann Iltis! Vermutlich war er deswegen da – vermutlich gab ich deswegen auf seine Meinung mehr, als auf die jedes anderen. Wieder wurde mir klar, dass das Probleme geben würde – aber vielleicht wollte ich auch genau das.

Iltis’ Blick glitt ausdruckslos über den Lack, aber er sagte kein Wort – als wäre ihm egal, ob hier ein rostiges Fahrrad oder ein Luxuswagen stand – und vermutlich war es ihm das auch. Ich verstaute seine Tasche im Kofferraum, und als ich das Auto startete, ging die Sitzheizung an. Ein Luxus, den ich jetzt, völlig durchgefroren vom Warten am zugigen Bahnsteig, begrüßte.

Iltis hievte sich so umständlich auf den Beifahrersitz, als wäre Komfort ein ärgerliches Hindernis. Ihm war durchaus zuzutrauen, dass er seit Jahren in keinem Auto mehr gesessen hatte.

»Das fühlt sich an, als hätte ich mich vollgepisst«, stellte er fest und schaute irritiert zwischen seine Schenkel.

Unwillkürlich folgte ich seinem Blick und blieb an der Wölbung seines Schritts hängen. Unerwartet heftig rammte sich Erregung in meinen Körper, tropfte wie heißer Honig von meinen Rippen abwärts in den Bauch. Ich schluckte heftig und wandte den Blick ab.

»Das ist die Sitzheizung«, beruhigte ich Iltis.

»Wie es sich für einen Kronprinz geziemt«, zog er mich auf und zwinkerte mir zu.

Ein Stich fuhr durch meine Brust.

»Sag das nicht so …«, knurrte ich. Die Wahrheit tat doch immer am meisten weh. »Wegen vorhin«, begann ich streng und glotzte auf den Schaltknauf aus Mahagoni zwischen uns, »das war vielleicht etwas übertrieben.«

»Vorhin?«

Ich nahm im Augenwinkel wahr, dass Iltis mich irritiert anblickte, und zwang mich, ihm ins Gesicht zu sehen.

»Die stürmische Umarmung«, erklärte ich kalt. »Wir sind hier nicht in der Stadt.« Ich hasste mich für die Worte, schon während ich sie aussprach. »Ich bin bald der Arbeitgeber der halben Region … ich kann mich in der Öffentlichkeit nicht so gehen lassen. Ich hab einen Ruf zu verlieren.«

Iltis starrte mich eine ganze Weile ungläubig an, dann schob er langsam die Kapuze von seinem Kopf. Darunter kam tatsächlich langes, hellblondes Haar zum Vorschein, das er rudimentär in eine Spange gezwungen hatte und das aussah, als wäre es noch kein einziges Mal frisiert worden. Einzelne dünne, geflochtene Strähnen ließen die Frisur noch wilder erscheinen.

Als ich Iltis zuletzt gesehen hatte, waren seine Haare kurz gewesen. Jetzt trug er sogar buschige Koteletten, die bis zu seinem Kiefer reichten. In den letzten zweieinhalb Jahren hatte ich ihn immer genauso im Kopf behalten, wie ich ihn zuletzt gesehen hatte. Das veränderte Aussehen enttäuschte diese Erwartung, aber es gefiel mir. Ich musterte ihn mit Hingabe, um mich an diesen neuen Iltis zu gewöhnen.

»Soll ich wieder heimfahren?«, fragte er.

Vor Entsetzen klappte mein Kiefer auf und zu. Genauso gut hätte er ankündigen können, mir mit einem Brotmesser die Galle herausoperieren zu wollen.

»Nein!«, entfuhr es mir viel zu schnell und viel zu laut – ja, beinahe panisch.

»Beherrsche dich, Erik«, äffte Iltis den Prototyp eines Spießers nach. »Was sollen die Leute bloß denken, wenn sie erfahren, dass du Nein sagen kannst.«

»Spinner«, brummte ich und musste schmunzeln.

Iltis lächelte wissend und schien in meinem Gesicht etwas zu suchen – oder darauf zu warten –, dass ich noch etwas sagte. Er machte mich damit ganz nervös und ich wetzte auf dem Sitz unruhig hin und her.

»Was ist denn?«, fragte ich schließlich ungehalten. »Warum starrst du mich so an?«

»Als potenzieller Arbeitgeber der ›halben Region‹ solltest du dich nicht so schnell verunsichern lassen«, meinte Iltis schließlich und richtete den Blick mit einem zufriedenen Seufzen nach vorn.

Hatte er gerade einen Sieg errungen? Einen Moment verweilte ich darin, sein Profil und die für mich noch ungewohnten langen Haare zu betrachten, dann startete ich den Wagen und manövrierte ihn aus dem Parkdeck hinaus.

Die gut beheizte Limousine ließ sich sanft und sicher über die nassen, verwaisten Straßen durch die Winterlandschaft lenken, surrte leise vor sich hin und forderte regelrecht, ihren Komfort zu bestaunen. Bisher hatte das auch jeder getan, Iltis nicht. Er ließ den Blick stattdessen interessiert durch die Gegend schweifen, als führen wir durch Indien, als gäbe es hier Sehenswürdigkeiten und nicht bloß langweilige Felder, heruntergekommene Bauernhöfe und nichtssagende Wohnanlagen. Der Ort war tot – wie die meisten Dörfer – alles Lebendige wanderte in die Stadt ab, hier blieb nur, wer, wie ich, durch Familienbande und Schuldgefühle festgetackert wurde.

 

Schauraum

 

 

 

Ich lenkte den Wagen in die Einfahrt zum schicken Haus mit dem beschaulichen Garten, das ich mit meinen Eltern und meiner Freundin bewohnte. Der dicht gewachsene, hohe Tannenbaum im Vorgarten war mit einer Lichterkette geschmückt. Davor stand ein hässlicher, leuchtender Weihnachtsmann inklusive Schlitten und Rentiere. Hinter den Fenstern des Hauses schimmerten elektrische Kerzen und simulierten Behaglichkeit. Alles hier wurde seit jeher arrangiert, um Eindruck zu schinden, bei den Nachbarn, bei Geschäftspartnern, vor den Angestellten der Firma meines Vaters. Ich konnte mich nicht erinnern, wann meine Eltern je etwas arrangiert hatten, weil es ihnen persönlich gefiel oder das gegen den Geschmack anderer Leute verstieß. Das hier war ein Plastikleben, das hatte ich jahrelang angeprangert und mich letztendlich daran gewöhnt. Iltis’ bloße Anwesenheit verhalf mir dazu, das wieder zu erkennen. Auf einmal schämte ich mich für mein Zuhause, wie einst, als ich von hier weggegangen war, um ihm für immer den Rücken zu kehren.

Ich stellte den Motor ab und blieb sitzen. Mich packte ein regelrechter Widerwille, dieses Haus betreten zu müssen. Mein Ich krallte sich an die Ränder seines Grabes, zerrte sich hoch und blickte ängstlich über den Rasen hinaus in die Welt. Iltis hatte mit seiner bloßen Anwesenheit das Gewicht der morschen Erde von mir genommen. Jetzt war ich schutzlos. Die frische Luft tat fast weh und vom Liegen waren meine Beine geschwächt. Hatte ich das wirklich gewollt – mein Leben auf eine Weise zu betrachten, die furchtbar wehtat?

Ehe ich Iltis meinen Eltern und Bettina vorstellte, ihn mit ihren Augen und Wertvorstellungen betrachtete, wollte ich noch ein bisschen mit ihm allein sein, ihn für mich haben. Mein Herz wurde schwer, mein Magen drehte sich um. Warum nur hatte ich mein Studium abgebrochen und das gemeinsame Zimmer im Studentenwohnheim für immer zurückgelassen? Warum bloß hatte ich Iltis den Rücken gekehrt? Ich hatte mich zwar bewusst dafür entschieden, aber in diesem Moment fühlte es sich an, als wäre es mir einfach passiert, als wäre es ein grausames Schicksal gewesen, das mir keine Wahl gelassen hatte. Freiheit forderte unpopuläre Entscheidungen und ich hatte nach Anerkennung gelechzt. Der Preis dafür schien mir nun zu hoch, dabei hatte ich ihn gekannt, mit allen Nachkommastellen.

»Nett«, meinte Iltis ironisch und neigte sich vor, um das Haus durch die Windschutzscheibe bis zum Rauchfang hoch betrachten zu können.

»Es hält den Regen fern«, seufzte ich.

Iltis funkelte mich überrascht an.

»War das ein Scherz? Habe ich da etwa einen Scherz vernommen? Du solltest deinen Chip kontrollieren lassen.«

Ich musste grinsen und zugleich stieg mir das Wasser in die Augen. Ich war so wund, senkte rasch den Blick und sah mir selbst dabei zu, wie ich meine Finger knetete, bis die Knöchel weiß wurden. Am liebsten wollte ich Iltis’ Hand nehmen, mich an ihn lehnen, ihn einfach nur spüren – mich vergewissern, dass er wirklich da war und nicht bloß ein Tagtraum, um meinem Alltag zu entfliehen.

»Musst du im Auto schlafen, oder darfst du auch ins Haus?«, fragte Iltis schließlich.

Mit einem Ruck fuhr ich hoch, zwang mich zu einem zuversichtlichen Lächeln und seufzte entschlossen.

»Na dann, auf in die Höhle des Löwen«, murmelte ich, öffnete die Autotür und wuchtete mich aus dem Sitz.

Als ich Iltis den Kofferraum aufhielt, damit er seine Tasche herausholen konnte, rang ich den Impuls nieder, ihn zu umarmen. Es könnte uns ja jemand durch die Fenster beobachten. Wahrscheinlich machte ich mir darüber unnötige Gedanken. Es war etwas völlig Normales, einen alten Studienkollegen zu umarmen, den man jahrelang nicht gesehen hatte. Aber was, wenn ich mich verriet, ihn einen Moment zu lange hielt, mich zu fest an ihn drückte, meine Hände zu tief, zu hoch, zu sanft oder zu fest über seinen Rücken gleiten ließ – oder sollten sie besser ruhen? Mir war es unmöglich, Iltis zu berühren und dabei einzuschätzen, ob es unverfänglich war.

Er warf mir einen Blick zu, als hätte er minutiös erraten, was ich gerade gedacht hatte und missbillige es.

Mit gesenktem Blick eilte ich zur Haustür voraus und sperrte auf. Der Vorraum empfing uns warm. Wir stampften auf den Teppich, um den Schnee von den Schuhen zu klopfen. Iltis nahm die Gästepantoffeln, die ich ihm hinstreckte, zwar entgegen, behielt sie aber in der Hand, anstatt sie anzuziehen.

Ich hängte meinen Mantel gewissenhaft über einen Kleiderhaken und lockerte den Krawattenknoten und obersten Hemdknopf. Über den Spiegel bemerkte ich, dass Iltis meinen Anzug musterte und belustigt den Kopf schüttelte. Meine Fassade bröckelte viel zu schnell. Heute Morgen hatte ich in diesem Zwirn noch eine Rüstung gesehen, die essenzielle Demonstration einer inneren Haltung. ›Es reicht nicht, souverän zu sein, du musst auch souverän erscheinen‹. Ich war nie souverän gewesen, zumindest nicht auf die Art, die einem Firmenboss abverlangt wurde. Der Anzug war ein Kostüm, eine Verkleidung – ebenso gut hätte ich mich als Cowboy oder Superman kostümieren können. Warum erkannte Iltis die Lüge, aber niemand sonst?

Er schälte sich aus der Strickweste, schlüpfte aus dem dicken Pulli und wickelte den üppigen Schal vom Hals.

Ich streckte meine Hände danach aus und er reichte mir seine Sachen. Der Geruch von Schafwolle und der vertraute Duft von Seife, Räucherstäbchen und Schweiß drangen in meine Nase. Aus der wuchtigen Winterkleidung geschält, konnte ich Iltis’ schmalen Körper bewundern. Ein Stich fuhr durch meinen Bauch. Seine Präsenz wurde mir quälend bewusst, die Erinnerung zündete die Sehnsucht an und verbrannte mich innerlich. Ich krallte die Finger in die Wolle und schnupperte in einem unbeobachteten Moment an seinem Schal.

»Hier unten leben meine Eltern«, erklärte ich und zeigte auf eine massive, geschnitzte Holztür, an der ein weihnachtliches Gesteck hing. »Wir werden sie später kennenlernen.«

»Du kennst sie auch nicht?«, fragte Iltis und zwinkerte mir zu. Wie alles, was er sagte, war auch das nicht bloß ein Wortwitz und er wusste, dass ich das wusste. Ich führte ihn über die Treppe hoch in den ersten Stock. Durch eine Riffelglastür drang behaglich gelbes Licht.

»Tadaaa, mein Reich«, trällerte ich bemüht fröhlich, als ich Iltis in meine Wohnung lotste. Sie war nicht versperrt. Sie war nie versperrt. Pedro, mein pechschwarzer Kater, kam mir maunzend und mit hoch erhobenem Schweif entgegengerannt, schmiss den Kopf gegen mein Schienbein und umrundete mich in einer grazilen Achterschleife.

Iltis ging in die Hocke, hielt dem Kater die Hand hin und ließ ihn daran schnuppern. Erst, nachdem Pedro mit dem Schädel gegen seine Finger stupste, begann Iltis ihn zu streicheln.

Während er den Kater kraulte, betrachtete ich die für mich immer noch ungewohnt langen, strohigen Haare meines Freundes, und ließ meinen Blick den schmalen Rücken hinab bis in die Jeans gleiten, die mir einen Blick auf Iltis’ entblößtes Steißbein gewährte. In meinem Bauch breitete sich süßer Schmerz aus. Ich wandte mich ab, nur um gleich darauf Iltis’ schöne Hände zu bewundern, die ebenmäßigen, langen Finger, die Adern und Sehnen auf dem Handrücken. Wie sehr beneidete ich meinen Kater um die Zuwendung.

»Ach, da seid ihr ja endlich«, trällerte Bettina aus den Tiefen der Wohnung.

Mir wurde schlecht. Ich fühlte mich wie ein elender Lügner. Ich war ein elender Lügner, auch wenn es mir in den letzten Monaten nicht bewusst gewesen war. Iltis’ reine Anwesenheit riss mir die Brille des Selbstbetrugs von der Nase und zwang mich zu einem schonungslosen Blick auf das Skelett meines Lebens. Natürlich war es nicht perfekt, das war mir immer klar gewesen. Es war ein Kompromiss, eine logische Konsequenz und das Ergebnis der Erziehung meiner Eltern, aber es war deswegen nicht zwangsläufig schlecht – es war nur … unaufrichtig.

Ich machte Karriere, lebte in einer geschmackvoll eingerichteten Wohnung und hatte Eltern, die vorgaben, mich zu lieben. In der Region war ich eine Prominenz und – ich hatte Bettina. Sie war klein und zierlich, hatte langes, schwarzes Haar, blasse Haut und große, kindliche Augen. Sie war schön, arbeitete in meiner zukünftigen Firma und war so etwas wie meine Freundin. Meine Eltern handelten sie bereits als Schwiegertochter und wir wollten diesen Schritt auch in absehbarer Zeit wagen. Bettina und ich galten sowohl in der Firma als auch

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Kooky Rooster
Bildmaterialien: Rooky Rooster - Hommage an das weltberühmte Foto von Annie Leibovitz
Cover: Kooky Rooster
Tag der Veröffentlichung: 07.12.2013
ISBN: 978-3-7309-6810-9

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ein paar sehr interessanten Menschen, die ich kennenlernen durfte und die mich inspirierten.

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