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Wir schreiben das Jahr 1884 in London. Es war der Ball der Familie King. Wie jedes Jahr zu Sommerbeginn gaben sie diese Gesellschaft. Keine Gesellschaft, außer vielleicht die Festivitäten der Königsfamilie, ließ sich mit einem solch guten und großen Orchester begleiten. Vortreffliche Dirigenten ließen die Noten tanzen und eine ausgelassene Stimmung verbreiten.
Mrs. King begrüßte jeden der Gäste persönlich am großen Haustor. Sie begutachtete die Leute, die ihre Villa betraten, besonders jene, die zum ersten Mal geladen wurden. Eine von ihnen war die junge Miss Mary Clarkson, eine Freundin ihrer Tochter Caroline. Sie kam aus ärmlicheren Verhältnissen. Ihrem Kleid sah man diese Tatsache ebenfalls an. Es war von blauem Stoff und sehr einfach genäht. Sie trug keinen Schmuck und so schien sie im Kreise der reichen jungen Gäste als graue Maus unter zu gehen. „Gehen Sie hinauf in das Zimmer meiner Tochter. Sie wird Ihnen Schmuck leihen. Wir werden aus Ihnen noch eine richtige Lady machen.“
„Danke.“ Miss Clarkson machte einen Knicks und ging in Begleitung eines Dienstmädchens hinauf in das Zimmer ihrer Freundin. Mrs. King wollte nicht rechtfertigen müssen, ein kleines graues Mäuschen wie sie zu ihrem pompösen Fest geladen zu haben.
Nun betraten zwei Herren das Haus. Es war ein Bekannter Mrs. Kings und dessen Sohn. „Meine Tochter ist noch oben, sie wird uns später beehren und freut sich schon, mit Ihnen zu tanzen, junger Mann“, sagte sie zu dem jungen Mr. Norrel, den sie sich als zukünftigen Ehemann ihrer Tochter wünschte. Er war von gutem Hause, ein fleißiger und ehrbarer Mann und würde einmal die gut florierende Firma seines Vaters übernehmen. Nachdem Vater und Sohn an ihr vorübergegangen waren, schickte sie ihr Dienstmädchen, der Tochter Bescheid zu sagen, sie wolle sich beeilen und hinunter kommen, das junge Fräulein Clarkson solle sich inzwischen alleine fertig machen.
Als nächster betrat ein ärmlich gekleideter junger Mann das Haus. Der Blick der Gastgeberin fiel auf den alten Zylinder und den abgetragenem Anzug, der scheinbar früher von schwarzer Farbe gewesen sein muss. Das Gesicht des Mannes war verwundert über die Pracht des Gebäudes, trotzdem schien er unsicher und auch ängstlich zu sein. „Bitte, mit wem habe ich das Vergnügen?“ riss Mrs. King den Mann aus seinen Träumen und versuchte dabei, ihrem Gesicht nicht zu viel Argwohn entnehmen zu lassen.
„Verzeihung“ sagte der Mann und nahm seinen Zylinder ab. Seine Stimme klang angenehm im Ohr. „Ich bin Jonathan Wilder, der Dirigent.“ Sein warmer Blick sah sie an.
„Richtig“ schluckte Mrs. King. Noch nie hatte einer der Dirigenten so ärmlich gewirkt. „Wenn ich Euch etwas fragen dürfte?“
„Natürlich“, sagte der Dirigent.
„Haben Sie noch die Absicht, sich umzuziehen? Sie können dies oben im Zimmer meines Sohnes tun. Margreth, mein Hausmädchen wird Sie hinauf geleiten.“ Sie nickte Margreth zu, die sogleich kam. Verwirrt ging der junge Dirigent mit ihr nach oben und die Dame des Hauses konnte ihre weiteren Gäste in Empfang nehmen. „Ein merkwürdiger Kauz“ lachte ihr Nachbar, der nach dem Dirigenten den Raum betrat.
„Wohl wahr“, seufzte Mrs. King. „Der Dirigent, der letztes Jahr so wundervoll den Abend geleitet hat, hat ihn mir empfohlen, denn heute ist er verhindert, er residiert zurzeit in Italien. Der junge Mann soll nicht nur ein begabter Dirigent sein. Ich hörte, er sei auch ein talentierter Komponist, allerdings habe ich nicht geahnt, wie ärmlich er ist…“

Der Ball nahm seinen Lauf. Mrs. Kings Tochter Caroline kam herunter. „Ah, Liebling!“ rief ihre Mutter sie.
„Ja? Hinreißend sah sie aus in ihrem gelben Kleid. Die goldenen, filigranen Stickereien reflektierten das Licht des Kristalllusters und ließen die junge Frau wie einen Sonnenstrahl erleuchten. Ihr dunkles Haar war kunstvoll hochgesteckt mit goldenen Spangen. Sie sollte heute, so das Vorhaben ihrer Mutter, das Gesprächsthema der jungen Männer werden, doch ahnte noch niemand, dass etwas Anderes diese Nacht für Aufregung sorgen würde.
Du siehst wunderschön aus, mein Kind“, lobte Mrs. King ihre Tochter. „Deine Freundin ist noch oben?“
„Ja, Mutter. Ich habe ihr das Haar zurecht gemacht und nun sucht sie nach Schmuck. Ich habe ihr gestattet, sich die Brosche zu leihen, die ich von dir letzten Geburtstag zum Geschenk bekommen habe. Ist das auch in Ordnung für dich? Sie passt so wunderbar zu ihrem Kleid.“
„Ja, mein Kind, natürlich ist das in Ordnung.“ Sie lächelte ihrer Tochter zu. „Der junge Mister Norrel steht dort hinten. Möchtest du ihm nicht begrüßen?“
„Ach, Mutter“, lachte Caroline. „Du bist doch unverbesserlich.“ Mit diesen Worten ging sie hinüber zu dem jungen Mann. Ihre Mutter sah ihr noch eine Weile zu, bis ihr Sohn plötzlich ihre Schulter antippte.
„Raoul, schon hier unten?“ wunderte sich seine Mutter. Er versäumte sonst sehr gerne, sich auf den Tänzen sehen zu lassen. Außerdem hatte sie doch den ärmlich gekleideten jungen Mann zu ihm hinaufbringen lassen.
„Ja, Mutter, wie du siehst, stehe ich leibhaftig vor dir“.
„Und der junge Komponist und Dirigent…Mister…“ sie suchte nach dem Namen des jungen Mannes, doch nur selten behielt sie die Namen fremder Leute.
„Du meinst Mister Wilder?“
Seine Mutter nickte.
„Genau aus diesem Grund stehe ich hier, Mutter, denn Mister Wilder hat eine Bitte geäußert.“
Mrs. King war überrascht. „Eine Bitte?“
„Ja, Mutter, Er bittet darum, heute eine seiner neuen Kompositionen uraufführen zu dürfen.“
„Und was ist es für eine Komposition? Ein Walzer vielleicht oder ein Menuett?“ Nun schien die Dame nicht mehr überrascht, sondern erfreut zu sein, denn gerne hörte sie neue Werke.
Doch die Antwort ihres Sohnes enttäuschte sie ein wenig: „Er wollte es mir nicht sagen, liebste Mutter. Ich solle dir nur von ihm bestellen, dass er garantiere, so schnell würde keiner sein Werk vergessen.“
Zu der Verwunderung Raouls gewährte seine Mutter die Bitte des Dirigenten. „Wenn er fertig ist, soll er hinunter kommen. Die Damen wollen tanzen.“
„Mittlerweile sollte er annehmbar aussehen“ lachte der junge Mister King und ging hinauf, um Mister Wilder zu holen.

Jonathan Wilder dirigierte meisterhaft. Das Orchester schien unter seiner Anleitung perfekt zu funktionieren. Die Damen hatten sichtlich Spaß am Tanzen und manche Herren verzichteten auf die Zigarre am Balkon, um den Klängen der Musik zu lauschen.
Als der letzte Ton eines Walzers im Ballsaal verhallte, nahm Mrs. King das Wort: „Mister Jonathan Wilder, meine Damen und Herren!“ Es ertönte begeisterter Applaus. Der junge Dirigent verbeugte sich und wies auf das Orchester und applaudierte gleichsam diesem für seine gute Arbeit zu. „Mister Wilder“ begann nun wieder Mrs. King ihre Rede, „ist nicht nur begabter Dirigent. Er komponiert auch und bat mich darum, eines seiner neuen Werke heute hier erstmals Ihnen präsentieren zu dürfen. Und ich gewähre ihm diese bescheidene Bitte und bitte nun meinerseits darum, dass er nun beginnen möge.“
Erneuter Applaus. Zum Dank verneigte sich der Komponist und drehte sich nun wieder dem Orchester zu. Was er nun spielte klang nicht nach einem Tanz, auch nicht nach einem anderen Werk, das einer Gesellschaft wie dieser gerecht wurde. Es klang sakral. Getuschel brach aus, von dem sich der Dirigent nicht abzuhalten schien. Auch das Orchester arbeitete ungestört weiter und auch die Sänger taten ihre Arbeit. „Das ist Kirchenmusik, sehr gute Kirchenmusik, aber…naja… nicht sehr passend würde ich meinen“ sagte Mister Lawrence zu einer Dame neben ihm und schüttelte den Kopf. „Eine Messe, bei einem Ball, wo gibt es den sowas?“ flüsterte Mrs. Field ihrem Mann zu. Neben Mrs. King, die keinen Ausdruck für ihren Schock hatte, stand ihr Sohn Raoul und sagte ganz ruhig: „Ein sehr gutes Requiem, dass er geschrieben hat, dieser Mister Wilder.“
„Entschuldigt“ wohnte nun die Stimme von Caroline der Gesellschaft bei. „Habt ihr meine Freundin Mary gesehen? Schon den ganzen Abend suche ich sie. Mir wird ungut zumute. Vielleicht liegt es auch nur an der Musik.“
„Ganz sicher“, sagte ihre Mutter. „Sollten wir diese Darbietung nicht unterbrechen? Die Gäste sind verwirrt.“
„Nein, Mutter, das würde sie noch mehr verwirren“, setzte sich Raoul für den Dirigenten ein. „Das ist doch nur ein armer junger Mann, der seine Musik bewerben will, auch wenn sie nicht passend ist für diesen Anlass. Und ich meinerseits will es zu Ende hören, denn er hat in meiner Kindheit mit mir konkurriert. Nun interessiert mich, wie er komponiert. Und zu meinem Bedauern muss ich fest stellen, dass ich ihn für gut empfinde.“
Mrs. King fiel nun wieder ein, woher sie den Namen Wilders kannte und erinnerte sich an die Streitigkeiten zu Raouls Kindertagen und an die Musikstunden, die die Kinder in der Wohnung des Lehrers hatten, denn ihr vor zwei Jahren verstorbener Mann fühlte sich gestört durch den Klang des Klaviers.
„Vermutlich hast du Recht“, seufzte Mrs. King und so setzten sich die Klänge des Requiems fort. Aus den majestätischen Klängen erhoben sich sachte helle Flöten und Sopranstimmen. Sie schienen sich in der Melodie der restlichen Instrumente zu wiegen, bis sie langsam hochschaukelten um in den dominierenden Klängen des Basses und den Tiefen der Bläser zu verschwinden. Das Requiem endete mit einem lauten Akkord, der schauerlich im Saal widerhallte.
Es trat erst Stille ein, denn keine getraute sich eine Reaktion zu zeigen, auch wenn das Stück bemerkenswert gut war. Aus der Stille trat ein schriller Schrei und Esther, das Hausmädchen kam die Treppe hinab gelaufen. „Ein Mord! Oben auf dem Seitengang liegt jemand tot! Erstochen! Hilfe!“

2

Inspektor James Cromwell saß nun allein mit der verstörten Mrs. King, die noch immer in ihrem Festgewand gekleidet war, in einem kleinen Salon des Hauses. „Also haben Sie niemanden gesehen, der hinauf gegangen ist? Bei einer solch großen Gesellschaft wie Ihrer kann man doch nicht alle Gäste im Auge behalten?“
„Meine Dienstboten stehen an der Treppe. Sie hätten mich um Erlaubnis fragen müssen, hätte jemand, der nicht zur Familie gehört, hinauf gehen wollen“, schluchzte Mrs. King und schnäuzte sich.
„Esther, Euer Hausmädchen war oben, sagtet Ihr?“
„Sie war nicht eingeteilt, die Treppe zu überwachen. Esther sollte sich ab Beginn des Balles um meine jüngeren Mädchen, Betty und Amy kümmern. Sie sind fünf und sieben und noch viel zu jung für solche Tänze.“ Sie wusch sich die Tränen vom Gesicht. „Was genau oben geschah, fragen Sie sie besser selbst.“
Der Bleistift des Inspektors kratzte in das Papier, als er sich Notizen machte. „Kannten Sie das Opfer?“
„Sie war eine Freundin meiner Tochter.“
„Was hatte sie oben zutun?“
Nun fing Mrs. King erneut an, stärker zu weinen. „I-ich h-habe sie hinaufgeschickt. Sie sollte sich von meiner Tochter beratschlagen lassen und sich etwas Schmuck leihen, denn sie kam s-so ärmlich gekleid-gekleidet…“ Nun versagte ihre Stimme. James Cromwell reichte ihr ein Taschentuch.
„Was ließ Ihre Tochter früher hinunterkommen? Man nehme doch an, dass beide Freundinnen gemeinsam den Ballsaal hätten betreten müssen?“
„Ich schickte sie hinunter zu-zu Mister Norrels Sohn… Er…“. Auch nun konnte sie nicht mehr weiter sprechen, doch der Inspektor erriet, was sie sagen wollte. „Sie meinen, der junge Mister Norell wäre eine gute Partie für Ihre Tochter?“
Mrs. King nickte. Nachdem sie sich zu beruhigen schien, setzte der Inspektor seine Befragung fort. Wer hielt sich kurz vor und währen des Tanzes im Obergeschoß auf?“
Mrs. King zählte einige Namen von Dienstboten auf, die Kinder, selbstverständlich das Opfer und „da war noch dieser Komponist.“
James Cromwell wurde aufmerksam. „Ein Komponist? Wie war sein Name?“
Wieder fiel dieser der Dame nicht ein. „Es tut mir Leid, den Namen habe ich nicht im Gedächtnis, doch steht er in meinem Buch.“ Sie schickte Margreth, das Buch zu holen, in das sie ihre Veranstaltungen zu organisieren pflegte. Sie schlug rasch nach. „Jonathan Wilder, genau, so war der Name des jungen Mannes. Ein alter Bekannter meines Sohnes, doch ist er mir bis heute nicht im Gedächtnis geblieben.“
„Wilder“, wiederholte der Inspektor leise für sich. „Was suchte dieser Wilder im Obergeschoß?“
„Er kam so ärmlich gekleidet. Da ihm als Dirigent Aufmerksamkeit zuteil wird, habe ich ihn zu meinem Sohn hinauf geschickt um…“
„Um sich umzuziehen“ lächelte der Inspektor beinahe. Mrs. King nickte.
„Wie kam es, dass Sie einen unbekannten Musiker wie ihn eingeladen haben?“ Cromwell wusste, dass Mrs. King niemals leichtfertig jemanden einlud.
„Ich wollte eigentlich Mister Johnson anstellen, der schon im letzten Jahr die musikalische Leitung übernahm. Doch er hatte meinen Sohn Raoul und meine Tochter Caroline am Markt getroffen und ihnen mitgeteilt, er sei zur Kur in Italien. Er hatte mir diesen jungen Dirigenten empfohlen, denn er hatte ihn schon in Wien eine Oper dirigieren sehn.“

Officer Baker, ein Kollege Cromwells saß in der Zwischenzeit Raoul King gegenüber. „Sie kannten Wilder?“ fragte er.
„Ja“, bestätigte Raoul etwas nervös. Als Kinder haben er, meine Schwester und ich oft zusammen gespielt. Wir hatten ab und zu auch gemeinsame Klavierstunden bei Mister Danley. Er war Intendant der Staatsoper und ein wunderbarer Lehrer.“
„Stimmt es, dass Sie beide in der Jugend oft Machtkämpfe führten?“
„Nun ja…“ sagte der junge Mister King beschämt. „Ich war der bessere Sportler, er der bessere Musiker. Es stimmt schon, dass es mich in meiner Jugend oft geärgert hat, wenn Mister Danley ihn hochlobte als er eine Symphonie schrieb und mich anfuhr, ich solle mit mehr Gefühl Klavier spielen.“
„Sie haben sich zerstritten, sagte Ihre ehemalige Gouvernante?“ Zuvor hatte er diese verhört, denn sie war zum Zeitpunkt des Tanzes im Obergeschoß gewesen.
„Es ging um ein Mädchen. Wir waren sechzehn. Sie liebte das Klavierspiel von ihm aber ich konnte sie nicht beeindrucken. Ich habe weder sie noch ihn nach dem Streit je wieder gesehen“, sagte er ehrlich, obwohl er wusste, dass er sich beim Officer nicht gerade beliebt machte. „Aber wir sind alle erwachsen geworden“ fügte er hinzu. „Wir haben uns ausgesprochen, als er in meinem Zimmer war.“

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In seinem Arbeitszimmer grübelte James Cromwell noch um sieben Uhr morgens an dem Fall, der ihn gestern Nacht aus dem Bett gejagt hatte und über Jonathan Wilder: War der Mord schon vor dem Requiem geschehen? Der Sohn Mrs. Kings war für kurze Zeit nach unten gegangen und zu in dem Augenblick war auch das Opfer allein im Zimmer von Caroline King. Und Wilder, der Komponist, hatte das Requiem komponiert und darum gebeten, es dirigieren zu dürfen. Vielleicht war er wirklich der Täter.


Fest stand allerdings nur, dass das Requiem mit dem Mord in Verbindung stand und Wilder zweifellos mit dem Requiem. Es fehlte Cromwell an Beweisen.

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James lehnte an dem Sofa des alten Mister Danley. Dieser war Der Intendant der Londoner Staatsoper und Lehrer von den Kings und Jonathan Wilder gewesen. „Jaja, ich erinnere mich“ sagte der Greis. „Der Junge hatte Talent, ein zweiter Mozart wenn ich das sagen darf. Nur hat ihn niemand je so gefördert. Leider.“ Er schien seiner Vergangenheit nachzuhängen. „Ein netter Knabe. Immer hilfsbereit und freundlich. Und wie er komponiert hat!“ Sein altes Gesicht formte sich zu einem väterlichen Lächeln. „Was wohl aus ihm geworden ist…“
„Mister Danley“ versuchte der Inspektor die Aufmerksamkeit des Alten zurück zu gewinnen und reichte ihm die Partitur des Requiems. „Ist der Stil jener von Jonathan Wilder? Hat er auf diese Art komponiert?“
Mister Danley nahm die Partitur. Er tat sich sichtlich schwer, mit seinen alten, müden Augen die Noten noch richtig wahrzunehmen. Dennoch brachte er es mit einer Lupe schließlich fertig, das Stück in seinem geschulten Kopf zu rekonstruieren und summte leise die Melodie der Totenmesse. „Sehr gut! Formidabel!“ Das Herz schien dem alten Mann aufzugehen. „Wie wünschte ich würde selbst ein solch prächtiges Requiem erhalten, wenn meine Tage dahin sind!“
„Mister Danley – die Handschrift und der Stil… ist es jener von Jonathan Wilder?“ versuchte der Inspektor aus dem Greis herauszubekommen.
„Ja, mein guter, Jonathan. Was wohl aus ihm geworden ist…“
„Mister Danley. Ich habe Sie etwas gefragt!“ James Cromwell war nun schon der Verzweiflung nahe und bereute schon fast, den alten Intendanten aufgesucht zu haben, als dieser plötzlich sagte: „Ja, das ist doch seine Handschrift!“ James sah hoffnungsvoll auf. „Und unvergleichbar“ fuhr der Alte fort, „das ist Jonathans Stil. Wie er die Stimmen einsetzt, und da, so weiß nur er Kadenzen zu setzen. Und sehen sie da“ er zeigt an eine Stelle, die für den unmusikalischen Inspektor jeder anderen glich. „Das habe ich ihm beigebracht“, sagte der Lehrer stolz.
Damit gab er sich schließlich zufrieden. Das reichte für die Untersuchungshaft.

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Zwei Wochen waren seither vergangen. Von Wilder keine Spur. Officer Carl Baker saß, eine Zigarre rauchend, mit James Cromwell am Schreibtisch. Cromwells Füße lagen am Tisch.
Keiner wusste, wo dessen Bleibe war. Der einzige, der Kontakt zu ihm zu pflegen schien, war der Dirigent, den Mrs. King im Vorjahr angestellt hatte, doch dieser war noch in Italien und keiner wusste, wo genau er sich zur Kur aufhielt. „Künstler, müssen immer allein sein, das macht es uns schwer“ seufzte Inspektor Cromwell.
Doch Baker schien ihm nicht zuzuhören. Er las etwas in der Zeitung.
„Was lesen Sie da?“ fragte Cromwell und entriss ihm das Blatt. Erst wollte er darüber lachen, dass sein Kollege den Kulturteil las, bis ihm plötzlich etwas auffiel: die Werbung für eine Oper: „Don Giovanni“ in der Londoner Staatsoper. „Zum neunzigsten Geburtstag des ehemaligen Intendanten George Danley führt die Oper dessen Lieblingsstück auf. Das hervorragende Ensemble wird zusammen mit dem altgewohnt formidablem Orchester unter der musikalischen Leitung des jungen Talentes und ehemaligen Schüler Danleys, Jonathan Wilder, spielen.“
„Das ist es! So bekommen wir ihn!“ rief Cromwell so freudig, dass er beinahe vom Stuhl fiel. „Baker, Sie gehen da hin!“
„Ich?!“ stieß es aus Carl heraus.
„Ich kann Opern nicht ausstehen, also gehen Sie“, beschloss Cromwell und Officer Baker konnte nicht widersprechen.

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Am darauffolgenden Samstag betrat Carl Baker die Oper mit einem mulmigen Gefühl. Er besprach die letzten Einzelheiten mit seinen Kollegen und erklärte ihnen, auf welches Handzeichen hin sie den Verdächtigen festnehmen sollten. Weitere Kollegen verteilten sich im Zuschauerraum um das Opernhaus im Auge behalten zu können.
Der Officer saß in unmittelbarer Nähe des Orchesters. sein Blick war stets auf Wilder gerichtet. Mit Argusaugen beobachtete er jede kleinste Bewegung des Dirigenten. Doch schien ihm nichts auffällig. Wilder wirkte ganz in seinem Element.
Nach der Aufführung und einem donnernden Schlussapplaus, der bei Baker auf Unverständnis stieß, stimmte erneut eine Melodie an. Der Officer wurde aufmerksam. War dies wieder ein Requiem? Baker beobachtete die Zuseher. Er selbst konnte die Melodie und den Gesang nicht beurteilen. Diese schienen tatsächlich verwundert über das Musikstück. Baker wusste nicht genau, ob er schon eingreifen sollte. Doch Wilder schien etwas zu ahnen und dirigierte das Orchester und die Operndarsteller in den dominanten Höhepunkt des Requiems und gerade in diesem Augenblick an dem Baker nun endlich eingreifen wollte, ertönte ein schrecklicher Schrei aus dem ersten Rang. Baker blickte sofort zu der Richtung empor, aus der der Laut kam und gab seinen Leuten unverzüglich das Zeichen, Wilder festzunehmen. Die Dame, die den Schrei ausgestoßen hatte, deutete nun sprachlos und mit bleichem Gesicht auf die Seitenloge: dort hing Mister Danley, der ehemalige Intendant und Lehrer Wilders, blutüberströmt mit einem Messer im Rücken über dem Geländer.

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„Jetzt reden Sie endlich!“ schrie Carl Baker den Dirigenten an. Es war kurz vor Mitternacht und er war müde und wollte sich nicht länger mit dem Verhör aufhalten. Doch Wilder redete nicht.

Der Officer setzte sich ihm gegenüber und seufzte. „Hören Sie“ sagte er nun ruhig. „Sie haben zwei Requien dirigiert und beide Male ist ein Mensch dabei gestorben. Nun ihr Lehrer. Fest steht, Sie stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit den Mor…“
„Ich habe die Opfer nicht töten können! Ich habe doch dirigiert!“ schrie Jonathan Wilder nun. Officer Baker sah, dass seinen Augen mit Tränen gefüllt waren. Die Faust des Komponisten war geballt, sodass seine Adern deutlich zu erkennen waren. Er sah nach unten.
„Aber Sie müssen doch wissen, wer hinter den Morden steckt?“ fragte Baker in der Hoffnung, dass Wilder reden würde. Doch da hatte er die Rechnung ohne den Musiker gemacht. Dieser schwieg. Er schüttelte nur zaghaft den Kopf. „Also gut“ sagte Carl. „Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als Sie bis morgen in Ihre Zelle zu führen.“ Carl war diese Nacht nicht mehr fähig, das Verhör weiter zu führen und brachte Wilder in eine kleine Zelle. „Vielleicht denken Sie morgen klarer. Gute Nacht“ sagte er und ließ Jonathan Wilder in Tränen zurück..

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Auch am nächsten Tag redete Wilder nicht. Die Nacht hatte er ohne Schlaf verbracht. Wie nur sollte er sich aus dieser Lage retten können? Er konnte nicht die Wahrheit sagen. Doch was sollte er sagen? Nun hatte er es im Gesamten zwanzig Stunden geschafft, die Situation geheim zu halten. Während ihn Carl Baker und auch James Cromwell ins Verhör genommen hatten, hatte er geschwiegen. Die Polizisten waren der Verzweiflung nahe. Sie hatten sich mittelalterliche Foltermethoden zurückgewünscht, um Wilder zum Reden zu bringen, doch es hatte alles nichts geholfen. Das Höchstmaß, das sie aus ihm hinaus gebracht hatten, waren vergossene Tränen über die Opfer.

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Am nächsten Morgen machte sich die junge Caroline King auf den Weg in das Revier. Sie wollte Herrn Wilder besuchen. Immerhin war ihre beste Freundin ums Leben gekommen. Sie wollte erfahren, was sich ereignet hatte. Zumal ihre Freundin ihr anvertraut hatte, dass der Komponist ein Kavalier war, der letztens um die Hand Marys angehalten hatte. So erklärte die junge Dame es dem Inspektor, der sie schließlich zu Wilder ließ.
„Wilder, Besuch für Sie!“ rief Cromwell und wandte sich zu der jungen Frau. „Vielleicht bekommen Sie mehr aus ihm heraus. Bei uns schweigt er wie ein Grab.“
„Meinen Sie wirklich, er wäre der Täter?“ fragte die junge Dame, ohne dass der Musiker sie hören konnte.
„Wenn nicht Täter, dann zumindest Komplize. Aber er möchte nicht reden, also kann ich nichts Genaues sagen.“ Damit empfahl er sich und ging zurück an seinem Arbeitsplatz.
Caroline saß vor dem Gitter, das sie von dem Angeklagten trennte. Dieser sah schlecht aus. Er hatte schon auf der Gesellschaft ärmlich gewirkt, nun war er aber mehr eine Schattengestalt, nur ein Abbild seiner selbst. „Guten Tag, Mister Wilder“, sagte die junge Frau und endlich schien Jonathan aus seinen Gedanken erwacht zu sein und sah seinem Gegenüber in die Augen. Caroline sah nun ihrerseits, dass seine Augen in Tränen getränkt waren.
„Was wollen Sie?“ fragte Wilder mit zittriger Stimme.
„Ich möchte mit Ihnen reden“, antwortete sie. „Ich möchte mit Ihnen reden, zum Einen, weil meine beste Freundin und der ehemalige Klavierlehrer meines Bruders und mir ermordet wurden, mein Herr, und zum Zweiten, weil ich nicht daran glaube, dass Sie der Täter sind.“
Wilder blickte erstaunt in das Gesicht Carolines. „Sie denken ich wäre unschuldig?“
„Verstehen Sie mich nicht falsch, ich glaube zwar nicht, dass Sie der Täter sind, aber sehr wohl, dass Sie in direktem Zusammenhang mit den Morden stehen. Allerdings denke ich, dass Sie, wären Sie der Täter gewesen, andere Opfer gewählt hätten, denn wie ich weiß, war Ihnen Mister Danley wie ein Vater, denn den Ihrigen hatten Sie früh verloren. Und auch zu meiner besten Freundin Mary hatten Sie ein inniges Verhältnis. Sie vertraute mir an, dass Sie einander liebten und heiraten wollten.“
Jonathan Wilder begann zu weinen.
„Also“ fing sie erneut an. „Wollen Sie mir nun verraten, wie es sich wirklich ereignet hat? Ich werde Ihnen helfen, so gut ich kann.“
Der junge Musiker sah gebrochen zu seinem Gegenüber. „Ich kann nicht“, sagte er unter Tränen. „Verstehen Sie, mein Fräulein, es geht einfach nicht. Es geht nicht, weil ich selbst nicht weiß, wer der Täter ist. Die Requien sind eine anonyme Auftragsarbeit. Ich komponiere sie nur und wenn mir befohlen wird, diese zu spielen, so mache ich das. Alles andere liegt leider nicht in meiner Hand. Meine Aufträge lauteten ein Requiem für eine geliebte Frau zu komponieren und eines für einen Mentor. Das habe ich getan.“
„Aber als dann Ihre geliebte Frau ermordet wurde, warum haben Sie nicht aufgehört zu schreiben, anstatt den Auftrag weiter auszuführen?“
„Es ging nicht. Ich dachte mir schon, dass das nächste Requiem, welches ich in der Oper spielen sollte, für Mister Danley gedacht war. Doch ich konnte nicht anders…“
„Warum konnten Sie nicht anders?“
„Mir wurde gedroht, mein Fräulein“, sagte er und bei der Erinnerung an seinen Auftrag schien sein Gesicht um Jahre gealtert zu sein.
„Aber welche Drohung könnte schlimmer sein, als das Leben eines Menschen zu opfern? Eher gäbe ich mein eigenes Leben dahin“, sagte Caroline.
„So war auch mein Gedanke, als ich den Brief bekam, ich solle das neue Requiem in der Oper spielen, doch sind mir die Worte des ersten Briefes eingefallen: „Tun Sie nicht, wie Ihnen befohlen, so sind drei Opfer ihres Umfeldes zu beklagen. Führen Sie jedoch ihre Arbeit mit Gewissen aus, so werden Sie reich belohnt.“ Die Tatsache, dass mehr Menschen sterben würden ließ mich in Angst und Schrecken verfallen und mich unaufhörlich an den Requien arbeiten. Als Mary dann ermordet aufgefunden wurde, führte man mich auf dem schnellsten Wege weg. Ich erkannte den Entführer nicht. Er war maskiert und redete nicht. Doch er brachte mich in meine Hütte am Stadtrand, die ich seit Kurzem bewohne, und dort lag ein Brief. Ich wollte ihn nicht öffnen und spielte mit dem Gedanken, mir mit einem Messer mein nun verwirktes Leben zu nehmen. Doch dann griff meine Hand gegen meinen Willen zu der Nachricht, die besagte, ich müsse meinen Auftrag weiter erfüllen, denn auch wenn der Tod mich davon befreie, Opfer gäbe es trotzdem zu beklagen.“ Er seufzte. „Sie sehen, Miss King, ich konnte nicht anders als weiter an dem Requiem zu arbeiten und es auch zu dirigieren.“
„Aber warum sagen sie dem Inspektor nichts? Sie sind doch genauso Opfer!“
„Weil mein Erpresser auch daran gedacht hat, mein Fräulein und mir, sollte ich etwas der Polizei verraten, wiederrum mit dem Tod von drei Menschen gedroht hat.“ Er sah Caroline eindringlich an: „So bitte ich Sie inständig, verraten Sie nichts dem Inspektor.“
Caroline nickte nur und ging.

„Haben Sie etwas aus ihm herausbekommen können?“ fragte Inspektor Cromwell hoffnungsvoll.
„Kein Wort“, log Caroline. „Wenn Sie mich nun bitte entschuldigen würden.“ Damit verließ sie das Revier.

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Caroline suchte das Arbeitszimmer ihres Bruders auf. „Herein“, sagte dieser nach einiger Zeit Stille und ließ seine Schwester passieren. „Du hast lange gebraucht, um mich herein zu bitten“, sagte Caroline lächelnd, doch ihr Bruder reagierte anders als erwartet: „Ich…ähm…hatte noch etwas zu erledigen. Aber sag, was willst du hier, Schwesterherz?“
„Ich war gerade auf dem Revier.“
„Was suchst du auf dem Revier, Caroline?!“ fragte ihr Bruder entsetzt. „Eine Frau sollte sich nicht allein an solch einen Ort begeben!“
„Ich habe dort Mister Wilder besucht“, sagte sie sehr gelassen. Er hat mir erklärt, was vorgefallen ist und nun bitte ich dich um Hilfe.“
Er sprang vom Stuhl auf. „Du bittest mich um Hilfe?! Aber ich kann dir doch nicht helfen. Und warum willst du diesem Mörder helfen, um Gottes Willen?!“
„Er ist unschuldig, kein Mörder!“ rief Caroline. „Deshalb will ich ihm helfen. Ich kann dir nicht sagen, was vorgefallen ist, das habe ich ihm versprochen, deshalb bitte ich dich nun darum, mir blind zu vertrauen und ihm zu helfen. Bitte.“
Ihr Bruder klang gereizt: „Und wie, hast du dir vorgestellt, kann ich ihm helfen?“
„Indem du eine Kaution hinterlegst, ihn von der Untersuchungshaft freikaufst und in hier unterbringst.“
Nun war er perplex. „Und Mutter?“ Er wusste genau, dass Mrs. King etwas dagegen haben würde.
„Mutter wird davon nichts erfahren“, sagte Caroline, als wäre es das verständlichste der Welt. Deshalb komme ich ja zu dir. Du musst ihn bei dir verstecken.“
„Und wir sind dann die nächsten Opfer? Caroline, mir scheint, du bist nicht ganz bei Sinnen.“
„Ich kann dich beruhigen. Ich bin in Kraft meiner gesamten Sinne und sehe so klar wie noch nie zuvor. Also, hilfst du mir nun?“
Der junge Mister King nickte stumm und sperrte seinen Save auf. „Sag Mutter, ich werde einen Spaziergang machen.“
„Danke, Bruderherz!“ Sie umarmte ihn und freute sich, dass ihr Plan aufgehen würde.

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Der junge Mister King legte Cromwell das Geld auf den Schreibtisch.
„Das ist nicht ihr Ernst!“ rief dieser.
„Keine Sorge“, versicherte Raoul King dem Inspektor. „Er wird bei uns bleiben. Er wird nicht entkommen. Außerdem ist es sein Recht, dass, wenn er eine Kaution hinterlegt bekommt, er aus der Untersuchungshaft frei gelassen wird.“
Damit hatte er Recht. Cromwell konnte nichts anderes machen, als das kleine Vermögen, dass Raoul ausgegeben hatte, um seiner Schwester zu helfen, in den Safe zu sperren und die Schlüssel zu Wilders Zelle zu holen.
„Wilder, es wurde für Sie Kaution hinterlegt“, sagte er.
„Von wem?“ fragte der Musiker geschockt, denn er hatte erwartet, dass der Erpresser die Kaution hinterlegt hatte, um weitere Requien in Auftrag geben zu können. Da kam Mister King herein. „Sie?!“ rief Wilder.
„Keine Angst“ sagte Cromwell. „Die Kings sind eine angesehene Familie. Da werden Sie gut unterkommen. Benehmen Sie sich, wir behalten Sie im Auge“ lachte Cromwell und ließ in gehen.

In der Kutsche war Wilder sehr still und ängstlich. Auch Raoul wusste nicht viel zu sagen. Trotzdem war es der Komponist, der schließlich seine Stimmer erhob. „Warum haben Sie mich hinaus geholt?“
„Meine Schwester hat mich gebeten, Ihnen zu helfen.“
„Ihre Schwester?“
„Ja, sie hat Sie doch heut Morgen besucht und mit Ihnen geredet.“
„Ja, aber was beweist mir, dass nicht gerade Sie mein Erpresser sind?“
Raoul schwieg daraufhin.

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Am nächsten Morgen traf ein anonymer Brief auf dem Polizeirevier ein. Die Handschrift war nicht zu identifizieren. Darin stand die ganze Geschichte, so wie sie Jonathan Wilder Caroline King beschrieben hatte.

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„Gehen wir alles noch einmal in Ruhe durch“ sagte Inspektor Cromwell zu Carl Baker. Im Raum war es stickig der Rauch der Zigarren stand im Zimmer und trübte den Blick der Polizisten.
„Also, Wilder wurde erpresst, das wissen wir nun. Nur von wem?“ Er wog seine Zigarre auf dem Finger und zündete sie an.
„Es muss jemand sein, der Wilders Leben gut kennt“, sagte Baker.
„Und der zu jener Zeit im Obergeschoß des Hauses war“, ergänzte der Inspektor. „Also Raoul King ist vermutlich der Täter“, sagte er sehr gelassen. „seine Schwester Caroline und die Dienstbotinnen schließe ich aus. Die Haushälterinnen hätten weder Motiv noch ein Messer. Zudem hatten sie zutun. Und die Tochter scheint eher Mitleid als Verachtung für Wilder zu empfinden. Außerdem hat sie, als ich sie befragt habe, bitterlich geweint.“
„Und Kings Motiv?“ fragte Baker. „Ich habe ihn doch ebenfalls verhört.“
„Schon“ entgegnete Cromwell. „Aber er war sehr nervös, sagten Sie. Außerdem kannte er Wilder von der Jugendzeit. Und im Gegensatz zu seiner Schwester, schien er sich noch lebhaft daran zu erinnern, was ich Ihrem Bericht entnehmen kann. Sie hatten teils gemeinsame Klavierstunden bei Mister Danley. Nur war King nicht gerade ein zweiter Mozart, im Gegensatz zu Wilder. Das würde das Motiv erklären, Eifersucht.“
„Und das erste Opfer, Mary Clarkson?“
„Vielleicht war er ebenfalls in sie verliebt, vielleicht machte es ihn auch nur fertig, dass er keine Freundin oder Verlobte hatte, sein Rivale aus der Schulzeit allerdings schon. In solch kranken Köpfen geht viel umher, das ein Mensch mit gesundem Verstand nicht nachvollziehen kann. Er war es immerhin auch, der bei seiner Mutter für Wilder um Erlaubnis fragte, ein eigens komponiertes Stück spielen zu lassen. Und er besitzt genügend Geld als Lockmittel.“
Cromwell stand plötzlich auf und rekonstruierte die Tat: „Von dem, nun in Italien gastierendem Dirigenten kam er an den Kontakt von Wilder, damals, auf dem Marktplatz. Er schickte anonyme Briefe und jagte ihm Angst ein. Wilder komponierte. Als sich das Opfer allein auf Caroline Kings Zimmer aufhielt, weil diese hinunter geschickt worden war, tötete sie ein Auftragsmörder, den King ebenfalls erpresst hatte. Dieser machte auch Esther, das Hausmädchen, irgendwie auf die Tote aufmerksam, um sicher zu stellen, dass diese auch zum letzten Akkord gefunden wird. Und es war auch dieser Auftragsmörder, der Wilder schließlich von dem Tanz entkommen ließ.
Auch in der Oper war King: die Familie wurde als eine der reichsten der Stadt natürlich geladen und nahm in der Nebenloge des Intendanten Platz. Vermutlich derselbe Auftragsmörder, stach Danley dann unbemerkt das Messer in den Rücken.“
„Und wie war der Auftragsmörder in die Loge Danleys gekommen?“ fragte Baker und hoffte, dass Cromwell auch dafür eine Lösung fand, um den Fall endlich abschließen und vor Gericht bringen zu können.
„Vielleicht ein Theaterangestellter. Oder der Mörder hat sich in einem unbeobachteten Moment hinein geschlichen“, sagte er triumphierend. „Das alles reicht, um King zu verhaften.“ Damit machte er eine auffordernde Geste. Baker sprang auf und sie machten sich voll Tatendrang auf den Weg in die Stadtvilla der Kings.

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Die Verhaftung lief unter Tränen ab. Mrs. King war vor Schmerz, ihr einziger Sohn sei ein Mörder, zusammengebrochen und nicht mehr ansprechbar. Ihre Tochter Caroline kümmerte sich um sie und versuchte, sie so gut als nur möglich wieder aufzurichten. Baker tat dies Szenario im Herzen weh, doch bei jedem Blick auf King entbrannte in ihm wieder der Hass auf den augenscheinlichen Mörder. Cromwell sprach noch einige wenige bedauernde Worte zu der gebrochenen Mutter, bevor er das Anwesen verließ.

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Ein Monat war seither vergangen. Die Gerichtsverhandlung Kings würde morgen über die Bühne laufen. „Am besten, Wilder schreibt Ihnen auch ein Requiem, denn das wird Ihr Untergang“, lachte Cromwell. Raoul sagte darauf nichts. Wie jeden Tag seit Wochen schwieg er.
„Vor Gericht wird er schon den Mund aufmachen“ beruhigte Cromwell seinen Kollegen Baker, „Da kann er uns den ganzen Tathergang haargenau beschreiben, so wie er es getan hat, als seine Schwester ihm ins Gewissen geredet hat.“
Tatsächlich war Caroline King zwei Tage nach seiner Verhaftung im Revier gewesen, um ihren Bruder zu sprechen. Sie hatte ihm eingeschärft, alles zu gestehen. Vermutlich, da sie so auf eine Strafmilderung gehofft hatte. Cromwell verschwieg ihr, dass Mord keine Milderung verdient hätte. Er wollte ihr nicht noch mehr weh tun. Doch dann hatte King seine Tat tatsächlich gestanden. Es war wie von Cromwell rekonstruiert. In seinem Schrank hatte seit dem Morgen der Gesellschaft jener Auftragsmörder gehaust, der auch dann in der Oper, sich als Billeteur ausgebend, den ehemaligen Intendanten erdrosselt hatte. King hatte Wilder erpresst die Requien zu schreiben, da er in ihm einen Konkurrenten sah, der trotz niederen Standes umso mehr erreicht hatte. Er hatte wilder freigekauft, um ein weiteres Requiem in Auftrag zu geben, doch dazu ist es nie gekommen.

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Kurz bevor die Verhandlung begann, ertönte in aller Herrlichkeit Musik in der Eingangshalle des Gerichtsgebäudes. Alle beteiligten Personen liefen hinunter. Keiner bemerkte die Abwesenheit der zuvor ohnmächtig geschlagenen Polizisten. Ein kleines Orchester war aufgestellt, doch in der hohen Halle wirkten die Töne majestätisch. Wilder dirigierte, und diesmal waren keine Sänger vor Ort. Er ließ die Musik leise werden und nur eine einzige Stimme in den Vordergrund rücken. Es war die Stimme Caroline Kings, die sich vor das Orchester auf einen Stuhl gestellt hatte. Sie wirkte bedrohlich und majestätisch zugleich, ihr Blick war kalt wie Eis. Alle waren erstarrt und niemand griff deshalb ein. „Dies“ sprach sie laut „ist das letzte Requiem! Ein Requiem schöner als alle Klänge dieser Welt, denn dieses Stück gilt mir! Ich habe diesen Menschen ihr Leben nehmen lassen, ja ich!“ Sie lachte gebieterisch und angsteinflößend. Die Zuseher dieses Auftrittes wurden bleich im Gesicht. „Ich habe euch allen etwas vorgespielt, die Unschuldige geheuchelt!“ Sie lachte erneut laut auf. „Denn schon von den jüngsten Jugendtagen an gehörte mein Herz Jonathan Wilder!“ Wilder blickte überrascht auf, dirigierte aber weiter. „Doch er wollte nichts von mir wissen! Er hatte zwei Lieben: die Musik und wie ich erfuhr, auch Mary! Da musste ich handeln! Ich habe die Morde durchgeführt, den Tathergang hat Raoul auf dem Revier gestanden! Ich habe ihn gezwungen, sich als den Schuldigen auszugeben, habe ihm mit meinem Tod gedroht, dem Narr! Und er wollte mich schützen!“ Jetzt sprach sie ruhiger: „Nun lebe ich in ewiger Schuld.“ Es wurde still. Nur zwei Geigen waren zu hören. „Oder doch nicht?“ sagte sie nun leise und lächelte. Ihre Augen glänzten im Wahnsinn. Sie gab ein Zeichen, Jonathan dirigierte das Orchester in Tränen in die Abschlussphase und mit einem majestätischen Akkord, stach sich Caroline King ein glänzendes Messer in die Brust.

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Tag der Veröffentlichung: 02.07.2009

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