Ich fiel aus allen Wolken, als mein bisher wohlwollender Lektor das Manuskript in einem hohen Bogen vor meinen Augen in die Papiertonne warf – und traf. Letzteres verblüffte auch ihn. Zwar schleuderte er immer wieder Manuskripte durch den Raum, das wirkte hübsch resolut, sonst traf er jedoch nur die Wand hinter dem Papierkorb, an der die verstoßenen Werke hinunterrutschten und in sich zusammensanken.
Ich musste zusehen, wie sich mein Werk kopfüber in die Tonne stürzte und mit dem Rücken aufschlug.
Wirbelsäulenbruch. Mindestens.
Während ich noch das Grab meines letzten Werkes betrachtete, flogen mir die Worte des Lektors um die Ohren. Offensichtlich war er nicht zufrieden mit mir.
Mein letztes Werk war eine erotische Liebesgeschichte gewesen. Eine Auftragsarbeit, wie ich zugeben muss. Ja, ich war zur Hure eines Verlags verkommen, der mir die Kurzfassung einer Idee vorlegte, mit der er einen neuen Markt erschließen wollte.
Bisher hatte ich mich noch nicht an Liebesgeschichten gewagt. Was zwischen Menschen passierte, stellte ich höchstens als verzweifelte Notwendigkeit dar – erotische Anwandlungen umschiffte ich weiträumig. Die Leser wussten ohnehin, wie die Sache mit den Bienchen und den Blümchen funktionierte.
In das vorliegende Buch hatte ich den Schmerz von zwölf Jahren ungelebter Sexualität hineinsublimiert. Ich hatte es in einer Art verzweifelten Raserei verfasst und war davon überzeugt, es wäre mein bisher bestes Werk, war es doch das für mich emotionalste. Die Tatsache, dass beide Protagonisten männlich waren, hielt ich für die eigentliche Herausforderung.
Und nun tobte mein Lektor seit geschlagenen zehn Minuten. Ich kam bereits auf die Idee, ihm Homophobie zu unterstellen, da beruhigte er sich endlich.
Von einer Sekunde auf die andere wurde er so still, dass ich die Schallwellen zu Boden plumpsen und sich verängstigt in die Ecken zurückziehen hören konnte. Ich hegte die vage Hoffnung, er hätte doch noch die Genialität meiner Geschichte erfasst, oder wollte mir eröffnen, er hätte bloß einen Witz gemacht, das Werk wäre brillant.
Stattdessen streifte er mit den Lippen über die verschränkten Finger und musterte mich nachdenklich.
Schließlich lehnte er sich vor, stützte die Ellenbogen auf die Zettelwirtschaft auf dem Schreibtisch und seufzte wie ein Arzt, der mir eine schlimme Nachricht überbringen musste.
»Herr Fellinger, hatten Sie schon einmal Sex?«
Eine Frage wie ein Nierentritt. »Sicher … klar doch …«, sagte ich, räusperte mich und straffte die Schultern.
Das war keine richtige Lüge. Mein letztes Mal war bloß schon so lange her und so erbärmlich gewesen, dass es eigentlich nicht zählte.
Ich war achtzehn gewesen, sie einundzwanzig. Wochenlang hatten wir uns getroffen, um die Oberflächlichkeit der Welt zu kritisieren. Dass es heutzutage keine Liebe mehr gab. Dass die Leute ihre Beziehungen schneller wechselten als ihre Unterhosen. Wir beklagten auf unseren endlosen Spaziergängen, dass niemand mehr für die Schönheit der Natur empfänglich war, während der Planet schamlos ausgebeutet wurde, und dass Tugend nichts mehr zählte. Wir gestanden einander, dass wir noch Jungfrauen waren und von der einen, der wahren, der echten Liebe träumten. Wir waren einsam, hatten kaum Freunde und jede Menge Sehnsucht.
Eines Tages beschlossen wir einfach, verliebt zu sein. Richtig – es war eine rein kognitive Entscheidung. Was wir uns aber nicht eingestehen wollten. Auf unseren Spaziergängen hielten wir fortan feierlich Händchen, und wenn wir uns verabschiedeten oder begrüßten, küssten wir uns flüchtig auf den Mund.
Doch der Funke wollte einfach nicht überspringen. Statt die Reißleine zu ziehen, veranlasste uns das nur dazu, dieses verzweifelte Spiel zu intensivieren und uns umso fleißiger einzureden, total ineinander verliebt zu sein.
Da wir uns im Vorfeld wochenlang über die On-Off-Beziehungen der anderen ausgelassen hatten, stand für uns außer Frage, das Projekt Liebe abzubrechen. Stattdessen sprachen wir davon, den Rest unseres Lebens zusammenzubleiben.
Das war eine lange Zeit – schon in Gedanken.
Nach einigen Wochen, in denen wir demonstrativ auf stumpfsinnige Liebesbeweise verzichteten – warum sollten Blumen oder Bäume sterben, nur um unser Ego zu streicheln – entschieden wir, dass es Zeit wurde, Sex zu haben.
Wir nahmen die Sache so pragmatisch in Angriff wie unsere Beziehung. Sie besorgte Wein, Kerzen und ein paar leckere Speisen, ich Kondome. Wir planten, erst vorzüglich zu essen, dabei verführerisch am Wein zu nippen – er sollte uns auflockern – und dann im Lichtermeer tausender Kerzen Liebe zu machen wie einst Caesar und Kleopatra.
In Realität krallten wir uns an unseren Weingläsern fest und soffen daraus, als wären wir Beduinen, die unverhofft an eine Wasserquelle gelangt waren. Im Schein von fünf mageren Teelichtern, deren Flammen sich nicht recht entfalten wollten, schritten wir zur Tat, und begannen aneinander herumzuschrauben wie Lehrlinge, die zum ersten Mal ein Werkzeug in der Hand hielten. Ungeduldig, stümperhaft und nur einen Zungenschlag davon entfernt, laut zu fluchen, kämpften wir gegen das enttäuschende Erlebnis an.
Nichts passte. Wir waren uns so fremd wie nie zuvor und schämten uns unserer Körper. Mit einer Erregung, die diesen Namen nicht verdiente, versuchte ich meinen Penis wie ein Stück Teig in sie hineinzustopfen. Sie bekundete, dass ich ihr wehtat, aber sie wollte das jetzt durchziehen und ich sollte auf jeden Fall weitermachen. Mit furchtbar schlechtem Gewissen registrierte ich, dass mein Körper auf die Vorstellung, gerade Geschlechtsverkehr zu haben, reagierte und mein Penis doch noch steif wurde. Während sie apathisch die Decke fixierte, ergab ich mich meinem instinktiven Rhythmus –
– und kam.
Danach plumpste ich in die blau-kalte Welt meiner Freundin zurück, die mich anblickte wie ein waidwundes Reh. Sie lächelte mich schlecht geschauspielert an, sprang hoch, um Richtung Badezimmer zu verschwinden, und bat mich, zu gehen, sie müsse jetzt allein sein.
Wir quälten uns noch ein paar Mal durch unser erotisches Vorhaben, aber es wurde nicht besser. Jedes Mal fühlte ich mich danach schuldig und sie wurde wortkarg. Jedes Mal brauchten wir länger, ehe wir wieder normal miteinander reden konnten.
Als wir uns schließlich trennten, taten wir das mit Vernunft. Sie meinte, vielleicht lägen die anderen doch nicht so falsch damit, Sinnloses abzubrechen. Man müsse manchmal eben loslassen. Liebesbeweise hätten außerdem durchaus ihre Daseinsberechtigung.
Sie demontierte all unsere altklugen Erkenntnisse und Ergebnisse unzähliger inspirierender Gespräche mit nur wenigen profanen Sätzen.
Danach steigerte ich mich in einen mehr intellektuellen als emotionalen Trennungsschmerz hinein. Auch, um mir vorzumachen, wir hätten etwas ›Echtes‹ gehabt. Auch, um einen Grund zu haben, mich nicht mehr verabreden zu müssen, und Frauen am besten für immer aus dem Weg zu gehen.
Fortan spielte ich den von der Liebe enttäuschten Helden, der sich der Einsamkeit verschrieben hatte.
Der Lektor musterte mich. Vielleicht hatte er in meinen Augen den traurigen Film meiner Vergangenheit mit angesehen.
»Hatten Sie schon einmal Sex mit einem Mann?«, fragte er.
Ich starrte ihn sprachlos an – mein Mund trocknete aus.
»Hören Sie«, besann er sich auf die väterliche Tour. Er wollte mir wohl ins Gewissen reden. »Das ganze Buch wirkt, als hätten Sie Angst vor dem, was Sie schreiben! Sie sollten vielleicht Ihre persönlichen Erfahrungen einbringen.«
»Wünschen Sie sich das nicht«, murmelte ich.
Er musterte mich, als müsste er überlegen, ob er mich verstanden haben wollte. »Das Buch ist nicht homoerotisch, sondern zwangsneurotisch. Und zwangsneurotischer Techniksex interessiert niemanden.«
Zwangsneurotischer Techniksex? Hörte sich irgendwie nach Weltliteratur an, auch wenn ich mir nicht erklären konnte, was er mit Techniksex meinte. Die Protagonisten waren leidenschaftliche Künstler.
»Ich habe versucht, präzise …«, begann ich zu erklären.
»Sie sollen nicht präzise, sondern erotisch schreiben. Wir wollen mit dem Genre in erster Linie Frauen ansprechen und das heißt: sinnlich – nicht verzweifelt.«
Verstört blickte ich ihn an. Frauen? Andererseits: Mich hatte schon verwundert, dass der Verlag plötzlich Homosexuelle für sich entdeckt hatte.
»Wie erkläre ich Ihnen das am Besten?« Der Lektor seufzte und lehnte sich zurück. »Sie schreiben wie der Blinde von der Farbe.«
Der Blinde von der Farbe. Das klang wie ein schöner Buchtitel. Mit welchen Worten würde ein Blinder wohl ein sattes Orange beschreiben?
»Hören Sie mir überhaupt zu?«
»Mhm«, machte ich, nickte und setzte mich anders hin, den Ellenbogen auf die Lehne gestützt, den Zeigefinger vor die Lippen gepresst. Ich schenkte ihm meine volle Aufmerksamkeit.
»Stecken Sie sich den Finger in den Arsch, lassen Sie sich den Schwanz lutschen – ich wette, Ihnen hat noch nie jemand den Schwanz gelutscht – und schreiben Sie über diese Erfahrung. Erinnern Sie sich daran, wie es ist, verliebt zu sein. Was Sie mir hier vorgelegt haben, gleicht einer Bauanleitung für einen Wohnzimmerschrank. Sie halten sich mit technischen Einzelheiten auf, aber wo bleibt das Gefühl, die Sinnlichkeit, das Erleben? Es soll prickeln, aber man spürt nichts. Ich weiß, Sie können das besser. Schauen Sie: Wenn Sie über einen Mörder schreiben, ist es nicht nötig, gemordet zu haben. Die Wenigsten Ihrer Leser sind Mörder und wissen daher nicht, wie es sich anfühlt, jemanden umzubringen. Die paar Mörder unter Ihren Lesern dürfen Ihre Bücher naiv und vertrackt finden – sie sind nicht unsere Zielgruppe. Aber Sex und Liebe … das hat jeder, das kennt jeder. Die Leute brauchen keine Gebrauchsanleitung, sie wissen wie Sex funktioniert, sie wollen, dass ihre Erinnerungen angeregt werden. Wenn Sie also über Erotik schreiben, dann, bitte, halten Sie sich an echte Empfindungen, und wenn Sie nicht wissen, wie sich etwas anfühlt, dann finden Sie es heraus. Haben Sie Sex. Schreiben Sie darüber.« Er schnaufte. Speicheltröpfchen setzten sich auf die unzähligen Manuskripte auf seinem Schreibtisch.
Von wegen, jeder hat Sex und Liebe, dachte ich schmollend, als ich das Verlagsgebäude verließ.
Am liebsten hätte ich das Projekt hingeschmissen, doch da war der Vorschuss, den man mir bereits vor Monaten ausbezahlt hatte und den ich bereits zur Hälfte aufgebraucht hatte.
Frustriert verschob ich die Datei ins Archiv und überwand mich, eine neue Fassung zu schreiben. Stunde um Stunde quälte ich mich durch zähe Textversuche und suhlte mich in Selbsthass. Was hatte mich bloß geritten, mich darauf einzulassen, einen homoerotischen Roman zu schreiben?
Ich war aufgeschmissen.
Natürlich hatte ich keine Erfahrung. Ich war noch nie verliebt gewesen.
Seit meiner gescheiterten ersten Beziehung hatte ich mich hinter Literatur verkrochen. Ich lebte die Philosophie, dass es meine Kreativität speiste, wenn ich meine Sehnsüchte und Bedürfnisse in Texte sublimierte. Ich redete mir ein, Liebe stünde meinem Schaffen bloß im Wege und raube mir viel zu viel Energie und Zeit.
Und Sex?
Nun, ich hatte Hände. Das ging schnell, raubte mir keine wertvolle Schaffenszeit, und war obendrein billig. Keine nervenzehrenden Rendezvous, kein wochenlanges Werben und hunderte Euro, die ich investieren musste, damit sich die Frau nicht wie eine Hure fühlte, wenn sie mit mir ins Bett ging.
Ein Aspekt, den ich an Frauen ohnehin nie verstanden hatte. Wenn sie Sex ohne Gegenleistung boten, fühlten sie sich wie Huren, wenn sie sich dafür aber fürstlich in Form von Kinobesuchen, Essen, Blumen, Support und offene Ohren bezahlen ließen, nicht.
Also ließ ich es bleiben.
Da ich recht zurückgezogen lebte, kam ich ohnehin nicht in Versuchung. Ein Aspekt, den mir wahrscheinlich niemand abkaufen würde – würde es jemanden interessieren, was es nicht tat. Wie in Liebesdingen war ich aber auch bei Freundschaften äußerst zurückhaltend, um es gelinde auszudrücken. Ich zählte exakt einen – und er war eher ein Arbeitskollege, mit dem ich gelegentlich auf ein Bier ging.
Der Lektor hatte mein Werk entzaubert. Jetzt konnte ich erkennen, wie gestelzt es war.
Ich begann neu.
Ich versagte.
Ich recherchierte, indem ich andere Bücher entsprechenden Inhalts las, und stellte fest, dass sie mich erregten. Ich schaute mir schwule Filme an und fand einige erstaunlich erotisch, einige sehr tragisch, viele einfach nur flach und dumm.
Immer wieder setzte ich mich schaffensfroh vor das Manuskript, begann wieder von Neuem, besserte an jeder Szene ewig herum, verwarf alles wieder. Ich dachte nicht eine Sekunde daran, den Rat meines Lektors anzunehmen und echten Sex mit einem anderen Menschen zu haben.
Warum? Der Vorschlag war weltfremd. Man konnte sich nicht auf Knopfdruck verlieben, und woher sollte man sonst jemanden kriegen, der einem den Schwanz lutschte?
Ich war nicht der Typ, der die Dienste von Prostituierten in Anspruch nahm. Das widersprach nicht nur meinen moralischen Vorstellungen, es ekelte mich regelrecht davor. Ich sah sie vor mir, all die Freier, die sich an der Frau abarbeiteten, schwitzend, stinkend, alkoholisiert, nüchtern, alt, jung, unbeholfen, hart, rücksichtsvoll oder brutal. Ich fragte mich, wie abgestumpft eine Frau sein musste, um das hinzunehmen, um keine Ansprüche mehr zu stellen.
Nein, dieser Weg war für mich tabu.
Irgendwann wurde mir bewusst, dass ich noch nicht einmal einen richtigen, leidenschaftlichen Kuss erlebt hatte. Wie armselig. Die verkrampften, halb platonischen Küsse mit meiner Freundin waren der Gipfel meiner leidenschaftlichen Eskapaden gewesen. Jeder Vierzehnjährige war mir an Erfahrung voraus.
Wie hatte ich das so lange so erfolgreich verdrängen können?
Um diesem Missstand ein Ende zu bereiten, versuchte ich, mich selbst zu küssen. Zunächst schob ich meinem Spiegelbild im Bad die Zunge in den Mund. Doch das Ablecken der kalten, glatten Oberfläche war nicht das, was mich dazu bringen würde, besser über Küsse zu schreiben. Also küsste ich, vor dem Laptop sitzend, meine Handflächen, wollte das Gefühl sofort niederschreiben. Ich saugte am Handballen, lutschte die Finger, leckte und küsste. Doch das führte zu nichts weiter, als nassen Fingern und einem salzigen Nachgeschmack im Mund. Außerdem kam ich mir unfassbar lächerlich vor. Ich war mir selbst peinlich.
In meiner Verzweiflung dachte ich sogar darüber nach, das Schreiben von Romanen völlig aufzugeben. Ich, der sonst diszipliniert an seinen Werken saß und nicht verstehen konnte, dass andere Autoren um Worte ringen mussten, begann immer öfter, die Arbeit vor mir herzuschieben.
Um meine finanziellen Gegebenheiten aufzubessern, schrieb ich gelegentlich Artikel in einer Zeitung. Nichts Besonderes – meist nur neu formulierte Presseartikel und Filmbeschreibungen – sowie die geistlose Kolumne »Aus dem Leben eines Hundebesitzers«. Ich besaß keinen Hund, kannte noch nicht mal jemanden, der einen hatte. Bisher hatte ich mich immer auf meine Fantasie verlassen können.
Dieser Nebenbeschäftigung war ich nie gern, nie mit Hingabe nachgegangen. Doch nun legte ich mein ganzes Herzblut in diese Kolumne, setzte mich mit Eifer an jeden Artikel. Welch willkommene Ausrede, nicht an meinem Roman weiterarbeiten zu können. Auch entdeckte ich meine Hausmannqualitäten. Ich putzte die Fenster, schrubbte die Wohnung, sortierte die CD-Sammlung, das Bücherregal, die Filme. Ich entdeckte sogar meine Vorliebe für aufwändig zubereitete Mahlzeiten. Wenn alles blitzte, wenn ich alle Pflichten erledigt hatte, so redete ich mir ein, wäre ich frei und offen für den Roman. Dann würde die Inspiration nur so fließen.
Ich etablierte die Idee, Frischluft täte meiner Muse gut, und brachte meine Artikel auf einem USB-Stick persönlich zu Redaktion, statt sie per E Mail zu senden. Meine Internetverbindung mache Probleme, behauptete ich gegenüber den Kollegen, die überrascht waren, mich zu sehen. Es war nicht so, dass ich mich nie in der Redaktion blicken ließ, aber da es nicht notwendig war, hatte ich meine Besuche bis jetzt aufs Minimum beschränkt.
Weil ich nun schon einmal da war, beschloss ich, Tom einen Besuch abzustatten. Er arbeitete für den Chronikteil der Zeitung und war jener Kollege, den ich einen Freund nannte. Meinen einzigen Freund.
Verwundert schaute ich mich nach ihm um. Normalerweise musste ich nur den Fuß über die Schwelle der Redaktion setzen und er kam mir schon entgegen, um mich zu überreden, mit ihm auf ein Bier zu gehen.
Als ich mich damals zum ersten Mal in die Redaktion verirrt hatte, arbeitete Tom schon ein paar Jahre für die Zeitung. Ohne mich zu kennen, setzte er sich beim Chef für mich ein. Als Gegenleistung verlangte er von mir, mit ihm auf ein Bier zu gehen. Für mich war das eine echte Herausforderung gewesen. Ich ging nie fort. Keine Bars, keine Discos, nicht einmal Restaurants. Ich war mehr der stille Typ. Unter Menschen fühlte ich mich einfach nicht wohl.
Aus dem ersten Bier mit Tom wurde ein Ritual. Jedes Mal, wenn ich in der Redaktion auftauchte, und das war alle paar Wochen, bestand er auf ein gemeinsames Bier. Wenn ich zögerte, behauptete er, das sei ich ihm schuldig.
In all den Jahren hatte ich allerdings kein einziges Mal selbst die Initiative ergriffen. Dabei mochte ich Tom und die gemeinsamen Abende. Danach nahm ich mir jedes Mal vor, nicht so lange zu warten, ehe ich ihn wiedersah, und ihn durchaus auch mal von mir aus auf ein Bier anzusprechen. Doch ich tat es nie.
Suchend ließ ich den Blick durch das Großraumbüro schweifen – und entdeckte an Toms Platz eine Frau mit einem Kettchen an ihrer Brille, die konzentriert tippte. Ich schaute mich noch einmal um. Hatten sie das Büro umgestellt? Ich fand ihn nirgends. Das war das erste Mal, dass er nicht da war, wenn ich in die Redaktion kam.
Eine Kraft zog mich innerlich runter.
Zuletzt war ich vor einigen Wochen hier gewesen. Hatte er in der Zwischenzeit gekündigt? War er gekündigt worden? Hätte er mich darüber nicht informiert?
Ich hatte keine Telefonnummer von ihm.
Wie konnte ich ihn einen Freund nennen, aber nicht einmal seine private Telefonnummer haben?
Vielleicht war er ja nur außer Haus oder auf Urlaub.
»Ah, Sie wollen sicher zu Herrn Haas. Richtig?« Die pummelige Sekretärin tänzelte auf mich zu.
Noch während ich mir eine Antwort überlegte – möglichst geschäftlich, unverbindlich, bestätigend –, trippelte sie davon und ich hinterher. Als sie vor dem Chefbüro hielt, erstarrte ich wie eine Kuh vor einem Fluss voller Piranhas.
»Na, kommen Sie schon«, ermunterte sie mich, öffnete die Tür und winkte mich ins Büro.
Ich hasste Chefgespräche. Wollte man mir jetzt mitteilen, dass Tom
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Kooky Rooster
Bildmaterialien: Kooky Rooster
Tag der Veröffentlichung: 15.12.2012
ISBN: 978-3-7438-3127-8
Alle Rechte vorbehalten