Michael lag auf dem Rücken und strich mit den Handflächen über die raue, vollgebröselte Oberfläche des Teppichs. Vor zwei Dosen Bier hatte ihm davor noch gegraust, jetzt war es interessant, verknotete Fussel aufzuspüren und sie mit den Fingern herauszuzupfen.
Ein Windstoß hob die zugezogenen Vorhänge etwas an, und das grelle Sonnenlicht fraß sich durch das kühle, blaue Licht des ausgesperrten Tages. Es blendete.
»Und? Hast du?« Lukas saß neben Michael auf dem Fußboden, den Blick gebannt auf den Fernseher gerichtet, während seine Finger hektisch den Controller bearbeiteten.
Den heißen Sommertag hinter Vorhängen und Jalousien versteckt, machten sie sich über einen Stapel Computerspiele her. Vor einer Stunde hatte Lukas die ersten Dosen Bier geholt und Michael eine in die Hand gedrückt. Michael verkniff sich zuzugeben, dass er so gut wie nie Alkohol trank. Bloß nicht uncool rüberkommen.
Lukas war sein neuer Nachbar. Er rauchte, fuhr Moped, betonte die definierten Arme mit einem Muskelshirt, trug sein braunes Haar verwegen lang und offenbar trank er auch Alkohol. Außerdem hatte er bereits eine richtige – und wie Michael fand – coole Arbeit, und zwar in der Multimedia-Abteilung eines großen Elektrofachhandels. Dass sich Lukas mit ihm abgab, schrieb Michael der geografischen Nähe zu. Und vielleicht der Tatsache, dass es eine Menge Spiele gab, die sich zu zweit besser spielen ließen.
Michael war in allem das Gegenteil von Lukas. Er war Vegetarier, trug sogar im Sommer Kapuzenpullis, damit er die schmalen Schultern und Arme verstecken konnte, hatte einen braven, zeitlosen Kurzhaarschnitt und fuhr ein froschgrünes Citybike. Zudem ging er noch zur Schule. Er hatte zwar nur noch ein Jahr vor sich, aber es erlaubte ihm nicht, so unabhängig zu sein, wie Lukas.
Das Bier wirkte. Irgendwie waren sie auf dieses leidige Thema gekommen. Michael starrte an die Zimmerdecke. »Nein.«
Er war zu betrunken, um zu lügen. Normalerweise hätte er abgewogen, welche Antwort am besten rüberkam. Er hätte vermutlich nicht die Wahrheit gesagt. Jetzt aber hatte er das Bedürfnis, die Welt damit zu beschenken.
Lukas drückte die Pause-Taste und drehte sich zu Michael um. »Echt jetzt?«
»Echt jetzt!« Michael seufzte und dann floss es einfach so aus ihm heraus: »Wie sollte ich Sex haben? Ich habe doch noch nicht mal geküsst. Nicht mal Händchen gehalten, oder umarmt oder so etwas.« Er macht eine ausladende Geste, als würde er eine imaginäre Vase zu seiner Linken platzieren. »Hier Michael ...«, er stellte sie umständlich zu seiner Rechten, »... hier Mädchen.« Dann spannte er einen ausladenden Bogen über sich, und verband damit beide Pole. »Und hier ein paar Universen. Es gibt praktisch keine Verbindung von hier nach da.«
Belustigt folgte Lukas der übertrieben bildlichen Darstellung. »Du machst Witze, oder?«
Michael schloss die Augen und schüttelte den Kopf, öffnete sie aber wieder, da ihm schwindlig wurde. »Darüber mach ich keine Witze.«
Er merkte, wie es ihn runterzog. Eigentlich wollte er über dieses Thema nicht sprechen. Es war ein wunder Punkt. Er zog vor, es zu verdrängen. War es das Bier? Oder der ausgesperrte Sommertag? Lukas? Der Schmerz knallte gerade richtig schön rein. Michael warf Lukas einen verzweifelten Blick zu.
»Wie alt bist du? Siebzehn?« Lukas hob ungläubig die Augenbrauen. Gefühlte vierhundert Falten bildeten sich auf seiner Stirn und er legte den Kopf schief.
»Ich will nicht darüber reden.« Michael war danach, in seine Wohnung rüberzulaufen, sich bei dröhnendem Heavy Metal in Embryonalstellung aufs Bett zu werfen, ein Kissen zu umarmen und den Rest des Tages über Suizid nachzudenken. Aber das Bier und der lähmende Sommernachmittag hatten die Anziehungskraft der Erde vervielfacht.
»Willst du denn Keine? An Gelegenheiten wird es doch kaum mangeln. Du bist klug, du siehst gut aus …«
Michaels Blick flitzte über die Zimmerdecke zu Lukas und scannte dessen Gesicht. Meinte er ernst, was er da sagte? »Mach dich nur lustig über mich.«
Lukas’ Neugier schien geweckt. Wer hätte gedacht, dass er heute noch mal seinen Blick vom Fernseher würde lösen können und über etwas anderes sprechen, als Levels und Highscores? Er legte sich bäuchlings neben Michael auf den Boden und musterte ihn interessiert. Michael hatte das Gefühl, Scheinwerfer wären auf ihn gerichtet und über ihm prangte ein großes Plakat, auf dem ›Jungfrau‹ stand.
»Ich meine … wirklich. Was stimmt mit dir nicht? Hm?« Lukas wirkte ernsthaft besorgt. Michael versuchte sich zu erinnern, ob er Lukas – seit er ihn kannte – jemals in diesem Tonfall hatte reden hören.
»Ich weiß nicht.« Michael seufzte leise.
Lukas betrachtete ihn nachdenklich. »Was machen wir nur mit dir?« Aufmunternd schubste er Michael mit der Schulter.
Themenwechsel, dachte Michael. Er stand ungern im Mittelpunkt. Und außerdem: wer war ›wir‹? Das war sein Problem. Ganz alleine seines. »Und du?«
»Was ist mit mir?«
Michael rollte die Augen. Stellte sich Lukas nur so blöd?
»Ach so! Ich. Ja … ja klaaar.« Lukas pflückte einen Krümel vom Teppich und begutachtete ihn.
»Ja klar – was?«, bohrte Michael nach.
»Ich hab schon geküsst.«
»Und?« Michael musterte Lukas neugierig.
»Du willst wissen, wie es – ist?«
»Ja, wie fühlt es sich an?«
Lukas schaute ihn herausfordernd an – seine Augen tanzten förmlich über Michaels Gesicht.
Erwartungsvoll erwiderte dieser den Blick.
»Du willst wissen, wie es sich anfühlt?« Lukas funkelte Michael provokativ an.
Was war daran bitte so schwer zu verstehen? » Ja … klar. Natürlich will ich das wissen.«
Plötzlich beugte sich Lukas über ihn, schaute ihm kurz aber intensiv in die Augen, neigte den Kopf, und – noch ehe Michael wusste, wie ihm geschah – spürte er Lukas’ Mund auf seinem.
Mit weit aufgerissenen Augen lag Michael da und krallte die Finger in den bröselig, harten Teppich. In seinem Kopf drehte sich alles. Lukas’ Lippen berührten ihn zart, warm und weich. Michael starrte ihn entsetzt an. Aus der Nähe ergab sich eine seltsame Fischaugenoptik. Lukas hatte die Augen geschlossen. Genoss er das etwa? Michael wollte sich hingeben, aber er hatte Angst, die Kontrolle zu verlieren.
Lukas unterbrach diesen kurzen, sanften Kuss und schlug die Augen auf. Er lächelte. War er verlegen? Amüsierte er sich? Verlangte er mehr?
»Mach die Augen zu.« Lukas sprach ungewohnt zärtlich und so nah, dass Michael den Atem seiner Worte auf den Lippen spüren konnte. Sachte strich Lukas mit einer Hand über Michaels angespannten Arm und flüsterte: »Keine Angst. Lass einfach los.»
Michael wollte etwas erwidern. Er wollte sagen, dass … ja was? Es kam überraschend – war überwältigend. Es fühlte sich gut an. Nicht völlig falsch. Nur seltsam. Unerwartet. Konnte er Lukas vertrauen?
Michael schloss flatternd die Lider. Nur zögernd gab er sich dem Fühlen hin. Szenen von Mitschülern, schossen ihm durch den Kopf, die ihn dafür auslachten, dem Begehren so ausgeliefert am Boden zu liegen.
Was passierte jetzt? Er zitterte innerlich, war völlig verkrampft. Hatte Angst.
Und dann spürte er sie wieder. Sanft, warm und zärtlich strichen Lukas’ weiche Lippen über seinen empfänglichen, halboffenen Mund. Mit geschlossenen Augen fühlte es sich viel intensiver an – als wären alle seine Sinne auf diese wenigen Millimeter Haut zusammengerückt, die dieser andere Mensch auf so liebevolle Weise berührte. Lukas’ Lippen verlangten fordernder nach Michaels, begannen zärtlich, mal nach der Unterlippe, mal nach der Oberlippe zu schnappen.
Michael lag da und ließ es geschehen. Weder spürte er den harten Teppich unter sich noch die Anspannung in seinen Fäusten. Als flöße Lukas ihm einen Zaubertrank ein, breitete sich in seinem Körper wohlige Wärme aus. Er wurde weich, geschmeidig und genoss, wie Lukas an seinen Lippen saugte und vorsichtig versuchte, mit der Zunge vorzudringen.
Alles, was er hörte, war das leise Knacken des Speichels und sein eigenes Herz, wie es schwer und schnell schlug. Zaghaft begann Michael, den Kuss zu erwidern. Er schmeckte Lukas’ Zunge, und kostete von seinen Lippen. Er wollte mehr. In ihm keimte das Verlangen auf, Lukas zärtlich sein Begehren aufzudrücken. Ohne zu überlegen, schlang er die Arme um ihn.
Und dann war es vorbei.
Lukas zog sich abrupt zurück. Über sein Gesicht huschte ein Ausdruck zwischen Angst und Erstaunen. Er drückte Michael – fast entschuldigend – einen flüchtigen Kuss auf den Mund und wand sich aus der Umarmung. Mit einem total entrückten Blick setzte sich Lukas auf, fuhr sich über den Mund und erhob sich.
»Ich muss … gehen.« Überstürzt eilte er aus dem Wohnzimmer.
Michael lag wie erschlagen da. Noch völlig im Bann des Kusses, mochte er nicht realisieren, was gerade passiert war.
Da öffnete sich die Tür und Lukas kehrte völlig verstört ins Zimmer zurück.
»Du musst gehen«, erklärte er konfus, »ich wohne ja hier.«
Während sich Michael langsam erhob und versuchte, seine Gedanken zu sammeln und das eben Geschehene zu verarbeiten, nahm Lukas die DVD aus der Konsole, schichtete Michaels Spiele und drückte ihm den Stapel ohne weiteres Wort in die Hand.
Eigentlich hatte Michael sie ihm geliehen. Eigentlich hatten sie abgemacht, dass Lukas sie bei sich behalten sollte und sie dafür gemeinsam zocken würden.
Irritiert starrte Michael auf die Spielesammlung in seinen Händen, dann zu Lukas, der ihn keines Blickes würdigte. Am liebsten hätte sich Michael geweigert, die DVDs mitzunehmen. Hätte Lukas ihn zusammengeschlagen, hätte sich das kaum schlimmer anfühlen können als diese vernichtend kalte Reaktion.
Verdattert und mit einem schmerzhaften Stich im Herzen, ließ sich Michael aus der Wohnung bugsieren. Er drehte sich um, wollte etwas sagen, musterte Lukas bedürftig. Doch dieser hielt den Blick gesenkt, drückte die Tür hinter Michael zu und verriegelte sie.
Von drinnen drang dumpf und verrucht das Hämmern von Schlagzeug. Eingezwängt in der Menschenmenge schob sich Michael vorwärts. Er tat es den anderen gleich und krempelte den linken Ärmel hoch. Aufgeregt reichte er der etwa fünfundzwanzigjährigen Tätowierten, die Eintrittskarte. Sie musterte ihn streng, aber ohne ihn wirklich anzusehen, zerriss das Papier und grapschte grob nach Michaels Arm. Hart, fast schmerzhaft, drückte sie den Gummi des Stempels auf seinen Handrücken und widmete sich schon dem nächsten Besucher hinter ihm.
Sein Herz klopfte wild, als Michael den Stempelabdruck – einen giftgrünen Totenkopf – betrachtete. Mit weichen Knien, eingeschüchtert von all den wild und kreativ aussehenden Leuten, tappte er vorwärts. Er versuchte, niemanden allzu offensichtlich anzustarren und lässig zu wirken, als bewegte er sich Tag für Tag unter so vielen coolen Menschen. Neben ihnen fühlte er sich naiv und klein. Alle hier hatten ein aufregendes Leben – nur er nicht.
Es war das dritte Mal, dass Michael auf ein Konzert ging, und das erste Mal, dass er es alleine tat. Ungeplant. Ursprünglich hatte er mit Lukas hierher kommen wollen, aber seit diesem Nachmittag vor zwei Wochen herrschte absolute Funkstille zwischen ihnen. Michael hatte öfter bei ihm geläutet, angeklopft und ihm sogar Botschaften mit Post-its an die Tür geklebt. Mittlerweile hingen dort fünf Nachrichten. Mehrmals hatte Michael sein Ohr an die Wohnungstür gedrückt und das Klirren von Geschirr vernommen, dann wieder Musik, und einmal hörte er Lukas sogar leise sprechen – möglicherweise hatte er telefoniert. Wenn Michael ihn jedoch anrief, ging er nicht ans Handy, drückte ihn sogar weg.
Die Eintrittskarten hatte Michael aufbewahrt, da die Garantie, sie wiederzufinden, bei ihm um ein Vielfaches höher wäre, meinte Lukas nachdem sie sie gekauft hatten. Bis zuletzt hatte Michael gehofft, Lukas würde sich doch noch aus seiner Höhle wagen, würde mit ihm auf das Konzert gehen. ›Alleine geh ich nicht‹, dachte Michael in den vergangenen Tagen trotzig, aber im letzten Augenblick packte ihn dann doch der Ehrgeiz.
Er klemmte Lukas’ Eintrittskarte einfach in die Ritze zwischen Wohnungstür und Rahmen und zog allein los. Von diesem Arsch wollte er sich doch nicht das Konzert vermasseln lassen, auf das er sich so lange gefreut hatte! Auf dem Weg hierher allerdings wechselte er öfter für einige Meter die Richtung, da ihn der Mut verließ und er umkehren wollte. Lieber wollte er sich im Zimmer verkriechen und – statt die Band live zu erleben – deren CD einlegen und leiden.
Etwas hilflos trottete Michael zwischen der Halle, dem Foyer, der Ecke mit dem Merchandising, den Toiletten und der Bar herum, die Schultern hochgezogen, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Als Anhängsel funktionierte er wunderbar, aber allein? Wohin sollte er gehen – was tun? Er kam sich richtig blöd vor, armselig, schien doch jeder mit Freunden hier zu sein – ganze Rudel, die beisammenstanden und grölten, um sich auf das Event einzustimmten. Vielleicht war es eine saudumme Idee gewesen, alleine auf dieses Rockkonzert zu gehen.
Nicht zum ersten Mal steuerte Michael entschlossen auf den Ausgang zu, bremste sich aber wieder ab. Nein, er hatte es bis hierher geschafft – er hatte sich seit Wochen auf das Konzert gefreut – jetzt würde er es genießen! Basta!
Die Musiker der Vorbands jaulten und trommelten sich die Seele aus ihren Leibern. Sie waren schlecht und mussten sich mit Buhrufen abfinden. Trotzdem füllte sich allmählich die Halle und Michael suchte sich einen Platz. Nicht zu weit vorn – da wurde zu heftig getobt – nicht zu weit hinten – da waren zu viele knutschende Pärchen oder ernste Typen, die dastanden wie Schränke, charakterlos und starr – das konnte ihm die Laune echt verderben. Am Rand, irgendwo an eine Wand gedrückt, hätte es ihm am besten gefallen, aber dort war schon alles besetzt.
Endlich stürmte die charismatische Hauptband die Bühne und brachte die Menschenmenge binnen Minuten zum Brodeln. Michael ließ sich von der aufpeitschenden Stimmung anstecken. Er grölte sogar mit, hob die Arme und sprang im Takt. Immer intensiver vereinnahmte ihn das Gefühl, Teil der Menge zu sein – nicht irgendjemand, sondern ein Fan, wie alle hier. Als wüchse er in eine Familie hinein, gehörte er – zumindest für einen Abend – zu all den aufregenden, interessanten Menschen.
Und dann, als Michael endlich begann, sich richtig wohl zu fühlen und den Abend zu genießen, sich vornahm, ab nun öfter alleine fortzugehen – ja, vielleicht sogar nur noch alleine, denn dann konnte er sich viel besser auf die Stimmung einlassen – berührte ihn jemand ganz leicht am Ellenbogen. Okay, in der Masse rempelte ihn dauernd irgendjemand, aber diese Berührung riss ihn aus der Euphorie und ließ ihn in die Realität plumpsen. Wie ein einzelner Tropfen, der unabsichtlich über den Rand eines Topfes fällt und damit für immer von den anderen getrennt wird, entfernte er sich von der brodelnden Menge. Die Musik erschien ihm leiser, verkam mit den Stimmen der Leute zu einem diffusen Rauschen.
Lukas.
Er stand neben ihm und lächelte ihn an als wäre nie irgendetwas passiert. Erst nachdem er sich vergewissert hatte, dass Michael ihn bemerkte, ging er mit dem euphorischen Publikum mit. An Michaels statt stürzte er sich in die kochende Menge und ließ seinen schüchternen Freund hinter sich – den einsamen Tropfen, vergessen auf dem Boden der Ernüchterung.
So sehr sich Michael auch bemühte, es wollte ihm einfach nicht mehr gelingen, in Stimmung zu kommen. Seine Versuche mitzugrölen wurden ihm peinlich – er hörte seine eigene naive Stimme im Kopf dröhnen. Zwar hüpfte er mit den anderen mit, aber er kam sich dabei lächerlich vor und ließ es bald bleiben. Er ließ die Arme runterbaumeln – wie albern, damit in der Luft herumzufuchteln.
Aus dem Augenwinkel betrachtete er Lukas, dessen braunes langes Haar durch die Luft wirbelte, wenn er sprang. Die gut geformten Schultern wurden, wie immer, durch ein Muskelshirt betont. Als Lukas die muskulösen Arme in die Luft streckte, um zu klatschen, verfing sich Michaels Blick im Achselhaar. Plötzlich wirkte Lukas auf ihn betörend männlich – auf eine durch und durch erotische Art. Michaels Herz schlug schwer, hämmerte schmerzhaft gegen das Brustbein und in seinem Schritt machte ein erregtes Kitzeln die Hose eng.
Dass Lukas ihn aufgrund seiner Männlichkeit reizte, beunruhigte Michael nicht. In den letzten Wochen hatte er über dieses Thema erschöpfend nachgedacht, und auch wenn er sich noch nicht ganz sicher war, ob er Männer wirklich lieber mochte als Frauen, die Idee machte ihm zumindest keine Angst mehr. Viel schlimmer war, unglücklich verliebt zu sein, und wie sich das anfühlte, davon hatte er nun einen Vorgeschmack bekommen.
Die Band spielte eine Ballade, Michaels absolutes Lieblingslied – vor allem in den letzten zwei Wochen. Das war einer der wenigen ruhigeren Songs dieser Gruppe, und ergreifend bis zum erbarmungslosen Kitsch. Genau das Richtige für unglücklich – aber auch glücklich – verliebte Teenager. Selbst ohne akuten Herzschmerz konnte Michael dazu eine Träne vergießen, wenn er sich auf die Melodie einließ. Sie beschrieb dieses Gefühl im Bauch so perfekt, dass er bereits eine Ahnung davon bekommen hatte, wie sich Verliebtheit anfühlte, ehe sie ihm das erste Mal passierte.
Die Band tat ihm keinen Gefallen damit, ausgerechnet jetzt dieses Lied zu spielen. Zwar hatte Michael den ganzen Abend auf diesen Song gewartet, doch nun wollte er ihn nicht mehr hören. Weil Lukas da war. Weil dieser diese intensiven, verstörenden Gefühle auch so auslöste. Hunderte Leute zückten Feuerzeuge, schwenkten sie wogend hin und her und bald gab er kein Pärchen, das nicht knutschte. Michael war drauf und dran, aus der Halle zu laufen, so unerträglich zwängte sich zu viel Gefühl in ihm hoch, ertränkte ihn regelrecht. Er schluckte und schluckte, ballte die Fäuste und sah verschwommen, wie Lukas ebenfalls ein Feuerzeug in die Luft reckte und ein Licht unter vielen entzündete.
Wieder berührten sich zufällig ihre Ellenbogen. Michael rückte ab, doch Lukas’ Arm streifte ihn ein weiteres Mal. Obwohl Michael diese Berührungen mochte, sie ihm durch und durch gingen, zog er sich weiter zurück – und spürte erneut Lukas’ Arm. Erst da begriff er, dass das kein Zufall war – Lukas tastete nach seiner Hand. Warme Finger streichelten seine Faust, um sie sanft zu öffnen. Ein Blitz durchfuhr Michael, als sich Lukas’ Finger zärtlich zwischen seine schoben. Er konnte es gar nicht fassen, hielt den Arm steif und die Finger gestreckt, als hätte er an ihrer Stelle dürre Äste. Um sich zu vergewissern, dass ihn seine Wahrnehmung nicht betrog, blickte er zwischen sich und Lukas runter und sah, wie dessen Knöchel um den entschlossenen Griff weiß wurden. Zögernd ergab sich Michael und schlang die Finger um Lukas’ sichere Hand. Der drückte kurz zu und lächelte.
Michael bestand nur noch aus dieser elektrisierenden Berührung mit seinem Freund. Außerdem schmiegte sich dessen Schulter an ihn, und ein bisschen, kaum merklich, schunkelten sie. Die Reibung, die so an ihren Armen entstand, intensivierte die Nähe noch um ein Vielfaches. Michael wagte kaum zu atmen, hatte Angst, eine falsche Bewegung – und alles wäre vorbei.
Als das Lied zu Ende ging, hätte Michael am liebsten ›Nein‹ geschrien, ›spielt es nochmal!‹ Mit dem nächsten Song heizte die Band der Menge wieder ordentlich ein. Lukas wand die Finger aus dem festen Griff – doch Michael wollte einfach nicht loslassen, öffnete nur widerwillig die Hand. Wie kalt und hart sich Lukas plötzlich anfühlte, als er sich so grob der Verbindung entriss.
Zwei Songs zwang sich Michael noch in der Halle zu bleiben und den Fluchtreflex niederzukämpfen, dann hielt er es nicht mehr aus und drängelte sich zwischen den schwitzenden, springenden Leibern hindurch raus, einfach nur raus. Er rang nach Luft, würgte, so brutal tat ihm die Brust weh, zogen sich Herz und Magen zusammen.
Endlich gab er der Angst und dem Drang nach, einfach nur wegzulaufen. Die Kapuze über den Kopf gezogen und die Fäuste in den Hosentaschen vergraben, marschierte Michael an den coolen Typen mit den aufregenden Tattoos und den wilden Frisuren vorbei, die lässig herumstanden und rauchten, um raschen Schrittes den Heimweg anzutreten.
Was hatte das eben zu bedeuten? Michael führte die Handfläche – jene, die Lukas berührt hatte – an seine Nase, roch daran und drückte sein Gesicht hinein, als wäre er Lukas damit näher. »Idiot«, schalt er sich selbst und stopfte die Faust zurück in die Hosentasche.
Vor dem Wohnhaus bremste er ab. Er wollte noch nicht rauf. Es war ein aufregender Abend gewesen und unter all diesen Leuten war er sich so erwachsen vorgekommen – dieses Gefühl wollte sich Michael nicht durch sein Kinderzimmer oder seiner Mutter klein machen lassen. Auf einmal kam ihm seine Flucht töricht vor und er sehnte sich danach, noch auf dem Konzert zu sein. Die Band spielte vermutlich immer noch und jetzt, da Michael fern davon war, schien es nichts Verlockenderes zu geben, als Lukas beim Tanzen zuzusehen. Sämtliche Verheißungen dieser Welt lauerten dort, von wo er eben geflüchtet war.
Einen bewegenden Moment lang überlegte Michael tatsächlich umzukehren. Auf seinem Handrücken hatte er noch den Stempel, vermutlich könnte er sofort wieder in die Halle rein, als wäre er nie weg gewesen, so wie die Raucher. Lukas hatte vielleicht noch nicht einmal bemerkt, dass er davongelaufen war.
Michael schlurfte zur Schaukel, die auf dem heruntergekommenen Spielplatz vor dem Wohnhaus stand, hockte sich drauf und ließ die Nacht auf sich wirken. Vielleicht sollte er nicht mehr nach Hause kommen. Welch kühner Gedanke. Er könnte jetzt einfach abzuhauen und irgendwo ein aufregendes Leben beginnen.
Eine ganze Weile hing Michael seinen Fantasien von einer abenteuerlichen Zukunft nach, ohne Schule, ohne Mutter, aber mit … mit … »Scheiße.« Michael scharrte mit den Schuhspitzen im Kies.
Plötzlich hörte er Schritte.
Panik.
Hatte ihn ein brutaler Krimineller aufgestöbert? Hektisch drehte sich Michael herum und schnaubte erleichtert.
Es war Lukas, der – betont lässig – quer über die Wiese auf ihn zumarschierte. Vor seinem Mund glimmte die orangefarbene Glut einer Zigarette auf, ehe er sie cool zu einem Kanaldeckel schnippte, wo der Stummel zwischen den Rillen verschwand.
»Na? Du warst ja schnell weg.« Ohne zu fragen, hockte sich Lukas auf die Schaukel neben Michael.
Dieser schnaubte verächtlich.
»Hat’s dir nicht gefallen?« Lukas musterte seinen Freund. Im Licht der Laternen funkelten seine Augen.
»Doch.« Michael fixierte seine Knie. »Live sind sie noch besser.«
»Das meinte ich nicht.«
Michaels Herz machte einen Sprung, seine Mundwinkel wackelten unkontrolliert und in seinen Handflächen bildete sich spontan kalter Schweiß. »Ich weiß nicht …« Michael, sprang hoch und der Sitz der Schaukel schlug gegen seine Oberschenkel. Hastig steuerte er auf den Hauseingang zu.
»Warte!«, rief Lukas und lief ihm hinterher. »Ich komm auch gleich mit hoch.«
Am Knirschen des Kieses konnte Michael hören, dass Lukas rasch aufholte, und beschleunigte das Tempo. Noch ehe er das Haustor erreichte, fischte er den Schlüssel aus der Hosentasche. Als er aufsperren wollte, klemmte unter den hektischen Bewegungen das Schloss.
Michael musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass Lukas gleich hinter ihm stand. Endlich löste sich die Sperre und Michael stürzte ins Treppenhaus. Hastig zerrte er an der Tür und stemmte sich gegen die Kraft der Hydraulik. Doch er war zu langsam und zu schwach.
Lukas drängte sich durch den Spalt. »Was soll das!«
Michael warf ihm einen vernichtenden Blick zu und wollte die Stufen hoch flüchten. Doch er kam nicht weit. Lukas war größer, schneller – und kräftiger. Rasch packte er Michael am Ellenbogen und drehte ihn grob zu sich herum.
Michael verzog vor Schmerz das Gesicht und glotzte auf die Hand, die ihn brutal festhielt.
Lukas funkelte ihn herausfordernd an. »Bist du sauer auf mich?«
Michael riss sich los. Der feste Griff brannte auf seiner Haut. Gute Frage. War er sauer? Er hatte allen Grund dazu, aber er war es nicht. Er roch Lukas’ Schweiß, die Zigaretten und konnte nicht anders, als ihm auf die muskulösen Schultern zu glotzen, die kräftigen Arme, den sehnigen Hals, die geschwungenen Schlüsselbeine.
Lukas atmete heftig. Das verriet sein Brustkorb.
Michael senkte den Blick und schüttelte den Kopf.
»Gut«, brummte Lukas und wandte sich ab, um die Treppen hochzusteigen.
Michael ließ sich gegen die Wand fallen, schlug den Hinterkopf gegen die Mauer und stöhnte unbeabsichtigt laut auf. Die Akustik vervielfachte das Echo bis unters Dach.
»Verdammt!« Lukas drehte sich um, machte einen Schritt auf Michael zu und drängte sich an ihn, um ihn mit seinem warmen, schwitzenden Körper fest gegen die kühle Wand zu pressen. Die Augen geschlossenen, legte er die Wange an Michaels Schläfe und hauchte ihm mit einem unterdrückten Laut übers Haar.
An seinem Bauch konnte Michael deutlich Lukas’ Erregung spüren. Behutsam glitten dessen weiche Lippen über seine Stirn, küssten ihm sanft die Brauen und die flatternden Augenlider. Lukas senkte stöhnend den Kopf, vergrub sein Gesicht in der Mulde unter Michaels Ohr und hauchte über seinen Hals. Michael wagte kaum zu atmen. Sein Herz raste und er legte ganz sachte die Hände auf die Hüften seines Freundes.
Lukas’ weiche Lippen erforschten Michaels Hals und wanderten daran hoch. Mit einem leisen Stöhnen neigte Michael den Kopf zur Seite, um sich anzubieten. Lukas küsste sein Ohrläppchen und zog eine zärtliche Spur über die Wange bis vor zum Mundwinkel. Erwartungsvoll befeuchtete Michael bereits seine Lippen und fieberte mit leicht geöffnetem Mund dem nahenden Kuss entgegen.
Vergebens.
Plötzlich rückte Lukas von Michael ab, starrte ihn erschrocken an und schien etwas sagen zu wollen. Seine Lippen zuckten, sein Atem ging heftig und er blickte seinem Freund abwechselnd in die Augen und auf den Mund. Schließlich stieß er ein seltsam unterdrücktes Jaulen aus und stürzte die Stufen hoch.
Michael stand mit rasendem Herzen noch immer gegen die Wand gelehnt neben dem Hauseingang, als oben die Tür zuschlug und geräuschvoll ein Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde.
»Stell dich nicht so an«, schalt Michaels Mutter, ohne ihn dabei anzusehen.
»Kennst du den Spruch: Schmutzwäsche in der Öffentlichkeit waschen?« Michael kämpfte auf verlorenem Posten.
Seine Mutter wischte hektisch über die Arbeitsfläche in der Küche und spielte vortrefflich die alleinerziehende Märtyrerin. Für ihren Sohn tat sie alles – da könnte sie von ihm durchaus auch mal verlangen, dass er im Haushalt mit anpackte. »Der Waschkeller ist nicht die Öffentlichkeit … soviel ich weiß, wird er in diesem Haus so gut wie nicht mehr genutzt. Außerdem hat jeder Stock einen gesonderten Waschtag.«
Sie hatte recht. Zwar besaßen sie eine Waschmaschine, allerdings war sie seit einiger Zeit defekt. Erst dauerte es ewig, bis der Servicedienst reagierte – angeblich war die Garantiefrist nicht geklärt – dann mussten Ersatzteile bestellt werden, und zu allem Überfluss kamen auch noch die falschen an. Mittlerweile mussten sie über zwei Wochen ohne das Gerät auskommen.
»Ich finde das eklig – da waschen die alten Weiber ihre Inkontinenz-Wäsche und Busenhalter die so groß sind, dass sie die Alpen verhüllen könnten.«
»Michael!« Entsetzt fuhr seine Mutter herum. »Erstens: Es heißt nicht ›Weiber‹, zweitens: Die Funktion einer Waschmaschine ist die Reinigung. Zuletzt war also immer saubere Wäsche in der Trommel, alles klar?« Damit schnappte sie ihre Handtasche, sperrte die Tür auf und sagte die drei Worte, die Söhne alleinerziehender Mütter auf der ganzen Welt erfolgreich zur Selbstausbeutung zwangen: »Enttäusch mich nicht!«
Das war gleichbedeutend mit: ›Du hast mir bereits sehr weh getan, erinnere dich!‹ Und ›Dafür, dass ich vor lauter Kummer und Sorgen nicht schlafen kann, weil ich nicht weiß, wie ich uns durchbringen soll, winde dich im Gegenzug gefälligst nächtelang in quälenden Schuldgefühlen‹.
»Ich liebe dich auch«, rief ihr Michael hinterher, doch die Tür fiel schon ins Schloss.
Verdammt, ausgerechnet dieses rumpelnde, alte Monster im Keller. Michael hatte kein Problem damit, Wäsche zu waschen – in der eigenen, modernen Waschmaschine im Bad. Die Vorstellung, seine benutzten Unterhosen durchs Haus zu schleppen und diesem gierigen Blechungeheuer im Keller dem Fraß vorzuwerfen, ekelte ihn. Egal was seine Mutter sagte, er hatte immer das Gefühl, die Kleidung würde nach einer Wäsche in diesem Ding nach Altweiberurin und dem Schweiß aus Riesenbusenhaltern stinken.
Außerdem war die Bedienung dieses altmodischen Geräts ein Alptraum. Zwar hatte ihm seine Mutter eine idiotensichere Anleitung aufgeschrieben und gut sichtbar auf den Wäschekorb platziert, aber Michael hatte dennoch Angst. Eine falsche Eingabe, und die Waschmaschine würde sich in einen Reißwolf verwandeln oder Schaum ausspucken und damit das ganze Stadtviertel ertränken, ähnlich wie der Brei in diesem Märchen.
Am besten brachte er es gleich hinter sich. Er schnappte sich ein Buch, warf es zur Anleitung auf die Schmutzwäsche und machte sich auf den Weg in den Keller.
Um zum Waschraum zu gelangen, musste man zwei Türen aufschließen und hinterher wieder versperren, sonst gab es Ärger mit der Hausverwaltung.
Richtig: Man musste sich im kalten, dunklen Keller hinter zwei schweren Feuerschutztüren selbst einsperren!
Das Licht auf dem Gang hatte eine Zeitschaltung, die immer um einige Sekunden knapper bemessen war, als Michael benötigte, um den Behälter abzustellen, aufzusperren und den Korb durch die Tür zu bugsieren … Regelmäßig schaltete sich das Licht mittendrin mit einem ›Klack‹ ab und ließ ihn im Dunkel zurück. Ein immer noch gruseliger Moment, obwohl er schon siebzehn war. Dann hieß es, den nächsten rot leuchtenden Punkt anzusteuern und den Wäschekorb dagegen zu pressen.
Im Treppenhaus hatte er immer ein mulmiges Gefühl den nächsten Schalter zu betätigen. Er fürchtete, versehentlich die Glocke einer der Wohnungen zu drücken und so zu provozieren, dass eine der alten Frauen ihre Tür öffnete – nur in Monster-BH, zeltgroßen Unterhosen und Lockenwicklern – ein Ungeheuer aus Falten, Fett und Cellulite. Dagegen waren Zombiefilme und Ego-Shooter reinstes Babyhäschenknuddeln.
Michael verriegelte die zweite Tür hinter sich und tappte, den riesigen Wäschekorb vor seinem Bauch herbugsierend an den Holzgefängnissen für Winterreifen, Skiausrüstungen, ausrangierten Möbeln und Reservefliesen vorbei. Es roch, wie immer, feucht und nach Wein. Anscheinend ließ in regelmäßigen Abständen jemand eine Flasche fallen, deren Inhalt dann wochenlang vor sich dahindunstete.
Aus dem Waschraum drang ein Geräusch. Michael hielt inne. Jemand hatte sich seinen Waschtag unter den Nagel gerissen? Oh, das war aber jammerschade, er würde sofort wieder hochgehen müssen und seiner Mutter erklären, dass man sich in diesem Haus nicht einmal an rudimentäre Regeln hielt.
In diesem Moment schaltete
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Kooky Rooster
Bildmaterialien: Kooky Rooster
Lektorat: Sissi Kaipurgay – Herzlichen Dank! Überarbeitung durch Kooky Rooster 2014
Tag der Veröffentlichung: 03.04.2013
ISBN: 978-3-7309-1931-6
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