Mission: Freie Erde
Andächtig lauschte er dem Summen der Computer, während sich hinter den dicken Panzerglasscheiben die schier unendliche Schönheit des Weltalls vor ihm ausbreitete. Es war der einzige Laut, der die Stille um ihn herum störte. Die Galileo 1 war das erste bemannte Kolonialraumschiff das seine Reise zum Mond antrat. Seit 2011 hatte sich das Gesicht der Erde drastisch verändert. Zu spät hatten die Regierungen begriffen, dass sie den Klimawandel nicht aufhalten konnten. Infolge dessen hatte die Natur ihr Gesicht dramatisch verändert: Aus dem einst strahlenden blauen Stern namens Erde war eine versandete Mondlandschaft geworden. Inzwischen war die Erde nur noch in wenigen Regionen bewohnbar. Die Menschheit hatte 2012 begonnen, riesige künstliche Kuppelinseln aus Glas und Stahl zu bauen, um sich in den unbewohnbaren Gebieten anzusiedeln.
Das untere Viertel des Panzerglasfensters wurde von dem blau-braunen Glanz der Erde ausgefüllt. Dieser Anblick ließ Horatio erschauern. Er betastete den Gegenstand, der in seiner rechten Hosentasche befand. War er doch nur einen Klick weit entfernt Galileo 1 mitsamt der ISS in die Luft zu sprengen! Er löste seine Fingerspitzen von der Fernbedienung, die nicht größer war als sein eigener Garagentoröffner, und zog die Hand aus der Hosentasche. Er wandte sich von dem majestätischen Anblick der Erde ab und schenkte einem der beiden Kommunikationsoffiziere ein Lächeln, das seine Kollegen stumm erwiderten. Auf der Brücke der Galileo 1 herrschte ein geschäftiges Treiben, die Techniker nahmen die letzten Einstellungen vor, bevor sie gemeinsam mit den ersten Siedlern zum Mond aufbrachen. Insgesamt bestand die Besatzung neben der Crew aus zehn Männern und Frauen, aus fünfzig Wissenschaftlern, Spezialisten und Soldaten, die eigens für diese Mission ein jahrelanges Training absolviert hatten. Sie alle würden zu Helden werden, wenn sie den Mond erreichten. Um Kosten und Energie zu sparen, hatte ein privater Investor aus Europa alles dran gesetzt den Kyroschlaf, einen künstlichen Winterschlaf, zu erforschen. Die Möglichkeiten des Kyroschlafes hatte der Erfinder des erstrn Kyrotanks mehr oder weniger durch Zufall entdeckt, als er in den Schweizer Alpen von einer Lawine begraben wurde. Als man ihn später rettete, war seine Körpertemperatur soweit herunter gekühlt, dass er eingeschlafen, aber nicht ins Koma gefallen war. Durch das neuartige Material seines Skianzugs, das der Haut eines Wals ähnelte, hatte sich eine Art Luftblase im inneren des Anzugs gebildet. Die NASA übernahm seine Forschungsarbeiten und begann im Eis der Arktis das Material zu testen. Nach zehn Jahren Forschungsarbeit war das Modell ausgereift und heute sollten die ersten Menschen ihre Reise zum Mond in den Kyroschlafzellen antreten. Jeweils fünfunddreißig Sarkophage wie die Schlafzellen inzwischen genannt wurden, reihten sich rechts und links in den langen mannshohen Gang nebeneinander auf. Ein schmaler Steg führte an Ihnen vorbei in die hintere Antriebssektion.
Horatios Blick fiel auf die digitale Anzeige des Startcountdowns, der über den Panzerglasfenstern angebracht worden war. Nur noch zwölf Stunden, dann würden sie aufbrechen. Er wandte sich von der Uhr ab. Es war erstaunlich, dass der Mensch erst vor knapp einem Jahr die künstliche Schwerkraft entwickelt hatte, die ihnen die Besiedelung des Mondes erst ermöglichen würde. Sie basierte auf Einsteins Theorie der Schwerkraft, welche der berühmte Physiker in einem seiner Tagebücher bereits angedeutet hatte; doch fast ein Jahrhundert lang war der Menschheit bewusst gewesen, dass man mittels Atomenergie ein künstliches Schwerkraftfeld erzeugen kann. Nun machten sie sich diese Erkenntnis zueigen und sahen darin die Möglichkeit ihr Überleben zu sichern.
Aus einzelnen Staaten der Welt war eine Gemeinschaft geworden, die nun den Mond erobern wollte. Die Regierungen waren sich bewusst, dass sie mit diesem Schritt der Menschheit eine neue Zukunft boten. Horatio war nicht dieser Meinung. Die Menschheit hatte durch Industrialisierung und diversen Atomunglücken die Erde in einem schrecklichen Ort gemacht. Horatio erinnerte sich an seine Kindheit. Damals hatte es noch grüne Bäume und Wiesen gegeben, man konnte die Luft ungefiltert atmen – kein Vergleich zu heute. Anstatt grüner sah er mehr und mehr, wie sich die Wüste ausbreitete, ausgedorrt oder verseucht. Der Mensch hatte bis heute nicht gelernt die Natur zu respektieren. Sie alle trugen die stumme Schuld auf ihren Schultern, die die Naturgewalten täglich einforderten. Das einstige Nord- und Südamerika war zerrissen, die asiatischen Inseln zur Hälfte im Meer versunken. In Sibirien war nach Jahrtausenden erneut ein Vulkan ausgebrochen, der als erloschen gegolten hatte. Ebenso viele Irrtümer und Neuentdeckungen in der Wissenschaft und Technik forderten ihren Tribut. Horatio wusste, dass es eine Veränderung geben musste. Er drehte sich um und überließ dem zweiten Kommandeur die Brücke. Seine Schritten hallten unwirklich auf den Gitterstäben des Stegs wider, während er in den hinteren Teil des Schiffes ging. Er gab vor, die Sarkophage noch einmal überprüfen zu wollen. Der hintere Teil der Galileo 1 war so konzeptioniert worden, dass die Sarkophage voneinander abgetrennt werden konnten. Zwischen den einzelnen Sektionen war eine schwere Schutztür angebracht, die sich sofort schließen sollte, falls ein Feuer ausbrach oder das Schiff während eines Meteoritensturms beschädigt wurde. Doch dieser Konstruktionsaspekt des Raumschiffes war gleichzeitig auch seine Schwachstelle. Horatio drängte sich an den Wissenschaftlern vorbei, die sich in Bademänteln und bequemen Jogginganzügen auf ihren Schlaf von mehr als einem Monat vorbereiteten. Mit einigen Wissenschaftlern hatte er sich im Lauf der vergangenen Monate angefreundet. Vladimir Jawewich war Geologe und nicht älter als vierzig Jahre, nur wenige Jahre jünger als Horatio. Neben ihm stand seine bildhübsche rothaarige Assistentin, die mit ihm gemeinsam die Grabungen auf dem Mond überwachen sollte.
Damit Galileo 1 nicht zu viel Ballast hatte, war das Equipment der Wissenschaftler in Containern vorausgeschickt worden. So beschränkte sich ihr Gepäck nur auf das Notwendigste, was sie im hinteren Teil der Kapseln verstauten und damit das Schiff ausbalancierten.
„Hallo Horatio“, begrüßte ihn Vladimir mit seinem schweren russischen Akzent.
„Hallo“, erwiderte Horatio den Gruß und bemerkte sein Spiegelbild in einer der Glasscheiben der Kammern. Sein Gesicht wurde von schwarzem Haar umrahmt, dass seine Haut blass wirken ließ. Grüne, wache Augen blickten ihm entgegen und betonten seine gerade Nase.
„Hast du das mit der „Freien Erde“ gehört?“, fragte ihn Vladimir.
„Ja, es gibt kein anderes Thema mehr“, lächelte Horatio. Er ließ die Hand in die Hosentasche gleiten und umfasste den Zünder. In wenigen Stunden war es endlich soweit! Offenbar entging Vladimir und seiner Assistentin nicht, dass er sich in Gedanken mit etwas anderem beschäftigte. Keiner von ihnen ahnte , weshalb er wirklich an Bord der Galileo 1 war.
„Du denkst an deine Frau“, bemerkte Vladimir und legte Horatio seine Hand auf die Schulter. „Glaube mir, du hast keine Schuld an dem Unfall. Niemand konnte ahnen dass es ein Leck im Fusionsreaktor der ISS gab.“
Horatio blinzelte seinen Freund verblüfft an. Sollten sie ruhig glauben, dass er immer noch trauerte. Horatio erinnerte sich, dass alle Versuche gescheitert waren, um Vladimir und seine Assistentin Nadja, die gleichzeitig Vladimirs Tochter war, von der Galileo 1 fern zu halten. Selbst seine hervorragenden Überredungskünste hatten diesmal nicht ausgereicht. Für Vladimir ging mit der Galileo 1 ein Traum in Erfüllung: Die erste Besiedelung des Mondes! Für Horatio hingegen war es, als ob sich eine Schlinge um seinen Hals legte. Sein Leidensweg hatte mit dem Tod seiner Frau begonnen.
Er vermochte sich an jedes Detail jenes schrecklichen Tages erinnern, als seine Frau bei der Reparatur an dem Sauerstofftank in einem Feuerball verschwand. Nur mit Mühe hatte die Crew die ISS vor einem weiteren Unglück bewahrt. Seid jenem Tag vor sieben Jahren fühlte Horatio sich schuldig, der Verlust seiner Frau war wie glühendes Gestein, dass sich für ewig in sein Herz gebrannt hatte. Der Schmerz wollte nicht vergehen. Selbst die tröstenden Worte seiner Freunde hatten nichts daran geändert. Durch den Verlust seiner Frau war er frühzeitig zur Erde zurückgeschickt worden, damit er sie in Ruhe beerdigen konnte. Auch wenn es nur ein leerer Sarg gewesen war. Es war ein verregneter finsterer Novembermorgen gewesen und er schmeckte noch immer den salzigen Regen auf seinen Lippen, während der schwarze Sarg, bestückt mit weißen und roten Rosen, in die Erde hinab gelassen wurde. Sein bester Freund hatte damals die Rede gehalten, zu der er nicht fähig gewesen war. Die Zeit nach der Beerdigung vergrub sich Horatio immer mehr in seiner Wohnung. Selten ging er raus, er rief auch keinen an, der ihn aus seiner Trauer hatte befreien können, die ihn einsperrte. Ein Jahr verging und erste Jahrestag seiner verstorbenen Frau näherte sich. Er hatte unzählige Anrufe auf seinem Anrufbeantworter ignoriert. Betäubt von der Ohnmacht seiner eigenen Trauer, raffte er sich endlich an diesem Tag wieder auf. Er schleppte sich zu der Kirche im südlichen Viertel von New York, wo er seine Frau geheiratet hatte. Es war der Tag, an dem er Ismael begegnete, der leise betend vor dem Christusbild kniete. Fasziniert beobachtete ihn Horatio, wie der Mann von israelischer Abstammung leidenschaftlich und voller Hingabe seine Gebete murmelte. Damals hatte Horatio nicht gewusst, dass Ismael einer der Führer der Bewegung „Freie Erde“ war. Deren Grundsatz war es, jegliche Art der menschlichen Technologie abzulehnen. Diese Gruppe lebte weit außerhalb der Schutzzone der Kuppeln in unterirdischen Farmen, die netzartig miteinander verbunden waren. Er hatte viele dieser unzähligen Berichte in den Medien verfolgt und ihnen ihre Lügen über diese Organisation geglaubt. Still ließ er sich an jenem Tag auf die Holzbank nieder. Er war sich damals schäbig vorgekommen, als er Ismael verstohlen beim Gebet beobachtete…
Horatio spürte den kleinen Zünder in seiner Hosentasche und schenkte Nadja und Vladimir ein zuversichtliches Lächeln. Er durfte jetzt nicht nachlassen, auch wenn Nadja und Vladimir durch sein geplantes Handeln starben. Dazu war das Leben der Erde viel zu wichtig. Die Erde war ein Geschenk Gottes, das der Mensch schrecklich missbraucht hatte. Die atomaren Verseuchungen in einigen Regionen, die „Deadlands“ genannt wurden, waren nur das kleinste aller Probleme. Dagegen war sein Leben ein verdorrtes Blatt, dessen Ende sich näherte.
„Ja“, gestand Horatio sich ein, „Sie fehlt mir sehr. Aber die Besiedelung des Mondes hat Vorrang!“ Doch in Gedanken, die er für sich behielt und stets tief in sich begrub, dachte er genau das Gegenteil.
Ein sanftes Vibrieren ging durch die Galileo 1 als die ersten Triebwerke gezündet wurden, die sie auf Abstand zu der ISS bringen sollten. Der Pilot, der das Schiff steuerte, hatte dieses wichtige Manöver Stunden um Stunden im Simulator geübt. Auch ihn kannte Horatio gut. Hinzu kam, dass Horatio als erster Kommandeur das Kommando erhielt, falls der Kapitän der Galileo 1 ausfiel. Die ideale Ausgangsposition, um seinen Plan umzusetzen.
Horatio verabschiedete sich von Vladimir und Nadja, die sich für die Kyrotanks vorbereiteten. Er gab vor, seinen Inspektionsgang fortsetzen zu wollen und ging weiter den schmalen Steg entlang, der eine Gesamtlänge von fast einhundert Metern umfasste. Ständig musste er sich an Wissenschaftlern und Arbeitern vorbeidrängen. Dabei überkam ihn die Angst, dass jemand aus Versehen gegen ihn stieß und den Zünder aktivierte.
Die Ärzte verabreichten den Wissenschaftlern und ihren Mitarbeitern ein Mittel, das den Herzrhythmus verlangsamte. Das Zischen der Kyrokammern und der weiße Rauch hüllten bald den Steg in einen unheimlichen Nebel, der durch das künstliche Licht noch gespenstischer wirkte. Eine Durchsage schnarrte blechern durch den Korridor.
„Kommander“, schnarrte die Stimme aus den in den Wänden eingebauten Lautsprechern. „Kommen Sie sofort zur Brücke!“ Horatio blieb abrupt auf der Stelle stehen und wandte sich den Kyroschlaftanks zu. Er beobachtete, wie sich die letzte Kammer mit einem Klicken schloss. Der Arzt schenkte ihm keine Beachtung, als sich Horatio an ihm vorbeidrängte. Doch er spürte den seltsamen Blick des Arztes auf seinem Rücken. Horatio bemerkte, dass sich die Stimmung innerhalb der wachen Crew veränderte. Verstohlene, skeptische Blicke folgten ihm, das konnte er spüren. Ihm entging nicht, wie sich die Kollegen von ihm abwandten und tuschelten. Die Luft schien plötzlich vor Spannung zu knistern. Nach wenigen Minuten erreichte Horatio die Brücke. Doch er verharrte für einen Augenblick vor dem geschlossenen Schott. Nervös wanderte seine Hand in die Hosentasche seiner Overalls und betastete den Zünder. Er war bereit, er kannte das Ziel.
Die Galileo 1 begann jetzt erst mit der Umrundung der Erde, um auf die nötige Geschwindigkeit zu beschleunigen, die sie innerhalb von einem Monat zur Mondbasis bringen würde. Horatio schluckte, öffnete das Schott und trat auf die Brücke. Der Kapitän der Galileo 1 stand neben dem Offizier und legte das E-Book beiseite, als Horatio eintrat. Auch hier umfing ihn die angespannte Atmosphäre, die das ganze Raumschiff zu erfassen schien.
„Sir, Sie wollten mich sprechen?“, wandte er sich dem älteren Kapitän zu, der ihn misstrauisch musterte.
„Ja, wir haben soeben die Meldung erhalten, dass sich ein Terrorist hier an Bord befindet.“ Der Kapitän musterte ihn eindringlich und Horatio kam der unangenehme Gedanke, dass jemand doch seine wahren Absichten erkannt haben könnte.
„Ja, Sir!“ , bestätigte Horatio und bemühte sich gelassen zu wirken. Doch der Kapitän blickte ihn skeptisch an. Horatio begriff, dass er der Kapitän unterschätzt hatte. Hinter den ergrauten Schläfen und dem faltigen Gesicht wachte ein reger Geist, der ihm diesen Posten eingebracht hatte – nicht zu vergessen sein Patriotismus in Bezug auf die Mondbesiedelung. Horatio ließ die Hand in die Hosentasche zurück gleiten, umfasste mit der Hand den Auslöser und suchte innerlich fieberhaft nach einer Ausrede.
„Laut dem FBI soll es jemand sein, der auf der Brücke tätig ist. Daher werden folgende Maßnahmen getroffen: Alle Brückenmitglieder finden sich auf der Brücke ein“, fuhr der Kapitän fort und ließ den Blick über die versammelte Crew auf der Brücke wandern. In jedem Gesicht versuchte er den Attentäter zu finden. Horatios Herz klopfte bis zum Hals.
„Bitte richten Sie sich auf einen längeren Aufenthalt auf der Brücke ein. Wir werden hier essen, trinken und in den vorgegebenen Schichten schlafen“, befahl der Kapitän in einem gewohnten Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. Dann schlossen sich die Schotten der Brücke und Horatio wusste, dass er in einer Falle saß. Immer noch tauschten die Männer und Frauen der Brückencrew ungläubige Blicke, während die Galileo 1 in die Umlaufbahn zur Beschleunigung ansetzte. Eine junge Brückenoffizierin, die an der Kommunikationskonsole saß, wandte sich an den Kapitän. „Wie und woher wollen Sie wissen, wer der Attentäter von uns ist?“
Die Frage hing bleiern im Raum und verstärkte die angespannte Stimmung umso mehr. Horatio setzte sich auf seinen Platz und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Angstschweiß war kein gutes Zeichen. Er könnte ihn verraten, wenn er nicht eine geschickte Ausrede parat hatte. Allerdings bemerkte es keiner, weil der Rest der Crew sich auf den Kapitän konzentrierte. Wenn der Zeitpunkt gekommen war, würde Horatio dieses Schiff zerstören und zur Hölle schicken. Sie waren es gewesen, die seine Frau hatten sterben lassen, wie sie es auch mit der Natur und der Erde taten. Leise begann Horatio ein Gebet zu murmeln, es gab ihm Kraft. Es gab keine Rechtfertigung, weshalb der Mensch jemals dazu geschaffen sein sollte auf dem Mond zu leben. In der Bibel stand es geschrieben, dass der Mensch nur auf Erden wandeln sollte.
Horatio dachte fieberhaft nach. Er kannte die Prozedur in- und auswendig. Und er hoffte, dass ihm rasch was einfiel, bevor der Kapitän ihn befragen konnte. Danach würde jeder von ihnen abgetastet werden, das musste er verhindern! Seine Gedanken rasten. Was sollte er tun? Er saß unweigerlich in einer Falle. Panik breitete sich in ihm aus, während der Kapitän jeden Einzelnen vortreten ließ und einer der Sicherheitsoffiziere die Leibesvisitation vornahm. Der Kapitän setzte die Befragung fort, die immer aus den gleichen Fragen bestand. Zwei Stunden später kam Horatio an die Reihe. Er hatte die rechte Hand in die Hosentasche gesteckt und betastete den Zünder. Seine Panik schlug in Verärgerung um. Wie es das Protokoll in dieser Situation vorgab, fertigte der Kapitän die Crewmitglieder mechanisch ab. Diese Menschen durften niemals den Mond betreten! Der Soldat trat vor und wollte ihn abtasten, aber Horatio machte keine Anstalten seine Arme auszustrecken. Er, der erste Kommandeur dieses Raumschiffes, hielt nun das Schicksal aller an Bord in den Händen. Er erinnerte sich an den Tag, als seine Frau in dem schrecklichen Feuerball starb und der jetzige Kapitän der Galileo 1 Samuel Hokaido tatenlos ihren Tod mit angesehen hatte. Obwohl er sie hätte retten können! Er hatte es nicht verdient weiter zu leben! Verwundert starrte ihn der Soldat an, als dieser bemerkte wie sich Horatio´s Augen mit Hass füllten. Er forderte ihn ein zweites Mal auf, die Hände auszustrecken, aber Horatio verharrte weiterhin in seiner Haltung. Dann zog er langsam die Hand aus der Hosentasche.
„Bleiben Sie, wo Sie sind!“ rief er und hielt den Zünder hoch, damit alle ihn sehen konnten. Erschrockene Blicke und plötzlich erbleichte Gesichter starrten ihn an. Der Kapitän schluckte sichtbar bei dem Anblick des Zünders. Horatio wusste, dass er in der Unterzahl war und er kannte das Verfahren sehr gut, wenn er jetzt nicht handelte.
„Sie, Kapitän, bleiben hier, der Rest verlässt die Brücke“, befahl er in gewohnten Befehlston, Kapitän begriff und nickte stumm der Crew zu. Horatio lauschte dem öffnen der Luken und sah aus den Augenwinkeln wie ihn seine Freunde und Kollegen irritiert anstarrten. Gerade von ihm hatten sie es am wenigsten erwartet. Nach fünfzehn Minuten schloss einer der Offiziere das Schott hinter sich. Doch er blickte voller Sorge durch das schmale Bullauge.
„Warum?“, fragte der Kapitän Horatio entsetzt. Seine Enttäuschung konnte selbst Horatio nicht übersehen. Er hatte vor einer Viertelstunde all das verraten, woran der Kapitän der Galileo 1 geglaubt hatte. Doch Samuel Hokaido hatte seine Frau auf dem Gewissen! Horatio umfasste den Zünder fester. Es gab für ihn schon lange kein Zurück mehr. Mit seiner Frau war auch sein Mitgefühl für die Menschen gestorben, die die Erde immer mehr zerstörten. Er wusste, er war nicht der Einzige, der so dachte. Nur wenn die Menschen von der Erde getilgt würden, war die Erde endlich frei.
„Sie sind einer von jenen, die die Erde zerstören!“, gab Horatio grimmig zurück. Tat er das Richtige, indem er Menschen mit in den Tod nahm? Mit jedem Atemzug und jeder verstreichenden Minute wurden die Zweifel in ihm stärker. Schweiß trat auf seine Stirn, während er langsam rücklings zurück trat ohne dabei den Kapitän aus den Augen zu lassen. Hokaido erhob sich langsam aus seinem Sessel und wollte ihn beschwichtigen.
„Wir können über alles reden!“
„Sie wollen doch nur Zeit schinden.“
„Hören Sie, Kommander, dieses Schiff ist nicht das Letzte und das wissen Sie ebenso genau wie ich!“, bemühte sich Kapitän Hokaido die Situation zu entschärfen. Die Spannung zwischen den beiden Männern ließ die Atmosphäre auf der Brücke noch kälter wirken. In der Luft war die Anspannung der beiden Männer förmlich greifbar. Horatio trat an die Navigationskontrolle des Raumschiffes. Er drückte zwei Zahlen in den Nummernblock. Danach durchfuhr das Raumschiff ein sanftes Zittern als sich die Steuertriebwerke aktivierten und einen zuvor heimlich einprogrammierten Kurs aufnahmen. Mit Entsetzen starrte Kapitän Hokaido auf den Horizont als das Schiff sich der Sonne zudrehte.
„Sie sind vollkommen verrückt geworden?!?“, rief er. Seine dunkle Hautfarbe wurde blasser als er Horatios Plan begriff. Er selbst hatte ihm das Programmieren des Kurses anvertraut, nun musste er feststellen, dass dies ein schrecklicher Fehler gewesen war.
In zehn Minuten war das Umschwenkmanöver abgeschlossen und Horatio konnte endlich nach sieben Jahren der intensiven Vorbereitung seinen Sieg feiern und die Erde von dem Abschaum wie dem Kapitän befreien. Horatio genoss den jämmerlichen Anblick Hokaidos. Ein selbstgefälliges, arrogantes Lächeln huschte über seine Züge. Ja, da stand er und musste mit ansehen, wie sein geliebtes Raumschiff Kurs auf die Sonne nahm. Für einen Augenblick schien die Zeit stehen zu bleiben. Eine unheimliche Stille baute sich zwischen den beiden Männern auf, das Schweigen lastete schwer zwischen ihnen. Ein paar Herzschläge lang starrten sich die beiden Männer an. Horatios griff um den Zünder wurde fester. Er hatte ihm keine andere Wahl gelassen. Doch Horatio bemerkte auch, dass Kapitän Hokaido warme, gütige Augen besaß, und er fragte sich, wie so jemand fähig war, tatenlos mit anzusehen wie ein Mensch bei lebendigem Leib verbrannte.
Aus dem Funkgerät tönte eine Stimme eines Mitarbeiters der Bodenstation auf der Erde und fragte, warum die Galileo 1 so unerwartet den Kurs geändert hatte.
„Was fordern Sie?“, fragte der Kapitän Horatio, der ihm breit grinsend antwortete:
„Ihr Leben für das Leben meiner Frau und die Befreiung der Erde von Menschen wie Ihnen!“
Kapitän Hokaido schluckte seinen Zorn hinunter.
„ich hatte damals keine andere Wahl. Wir konnten ja nicht ahnen, dass der tank manipuliert worden war“; gab Kapitän Hokaido mit gebrochener Stimme zurück. „Geben sie das Schiff frei!“
Es klang in Horatios Ohren wie Hohn, Hokaido spielte doch nur den gebrochenen Mann. „Immer wieder sehe ich in meinen Träumen wie sie verbrennt. Ich werde den Verlust ihrer Frau nicht aufwerten können.“
„Sie sind alle so gut wie tot“, hob Horatio warnend den Zünder in die Luft. Es schmerzte ihn zu sehen, wie die harte Schale des Kapitäns aufbrach und ein Mann zum Vorschein kam, der von jenen Geistern gequält wurde, die er selbst geschaffen hatte. Doch für Horatio war er nur der Mörder seiner Frau.
„Die Erde muss befreit werden!“, rief Horatio unsicher und bemühte sich seine Stimme fest und entschlossen klingen zu lassen. Er hielt sich an die Parole der Organisation wie ein Betrunkener, der in den Fluten einer stürmischen See nach dem Rettungsring griff. Kapitän Hokaido hatte geglaubt, ihn zu kennen, nun zeigte Horatio hemmungslos sein wahres Gesicht, dass er sorgfältig hinter der Maske des Gehorsams verborgen gehalten hatte. In Hokaidos spielten sich Zweifel, gepaart mit Zorn, ab. Horatio genoss diesen Anblick ohne sich von dem Kapitän beeindrucken zu lassen. Hokaido hatte die Erde auf schändliche Weise verraten – indem er durch sein Handeln die Industrie förderte, die für Zerstörung der Natur verantwortlich war. In den armen Ländern herrschten schreckliche Dürreperioden und Hungersnöte, dabei arbeiteten die Menschen für einen Hungerslohn für jene, die die Erde sterben ließen. Von diesem schrecklichen Kreislauf betroffen, hatte Horatio begriffen, dass der Mensch die wahre Ursache dieses teuflischen Kreislaufs war. Isamel hatte Recht gehabt mit seinen Predigten.
„Sie tun das Falsche!“, beschwor ihn der Kapitän erneut und trat auf Horatio zu, der den Zünder hochhielt wie eine Trophäe. Nur noch wenige Schritte trennten die beiden Männer voneinander.
„Kommen sie nicht näher!“, rief Horatio und hob erneut warnend die kleine Fernbedienung. Die Anspannung auf der Brücke war durchsetzt von Zorn und Entsetzen, während jede Sekunde wie eine Ewigkeit zu vergehen schien. Das Schiff würde mit der zweiten Umrundung der Erde den unweigerlichen Kurs auf die Sonne nehmen: Plötzlich sprang Hokaido vor und versuchte Horatio den Zünder aus der Hand zu reißen. Während es Gerangels flog plötzlich die Fernbedienung aus Horatios Hand. Mit Entsetzen sahen beide Männer zu wie sie auf der Konsole mit dem Schalter voran, aufschlug. Einige Herzschläge lang starrten die Männer wie gelähmt auf den Zünder, der mit einem leisen Klick gegen die Panzerglasscheibe flog. Doch nichts geschah!
Keine Explosion erschütterte das Raumschiff. Dann schnarrte eine geisterhafte Stimme durch die Lautsprecher.
„Abbruch! Übung beendet! Alle Mann zurück auf ihre Positionen.“ Der Kapitän schenkte Horatio ein selbstgefälliges Grinsen und half ihm auf.
„Gut gemacht, Kommander!“, lachte er. Nur zögernd erwiderte Horatio jenes zufriedene Lächeln seines Vorgesetzten. Kapitän Hokaido lobte ihn, während sich hinter ihnen das Schott öffnete und die Brückencrew wieder ihre Plätze einnahmen, als wäre nichts geschehen.
„Das war schon sehr gut, aber wir müssen unbedingt mehr üben!“, fuhr Kapitän Hokaido zufrieden fort. Er entließ Horatio, während einer Offiziere die Zünderattrappe von der Konsole nahm. Keiner der Offiziere oder der Crew beachtete ihn. Innerlich biss sich Horatio verärgert auf die Lippen. Beinahe wäre es ihm gelungen sich selbst zu verraten. Er eilte an den Technikern vorbei und verschloss sofort das Schott seiner vier Mal vier Meter großen Kabine hinter sich. Er kniete sich nieder, um eines der Belüftungsgitter zu lösen, die sich unterhalb seines Bettes befanden. Lautlos legte er das schmale Gitter beiseite und atmete erst auf, nachdem er den echten Zünder aus seinem Versteck gezogen hatte. Erleichtert und vom Schweiß gebadet, sank er auf den Boden. Seine wahre Mission die Galileo 1 zu zerstören war nicht gefährdet.
Goldener Käfig
Es war wieder einer jener Tage, die John so ganz und gar nicht mochte: Langweilig und trist – wie jeder Tag in seinem bisherigen Leben. Früh morgens um acht Uhr weckte ihn seine Mutter mit einem sanften Lächeln und einem widerlichen Kuss auf seine Stirn. John fand, dass er mit seinen zwölf Jahren zu alt war, um so behandelt zu werden, aber seine Mutter bestand darauf. Ging er dann verschlafen zum Esszimmertisch, servierte ihm ihr klobiger Hausroboter das Frühstück, was aus kontrolliert-biologisch angebauten Müsli und frischem Obst bestand.
Manchmal sehnte sich John nach einem herzhaften Stück Schinken, aber auch da hielt ihm seine Mutter jedesmal charmant das Argument entgegen, dass es für seine Entwicklung wichtig sei, sich ausgewogen und gesund zu ernähren. So würgte John jeden Morgen dasselbe Frühstück hinunter und träumte sich fort aus dem stählernen Gefängnis des High Tower Centers in New York, in dem er mit seiner Familie lebte.
Johns Vater war ein anerkannter Programmierer in Microsoft Seatech Center und seine Mutter eine berühmte Schauspielerin. Jeden Morgen fuhren beide zu ihren Arbeitsplätzen und überließen ihren Sohn den Lehrern im fünfzehnten Stock des Towers mit all ihren Computerlerneinheiten. John sah seine Eltern nicht wieder, bevor sie abends heimkamen, und er wusste auch nicht, was sie genau den Tag über taten. Sie redeten zu Hause nie über ihren Berufsalltag.
Seit der Wirtschaftskrise in den Jahren 2009 bis 2012 hatte die Welt ihr Gesicht verändert. Sein Vater hatte John einmal am Rande eines Geschichtsvortrags, den sich John in der Schule anhören musste, erklärt, dass sich die Gesellschaft, bedingt durch diese Krise gespalten hatte. Die Kluft zwischen Arm und Reich wurde in den Jahren immer tiefer, so dass nur zehn Prozent der Bevölkerung in solch einem Luxus lebten, wie Johns Familie. Immer wieder erinnerte ihn sein Vater daran, dass er selbst in jener Zeit der gesellschaftlichen Umbrüche gelebt hatte und sie nun stolz sein konnten, so viel genießen zu dürfen. Wie immer schloss sich seine Mutter dem Vater an, doch John verstand es einfach nicht. Denn trotz aller Privilegien, die er genoss, fühlte er sich wie ein Gefangener in einem goldenen Käfig. Sein tag war streng durchgeplant mit Schule, Hausaufgaben und Freizeit, die ebenfalls aus spielerischen Lerneinheiten bestand und außerdem die Kreativität fördern sollten – eine Freizeit, auf die John selten Lust verspürte.
Nachdem seine Eltern ihm an diesem Morgen einen Kuss auf die Stirn gegeben und ihn stolz umarmt hatten, ließen sie ihn allein in der Wohnung zurück. John Marsden war ein Einzelkind aufgewachsen und bekam alles, was er sich wünschte. Allerdings erwarteten seine Eltern im Gegenzug von ihm die besten Noten, und der Leistungsdrück am College war hoch.
Gerne hätte er noch Geschwister gehabt, doch dies war in dieser Zeit nicht einfach. Nachdem im Jahre im Jahre 2012 fast die ganze Menschheit durch einen Virus dahingerafft worden war und noch immer die Gefahr bestand, dass Menschen den todbringenden Virus in sich trugen, musste sich jedes Paar mit Kinderwunsch einem Gentest unterziehen, mit dem das individuelle Erbgut auf seine auf eine Veranlagung geprüft wurde, bevor man sich entschloss, ein Kind in die Welt zu setzen. Im Falle seiner Eltern gaben die Tests grünes Licht für Nachwuchs und John wurde geboren. Allerdings erlaubte diese Regelung Paaren höchstens zwei Kinder zu bekommen, da es auf der Erde nach der Seuche zu einer Art Bevölkerungsexplosion gekommen war.
John legte den Löffel zur Seite, nachdem er sein Müsli heruntergewürgt und den Kakao getrunken hatte. Dann beobachtete er für einen Augenblick den klobigen Hausroboter, der das Geschirr ohne ein Wort automatisch wegräumte. Während John ihm zusah, kam ihm erneut der Gedanke, dass auch sein Leben wie ein Programm von morgens bis abends durchgeplant war. Das konnte doch nicht sein, dachte er. Frustriert beschloss er, einen Weg zu finden, seinem Leben mehr zu geben. Er sprang vom Stuhl und ging ins Badezimmer, wo der Haushaltsroboter bereits einen frisch gereinigten Alltagsanzug bereitgelegt hatte – wie jeden Morgen. Dieser Anzug war aus synthetischen Baumwollfasern gefertigt, die man unter kontrollierten Umweltbedingungen in den obersten Etagen des Towers züchtete.
John starrte sein Spiegelbild an: Er war von schmächtiger Statur, das Haar dunkelbraun. Die grün-braunen Augen hatte er von seinem Vater geerbt. Der Junge warf einen Blick auf die Uhr, die in die Wand mit eingebaut worden war: Sieben Uhr dreißig. Und er war noch immer nicht fertig für die Schule! Rasch zog er seinen Schlafanzug aus und duschte ausgeiebig. Danach putzte er sich die Zähnemit einer speziellen Zahnbürste, die einen Scanner enthielt und so den Zustand seiner Zähne überprüfte. Die integrierte Diode der elektrischen Zahnbürste sprang auf grün; kein Anzeichen von Karies oder anderen schädlichen Bakterien. Hastig kämmte John sich seine Haare und schlüpfte in die bereitgelegte Kleidung. Während er seine Hose und das T-Shirt anzog, fragte er sich, was in der Welt außerhalb des Towers geschah. Obwohl die Nachrichtensender BBC und NBC ständig Nachrichten über Aufstände in den Unterstädten brachten, fragte sich John das erste Mal in seinem Leben, wie andere Menschen in New York lebten.
Er blickte auf die Armbanduhr und registrierte genervt, dass er heute wieder mal zu spät zum Unterricht kam. Schnell griff er sich sein E-Book und rannte aus der Wohnung – einen weiteren langweiligen Tag seines Lebens entgegen.
In den Straßen der Stadt
Der Tower schien sich bis in den Himmel zu strecken und wie eine Säule zu tragen. Martins Blick wanderte zur Spitze des Towers, die sich an diesem Morgen in Wolken hüllte. Die Sonne tanzte auf zahlreichen blauen Spiegelglasfenstern und ließ den Turm glitzern. Wie jedes Mal war es ein fantastischer Anblick.
Martins Eltern schliefen noch. Die vergangene Nacht hatten sie wieder lange mit Freunden zusammengesessen, überall im Wohnzimmer standen leere Bierfalschen herum. Es war lange her, dass seine Eltern aufgeräumt hatten und der Hausroboter funktionierte schon lange nicht mehr – er war von seinem Vater zu einem Kleiderständer umgebaut worden. Leise schloss Martin die Badezimmertür hinter sich ab und duschte eiskalt. Warmes Wasser war Luxus und wurde nur einmal in der Woche verwendet, um Wäsche zu waschen, aber selbst die ihnen zugeteilte Tagesration reichte dafür nicht aus. Auch das Geschirr musste mit kaltem Wasser gespült werden.
Das Handtuch, das Martin nach dem Duschen benutzte, war eines der wenigen, die seine Mutter vor wenigen Tagen mit der Hand gewaschen hatte. Rasch zog er sich seine Kleidung an, die er schon seit Tagen trug. Der vertraute Geruch von verschmutztem durchgeschwitzten Stoff stieg ihm in die Nase. Um dem unangenehmen Geruch zu überdecken, benutzte er das Deodorant seines Vaters, der die meiste Zeit des Tages zu Hause oder im Job-Center verbrachte. Alexander Percenzóz bemühte sich manchmal tagelang nicht um eine Beschäftigung, welche die Job-Center an die einfache Bevölkerung verteilten. Meist handelte es sich dabei um in den Towern anfallende Arbeiten. Inzwischen wurde diese Art der Arbeitssuche „Job-Lotterie“ genannt, weil keiner wusste, wohin man geschickt wurde. Gerade diese Art der Ungewissheit trieb seine Eltern dazu, jeden Abend mit Freunden ihre Sorgen in Alkohol zu ertränken und sich über die Zustände in ihrem Leben beklagen. Für ihren Sohn hatten sie manchmal ein nettes Wort über, aber im Grunde war es ihnen gleich was aus Martin wurde. Und so behandelten sie ihn auch meistens. Obwohl seine Mutter als einfache Haushaltshilfe in den mittelständischen Bezirken vor der Stadt ein wenig Geld verdiente, lebten sie an der Armutsgrenze. Der Kühlschrank war nur spärlich mit Lebensmitteln gefüllt und die ihnen zugewiesene Wohnung bestand nur aus zwei Zimmern. Martins Eltern gaben der Regierung die Schuld für die Welt, in die Martin hineingeboren worden war. Nur aus den Geschichten seines Großvaters wusste Martin etwas über die Vergangenheit. Sein Großvater erzählte oft aus seinem Studentenleben – lange bevor die Wirtschaftskrise alles zerbrochen und die Pandemie das Leben der Menschen endgültig veränderte. Er hatte eine Zeit erlebt, in der man nicht stundenlang bei den Job-Centern anstehen musste. Damals hatte er in einer großen Firma gearbeitet bis man ihn entlassen musste, weil man ihn nicht länger bezahlen konnte. Trotz seines Universitätsabschlusses fand er danach keine Arbeit mehr. Martin kam es einem Traum gleich, sich mit einer vernünftigen Ausbildung Arbeit suchen zu können. Er war zwölf Jahre alt und nur hielt nur ein spärliches Grundschulzeugnis in den Händen. Für ihn selbst war eine Welt unvorstellbar, in der keine zwei Klassen-Gesellschaft existierte – auch wenn er sich nach einer besseren Welt sehnte. Die Realität sah doch anders aus. Frustriert zog Martin sich sein dunkelblaues Baseball-Cap ins Gesicht und schloss hinter sich die Tür der kleinen Wohnung. Diese lag in einem der tristen, grauen Sozialwohnblöcke, die starr in den grau-blauen Himmel ragten. Es wurde Zeit, dass Martin sich in die Schlange der wartenden Menschen stellte, die sich bereits vor einem der gläsernen Kuppeldächer gebildet hatte.
Baseball
John Marsden erledigte wie gewohnt seine Aufgaben in der Schulungsebene zur vollsten Zufriedenheit seines Lehrers. Nachdem ihm dieser erlaubte, sich in den nächsten Stunden frei zu nehmen, wusste John im ersten Moment nicht genau, was er tun sollte. Zwar kam es hin und wieder vor, dass er schnell mit seinen Aufgaben fertig war und so einige Stunden genießen konnte, doch wie er diese Zeit nutzte, entschied er dann meistens spontan. Also schlenderte er durch die grauen Gänge des Towers und beobachtete für eine Weile die Menschen um ihn herum. Die meisten schenkten ihm keine Beachtung oder übersahen ihn einfach. In ihren Gesichtern zeichnete sich Hast und Stress ab, während sie mit ihren Handys telefonierten oder sich ihren Notebooks zuwandten. Für sie waren Kinder nur ein selbstverständlicher Anblick und Teil eines abgeriegelten Kosmos, der nichts mit der Welt dort draußen gemein hatte.
Nach einer halben Stunde begannen John diese Leute zu langweilen, er kannte ihre unveränderten Mienen schon sein ganzes Leben lang. So wollte er nicht enden!
Durch seinen hohen sozialen Status in dieser Elitegesellschaft erhielt er alle Möglichkeiten, um später studieren zu können. Doch wollte er das auch? Johns Blick wanderte auf den Wegweiser, dessen Schilder in verschiedene Richtungen wiesen. Der Tower war aufgebaut wie eine kleine Stadt, in der die Bewohner alles fanden, was sie im Leben brauchten. John empfand den Gedanken verlockend in die Gärten zu gehen, die man unter einer Glaskuppel auf dem Dach des Towers kultivierte. So schlenderte er lässig zum Lift und fuhr gemeinsam mit einer gruppe von Menschen nach oben. Und wieder hatte er das Gefühl, unbedeutend für diese Welt zu sein.
Die Glastür des Panorama-Lifts schwang auf und eröffnete ihm den herrlichen Anblick einer grünen intakten Welt über den Dächern New Yorks. Das Glasdach schützte die zahlreichen Pflanzen vor intensiven Sonneneinstrahlung. Auf der grünen Wiese lagen Pärchen und genossen den schönen Sommertag. Im Osten befand sich ein Baseballfeld, wo John sofort einige bekannte Gesichter ausmachte: Chrystal und Max. Sie besuchten mit ihm zusammen den gleichen Technikkurs und warfen sich nun zwei anderen Jungen gegenseitig ein paar Bälle zu. Als sie ihn entdeckten, kam Chrystal fröhlich lachend auf ihn zu gelaufen.
„magst du mitspeilen, John?“, fragte sie.
Max kam ihr nach und rief: „Hast du schon wieder früher Schluss?“ Dabei schenkte er ihm ein breites verspieltes Grinsen, was seine Sommersprossen besonders betonte.
Max und Chrystal waren nur Schulkameraden, einen echten Freund hatte John nie gehabt. Unter anderem weil ihm sein Intelligenzquotient im Weg stand – wenn man ein genie war, hatte man es eben nicht leicht, echte Freunde zu finden. Deswegen genoss John es immer, wenn er Gelegenheit bekam mit anderen Kindern zu spielen, die genau wie er unter einem hohen Leistungsdruck standen. Denn dann hatte er wenigstens den Eindruck ein ganz normaler Junge zu sein.
„Ja, gerne“ , nickte John und lächelte Chrystal an. Bewegung würde ihn bestimmt auf andere Gedanken bringen.
Zwillinge?!
Die Stunden schienen im Spiel dahin zu fließen. John fing jeden Ball ohne Mühe bis Max an die Reihe kam. John beobachtete, wie Max Chrystal, die nun als Werfer auftrat, das Handzeichen für einen weiten Schlag gab. Das Mädchen trat auf das Mal und warf den Ball zu Max, der ihn , der ihn mit einem kräftigen Schlag zurückschlug. Die Sekunden schienen zu endlosen Minuten zu zerfließen. John konzentrierte sich auf den Ball, der einen hohen Bogen durch die Luft beschrieb. Er begann zu laufen und sah, wie der Ball in ein Feld voller Baumwollsträucher fiel. Ohne weiter nachzudenken, verschwand John in den Sträuchern und suchte dort den Boden nach dem Ball ab. Dabei achtete er nicht mehr darauf, wohin er kroch. Da lag er! John wollte gerade danach greifen, als eine fremde Hand ihm zuvorkam.
„Hey!“ , sprang John auf und sah, wie sich ein Junge in seinem Alter sich die Stirn mit einem Baseball-Cap abtupfte. John konnte das Gesicht nicht erkennen. Er wollte auf den Jungen zugehen, doch ein Baumwollstrauch stand ihm im Weg. John lief den Weg zurück und wechselte am Rand des Baumwollfeldes in die Reihe, in der er den Jungen mit dem Ball gesehen hatte. Keuchend und außer Atem lief er immer weiter, doch konnte er ihn nicht finden. Dann sah er das blaue Cap über den Sträuchern aufblitzen. Nochmals mobilisierte er alle Reserven und holte schließlich den Jungen ein, der den Baseball aufgelesen hatte.
„Hey!“ rief er nochmals, aber der Junge war stehen geblieben und unterhielt sich mit einem Mann, der wie er schäbige Kleidung trug. John schluckte bei dem Anblick. Es war verboten einen Bediensteten auf den Feldern anzusprechen. Doch John wollte den Baseball wieder haben, damit er und seine Schulkameraden weiter spielen konnten. Also beschloss er auf den Jungen zu zugehen, bevor ihn der Mut verlies.
„Hey!“ , tippte er den Jungen auf die Schulter, der seinen Baseball eingesteckt hatte.
Der Junge wandte sich um und John wurde bleich im Gesicht. Er blickte in sein eigenes Gesicht, dass er von seinem Spiegelbild her kannte. Schockiert taumelte er einen Schritt zurück. Er stolperte und fiel rücklings auf den staubigen Boden. Der andere Junge starrte ihn mit seinen Augen an, wie er ihn.
(Achtung: Erste Veröffentlichung bei dem Aurora Buchverlag im Fantasy-Geschichten-Sammelband)
Es war einmal eine Zeit, dort lebten das verschwundene Volk der Elfen gemeinsam mit den Menschen auf der Erde.
Der Elfenkönig Athamar hatte zu jener Zeit eine junge Tochter Ly-Rhyn, die schickte er auf eine Reise, damit seine Tochter die Menschen besser kennenlernen sollte.
Ly-Rhyn saß in Gedanken versunken auf der Fensterbank. Das helle Sonnenlicht erwärmte ihr zartes Gesicht, dass ihren Vater an ihre verstorbene Mutter Lyian erinnerte. Auch sie besaß die typische elfische Zartheit und die blasse Haut. Hellblaue, wache Augen standen nicht weit auseinander. Ihre blonden geschwungenen Brauen gaben ihrem Gesicht die Würde und die Eleganz. Sie hatte von ihrer Mutter auch die vollen Lippen geerbt, dennoch loderte in ihren wunderschönen Augen stummer Trotz. Ein leichter Sommerwind hob leicht ihr blondes Haar, das in offen in Kaskaden auf ihre schmalen Schultern fiel. Ihre spitzen Elfenohren waren unter ihrem langem Haar verborgen.
Ly-Rhyn teilte nicht die Meinung ihres Vaters die Welt außerhalb der Türme zu erfahren, aber wie auch hier und oftmals davor war ihre Auflehnung gegenüber ihrem Vater in Rauch aufgegangen. Nun ja, ihr blieb nichts anderes übrig als zu gehorchen. Von ihrem Fenster aus konnte sie in den Hof sehen, wo die Bediensteten die Satteltaschen packten und die Maultiere beluden. Ly-Rhyn fühlte sich wie in einem Käfig gefangen, was diese Reise anging. Sie fühlte sich in den dicken, steinernen Mauern sicher und wohl. Dass lag wohl daran, das sie hier an diesem friedlichen Ort aufgewachsen war. In dem grünen Tal hatte sie mit anderen Kindern gespielt. Und nun sollte sie ihr zu Hause verlassen. Ly-Rhyn fragte sich, was diese Reise, auf die sie von ihrem Vater geschickt wurde, ihr bringen sollte?
Sie hatte Schriften über die Menschen gelesen. Die Menschen, die außerhalb des Tals lebten, gehörten zu einem Kloster von einem christlichen Orden. Doch dieses Mal sollte sie viel weiter in die Welt der Menschen reisen. Sie wußte, das die Menschen brutal und meist ungebildet waren. Sie neigten zu Kriegen und versuchten andere Völker zu unterjochen. Dennoch gelang es ihnen wenigstens für kurze Epochen Frieden in ihren eigenen Königreichen zu erhalten.
Ly-Rhyn hörte nicht die leisen Schritte und das Rascheln von Kleidung, die sich ihr näherten. Ihr Blick blieb am Horrizont haften, wo die Sonne gerade den höchsten Stand erreichte.
„ My Lady.“ riß sie die vertraute Stimme ihrer persönlichen Dienerin und Amme aus ihren Gedanken.
„ Ja, Milan.“ wandte sich Ly-Rhyn mit tonloser Stimme der braunhaarigen, älteren Elfin zu.
„ Ihr solltet langsam eure Sachen packen. Schließlich brecht ihr heute abend auf.“ erinnerte sie Milan an die unangenehme Reise, die Ly-Rhyn nicht machen wollte. Seufzend wandte sie sich Milan zu. Sie konnte es doch nicht ändern, da war es wohl auch unvermeidbar, wenn sie jetzt ihre Sachen packte.
Am Abend brach Ly-Rhyn begleitet von einem Hauptmann, zwei Soldaten und ihrer Amme Milan auf. Den Hauptmann nannte man Baß-Káryn. Sie ritten mit zwei weiteren beladenen Maultieren in die Nacht hinaus. Milan bemühte sich Ly-Rhyn aufzumuntern, während sie nach wenigen Stunden das Tal der Elfen in weite Ferne gerückt war. Ein kalter, eisiger Wind wehte als sie sich auf den schmalen Pfaden zu dem Kloster hocharbeiteten. Die Kälte prickelte auf der Haut. Dann hinter Tannenbäumen kam das warme Licht und die erste Lehmhütte zum Vorschein. Ly-Rhyn konnte durch die dicken Wolken und dem leichten Schneetreiben, das eingesetzt hatte, nicht die Zeit bestimmen. Der wachhabene Mönch kam aus seiner Hütte. Gehüllt in einen dicken Fellumhang und mit einer Fackel in der Hand.
„ Wer da?“ rief er und richtete die Fackel auf den Hauptmann, der vor Ly-Rhyn hergeritten war.
„Friede, Bruder.“ erwiderte der Hauptmann Baß-Káryn höflich. Im fahlen Licht der Fackel erkannte der Mönch, wer zu solch später Stunde um Obdach bat.
„Wir suchen eine Unterkunft für die Nacht. Bitte erweißt, Ly-Rhyn, Tochter des Elfenkönigs diesen Wunsch.“
Der Mönch verbeugte sich plötzlich mit ehrlicher Ehrerbietung. Ly-Rhyn lauschte für einen Moment auf den Wind, der einen traurigen Gesang mit sich trug.
„Eure Hoheit,“ bot ihnen der junge Mönch an, „ Wollt ihr noch an der Mitternachtspredigt teilnehmen? Es wäre für uns eine Ehre.“
Ly-Rhyn schüttelte den Kopf. Sie hielt nichts von diesem Glauben.
„Nein. Danke.“
Die Gruppe stieg von den Pferden ab. Ly-Rhyn zog sich ihren weißen Fellumhang fester um ihren Körper, während sie der Mönch auf das eingeebnete Gelände des Klosters führte. Der Mönch zeigte ihnen die Stallungen und die einfachen Unterkünfte. Der Wind war danach stärker geworden. Dennoch zog es Ly-Rhyn nach draußen. Obwohl es in der Hütte wärmer war, die sie sich mit Milan teilte. Der Hauptmann hatte die beiden Soldaten vor ihrer Tür postiert. Der Wind trieb einen Tannenzweig vor ihre Füße. Ly-Rhyn hob ihn auf. Nachdem der beschwerliche Weg nun hinter ihnen und noch vor ihnen lag, nahm sie das Geschenk der Windgeister an. Mit einem kurzem Gebet bedankte sie sich und kehrte in die Hütte zurück.
Am nächsten Morgen brachen sie früh auf. Ly-Rhyn war noch immer müde und alles tat ihr weh von dem harten Bett, als sie sich in den Sattel schwang. Dabei fragte sie sich, ob Baß-Káryn es jede Nacht vorziehen würde die Soldaten bei dieser Kälte Wache stehen zu lassen. Sie ließen das Kloster hinter sich zurück.
„Ziehen sie es vor, meinen Namen weiter hin herum zu posaunen.“ fuhr Ly-Rhyn den Hauptmann an. Baß-Káryn zuckte leichthin die Schultern. Es gab hinter dem Kloster nur wilden offenen Wald. Einer der Mönche des christlichen Ordens hatte sie vor herumziehenden Räuberbanden gewarnt. Und Ly-Rhyn hatte ein komisches Gefühl.
„Nur wenn ich ganz sicher bin, dass wir den Menschen, den wir begegnen werden, trauen können. Ihr vergeßt, dass wir Reisende in einem fremden Land sind.“ gab er kühl und gelassen zurück.
„Dem stimme ich zu. Schließlich sollt ihr zu den heiligen Orten reisen!“ schloß sich Milan dem Hauptmann an. Ly-Rhyn schäumte innerlich vor Wut. Dass war es also wieder. Sie saß in einer Falle aus politischen Zielen, die ihr Vater ihr verschwiegen hatte. Aber welchen Zweck verfolgte ihr Vater wirklich?
So ritt Ly-Rhyn schlecht gelaunt hinter dem Hauptmann her. Die Stunden schlichen dahin. In der Eintönigkeit des Ritts begann Ly-Rhyn zu summen. Plötzlich schoß ein Pfeil durch die Luft und erschreckte Milans Pferd. Es begann zu scheuen und stieg. Mit einem schrillen Schrei fiel Milan rücklings aus dem Sattel. Von allen Seiten drang ohrenbetäubenes Geschrei. Ihre bewaffneten Begleiter rissen ihre kurzen Schwerter aus ihren Schäften. Ly-Rhyn sah nur noch einen bärtigen großen Mann, der mit einer riesigen Doppelaxt aus dem Unterholz der Tannen sprang. Ly-Rhyn sah sich ängstlich um. Bevor sie begriff, was eigentlich geschah, wurde einer der Soldaten mit einem Pfeil niedergestreckt. Instinktiv sprang Ly-Rhyn vom Pferd. Den Tränen nahe, stürzte sie zu der bewußtlosen Milan. Von irgendwo drang Waffenklirren. Dann spürte Ly-Rhyn hinter sich Jemanden. Sie fuhr herum und wurde dann von einer stahlharten Männerfaust am Kinn getroffen. Schwankend ging sie zu Boden und ihr Geist versank in der Dunkelheit der Bewußtlosigkeit.
Langsam und mit einem Hämmern im Kopf kam Ly-Rhyn zu sich. Sie roch Schnee und hörte das Rauschen der Bäume. Sie fror und ihre Finger fühlten sich klamm an. Sie zwang sich die Augen zu öffnen. Über ihr erhob sich ein friedlicher blauer Himmel, der keine Notiz davon nahm, was unten auf der Erde geschah. Sie hörte keinen anderen Laut. Wahrscheinlich waren die Pferde geflohen, nachdem die Räuber nur die Maultiere gestohlen hatten, so vermutete es Ly-Rhyn. Sie lag im Schnee, mitten im Nichts. Sie schwor sich, das Schwert zu beherrschen, wenn sie das nächste Mal auf Räuber traf. Mühsam richtete sie sich auf. Sie lagen an der Seite des Pfades. Mit Entsetzen sah die beiden Leichen der Soldaten, die sie begleitet hatten, quer auf dem Pfad liegen. Ihr Blut färbte den Schnee bereits rot. Von dem Hauptmann Baß-Káryn war nichts zu sehen. Milan lag neben ihr. Ly-Rhyn brauchte nicht lange, um festzustellen, dass Milan bewußtlos; aber am Leben war. Danach stellte sie fest, was die Räuber ihnen gelassen hatten. Sie hatten ihren kostbaren weißen Fellumhang mitgenommen. Und ihr statt dessen einen stinkenden Fellumhang, der grau und schwarz war, zurückgelassen. Zumindest würde sie nicht frieren bis sie das nächste Dorf erreichten. Eigentlich sollte sie sich bei den Räubern bedanken. Sie hatten ihren Silberbeutel gestohlen, aber dafür eine Handvoll von Kupfermünzen zurück gelassen. Anscheinend hatten die Diebe die beierne Spange in ihrem Haar übersehen. Ly-Rhyn rappelte sich auf. Es war besser, wenn sie ihr Haar offen trug, so erkannte man sie nicht so schnell als Elfin. Sie versteckte die Spange in ihrem Gewandt, das sie über ihre lederne Reiterhose trug.
Nach der Bestandsaufnahme machte sie sich daran Milan zu wecken. Stöhnend kam ihre Amme zu sich. Kaum war sie zu sich gekommen, stieß sie einen Schwall von Flüchen über die Räuber aus. Scheinbar hatten die Diebe in der Eile des Überfalls Milan für ein nicht so lohnendes Opfer gehalten.
Gemeinsam machten sie sich auf den Weg ins nächste Dorf. Dabei redete Milan unentwegt weiter, aber Ly-Rhyn hörte ihr nur halb zu.
Das Dorf, was sie nach einer Weile erreichten, war ein Bergdorf. Wo sich die Häuser und Hütten an den Berghang schmiegten. Die Sonne ging gerade glühend rot unter. Milan und Ly-Rhyn begaben sich ins Gasthaus. Ly-Rhyn wußte, das man dort erfuhr, wo es ein günstiges Lager gab. Die menschen musterten sie mißtrauisch oder beachteten die beiden Frauen nicht, als sie in die Schenke eintraten. Eine Wolke aus Qualm und Alkohol schlug ihnen entgegen. Schnell suchten sich Milan und Ly-Rhyn einen Platz an der Theke. Musik, mit einfachen Instrumenten erfüllte die Luft und übertönte das Gemurmel der Gespräche.
„Was wollt ihr trinken?“ fragte der Mann hinter der Theke wirsch.
„Wir wurden überfallen,“ antwortete Ly-Rhyn höflich, „Und nun suchen wir eine Unterkunft für die Nacht.“
Der Mann hinter der Theke begann breit zu grinsen.
„Dann wendet euch an die da!“ nickte er, dabei wies er auf eine Tischnische, wo eine Frau mit langen roten Haaren saß. Etwas irritiert folgte Ly-Rhyn den Blick des Mannes.
Zögernd traten beide Frauen an den Tisch, wo die Frau saß. Sie trank einen Krug Bier und sah auf, als sich Ly-Rhyn und Milan sich ihr näherten. An der Lederkleidung , die die Frau trug, erkannte Ly-Rhyn sie als eine Kriegerin. Das einzig merkwürdige war der Kristall, den sie an einer Silberkette trug.
„Man sagte uns, das sie eine günstige Unterkunft haben.“ begann Ly-Rhyn.
Die Frau hatte blasse Haut und unwirkliche grüne Augen, die die zwei Elfenfrauen musterten als die Angesprochene aufsah.
„Ihr wurdet überfallen!“ erriet die Fremde sofort. Überrascht tauschten Ly-Rhyn und Milan einen kurzen Blick.
„Setzt euch!“ bot ihnen die Fremde ruhig die gegenüberliegende Sitzbank an.
„Guten Tag,“ sagte Ly-Rhyn höflich und setzte sich. Aber die Fremde schwieg nur als Antwort. Ly-Rhyn fand das Benehmen der Frau als Unhöflich.
„Wie heißen sie?“ wandte sich die rothaarige Kriegerin an Ly-Rhyn.
„Dass ist Milan und ich bin Ly-Rhyn:“ stellte die elfische Prinzessin sich und ihre Amme vor. Glasgrüne Augen musterten sie abschätzend. Ein stummes Wissen schien in ihnen zu liegen.
„Ihr seid Elfen, nicht wahr!“ stellte die Kriegerin trocken fest.
„Ja, wir wurden überfallen.“ gab Ly-Rhyn zurück. Sie spürte etwas Furcht, was sie der Fremden nicht zeigen wollte.
„Mein Vater wird euch gut bezahlen, wenn sie uns zurückbringen!“
„Nein.“ fiel Milan dazwischen „Ihr sollt doch die heiligen Stätte besuchen!“
Ly-Rhyn schenkte ihrer Amme einen strengen Blick.
„Ach, ihr seid auf einer spirituellen Reise.“ hob die Kriegerin eine ihrer schlanken Brauen.
„Ja,“ platzte Milan heraus, „ Sie soll die sieben heiligen Gegenstände holen und zu unserem König bringen. Nur sie kann diese Gegenstände berühren.“ Ly-Rhyn blieb der Mund offen stehen, dass war also der wahre Grund für diese Reise.
„Dann soll also das Land der Elfen, wie Avalon in den Nebeln zwischen Zeit und Raum entrückt werden.“
„Nehme ich an!“ seufzte Ly-Rhyn schwer. Obwohl sie innerlich vor Zorn kochte.
„Man nennt mich Rhowiian :“ streckte ihr die rothaarige kriegerin die Hand entgegen. Ly-Rhyn überlegte nicht lange und nahm die Hand an. Kräftige Finger umschlossen ihre eigenen zarten Finger kurz. Sie spürte für einen Moment die Schwielen von dem Schwert, was die Kriegerin Rhowiian trug. Dann war der Augenblick vorbei.
„Wer hat euch überfallen?“ Ly-Rhyn ergriff rasch das Wort und erzählte ihr von dem Überfall, der rasend schnell geschehen war. Als Ly-Rhyn endete, nickte Rhowiian kurz.
„Ich kenne den Anführer dieser Bande.“ sagte sie kühl. Ly-Rhyn konnte deutlich spüren, was für eine Körperbeherrschung Rhowiian aufbringen mußte, um nicht laut zu werden. Ihr Körper und ihre Seele schwangen im Gleichklang der Natur. Und nur das versunkene Volk besaß jenes Gespür dafür. Sie mußte eine Nachfahrin des Volkes sein, aber sich fühlte sich Ly-Rhyn nicht. Dieses Volk war eine Legende, wie die Sage von König Arthus.
„Helfen sie mir?“ fragte Ly-Rhyn zögernd.
„Sie haben ihre Begleitung gefunden.“ lächelte Rhowiian . Ly-Rhyn atmete erleichtert auf. Rhowiian bestellte ihnen allen etwas zu Essen und bezahlte ohne zu fragen, das Zimmer für die Nacht. Am nächsten Tag wollten die zwei Elfenfrauen und die Kriegerin sich mit einem geliehenden Boot nach Scythan reisen. Die Stadt lag weiter im Westen und Rhowiian vermutete, dass sie dort am ehesten auf die Räuberbande trafen.
Die Sonne war gerade augegangen als das Boot, was mehr eine Barke war, ablegte. Nutzte Ly-Rhyn den Moment um sich das Ufer und die Landschaft besser anzusehen. Das schwankende Boot machte Milan krank, Ly-Rhyn genoß die Bootsfahrt. Sie bemerkte, wie die atlantische Kriegerin sicher auf dem Deck stand, als wären ihre Beine mit den Planken verwachsen. Und dieses Boot brachte sie alle in eine ungewisse Zukunft voller Abendteuer und Gefahren.
Tag der Veröffentlichung: 27.05.2012
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