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Wie viele Jahre er schon hierher kommt weiß niemand, nicht einmal er selber.

In einer Welt in der Zeit so schnell vergeht und so teuer gehandelt wird wie hier, wo alles rast und mit rücksichtsloser Geschwindigkeit an einem vorbei zieht, ist es gut einen Ort wie diesen zu haben, ein Rückzugsgebiet der Ruhe, ein kleiner Fleck Ursprung, in der die Zeit ihren natürlichen Raum einnimmt.

Es ist nicht viel, nur ein Baum und etwas Grün, ein Überbleibsel, übersehen von den Stadtplanern, wie eine Insel im Großstadtozean. Auch heute will er dort übernachten, wie so oft wenn es warm ist. Man braucht nicht viel, einen Schlafsack nicht unbedingt, aber der Baum, dieses alte Relikt aus Zeiten noch lange vor ihm, es ist der eigentliche Grund hier zu schlafen, Geborgenheit und Ruhe strahlt er aus in einer Welt die nicht dafür erdacht wurde. Zu essen gab es heute nur wenig und dem Alkohol hat er vor vielen Jahren schon entsagt „Zu teuer, zu verfälscht das kleine Glück, einfach nicht das Wahre“, pflegt er auf die Frage, warum diese Enthaltsamkeit, zu antworten. Ein Paar Brotfladenreste vom Straßenrand, etwas ungewürzten Reis, hart erbettelt, nicht viel, aber er ist zufrieden „Wer sich mit wenig begnügt, hat immer genug“, eine Weisheit, die er stets mit einem Lächeln auf den Lippen weitergibt.

Ein langer Weg liegt noch vor ihm, er musste heute weit laufen, sich sehr anstrengen, um seinen Hunger in den Hintergrund zu drängen. Die Straßen sind eng, voller Menschen, buntes Treiben, trübe Luft erfüllt von den Abgasen der tausenden Autos, man fühlt, wie die Lungen den Dreck aus ihr filtern, brauner Ausstoß im ständigen Husten. Autofahrer egoistisch wie die Stadt selbst, Verkehrsregeln sind nur ein müdes Lächeln wert.

Früher hatte er einen Hund. Ein stolzes Tier treu und anhänglich, eher hat er gehungert als seinen Freund es erleiden zu lassen, beide liebten ihre Insel, waren unzertrennlich, bis der Hund angefahren wurde und in seinen Armen starb. Auch seine Frau machte vor vielen Jahren in seinen Armen ihren letzten Atemzug, Ärzte waren schon damals für ihn unbezahlbar, nur noch einen Ring trägt er als Andenken stets in seiner linken Brusttasche.

Noch ein Stück, noch ein Paar Gassen, es ist nicht mehr weit bis zu seinem Baum, seinem Zuhause. Nach dem Tod seiner Frau durchstreifte er monatelang die Schluchten dieses Molochs, immer am Trinken, immer am Suchen, einsam und verloren, bis er seine Insel fand. Wie jedes mal wenn er diesen Weg entlang geht, hält er kurz an und nimmt sich einen oder zwei Momente Zeit um seinem alten Freund zu gedenken, hier starb er, hier starb sein Hund, hier zerbrach sein Leib durch den blauen LKW, gelenkt von einem betrunkenen Fahrer. Er fasst mit der Hand in die Brusttasche, streift den Ring und ertastet ein verfilztes Haarknäuel seines Freundes, ein Andenken. Viel besitzt er nicht mehr, noch ein Foto seiner Tochter, die irgendwo im Süden lebt, die Klamotten am Leib, eine Decke und vor allem seine Insel. Er überquert die Straße und biegt um die Ecke vorbei an den schmutzigen Wohnungen, die dicht an dicht die Straßen einrahmen wie ein Kanal seinen durstigen Fluss. Um die Ecke schaut er gen Himmel und erblickt eine schmutzige Wand statt grüner Blätter, ein fremder Anblick der seinem Entsetzen Platz macht, ein innerer Schrei der zu einem Laut wird. Haltlos, nicht glaubend, sich selbst vergessend, läuft er auf den Bagger zu, der seine Insel eingenommen hat, Männer in orangefarbenen Westen fangen ihn auf, reden auf ihn ein doch können sie sein schreien nicht unterbinden, können sein Entsetzen nicht interpretieren. Sein Baum ist weg, Platz für einen neuen Teil des Häuserkanals machen und er musste weichen, die Stadtplaner haben es nicht vergessen, nur verschoben. Er wird von den Bauarbeitern zu Boden gedrückt, festgehalten, einer von ihnen tritt ihm ins Gesicht, blutend hört er auf sich zu wehren. Verschwommen schaut er sich um, die Tränen verschleiern ihm die Sicht. Das Rufen der Männer wird nicht wahrgenommen, mühselig und benommen kämpft er sich wieder auf die Beine, das Geschrei um ihn herum hat keine Realität, mit einem Tritt landet er wieder auf dem Boden direkt vor einem Zweig seines Baumes. Er hebt ihn auf, zum schauen ist keine Zeit mehr, die Männer stoßen ihn grob beiseite, endlich gibt er ihrem Drängen nach und kehrt zurück zur der Straße, aus der er gekommen ist. Er nimmt das Ästchen, knickt es, faltet es und steckt es sich in die linke Brusttasche. Danach wartet er direkt am Straßenrand, nicht lange und er sieht einen blauen LKW - ein letzter Schritt.

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Tag der Veröffentlichung: 04.04.2009

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