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1| Das Shirt meines Bruders [1999]




Als die Tür ins Schloss fiel, wartete ich noch einige Minuten, angespannt, den Kopf ins weiche Kissen gepresst, die Beine angezogen und unter dem dicken Wulst der Decke begraben. Mein Atem ging flach. Ich zählte die Sekunden. Fünf Minuten sollten reichen. Vor wenigen Tagen hatte mich mein Vater beinahe ertappt, weil er etwas daheim vergessen hatte und noch einmal zurückgekehrt war. Seitdem wartete ich lieber eine Weile, ehe ich die Decke zurückschlug, und nur mit meinen Shorts bekleidet aus meinem Zimmer schlich, über den dunklen Flur, hin zum Zimmer meines Bruders. Eigentlich war es ein Gästezimmer, das er während seines Praktikums in der Firma meines Vaters belegte. Sie fuhren jeden Morgen gemeinsam zur Arbeit.

Vorsichtig öffnete ich die Tür, als beträte ich einen Schrein, und schloss sie hinter mir wieder sachte. In den wenigen Tagen, die Jakob hier hauste, hatte er bereits ein beachtliches Chaos erschaffen. Die Luft, die er im Schlaf geatmet hatte, drang nun tief in meine Lungen, füllte mich mit jedem Atemzug, versorgte selbst die kleinste Zelle meines Körpers mit ihm. Ich ließ die Finger sanft über Tisch, Sessel, Lampe, Fensterbrett, Tasche und Schrank gleiten, über all die Dinge, die er berührt hatte. Nicht zu hastig! Es zelebrieren, genießen, mich langsam in sein Leben vortasten. Das war alles, was ich hatte, alles, was ich kriegen konnte. Mir blieben nur wenige Wochen, und mehr Nähe als durch seine Sachen, würde ich nie erleben dürfen. Zumindest was jene leidenschaftliche Intimität betraf, nach der ich so sehnsüchtig suchte.

Auf dem Boden lag ein achtlos dahin geworfenes Shirt. Er hatte es gestern getragen. So etwas merkte ich mir genau, konnte immer exakt angeben, wann er welches Shirt getragen hatte. Ehe ich es aufhob, um es an mein Gesicht zu drücken, den Duft tief einzuatmen, strich ich darüber als berührte ich damit sein schwarzes, glänzendes Haar. Der herbe Geruch seines Körpers, seines Schweißes, ließ meine Erregung weiter ansteigen. Bereits die Aussicht darauf, bald wieder in seinem Zimmer herumzuschnüffeln, hatte mir eine Erektion beschert, noch als ich in meinem Bett gelegen hatte. Nun schwoll sie stetig an, je mehr ich in sein Leben eintauchte.

Rasch streifte ich die Shorts ab und kuschelte mich splitternackt in sein Bett, legte mir sein Shirt aufs Gesicht und stellte mir vor, er wäre hier. Hier neben mir. Er läge an meiner Seite und legte seine Arme um mich, küsste meinen Hals, leckte meine Brustwarzen, streichelte meinen Bauch. Mit meiner Hand ließ ich seine über meinen Schwanz gleiten, ließ mit meinen Fingern seine meine Hoden kneten. Mit dem ersten Stöhnen schwappte auch wieder dieser ziehende, dumpfe Schmerz in meinen Bauch – die elende Qual einer heimlichen Sehnsucht. Während ich in meine Faust stieß, ließ mich die Fantasie im Stich, wie jedes Mal, und aus meinen Augenwinkeln traten Tränen. Als ich kam, klang dies mehr wie ein verzweifeltes Schluchzen, denn der erlösende Schrei der Wollust.

Warum tat ich mir das an? Weswegen quälte ich mich jeden Morgen auf dieselbe Weise?

Wie jedes Mal krümmte ich mich danach zur Embryonalstellung zusammen, heulte, das Gesicht in sein Kopfkissen gepresst, und roch darin sein schönes Haar. Dabei strich ich über die Matratze, die sich jede Nacht weich an seinen Körper schmiegen durfte, ihn sicher hielt, während er schlief. Wie trostlos war ich, mir zu wünschen, ein banales Kissen zu sein, ein Shirt oder eine Hose, und wenn es sein musste, auch seine verschwitzten Turnschuhe.

Als ich aus dem Zimmer marschierte, achtete ich darauf, dass ich keine Spuren zurückließ, fragte mich ein weiteres Mal, ob er mich nicht eines Tages riechen würde. Was er wohl tun würde, wenn er entdeckte, dass ich mich jeden Morgen auf seinem Bett, mit seinen Kleidern auf dem Gesicht, selbst befriedigte? Darüber dachte ich besser gar nicht erst nach.

Eine ausgiebige Dusche später setzte ich mich vor meine Spielekonsole und ballerte im abgedunkelten Zimmer auf Pixel, die Feinde darstellten, während ich meine Ohren mit Dark-Wave und Elektropunk zudröhnte. So würde ich vermutlich die ganzen Sommerferien verbringen.

Die meisten Leute, die ich kannte, waren irgendwohin in Urlaub gefahren oder verbrachten den Sommer im Freibad. In der Sonne liegen und irgendwelche Tussis im Bikini bewerten – was aktuell die Hauptbeschäftigung meiner Freunde war – lag mir nicht. Als ich erfahren hatte, dass mein Stiefbruder ein paar Wochen bei meinem Vater und mir wohnen würde, entschied ich, hier zu bleiben und auch nicht meine Stiefmutter und Stiefschwester nach Italien zu begleiten.


2| Der erste Kuss [1997]




Ich lenkte das Fahrrad geschickt zwischen einem Betonpfeiler und einem Klein-LKW vorbei in die Einfahrt meines Elternhauses. Es war heiß und ich freute mich schon auf die Sommerferien. In der hinteren Hosentasche steckte zusammengerollt mein Zeugnis – ein gutes Zeugnis. Meine Eltern hatten mir eine Spielekonsole versprochen, sollte ich in den Hauptfächern keine schlechtere Note als eine Zwei heimbringen. Dieses Ziel hatte ich erreicht und ich brannte schon darauf, mit meinem Stiefbruder zu zocken. Außerdem würde ich mit ihm und seinen Freunden den halben Sommer am Baggersee verbringen. Jakob war schon fünfzehn, und obwohl ich zwei Jahre jünger war als er, durfte ich mit ihm und seiner Clique abhängen.

Jakob war mein Beschützer, seit ich vier Jahre alt war. So alt war ich, als mein Vater und ich zu seiner Mutter und seiner zwei Jahre älteren Schwester Claudia zogen. Vom ersten Moment an waren mein Stiefbruder und ich ein Herz und eine Seele. Er brachte mir Vieles bei – lehrte mich etwa Schwimmen und Radfahren, zeigte mir, wie ich bei Computerspielen gewinnen konnte und welche Filme man unbedingt gesehen haben musste. Er lehrte mich Kämpfen, lernte mit mir für die Schule und haute Mitschülern aufs Maul, die es wagten, mich zu ärgern. Von Anfang an gehörte ich zu seinem Freundeskreis, niemand durfte etwas gegen mich sagen – ich wurde behandelt wie einer der Großen – zumindest wenn er dabei war.

Ja, es würde der Sommer meines Lebens werden! Das ahnte ich vor allem deswegen, weil ich Jakob gegenüber in den letzten Wochen viel tiefere Gefühle entwickelt hatte. In seiner Gegenwart fühlte ich mich angenommen, warm, regelrecht geborgen, konnte ihn stundenlang einfach nur ansehen und er roch so phänomenal gut. Bisher war er mein Idol gewesen, ein Vorbild, wie große Brüder eben so sind, doch nun sah ich ihn mehr wie einen – Freund, jemanden, dem ich tief in die Augen sehen wollte. Ich war nicht länger der kleine Bruder, ein Kind, das er beschützen musste, sondern sehnte mich danach, ihm ebenbürtig zu sein, ein Mann. Okay, ich war erst dreizehn – aber ich war definitiv kein Kind mehr. Ich wollte ihn beeindrucken, überzeugen, überwältigen, und ich fühlte mich so aufgeladen, so kräftig, dass ich sicher war, das würde mir in diesem Sommer auf jeden Fall gelingen.

Ich ließ das Fahrrad achtlos in den Kies fallen und stürmte ins Haus, zog dabei das Zeugnis aus der Hosentasche und entrollte es. Irgendetwas war anders, aber was, darauf achtete ich zunächst nicht – viel zu stolz war ich auf meine guten Noten, viel zu fixiert auf den Lohn, den ich dafür erhalten sollte.

Als ich in die Küche kam, standen meine Eltern so weit voneinander entfernt, wie die baulichen Gegebenheiten es zuließen. Jakob und Claudia saßen angespannt auf der Küchenbank und starrten betroffen auf die Tischdecke. Irgendetwas Schlimmes war passiert. Sie hoben die Köpfe, um mich durchdringend zu fixieren. Hatte ich etwas angestellt?

»Clemens, verabschiede dich von deinen Geschwistern und deiner Stiefmutter«, befahl mein Vater so staubtrocken, dass es mir die Nackenhaare aufstellte.

Ich begriff nicht. Hilfesuchend blickte ich zu Jakob, dessen Mundwinkel seltsam wackelten, als würde er gleich weinen. Das machte mir Angst, denn ich hatte ihn bis jetzt nur ein Mal weinen sehen, und da war sein Hund gestorben. Ich wedelte, um die Situation zu retten, mit dem guten Zeugnis. »Ich habe fünf Einsen und keine einzige Vier!«

Meine Stiefmutter wandte sich von mir ab, starrte aus dem Fenster in den Garten und wischte sich etwas aus den Augen.

Claudia knurrte: »Das interessiert gerade keine Sau!«

»Clemens, sag auf Wiedersehen zu Jakob und Claudia, damit wir endlich fahren können!«, wiederholte mein Vater. Er sprach, als wäre ich vier Jahre alt.

Wohin wollte er mit mir fahren? Warum waren alle so bedrückt? Warum weinte meine Stiefmutter und zitterten Jakobs Finger?

»Ich krieg die Konsole!«, wies ich ein weiteres Mal darauf hin, dass ich ein gutes Zeugnis geschrieben hatte. Das war ihnen doch so wichtig gewesen! Jetzt hatte ich es geschafft, da konnten sie sich doch ein bisschen mit mir freuen.

»Ihr zieht weg. Dein Vater und du, ihr zieht an den Arsch der Welt«, platzte es endlich aus Claudia heraus. Worte, die einfach nicht bei mir ankommen wollten. Nicht so richtig. Nicht in ihrer Bedeutung.

»Wieso? Warum? Hier ist doch alles in Ordnung!«, brabbelte ich, und wie um das zu untermauern, klopfte ich fachmännisch gegen die Wand, als prüfte ich die ausgezeichnete Bausubstanz. »Warum sollten wir hier wegziehen?«

»Mann, Kleiner, kapiers endlich!«, stieß Claudia genervt hervor, und richtete sich dann an unsere Eltern. »Ist das die tolle Strategie, von der ihr geredet habt? Ihr sagt ihm nichts und stellt ihn, wie ein Hündchen, das man bei der Fahrt in den Urlaub aussetzt, vor vollendete Tatsachen?«

Wovon sprach meine Schwester denn da? Angst kroch meine Wirbelsäule bis unter die Haarwurzeln hoch.

Da trat mein Vater vor mich hin und erklärte monoton: »Ich und Karin, das funktioniert nicht mehr. Wir wollten euch mit unseren Problemen nicht behelligen, deswegen haben wir das im Stillen unter uns geregelt. Wir zwei ziehen hier weg, Clemens. Deine Stiefmutter und ich haben uns darauf geeinigt, dass du dieses Schuljahr noch hier abschließt, ehe wir ausziehen. Jetzt hast du den ganzen Sommer Zeit, dich in der neuen Heimat zurechtzufinden. Im Herbst gehst du dann in die neue Schule!«

»Nein«, blökte ich und begann hysterisch zu lachen, »ihr verarscht mich! Darauf falle ich bestimmt nicht rein.« Die Wahrheit war: Ich wusste nur zu gut, dass es stimmte. Panisch stürmte ich aus der Küche und stolperte in mein Zimmer.

Dort dominierte gähnende, lähmende Leere. Offenbar hatten sie während der wenigen Stunden, die ich in der Schule gewesen war, ziemlich zügig gearbeitet, um alles wegzuschaffen.

»Scheiße, was?«, murmelte Jakob, der im Türrahmen lehnte, mit dem Finger eine seiner schwarzen, langen Strähnen hinters Ohr schob, und musterte das Zimmer ebenso betroffen wie ich.

»Wusstest du davon?«, fragte ich atemlos.

Er senkte den Kopf und sein kinnlanges Haar rutschte wie ein Vorhang vor sein Gesicht. »Nein, gewusst habe ich es nicht, aber geahnt. Allerdings wusste ich nicht, dass ihr so weit wegzieht.«

In meinem Magen ballte sich eine Faust. Mein Herz raste. »Wieso? Was meinst du? Bleiben wir denn nicht in der Stadt?« Meine Stimme versagte. Zwar hatte ich Claudias Anmerkung vom ›Arsch der Welt‹ und den Hinweis meines Vaters, mich ›akklimatisieren‹ zu müssen, gehört – aber es war nicht bis zu mir vorgedrungen.

Jakob konnte mir nicht ins Gesicht sehen, als er es mir sagte.

Fünfhundert Kilometer! Das war nicht um die Ecke! Das war nicht nah genug, um mit ihm an den Baggersee zu fahren. Fünfhundert Kilometer – das war verdammt weit weg. Zu weit, um mal eben vorbeizukommen und ein Computerspiel zu zocken. Ich konnte mir wenig vorstellen, wie viel fünfhundert Kilometer bedeuteten. Jakob erklärte mir, dass das mindestens fünf Stunden mit dem Auto wären, eher sogar einiges mehr, da es keine besonders guten Verbindungen dahin gab, wohin ich ziehen würde. Das war das Ende! Mein Vater wollte einen sauberen Schnitt, sicherstellen, dass er ein neues Leben ohne Karin und ihren Kindern anfangen konnte.

»Ich bleib hier«, fasste ich den Entschluss. »Ich bleib hier!«, stieß ich ein weiteres Mal in verzweifelter Überzeugung aus, schubste Jakob grob zur Seite und stürzte aus dem kahlen Zimmer.

In der Küche stellte ich mich vor meinen Vater hin und unterrichtete ihn über mein Vorhaben. »Ich bleib hier! Papa, du kannst allein fahren. Ich bleib hier!«

»Das geht nicht«, erklärte er knapp und schaute über mich hinweg.

»Warum nicht! Sicher geht das!«, schrie ich und ballte die Hände zu Fäusten.

»Clemens, benimm dich nicht wie ein Kleinkind! Entweder, du verabschiedest dich jetzt anständig, oder wir fahren sofort!«, herrschte mich mein Vater an und stieß sich von der Arbeitsfläche ab, um sich auf den Weg zu machen.

»Du kannst allein fahren!«, fauchte ich, trat wütend gegen einen der Küchenstühle, und eilte durch den Flur Richtung Haustür.

Jakob schaute mich mit großen Augen an, hielt mich jedoch nicht auf.

Vor dem Haus schnappte ich mein Fahrrad, manövrierte es am leidigen Umzugswagen vorbei und raste blind drauflos. Niemals würde mich mein Vater dazu kriegen, so weit wegzuziehen! Nicht jetzt! Nicht, nachdem ich endlich erwachsen wurde, mir Jakob mehr bedeutete, als je zuvor.

Unweit des Baggersees gab es eine Autobahnbrücke. Dort verkroch ich mich, kraxelte die betonierte Schräge hoch, bis fast unter die Straße, auf der die Autos dahinbretterten. Lieber wollte ich hier leben, wie ein Penner, als fünfhundert Kilometer weit wegzuziehen.

Es dauerte nicht lange, bis mich mein Bruder fand. Er kannte meine Schlupfwinkel und Rückzugsorte – er selbst hatte sie mir einst gezeigt. Wendig kletterte er die steile Fläche hoch und setzte sich direkt neben mich. Über uns – padam, padam – stolperten die Reifen der Autos über einen Riss im Beton.

Eine ganze Weile sagte er gar nichts. Schweigend zupfte er an welken Grashalmen, die sich durch den Beton gefressen hatten, lauschte den holprigen Fahrgeräuschen über uns und schaute nachdenklich zu unseren Fahrrädern runter.

»Fünfhundert Kilometer sind weit weg, aber nicht aus der Welt«, murmelte er schließlich.

»Für mich ist es aus der Welt.« Ich verbarg das Gesicht in der Ellenbeuge, um meine Tränen zu verbergen.

»Wir können telefonieren, uns Briefe schreiben und in den Ferien können wir uns besuchen«, schlug Jakob vor.

»Das ist nicht dasselbe«, raunzte ich, schniefte und wischte Rotz in den Ärmel.

Jakob rutschte an mich ran, legte einen Arm um meine Schulter und bestätigte leise: »Natürlich ist es das nicht.«

Da lehnte ich mich gegen ihn und kannte keine Zurückhaltung mehr, heulte und schluchzte wie ein Kind. Vergessen war, dass ich den starken, erwachsenen Mann markieren wollte. Ich fühlte mich betrogen, belogen, angeschmiert. Es war unfair, gemein, hinterhältig. Das würde ich meinem Vater niemals verzeihen, ihn für den Rest meines Lebens dafür hassen. Dass er mit Jakobs Mutter ein Problem hatte, dafür konnte ich nichts, warum musste ich dafür leiden? Diese, und weitere Fragen rasten mir durch den Kopf, während mein Herz einfach nur wehtat. Das Schlimmste von allem war, dass ich mich von meinem Bruder würde trennen müssen.

Ich schlang die Arme um ihn, krallte mich richtig an ihm fest und presste das Gesicht an seine Brust. Der betörende Duft seines Körpers kroch in meine Nase und seine Nähe wühlte mich auf erregende Weise auf.

Er streichelte sanft meinen Kopf und wiederholte dabei immer wieder: »Es wird gut. Es wird halb so schlimm.«

An seiner Stimme konnte ich aber hören, dass er das selbst nicht glaubte. Auf so tröstende Art an seinen Körper geschmiegt, von ihm gehalten und beschwichtigt, beruhigte ich mich nach und nach. Nun kam ich mir für diesen Ausbruch dumm und kindisch vor.

Jakob wand sich aus meinem Klammergriff, zückte das Handy meines Vaters, und als ich ihn empört anstarrte, erklärte er: »Ich habe versprochen sie zu benachrichtigen, wenn ich dich gefunden hab.«

Das war mir nicht recht, aber ich sagte nichts. Er schaltete das Telefon ein. Immerhin hatte er hier eine ganze Weile mit mir herumgesessen, ehe er sich erinnerte, daheim anzurufen.

»Ich fahre nicht!«, beteuerte ich, während er die Nummer wählte.

Jakob musste sich eine Menge Vorwürfe anhören, weil er das Handy einfach abgedreht hatte. Erst danach konnte er erzählen, dass er mich gefunden hatte und ich wohlauf war.

»Ich fahre nicht!«, wiederholte ich mein Mantra, um es meinem Stiefbruder klar zu machen, um es mir klar zu machen, um es der ganzen Welt klar zu machen.

»Kann er noch über den Sommer bleiben?«, fragte Jakob und ich horchte hoffnungsvoll auf. Für diesen brillanten Vorschlag hätte ich ihn am liebsten geküsst – die Tragweite dieses Wunsches wurde mir erst später bewusst. Obwohl mich seine Nähe erregte, dachte ich in Bezug auf ihn noch nicht auf diese Weise.

Offenbar waren unsere Eltern mit Jakobs Vorschlag nicht einverstanden, und so begann er, zunächst um Wochen, dann um Tage zu feilschen. Am Ende konnte er nur einen einzigen Tag herausschinden – und das auch nur unter der Bedingung, dass ich dann bei der Abreise keinen Aufstand machte.

Mein Vater mietete sich in einer Pension ein, offenbar war er wirklich fertig hier, aber ich durfte im Haus bleiben. Da mein altes Zimmer so bedrückend leer war, erlaubte mir Jakob, bei ihm zu übernachten. Glücklich darüber nahm ich meinen Schlafsack und rollte ihn in der Absicht, dort die Nacht zu verbringen, auf dem Boden aus.

»Wenn du nicht furzt, kannst du bei mir im Bett schlafen«, bot Jakob an und so schlüpfte ich rasch zu ihm unter die Decke.

Vielleicht sollte ich an dieser Stelle klarstellen, dass noch nie etwas zwischen uns gelaufen war und auch in jener Nacht nichts zwischen uns passierte. Präziser gesagt: Von seiner Seite aus war da gar nichts, mich dagegen wirbelte die Nähe völlig auf.

Wir redeten noch stundenlang darüber, auf welche Weise wir in Zukunft Kontakt halten könnten und er machte mir Mut für mein neues Zuhause. Als mir bewusst wurde, dass ich Jakob vermutlich erst frühestens zu Weihnachten wiedersehen würde, musste ich heulen. Er schlang tröstend die Arme um mich, kuschelte sich an meinen Rücken und hielt mich ganz fest. Wie schon unter der Autobahnbrücke streichelte er sanft über meinen Kopf und redete beruhigend auf mich ein.

Da er hinter mir lag, konnte ich sein Gesicht nicht sehen, aber ich spürte etwas Nasses über meinen Hals in den Nacken laufen und hörte, wie seine Stimme brüchig wurde. Er weinte ebenfalls, schniefte sogar. Das machte mich betroffen und ich wurde still. Bald jedoch schlief er ein und sein Atem ging ruhig und regelmäßig, kroch in meinen Nacken und blies über mein Ohr hinweg. Das, wie auch sein Bauch, sein Brustkorb, die sich dabei sanft und beständig an meinen Rücken schmiegten, erregte mich so sehr, dass ich die Hände in den Schoß legte. Dabei streifte ich den Stoff der Hose und schon kam es mir. Ich drückte das Gesicht fest ins Kopfkissen, um mich durch mein heftiges Schnaufen nicht zu verraten.

Es war nicht das erste Mal, dass ich sexuelle Gefühle hatte, aber das erste Mal, dass ich sie hatte, während ich einen anderen Menschen berührte. Was ich in dieser Nacht aufkommen spürte, war die logische Konsequenz der Wochen davor, und vielleicht auch die der drohenden Zukunft. Nach meinem spontanen Orgasmus konnte ich nicht schlafen, drehte mich herum und betrachtete Jakob im Schlaf. Dabei streichelte ich – ganz vorsichtig, aus Angst ihn zu wecken – seine Arme, seine Schultern und seine Wangen. Obwohl ich eindeutig sexuell erregt war, hatte meine Zärtlichkeit etwas Unschuldiges – ich fand Jakob einfach nur wunderschön und wollte ihn mir genau einprägen.

Als der frühe Morgen durch die Jalousien hindurch goldene Linien auf Jakobs Gesicht malte, konnte ich mich nicht mehr zurückhalten, neigte mich über ihn und küsste ihn ganz sanft auf den Mund. Ich wusste nicht, ob es mein Kuss war, der ihn weckte, aber er blinzelte, gähnte und schlug schließlich die Augen auf. Zunächst wirkte er darüber erstaunt, dass ich in seinem Bett lag, doch dann erinnerte er sich wieder, dass er mich selbst dazu eingeladen hatte. Er lächelte mich auf eine Art an, dass mir ganz anders wurde, und umarmte mich.

Es war unwichtig – eigentlich war es unwichtig – aber ich konnte seine Morgenlatte an meinem Schenkel spüren, und das machte mich an. Sie war wie ein Versprechen an eine ferne Zukunft, von der ich noch nicht viel ahnte, aber eine ganze Menge erhoffte.

Zwei Stunden später saß ich im Auto, stumm und ergeben, sah im Seitenspiegel meine bisherige Familie zusammenschrumpfen, ehe sie mit der nächsten Kurve ganz aus dem Bild rutschte.


3| Der kleine Rebell [1997]




Die Wohnung, die mein Vater ausgesucht hatte – oder eher – aussuchen hatte lassen – war kalt und trostlos. Aber vermutlich wäre mir jeder andere Ort, fern meiner bisherigen Familie, trist erschienen. Schon in den ersten Minuten wurde mir klar, dass ich hier sehr einsam sein würde. Bereits am ersten Tag nach unserer Ankunft musste mein Vater in der neuen Zweigstelle seiner Firma erscheinen und ließ mich allein. Beim Frühstück meinte er lapidar, ich hätte nun die einmalige Chance, zu beweisen, dass ich erwachsen würde. Dazu wäre lediglich nötig, die Möbel für mein Zimmer ganz allein zusammenzuschrauben und mich selbständig einzurichten. Doch ich befand mich bereits im Krieg.

Zwei Wochen sprach ich kein Wort mit ihm, weigerte mich, dies hier mein Zuhause zu nennen, übernachtete mit dem Schlafsack in der Ecke des kargen Raums, der als mein Zimmer geplant war. Mein Vater nahm die stille Rebellion so teilnahmslos hin wie das Waldsterben, und ließ mich mit dem Mittelding aus Rumpelkammer und Möbellager allein. Offenbar war für ihn Ignoranz ein probates Mittel, seinem Sohn eine Lektion zu

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Kooky Rooster
Bildmaterialien: Kooky Rooster
Lektorat: Sissi Kaipurgay – Herzlichen Dank! Überarbeitung durch Kooky Rooster 2017.
Tag der Veröffentlichung: 17.04.2013
ISBN: 978-3-7309-2577-5

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