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1| Single-Bullshit-Bingo

 

 

 

»Wir müssen noch an einer Tankstelle halten, ich brauch noch Blumen«, begrüßte ich meine Schwester Julia schon von weitem. Sie stand neben ihrer winzigen, froschgrünen Rostschüssel und hatte eine riesige Puck-Sonnenbrille auf. Ihr kupferrotes Haar war zu einem chaotischen Dutt am Hinterkopf zusammengesteckt und ein paar strategisch herausgezupfte Strähnchen ließen ihre Frisur richtig romantisch erscheinen. Grün war außerdem nicht nur das Auto, sondern auch ihr knielanger Mantel. In der Farbenwelt meiner Schwester existierte nur grün, schwarz und das Rot ihrer Haare.

»Nino!«, tadelte sie mich sofort in einem quengelnden Tonfall, »Wie lange weißt du schon von der Einladung?«

Seit Wochen, aber ich hatte sie verdrängt, wie ich alle Familienfeiern so lange verdrängte, wie irgend möglich – in der Regel also bis zu jenem Moment, an dem mich meine Schwester anrief, um mir mitzuteilen, dass sie bereits unten vor dem Haus auf mich wartete. Sie war meine Chauffeurin, zumindest, wenn es um Besuche bei meiner Familie ging. Das war der einzige Weg, mich da hinzubekommen, auf mich selbst gestellt vergaß ich die Feiern seltsamerweise immer.

»Ich bin nicht dazu gekommen«, brachte ich eine offensichtlich lahme Ausrede an. Sie verdrehte die Augen und grunzte genervt. Ich hielt sie zur Begrüßung sachte an den Oberarmen fest und hauchte flüchtige Küsse auf ihre Wangen. Sie duftete wie immer nach Holz, Lasur und frischer Wäsche. Auch wenn man es ihrer zierlichen Erscheinung nicht ansah – man hätte sie eher für eine Kosmetikerin halten können – war sie eine talentierte Tischlerin.

Ich war fast einen Kopf größer als sie, hatte viel eher den Körperbau eines Handwerkers, war aber in diesen Dingen gänzlich unbegabt. Ich lebte mehr in den virtuellen Welten, zimmerte Websites, betreute Blogs und Foren, und erzeugte jene nervigen Werbebanner, die andere wieder mit Ad-Blockern sperrten.

Das Beste an Familienfeiern waren die Hin- und Rückfahrten. Jeweils eine gute Stunde, in der meine Schwester und ich uns über Filme und Musik austauschten – da hatten wir einen ähnlichen Geschmack. Außerdem erstellten wir die Sätze für unser beliebtes ›Single-Bullshit-Bingo‹.

Zusammenkünfte von Verwandten fanden scheinbar unter der stillen Übereinkunft statt, alle Singles bis aufs Blut mit dummen Fragen zu quälen. Ob man schon jemanden in Aussicht hätte und warum nicht, dass man endlich ans Familiengründen denken sollte und so weiter. Auf dem Weg zu den Treffen schrieben wir stets fünf Sätze auf, die man als Single immer zu hören bekam. Wer als Erstes alle über sich ergehen hatte lassen müssen, hatte gewonnen und schrie dann laut ›Single-Bullshit-Bingo‹! Mitspieler waren Julia, Onkel Wolfgang, Carina und meine Wenigkeit. Das machte aus den unvermeidlichen und unerträglichen Fragen ein sarkastisches Spiel.

»Ach ja, Nino, du musst hinten sitzen!«, sagte Julia, als ich ums Auto herum zum Beifahrersitz laufen wollte.

»Wieso? Hast du etwa eine Torte gebacken?«, zog ich sie auf. In meinem Kosmos unfreiwillig Alleinstehender war der einzige Grund, warum der Beifahrersitz im Auto meiner Schwester belegt sein könnte, der Transport von vergeigten Süßwaren. Julia war zwar in der Lage, eine originalgetreue Jugendstilkommode zu bauen, aber den Herausforderungen der Kuchenherstellung war sie nicht gewachsen. Ich auch nicht – aber ich versuchte es zumindest nicht. Sie dagegen schon, und die traurigen Experimente wurden dann auf dem Beifahrersitz durchgeschüttelt und erfuhren am Nachspeisenbuffet meiner Eltern derbes Mobbing.

»Ich bringe jemanden mit.« Sie grinste breit übers ganze Gesicht, auch weil sie wusste, wie meine Reaktion ausfallen würde. Ich formte ein ungläubiges und geräuschloses ›waaaas?‹, und bückte mich runter, um durch die Heckscheibe in den Wagen sehen zu können. Ich hätte eher erwartet, auf dem Beifahrersitz einen hechelnden Labrador aus dem Tierheim vorzufinden, als das!

Es erwischte mich hinterhältig! Was da im Auto meiner Schwester saß, war das, was ich mit vorstellte, wenn ich mit den Händen in meine Hose kletterte. Hätte man mich aufgefordert, meinen Traummann zu basteln, hätte er selbst nach vielen Mußestunden nicht so perfekt sein können. Oder – anders gesagt – ich hatte bis zu diesem Moment nicht gewusst – wie sehr jemand nach all dem Aussehen konnte, was ich wollte.

Er drehte sich zu mir herum, wohl neugierig, wie der Bruder seiner Freundin aussah, und nickte höflich zum Gruß. Meine Mundwinkel wackelten komisch – ich glaube nicht, dass ich ihn anlächelte, ich wirkte auf ihn sicher mürrisch, denn ich konnte meine Gesichtszüge nicht unter Kontrolle halten. Mir verschlug es die Sprache, ich wurde nervös und ließ mir Zeit, mich wieder aufzurichten und meiner Schwester anerkennend zuzuzwinkern.

»Du hast einen … Freund?« Das Wort wollte in diesem Zusammenhang kaum über meine Lippen. Unter ihrer riesigen Sonnenbrille – ich hasste dieses Ding, da ich ihre Augen nicht sehen konnte – streckte sie die Zunge zu einem gemeinen Bätsch-heute-spielst-du-alleine-Single, heraus. Sie öffnete mir die Tür zur Rückbank und ich schlurfte wieder ums Auto herum zurück, um mich auf den abgewetzten Sitz zu schieben.

»Patrick«, stellte sich der Freund meiner Schwester vor, als er sich zu mir herumdrehte und mir die Hand entgegenstreckte.

Er war ein blasser, fragiler Typ mit schmalen Wangen, sinnlichen Lippen, großen Augen und einer markanten aber fein geschnittenen Nase. Vielleicht brannten ihm ja die Augen, denn er machte sie nicht ganz auf, aber ich konnte erkennen, dass sie sehr hellblau waren, fast grau. Dadurch, und durch die Augenringe, das etwas struppige, rotblonde Haar und die Bartstoppeln wirkte er irgendwie verschlafen. Ich hatte sofort das Bild vor Augen, wie er nach einer gemeinsamen Nacht in meinem Bett erwachte, nackt, gehüllt in schneeweiße Laken, und mich im warmen Licht des Morgens schlaftrunken anblinzelte.

Patrick saß, daher konnte ich nicht sehen, wie groß er war, aber seiner Hand nach zu urteilen musste er ungefähr in meiner Größe sein. Seine Hand war feingliedrig, und der Druck, den er mit ihr ausübte, fühlte sich so vertraut an, dass ich am liebsten nicht mehr loslassen wollte.

Seit wann stand meine Schwester auf so helle, schmale Typen? Ihr bevorzugtes Beuteschema waren Männer mit schwarzen Haaren, ordentlichen Muskeln und einer gesunden Bräune. Kerle, die anpacken konnten, die alleine einen Schrank die Treppen hochwuchten konnten, Motorrad fuhren und wussten, wie man mit einer Kettensäge umging.

Patrick sah aus wie jemand, der leicht einen Sonnenbrand bekam, höchstens eine zerfledderte Ausgabe von ›Walt Withmans‹ ›Grashalme‹ mit sich herumtrug, und der einer Kettensäge noch nie näher gekommen war, als beim Schauen eines Films.

Julias Männer trugen für gewöhnlich Jeans, bedruckte schwarze Shirts, Stiefel und Lederjacken. Patrick dagegen steckte in einem dunkelblauen, gestreiften und leicht abgetragenen Anzug, der verboten knapp saß. Ich freute mich aufs Aussteigen, auf den Blick den mir dieser Schnitt gewähren würde.

»Nino«, krächzte ich und gab mich neurotischen Überlegungen hin, ob ich ihn zu lange angestarrt hatte, ob meine Stimme zu erfreut geklungen hatte oder – im Gegenteil – zu distanziert. Ich starrte auf sein Ohr, als er wieder nach vorne schaute, und Julia den Wagen durch den Stadtverkehr lenkte. Es war ein wohlgeformtes, rundes Ohr, nicht so langgezogen, wie manche es hatten. Sein Ohrläppchen war zum Anbeten. Ich begann ernsthaft daran zu zweifeln, dass ich es schaffen würde, eine Stunde hinter ihm zu sitzen, ohne zumindest einmal daran zu knabbern.

»Heute musst du ohne mich ›Single-Bullshit-Bingo‹ spielen«, unterrichtete mich Julia, was mir angesichts ihrer Begleitung bereits klar geworden war. Dennoch ließ ich mich zu einem stumpfsinnig erstaunten: »Wirklich?«, hinreißen.

Immerhin konnte keiner der beiden sehen, wie rot ich daraufhin wurde. Patrick wollte wissen, was das für ein Spiel war, und während Julia es ihm erklärte, betrachtete ich seinen Nacken, auf dem sich ein paar Sommersprossen ausgebreitet hatten. Obwohl ich kaum einen klaren Gedanken fassen konnte, meine Handflächen so schwitzten, dass ich sie ständig an den Jeans abwischen musste, und so fahrig war, dass ich mir vermutlich – beim Versuch, über die Augenbrauen zu streichen – mit einem Finger ein Auge ausgestochen hätte, begriff ich noch nicht meine Lage.

»Bist du überzeugter Single, oder hast du nur noch nicht die Richtige gefunden?«

Das gehörte zu einer der ›Bullshit-Bingo‹ Fragen, daher realisierte ich nicht sofort, dass mich Patrick das ernsthaft gefragt hatte. Ich glotzte verträumt aus dem Fenster und stellte mir vor, er säße nicht vor mir auf dem Beifahrersitz, sondern neben mir, sein Knie stieße gegen meines und unsere Finger spielten miteinander. Ich ließ ihn in meiner Fantasie an meinem Hals knabbern und spürte, wie ich bei der reinen Vorstellung davon Gänsehaut bekam. Er flüsterte sanft meinen Namen und ich wollte schon »Patrick« hauchen, da realisierte ich, dass er mich tatsächlich angesprochen hatte.

»Nino?«

Er wartete noch immer auf die Antwort auf seine Frage, und sie fiel mir alles andere als leicht.

Meine Familie wusste nicht, dass ich schwul war. Zwar nahm ich mir seit acht Jahren bei jeder Zusammenkunft vor, mich endlich zu outen, aber es gab nie den richtigen Zeitpunkt. Mal wurde gerade in dem Moment Kaffee serviert oder der Hund der Nachbarn bellte, jemand nieste, es war zu früh, zu spät, wir aßen gerade und nach dem Essen war auch nicht der richtige Zeitpunkt. Ich schob es vor mich hin und mir war jede Ausrede recht, es einfach aufs nächste Mal zu verschieben – dann aber, so versicherte ich mir stets – dann ganz sicher.

Es war nicht so, dass ich Angst hatte, die Familie würde mich verstoßen oder gemein reagieren, sondern eher die Furcht davor, ins Zentrum des allgemeinen Interesses zu rücken. Meine Leute konnten sehr unverblümt sein, verstörend direkt, indiskret und dabei entsetzlich naiv. Man würde mich zum ultimativen Experten in Sachen Schwulsein erklären und mit jedem Gerücht, jedem Bericht, jedem Artikel, jeder stillen Überlegung an mich herantreten und fragen, ob das wirklich so wäre, warum das so wäre, warum es nicht anders wäre, ob das immer so wäre. Bei aller Offenheit hatte ich keine Lust, mit der gesamten Verwandtschaft bei Kaffee und Kuchen darüber zu diskutieren, ob Analsex über die Jahre zu Inkontinenz führte und ob ich diese Praktik aktiv oder passiv ausübte und ob ich denn keine Angst hätte, eines Tages Windeln tragen zu müssen. Das, und nur das, hatte mich bisher davon abgehalten.

Dass ich es Julia noch nicht erzählt hatte, mit der ich eigentlich ein gutes Verhältnis hatte, lag daran, dass sie der Familie gegenüber nicht die Klappe halten konnte. Ich fühlte mich zwar immer wie ein räudiger Lügner, wenn ich behauptete, ich hätte einfach noch nicht die richtige Frau gefunden, aber das war die bessere Alternative als Langzeitfolgen der Analpenetration zu erörtern. Doch jetzt fiel es mir schwer, diese Lüge aufrechtzuerhalten. Aus irgendeinem Grund wollte ich, dass Patrick wusste, dass ich schwul war. Machte ich mir etwa Hoffnungen?

In diesem Moment erst krachte in mein Bewusstsein, in welcher Situation ich mich befand. Ich hatte mich prompt in den Freund meiner Schwester verknallt! Er war todsicher stockhetero. Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussah – in irgendeinem Punkt musste er es mit den hartgesottenen Bikern aufnehmen können, die sonst bei Julia landen konnten. Ich wollte lieber nicht wissen, in welchem, mein Magen krampfte sich zusammen.

»Ich, ähm, ich warte auf die große Liebe«, flutschte es aus mir heraus. Das klang ja ziemlich naiv und blöd für einen Sechsundzwanzigjährigen, und ich hätte mir dafür am liebsten auf den Mund geschlagen. Vor allem, weil beim Wort ›Liebe‹ meine Stimme heiser wurde. Meine Ohren waren kurz davor, nach verbranntem Fleisch zu riechen, so heiß wurden sie.

»Ein ehrgeiziger Vorsatz«, sagte Patrick und ich wusste, wie die nächste Frage lauten würde.

Frage zwei des ›Single-Bullshit-Bingos‹:

»Und? Wie sieht deine Traumfrau aus? Wie muss sie sein?«

Und schon hatte er sie ausgesprochen.

Julia kicherte. »Du hast vermutlich bereits gewonnen, noch ehe wir angekommen sind.«

Patrick drehte sich ruckartig zu mir herum und schaute mir direkt in die Augen. Ich starrte ihn an wie ein geblendetes Reh.

»Tut mir leid, ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen.« Ich meinte, aus seiner Stimme einen besonderen Ton der Vertrautheit herauszuhören.

»Schon okay«, murmelte ich und lachte nervös. Sein Blick tanzte zunächst zwischen meinen Augen und meinem Mund hin und her, doch ehe er sich wieder umdrehte, schaute er mir direkt in den Schritt. Ich bildete mir das nicht ein, aber ich maß dem zu viel Bedeutung bei. Das

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Kooky Rooster
Bildmaterialien: Kooky Rooster
Lektorat: Sissi Kaipurgay. Überarbeitung durch Kooky Rooster 2014.
Tag der Veröffentlichung: 10.06.2013
ISBN: 978-3-7309-3192-9

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