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Kapitel 1

Charlotte Piper saß mit weit aufgerissenen Augen am Flughafenparkplatz und konnte nicht recht glauben, was sich da gerade vor ihrer Nase abspielte.

Vor weniger als einer halben Stunde ist ihr Flieger gelandet, sie durchlief die Kontrollen und rief ihre Mutter an, um dieser mitzuteilen, dass alles in Ordnung sei. Zu diesem Zeitpunkt war die Welt für Charlotte auch noch in Ordnung. Sie war heil angekommen und in einigen Tagen würde sie ihren ersten Tag von ihrem ersten Semester an der Uni verbringen. Ihr Vater hat die Universität, die sich in seiner Heimatstadt befand, so gelobt und hochgepriesen, dass Charlotte quer durchs Land reiste, um zu ihrem Vater umzuziehen und auf dieser Elite-Bildungsanstalt ihr Masterstudium zu absolvieren. Und um die Studiumskosten zu decken, hat sie den ganzen Sommer gearbeitet, anstatt wie ihre Freunde ausgiebig zu feiern und den Sommer zu genießen.

Aber es hat sich alles gelohnt, denn nun war es endlich bald soweit.

Erstmal musste sie aber zum Flughafenparkplatz, von wo ihre Halbgeschwister sie abholen und zu ihrem neuen Zuhause bringen sollten.

Charlotte überquerte also einige Fußgängerüberwege auf ihrem Weg zum Parkplatz, als plötzlich, wie aus dem nichts, ein weißer Cabrio um die Ecke schoss und direkt auf sie zuraste. Charlie sprang zurück und zog ihren Koffer mit sich, als das Auto schließlich eine Vollbremsung hinlegte. Die Reifen quietschen und das Fahrzeug kam zum Stehen nur wenige Zentimeter vor ihren Zehenspitzen. Charlottes Herz schlug ihr bis zum Hals und noch bevor sie sich fassen konnte, wurde die Beifahrertür mit einem Ruck aufgerissen. Die Tür traf Charlotte, die immer noch nah am Auto stand und diese stolperte rücklings und erschrocken aufschreiend zurück, fiel über ihren Koffer und landete hart auf dem Boden.

„Sag mal, spinnst du jetzt völlig?!“, schrie die Blondine, die Charlotte jetzt als ihre Halbschwester Isabelle erkannte. „Du hättest uns fast umgebracht!“

„Entspann dich, Belle, es ist doch nichts passiert“, kam es von Timothy beinahe schon gelangweilt zurück, während er lässig aus dem Fahrzeug stieg.

„Du bist verrückt, Tim!“, rief Isabelle komplett außer sich, worauf sie nur ein genervtes „Ja, ja...“ zu hören bekam.

Mit einer Wucht, die man von einem Mädchen wie Isabelle nicht erwartete, schlug sie die Beifahrertür zu, umrundete schnellen Schrittes das Cabrio und stieß Tim von der Fahrertür weg.

„Du fährst ganz sicher nie mehr mit meinem Auto!“, kreischte sie, während sie einstieg. „Schau, wie du alleine heimkommst!“

Mit diesen Worten, schmiss sie die Tür wieder zu und fuhr weg.

„Weichei!“, rief Timothy seiner wegfahrenden Schwester hinterher und lachte.

Dann endlich fiel sein Blick auf die immer noch am Boden kauernde Charlotte.

„Oh, hi!“, sagte er überrascht und beeilte sich ihr aufzuhelfen. „Ich hab gar nicht gesehen, dass du hier unten wartest.“

Charlotte starrte ihn fassungslos an, schüttelte den Kopf und ließ sich schließlich aufhelfen.

„Ich habe nicht hier unten gewartet. Ich stand aufrecht, bis Isabelle mich mit der Tür umgehauen hat, nachdem du mich beinahe überfahren hättest“, sagte Charlotte immer noch etwas benommen. „Fährst du im-“

„Ach, fang nicht du auch noch an!“, unterbrach Tim sie und winkte ab. „Komm, wir holen uns ein Taxi!“

Damit marschierte er sicheren Schrittes davon und Charlotte blieb nichts anderes übrig, als schnell ihren Koffer zu schnappen und ihm zu folgen.

In ihrem Kopf versuchte sie zu ordnen, was gerade passiert ist und schüttelte immer öfter den Kopf darüber. Ihr Halbbruder Timothy hat Charlotte beinahe überfahren. Dann hat Ihre Halbschwester Isabelle, anstatt Charlotte abzuholen, sie und Tim einfach aus einer Laune heraus am Flughafen ausgesetzt und ist weggefahren, ohne Charlotte auch nur zu beachten, geschweige denn ihr ein Wort zu sagen. Nun suchte Tim ein Taxi, dass sie beide in Charlottes neues Zuhause bringen sollte.

Charlotte seufzte tief und schwer, packte ihren Koffer fester und beeilte sich Tim einzuholen.

Na, wenn das neue Leben einen schon so empfängt, dann kann es ja nur noch bergauf gehen, dachte Charlotte hoffnungsvoll, während sie, endlich bei Tim angekommen, dem Taxifahrer ihren Koffer überreichte und in das Fahrzeug einstieg.

Kapitel 2

Doch leider ging es immer weiter bergab und Charlottes Hoffnung auf eine schöne Ankunft schwand mit jeder Minute immer mehr.

Während der gesamten Taxifahrt wechselte Timothy kaum ein Wort mit ihr, befasste sich aber deutlich lieber mit seinem Smartphone: tippte etwas, bekam eine Antwort, lachte und tippte wieder. Charlotte hatte große Lust einfach ihre Kopfhörer herauszuholen und Musik zu hören, traute sich jedoch nicht, da sie befürchtete unhöflich zu erscheinen. Deshalb saß sie einfach still da und schaute aus dem Fenster. Langsam dämmerte es.

„Was studierst du gleich nochmal?“, fragte Tim, wie aus dem nichts.

Charlotte warf ihm einen überraschten Blick zu, freute sich aber über die Frage oder eher darüber, dass er sie endlich ansprach.

„Wirtschaftsinformatik, und du und Isabelle studiert beide Wirtschaftswissenschaften oder?“

Doch statt einer Antwort nickte er und widmete wieder seine volle Aufmerksamkeit dem Handy zu.

Charlotte seufzte und wandte sich ab.

„Im ersten Semester, oder?“, wollte Tim wieder wissen.

Diesmal war Charlottes Blick misstrauisch.

„Schau nicht so, Charlie, ich erzähle gerade meinen Kumpels von dir.“, erklärte er. „Also im Ersten?“

Das beruhigte Charlotte aber keinesfalls, ganz im Gegenteil, es verunsicherte sie sogar.

„Ja, im ersten Semester des Masterstudiums. Was erzählst du denn so?“

„Ach, nichts Besonderes...“

Dann war er wieder voll und ganz von seinem Handy eingenommen und egal wie sehr Charlotte versuchte unauffällig auf seinen Bildschirm zu gucken, sie konnte nichts erkennen außer einem ganzen Haufen lachender Smileys. Das beunruhigte sie noch mehr.

„Du bist ja zwei Jahre jünger als Isabelle und ich, also vierundzwanzig?“, erkundigte sich Tim wieder beiläufig.

Diesmal gab Charlotte keine Antwort, tat so als hätte sie ihn nicht gehört. Tim schien es auch nicht zu stören, denn die Frage war mehr rhetorisch gemeint. Er wusste ja, wie alt Charlotte ist.

Das war nicht so schwer sich zu merken, vorausgesetzt er wusste wann ihr Vater seine Familie verlassen hat und mit Charlottes Mutter eine neue gründete. Das war vor 25 Jahren. Ein Jahr darauf ist Charlotte zur Welt gekommen.

Man kann nicht sagen, dass sie wenig mit ihren Halbgeschwistern zu tun hat, aber man kann auch nicht sagen, dass es sonderlich viel ist. Geburtstage, Feiertage, Ferien verbrachten sie immer gemeinsam. Sogar als ihr Vater dann Charlottes Mutter vor fünf Jahren verließ, haben die Kinder sich immer noch oft genug gesehen. Sie hatten kein besonders enges Verhältnis zu einander, aber hassten sich auch nicht.

Dachte Charlotte zumindest.

Bis sie beim Anwesen ihres Vaters ankamen.

Belles, Tims und Charlies Vater war ein sehr reicher Mann. Das Haus oder besser die Villa, die er sich in der Nähe der Elite-Universität vor einigen Jahren angelegt hat, mit der Absicht seine zukünftig studierenden Kinder hier unterzubringen, war riesig. Allein das imposante, hochkarätig gesicherte Tor jagte Ehrfurcht ein. Die Einfahrt und der Vorgarten waren ebenfalls mehr als nur einen Blick wert. Eine Fontäne war in der Mitte der runden Einfahrt angebracht, um die das Taxi gerade fuhr. Der Taxifahrer sah ebenfalls wie Charlotte sehr überwältigt aus.

Ach was, überwältigt war kein Ausdruck dafür.

Doch dann, als das Fahrzeug stehen blieb und Charlotte ausstieg, während Tim den Fahrer bezahlte, stürmte bereits zum zweiten Mal an diesem Tag ein blondes Mädchen auf sie zu.

„Charlotte!“, rief Isabelle aus und zwar so, dass Charlotte tatsächlich nicht definieren konnte, ob es denn jetzt nun erfreut oder bestürzt gemeint worden war. „Ich helfe dir!“

Mit diesen Worten riss sie Charlies Koffer aus den Händen des Taxifahrers und steuerte direkt auf die Haustür zu.
„Bist du gut angekommen?“, fragte Belle.

„Ja, weißt du, eigentlich schon, bis auf die Tatsache, dass Tim mi-“

„Na, das klingt doch sehr gut!“, fiel ihr ihre Halbschwester ins Wort, als sie die Eingangshalle durchquerten und die Treppe in den zweiten Stock nahmen. „Dir wird es hier gefallen. Vater ist nie da, ständig auf Geschäftsreisen und wir haben völlige Freiheit.“

Charlotte verstummte, während Isabelle weiter quatschte und ihr erzählte, dass hier in der Stadt durch die Uni viele junge Leute wohnen und die Gegend in der sich ihre Villa befand, die beste Gegend der Stadt war. Charlotte hatte ja beinahe schon vergessen, wie gern ihre Schwester sich selber sprechen hörte. Isabelle wollte immer im Mittelpunkt stehen, aber Charlotte konnte damit umgehen. Denn nichtsdestotrotz war Isabelle ein sehr liebenswürdiges Mädchen.

Sie blieben in einem langen Gang mit Türen rechts und links von ihnen stehen. Isabelle deutete auf eine davon und sah Charlotte prüfend an.

„Hast du zugenommen?“, fragte sie und ließ ihren Blick über Charlottes Körper wandern.

Charlotte lachte und hielt die Aussage für ein Späßchen unter Geschwistern, aber nachdem Belle nicht mitlachte, verstummte sie.

„Es tut mir leid, Charlotte, aber du solltest mehr Sport treiben. Und andere Klamotten würden auch nicht schaden. Du kannst dich doch nicht so gehen lassen…“

Zum ersten Mal an diesem Tag schenkte Charlotte Isabelles Klamotten Beachtung. Schwarzer Glockenrock, weiße, zugeknöpfte Bluse mit einer schwarzen Schleife am Hals und schwarze, klassische Heels. Ihre blonden Haare waren ebenfalls mit einer schwarzen Schleife in einen hohen Pferdeschwanz gebunden.

Charlotte selbst trug blaue Jeans, Chucks und ein weißes T-Shirt . Sie ist ja gerade aus dem Flugzeug gestiegen, ganz abgesehen davon, dass das was sie anhatte, Charlotte selbst, als hübsch empfand. Lässig und einfach, aber trotzdem hübsch.

Statt einer Antwort hob Charlotte also zweifelnd eine Augenbraue und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Soll das ein Scherz sein, Belle? Denn witzig finde ich ihn nicht gerade!“

Isabelle verdrehte die Augen.

„Charlie, es geht auf dieser Uni etwas anders zu als auf deiner letzten! Ich meine es doch nur gut mit dir, ich habe hier mein ganzes Studium verbracht.“

„Belle, was redest du da für ein Quatsch!?“, platzte es aus Charlotte raus. „Was soll das bitte heißen, es geht da anders zu?“

„Das wirst du schon noch mitbekommen, aber ich werde dir helfen! Du bist mein neues Projekt!“

Sie bedachte Charlotte mit einem letzten aufmunternden Blick, dann deutete Sie auf eine Tür und stellte Charlottes Koffer vor dieser ab. Als sie ging, schüttelte die verwirrte Charlotte den Kopf, beschloss aber mal Tim darauf anzusprechen. Irgendetwas stimmte mit Isabelle nicht, so war sie früher nicht.

Seufzend schnappte Sie ihren Koffer und öffnete die Tür zu ihrem Zimmer.

Man merkte sofort, dass ihr Vater das Zimmer für sie hat einrichten lassen. Farblich ähnelte es ihrem Zimmer, das sie vor acht Jahren hatte, als Vater noch mit Mutter zusammengelebt hat, vor der Scheidung. Es war komplett in schwarz-weiß-grau möbliert. Weiße Wände, weißes Sofa mit schwarz-weißen Kissen. Grauer Schrank mit weißen Schiebetüren und weißer Schreibtisch mit einem schwarzen Büro-Drehstuhl. Darauf mit einer roten Schleife verziert stand ein nigelnagelneuer PC, der ebenfalls schwarz war, genauso wie der Flachbildfernseher, der gegenüber vom Sofa auf der Wand hing. Den einzigen Farbakzent stellte das weiße Bett dar, das mit bordeauxroter Bettwäsche bezogen war.

Charlotte ließ den Anblick auf sich wirken. Am meisten begeisterte sie jedoch das große Panoramafenster, das einen Ausblick über den gesamten Garten bot. Dann fiel ihr eine Tür auf und noch bevor sie diese öffnete wusste sie bereits, dass das ihr persönliches Bad war. Aus den Zeiten, als Vater noch bei Charlotte und ihrer Mutter wohnte, erinnerte sie sich noch sehr deutlich daran, dass ihr Vater eine Schwäche für Badezimmer hatte. Charlotte hat nie verstanden warum, aber ihr Vater war der Meinung, dass es in einem Haus nie genug Badezimmer geben konnte. Sie grinste leicht vor sich hin. Das Bad war ganz anders als ihr Zimmer eingerichtet. Um es bildlich zu beschreiben: Es sah aus, als wäre Barbie in ihr Badezimmer gezogen. Weiße Eckwanne, rosa Fußteppich, weißes Waschbecken, rosa Zahnbürste, weiße Toilette, rosa WC-Deckelbezug – 'Wie bitte?! WC-DECKELBEZUG? Wer hat den so etwas bitte noch?!'.

Charlotte drehte sich um und wollte das Bad verlassen, als ihr ein Häkchen auffiel, auf dem ein rosa Bademantel hing. Wieder konnte sie sich einen Lacher nicht verkneifen. Also die Gedankengänge ihres Vaters, waren ihr wie so oft unklar. Sie war zwar die Jüngste der Familie, aber sie war auch keine zwölf mehr. Trotzdem empfand Charlotte die ganze Mühe ihres Vaters, als eine schöne Geste. Nach einem so miserablem ersten Tag, war sie froh in diesem liebevoll eingerichteten Zimmer zu sein.

Sie beschloss diesen Tag auch so schnell wie möglich zu beenden, wollte nur noch ihren Koffer auspacken und schlafen gehen. Einige ihrer Klamotten hatte sie bereits im Voraus transportieren lassen. Diese hingen nun in ihrem großen Schrank ordentlich gestapelt und aufgehängt. Auch ihre Schuhe waren auf dem Schuhständer farblich sortiert. Doch am Ende der Reihe stand ein ihr unbekanntes Paar. Charlotte nahm sie in die Hand. Es waren schlichte schwarze Stiefeletten mit einer roten Sohle, aber das Wort 'teuer' konnte man ihnen genauestens ansehen. In einem Schuh steckte eine kleine Nachricht, auf weißes Briefpapier geschrieben. Die verschnörkelten Buchstaben erkannte Charlotte sofort. Sie hatte sie oft genug auf Weihnachtskarten gesehen: es war Isabelles und Tims Mutter Adelaide.

 

„Aschenputtel ist der beste Beweis dafür, dass ein neues Paar Schuhe das Leben verändern kann. Willkommen, Charlotte, dein Vater und ich wünschen dir viel Glück in diesem neuen Abschnitt deines Lebens!

In Liebe,

Adelaide und Charles Piper“

 

Charlotte las die Nachricht drei Mal, bevor sie diese weglegte, ihre Sneakers auszog und ihr Geschenk anprobierte. Diesmal war sie sich sicher, dass diese Überraschung speziell von ihrer Stiefmutter für sie ausgesucht worden ist. Nachdem Charlottes Vater ihre Mutter verlassen hat, kam er seiner ersten Ex-Frau, der Mutter von Belle und Tim, wieder näher. Seitdem sind jetzt einige Jahre vergangen, Charles hat wieder Adelaide geheiratet und Charlotte hat gelernt damit umzugehen. Sie kam mit ihrer Stiefmutter ganz gut zurecht.

Charlotte entdeckte einen Spiegel der an der Wand neben dem Schrank angebracht war und betrachtete sich in ihren neuen Schuhen. Der Anblick gefiel ihr ganz gut, doch bereits nach einigen Minuten musste sie zur ihrer Enttäuschung feststellen, dass, teuer oder nicht, hohe Schuhe eine Qual für ihre Füße waren. Zuhause hat sie sich gewünscht öfter die Möglichkeit zu haben, High Heels anzuziehen, aber diese Gelegenheit bot sich selten. Doch hier hatte sie jetzt die Chance, so wie Isabelle, immer auf hohen Schuhen unterwegs zu sein.

Nachdem sie aber die Heels wieder auszog und in ihre Chucks schlüpfte, war sie gar nicht mehr so angetan von der Idee die hohen Hacken öfter als nötig anzuziehen. Charlotte stellte ihr Geschenk also zurück ins Regal und hob die Nachricht ihrer Stiefmutter vom Boden auf. Erst da fiel ihr auf, dass die Rückseite ebenfalls beschrieben war.

 

„Trage sie an deinem ersten Tag auf der Uni! Glaub mir, nichts ist wichtiger, als ein richtiger, erster Eindruck!

Adelaide“

 

Charlotte runzelte die Augenbrauen.

'Was haben hier nur alle mit dem Äußerem?', fragte sie sich. 'Ich will doch nur mein Studium fertigbringen!'

Aber sie war mehr dazu geneigt auf Adelaides Worte zu hören, als auf Isabelles. Deshalb beschloss sie zumindest darüber nachzudenken, die geschenkten Schuhe am ersten Tag zu tragen.

Aber all das musste sie erstmal zurückstellen und ein bisschen schlaf bekommen.

Sie ließ ihre Klamotten also erstmal im Koffer liegen, holte sich nur ein altes T-Shirt, dass sie zum Schlafen verwendetet und warf sich aufs Bett.

Doch so sehr sie sich auch bemühte, konnte sie nicht einschlafen. Sie war so in Aufruhr von den ganzen neuen Eindrücken, dass es unmöglich war zu schlafen. Irgendwann nachdem gefühlt zwei Stunden vergangen sind, richtete sich Charlotte auf und beschloss noch einen Spaziergang zu machen. Sie zog den erstbesten Pullover aus dem Schrank, schlüpfte in dieselbe blaue Hose von vorhin und verließ ihr Zimmer.

Sie folgte demselben Weg folgend, den Belle ihr gezeigt hatte. Über den langen Flur, dann die Treppe nach unten, durch die Eingangshalle. Charlotte spazierte heraus, durchquerte den Vorgarten zum Tor und schlüpfte heraus auf die Straße.

Sie stellte erst jetzt fest, dass ihr neues Zuhause von weiteren riesigen Villen umgeben war. Wie es aussah, wurde dieser Stadtteil auf einem Berg gebaut, sodass Charlotte erstmal den ganzen Weg hinunterlaufen musste, bis endlich kleinere Häuser in Sicht kamen, und war heilfroh über ihre flachen Schuhe. Sie dachte an Isabelle und wie sie wohl in ihren Stöckelschuhen diesen Berg erklimmen würde, dann fiel ihr jedoch ein, dass Belle wahrscheinlich ausschließlich mit ihrem Auto unterwegs war und schüttelte zum wiederholten Male an diesem Tag den Kopf über ihre Halbschwester.

Im Vorbeigehen, bemerkte Charlotte ein kleines Café. Es war klein, sah jedoch sehr einladend aus. Auf der Terrasse vor dem Eingang stand schnuckelige Holzgarnitur und das ganze wurde von einem hüfthohen Zaun eingegrenzt, der durch und durch mit Ranken und Blättern und Blumen verziert war. Kurz fragte sie sich ob das Café wohl offen hatte, aber dem Kerzenlicht zufolge, das aus dem Inneren drang, nahm sie an, dass es trotz der späten Stunde nicht geschlossen hatte..

Charlotte überlegte nicht lange und beschloss ihre Zeit genau hier zu vertreiben. Sie betrat das Café und stellte sich an die Theke. Während Sie wartete, bis irgendjemand sie ansprach, sah sie sich um. Auch drinnen war das Café absolut reizend. Die Möbel, sowie der Boden waren aus dunklem Holz und an den Fenstern hingen schwere, dunkelrote Vorhänge. Alles in einem war die Atmosphäre sehr behaglich und angenehm. Es gab Sofas aus dunklem Leder, Ornamente an den Wänden und dunkelgrüne oder bordeauxrote Tischdecken. Das Kerzenlicht tauchte alles in ein warmes Licht. Nun verstand Charlotte auch, wieso ein Café so spät noch offen hatte – Cocktails. Jeder Gast hatte einen in der Hand oder auf dem Tisch, also schien das Café auch einen Bar zu sein.

„Möchtest du was bestellen?“, fragte die blonde Kellnerin, die plötzlich neben Charlotte auftauchte.

„Wäre nicht schlecht, ja“, grinste Charlotte sie an. „Bringst du mit bitte einfach ein Glas Weißwein, trocken, und vielleicht irgendetwas zum Naschen dazu…“

„Oliven, vielleicht?“, fragte die Kellnerin.

„Perfekt!“, antwortete Charlotte und grinste abermals.

Die Blondine schrieb sich alles auf, nickte und verschwand mit einem Lächeln.

Während sie auf ihre Bestellung wartete, sah sich Charlotte weiter um. Aus dem Fenster sah sie ein paar Spaziergänger vorbeiflanieren, Gassigeher, Pärchen genossen den warmen Abend. Im Café saßen außer Charlotte selbst, viele Jugendliche, aber auch viele in Ihrem Alter oder älter. Vier junge Mädchen saßen mit Ihren bunten Cocktails und warfen einer Jungsgruppe gegenüber kichernd Blicke zu. Ein Mann im Anzug, der etwas in seinen vor ihm ausgebreiteten Unterlagen notierte, zwei Frauen in den Dreißigern, die an der Bar saßen und einen Tequila-Shot nach dem anderem kippten und noch ein weiterer Mann, der wiederum etwas sehr heftig in sein Smartphone tippte. Charlotte schmunzelte, holte selber ihr Smartphone raus und schrieb eine Nachricht an ihre Mutter.

Dann kam auch schon die Bestellung. Nachdem Charlotte den ersten Schluck von ihrem Wein trank, klingelte ihr Handy. Sie setzte das Glas vorsichtig ab, aß eine Olive und ging dann ran. Es war ihre Mama.

„Warum bist du so spät wach?“, begrüßte Natalie sie.

„Ich weiß es auch nicht, konnte nicht einschlafen. Mama, du wirst es nicht glauben, wie sich Isabelle mir gegenüber verhält!“, legte Charlotte auch gleich los. „Bei der Ankunft hat sie mir verkündet, dass ich zugenommen habe, Sport machen soll und dass ich ihr neues Projekt bin!“

„Warum das denn?!“, wollte Natalie wissen.

Charlotte erklärte es ihrer Mutter, während diese immer wieder ungläubig die Luft einzog.

„Und dann entdeckte ich noch ein Geschenk von Adelaide: High Heels! Sag mal, will mir diese Familie etwa mitteilen, dass ich beschissen aussehe?!“, lachte Charlotte bitter.

„Charlie, mach dir einfach nichts draus, sei einfach wie immer du selbst, dann wird schon alles.“

Doch das munterte Charlotte nicht auf.

„Erzähl mir lieber etwas anderes, wie ist die Stadt so? Willst du einen Job finden? Wann fängt die Uni an?“, lenkte ihre Mutter ein, um Charlotte abzulenken.

„Von der Stadt habe ich noch nichts gesehen, über einen Job hab ich mir auch noch keine Gedanken gemacht, die Uni fängt am Montag an.“, antwortete die verstimmte Charlotte kurz angebunden.

Sie telefonierte nicht mehr lange mit ihrer Mutter, legte bald auf und da sie durch das Gespräch und die Erinnerung jegliche Lust verloren hatte, wieder nach Hause zurück zu kehren, versuchte sie sich so lange wie möglich mit ihrer Bestellung zu befassen. Doch selbstverständlich konnte sie nicht ewig an ihrem Wein nippen, also bestellte sie noch ein Glas und noch eins… und als sie fertig war und gut angetrunken noch dazu, winkte sie seufzend die Kellnerin zu sich.

„Ich würde gerne zahlen.“, sagte Charlotte und wartete auf die Rechnung, doch diese kam nicht. Stattdessen, grinste die Blondine, die sie bediente, sie an:
„Für dich wurde schon bezahlt!“, gab sie fröhlich zurück.

„Wie?“

„Schätzchen, du musst nicht zahlen, denn deine Bestellung wurde bereits übernommen.“, wiederholte sie langsam und wollte sich schon zum Gehen wenden.

„Von wem?“, rief Charlotte ihr hinterher und griff nach ihrer Hand, verfehlte jedoch und fiel beinahe hin.

„Oh, Schätzchen, hast du etwas zu tief ins Glas geschaut?

Charlotte schüttelte den Kopf und lachte etwas dümmlich. Sie schaute Charlotte mitleidig an, überlegte kurz, blickte auf ihre Uhr und seufzte.

„Wo wohnst du denn?“

Wild gestikulierend erklärte ihr Charlotte, dass sie den Berg hinaufgehen musste.

Die Blondine seufzte wieder und legte dann ihr Schürze ab.

„Nick, ich mache Pause und bringe das Mädchen hier kurz heim. Bin in einer viertel Stunde wieder da!“

„Oh, das ist ja so lieb von dir!“, lallte Charlotte und sah die Blondine begeistert an.

„Jaja, komm…“

Die Kellnerin zwang Charlotte auf die Beine und verließ mit Ihr das Café. Die frische Luft tat gut und Charlotte fühlte sich gleich etwas klarer.

„Wie heißt du?“

„Cat“, antwortete die Blonde kurz angebunden.

„Cat wie die Katze?“, lachte Charlotte.

„Wenn ich ein Euro bekommen würde, jeden Mal wenn ich das höre…“ schmunzelte Cat. „Eigentlich heißte ich Catherine, aber das ist den meisten zu lang. Cathy ist zu süß, also – Cat!“

„Aaah, verstehe.“, meinte Charlie und ließ sich den Namen kurz auf der Zunge zergehen. „Cat… Ja, doch, passt gut zu dir.“
Cat lächelte.

„Und wie heißt du, du betrunkenes Stück?“

„Ich bin nicht betrunken, ich hatte einen schwierigen Tag…“, antwortete Charlie. „Ich heiße Charlotte und leider habe ich keine so coole Abkürzung für meinen Namen, aber du kannst mich Charlie nennen.“

„Alles klar, Charlie, und warum hattest du einen schwierigen Tag?“

Charlie seufzte und ließ den Kopf theatralisch hängen. Dann fing sie an zu erzählen. Hin und wieder warf Cat einige Fragen rein.

„Ach, du gehst auch auf die Van-Hamilton-Hochschule? Ich auch, ich mache Master in Psychologie.“, meinte Cat.

Voller Erleichterung saß Charlie sie an.

„Na, dann bin ich nicht alleine…“

„Ich glaub nicht, dass du es ohne mich wärst…“ erwiderte Cat und deutete auf das große Tor. „Nicht, wenn du da wohnst…“

Sie näherte sich dem Tor und sah auf das Namensschild.

„Piper?!“, stieß sie aus und sah Charlie halb überrascht, halb entsetzt an. „Du siehst nicht aus wie eine Piper…“

„Wie meinst du das?“

„Na, wo ist denn das überhebliche Getue und das goldblonde Haar?“, lachte Cat.

Charlie griff sich an ihre roten Locken und sah Cat fragend an.

„Du kennst Belle und Tim?“, fragte sie verunsichert.

„Belle und Tim? Nein, ich kenne nur Isabelle-Du kannst nicht mit uns am Tisch sitzen-Piper und Timothy-Ich schnapp sie mir alle-Piper.“

Cat lachte über den entgeisterten Gesichtsausdruck von Charlie.

„Tja, scheint ja fast so als wären sie daheim anderes.“, meinte sie dann.

„Tatsächlich so schlimm?“, fragte Charlie.

„Naja… du wirst es früh genug erfahren.“, dann blickte Cat auf die Uhr und schnappte nach Luft. „Ich muss längst wieder in der Arbeit sein. Gib mir schnelle deine Nummer mal!“

Immer noch sehr verunsichert diktierte Charlie ihre Nummer, während Cat sie sich ins Smartphone notierte.

„Die Uni fängt erst in einigen Tagen an, wir können uns ja mal treffen und ich erzähl dir genaueres!“

Charlie nickte, dann drehte sich Cat um und lief den Berg hinunter, als Charlie etwas einfiel.

„Warte! Wer hat den nun für mich bezahlt?!“

Cat blieb stehen und sie sah sie aus der Entfernung grinsen.

„Glaube mir, du wirst auch das noch früh genug erfahren!“

Dann rannte sie weiter.

Charotte seufzte müde und ging vor dem Tor in die Hocke. Auf einmal schien ihr hier alles nicht mehr so klasse…

Nochmal seufzend erhob sie sich und betätigte die Klingen, den einen Schlüssel hatte sie noch nicht. Zu ihrem Glück schien noch jemand wach zu sein, denn das Tor gab ein Geräusch von sich und ging sofort auf, also vermutete Charlotte, dass es noch eine versteckte Kamera gab, durch die man sehen konnte, wer vor dem Tor stand.

Doch als sie dann das Haus betrat, wurde sie von niemanden begrüßt. Niemand kam und erkundigte sich nach ihr und Charlotte wurde von einer Melancholie gepackt. Wie gern sie jetzt zuhause bei ihrer Mutter wäre.

Sie lief traurig und alleine in ihr Zimmer, legte sich auf ihr großes Bett und sah auf die Decke. Sie dachte über den Tag nach, bis ihre Augen beinahe zufielen.

„Neuer Tag, neues Glück!“, sagte sie zuletzt wie ein Mantra zu sich selbst und schloss dann ihre Augen.

 

Kapitel 3

 

Doch neues Glück war Charlotte auch am nächsten Tag nicht vergönnt geblieben.

Sie wachte recht früh auf, hatte Kopfschmerzen und wusste nicht, was sie machen sollte. Im ganzen Haus war es still und sie wollte niemanden wecken. Sie beschloss also ihre Sachen auszupacken, doch damit war sie ebenfalls im Nu fertig und als sie auf die Uhr saß, zeigte diese, dass erst zehn Minuten vergangen sind. Also ging sie ins Badezimmer um ein langen Bad in ihrer Eckbadewanne zu nehmen.  Charlotte wusch ihre Haare, rasierte sich, cremte sich ein, schminkte sich und trotzdem war sie früher fertig, als sie es gehofft hat. Das Haus war immer noch in einer ruhige Stille getaucht.

Charlotte zog sich an. Die Worte von Isabelle vom Vortag drehten sich ständig in ihrem Kopf herum.

„Du hast dich gehen lassen!“

'Was bildet sich diese Schnepfe eigentlich ein, wer sie ist?!', dachte Charlotte wütend und suchte sich ein schönes, Blumenkleid aus, das für Charlottes Geschmack zwar etwas zu knapp für den Alltag war, aber sie war erpicht drauf Isabelle zu beweisen, dass sie niemand ist, für den man sich schämen muss. Sie ertappte sich beim Gedanken, dass sie Isabelle nur eins auswischen möchte und schämte sich selber sogleich dafür. Eigentlich empfand Charlotte solche Machtspielchen als kindisch, konnte aber nichts mit sich machen, als drauf einzusteigen. Sie fühlte sich ja beinahe schon verpflichtet Isabelle zu zeigen, dass sie unrecht hatte.

Es war noch angenehm warm draußen, nur nachts wurde es kälter, also zog Charlotte ein Jeansjäckchen über das Kleid an und dazu bunte Chucks, die farblich zu den Blumen auf dem Kleid passten. Wenn sie ihre Mähne Lufttrocknen ließ, lockten sich ihre Haare, was Charlottes Meinung nach gut zu dem lockeren Kleid passte.

Sie drehte sich vor dem Spiegel und fühlte sich frisch und hübsch. Mit einem Lächeln verließ sie ihr Zimmer.

Auf dem Weg zum Wohnzimmer blickte sie auf ihr Handy und entdeckte eine neue Nachricht von einer unbekannten Nummer.

Hoffe dir geht es nicht allzu schlecht, trinkende Nicht-wirklich-Piper. Kaffee heute?

-Cat

 

Dann fiel Charlotte der Abend ein und sie schlug sich peinlich berührt die Hand auf die Stirn. Ihre erste Bekanntschaft hier hat sie betrunken erlebt. Sie speicherte sich Cats Nummer ein und antwortete: Klar, wann und wo?

Im Wohnzimmer angekommen sah sie sich erstmal um. Abgesehen von der Treppe zu den Schlafzimmern, führte hier eine Treppe nach unten und mehrere Türen in andere Räume. Sie öffnete die erste und fand sich in einer Art Bibliothek oder Arbeitszimmer wieder. So sehr Charlotte auch Bücher mochte, war sie gerade nicht in der Lage, sich diese genauer anzugucken. Sie schloss die Tür und ging zur nächsten. Diese löste schon mehr Freude in ihr auf: Esszimmer. Also war die Küche, die sie eigentlich suchte nicht weit entfernt. Vom Esszimmer, das von einem großen Glastisch für 14 Personen dominiert wurde, führte noch eine Tür raus. Einer Eingebung folgend öffnete Charlotte diese und war endlich zufrieden. Es war die Küche. Ein riesiger Raum, in dem problemlos zehn Leute gleichzeitig arbeiten könnten, ohne einander zu stören.

Im Kühlschrank fand sie eine Auswahl an Säften und Schorlen. Sie entschied sich für einen Tomatensaft, weil sie mal irgendwo gelesen hat, dass er bei Übelkeit und Kater half. Dem war leider nicht so, also unterdrückte Charlie die immer weiter aufsteigende Übelkeit und schenkte sich Wasser aus dem Wasserhahn ein. Daran nippend entdeckte sie noch mehr Türen, die aus der Küche führte. Eine davon führte wieder ins Wohnzimmer, aber auf dem direkten Wege, die andere nach draußen in einen Teil des Gartens. Charlie nahm schließlich die Letztere und trat hinaus.

Es wehte eine kühle Brise, aber die Sonne schien bereits am Himmel und versprach einen warmen Herbsttag. Dieser Teil des Gartens hatte Bäume zu bieten, im Gegenzug zu dem Vorgarten, durch den sie gestern gelaufen ist. Dort waren nur ordentliche Büsche und Blumen. Hier hatte man etwas Schatten und zwischen zwei Bäumen hing sogar eine Hängematte, die Charlie gleich in Anspruch nahm.

Mit ihrem Glas Wasser in der Hand legte sie sich in diese rein und seufzte tiefenentspannt. In der Wärme der Sonne schloss sie genüsslich die Augen und merkte selbst nicht wie sie einnickte…

 

Charlotte wachte auf, als sie eine Berührung an ihrer Hand spürte. Sie riss erschrocken die Augen auf und blickte direkt in ein blaues Augenpaar. Aus einem Impuls heraus versuchte sie zurück zu weichen, was auf einer Hängematte schlecht ging und fiel fast rückwärts auf den Boden. Zu ihrem Glück reagierte ihr gegenüber schnell und hielt sie an den Schultern fest, sodass sie sicher in ihrer Hängematte blieb.

Einen Moment lang atmete sie still, erkannte ihren Retter, holte tief Luft und schrie.

„Ben!!!“

Er prustete los und ließ von ihren Schultern ab.

„Du hättest dich sehen sollen, Charlie! Ein Bild für Götter!“

Charlie verzog den Mund, verdrehte die Augen und schubste Ben von sich weg.
„Schleich dich doch nicht so ran!“

„Ich wollte nur das Glas aus deiner Hand nehmen und es abstellen. Du bist mit dem Glas Wasser in der Hand eingeschlafen.“

Charlotte sah auf das Glas in seiner Hand, dann beruhigte sie sich etwas und steckte Hilfesuchend eine Hand nach Ben aus, damit er ihr aus der Matte helfen konnte. Das tat er auch, nachdem er ihre Hand ergriffen hat und sie rauszog.

„Was machst du hier?“, fragte sie dann, während sie beiläufig ihr Kleid glattstrich. Ihre Kopfschmerzen waren endlich verschwunden.

„Ich besuche Tim, wir wollten später noch ein bisschen Tennis spielen.“, antwortete er und sah Charlotte eindringlich an. „Du und Belle könnt euch gerne anschließen.“

Charlotte nahm ihm das Glas aus der Hand und deutete fragend mit dem Kopf Richtung Haus. Er nickte und zusammen liefen sie zurück.

„Ich weiß nicht… Ich bin gerade nicht so gut aus Belle zu sprechen…“, da fiel ihr Cat ein und sie zog ihr Handy aus der Jackentasche. Cat hatte geantwortet: Ich hol dich um 15 Uhr ab.

„Abgesehen davon hat sich bei mir eben was ergeben.“, schloss Charlie ab.

„Du bist nicht gut auf Belle zu sprechen?“, hackte Ben nach.

„Hmm… sie hat sich gestern so komisch aufgeführt, meine ich habe mich gehen lassen und so weiter…“

Ben blieb stehen, sodass Charlotte ebenfalls überrascht innehielt. Er blickte sie eindringlich an.

„Na, wo Belle Recht hat…“, lachte er schließlich.

Charlotte verpasste ihm gespielt sauer einen Stoß und lachte, wenn auch leicht bitter.

„Charlie,“, fuhr Ben dann fort, als sie sich wieder in Bewegung setzten und er ihr die Tür zur Küche aufhielt. „Belle hatte ein schwieriges letztes Unijahr hinter sich, sei etwas nachsichtiger mit ihr…“

Charlie betrat die Küche und sah ihn dann überrascht an. Ben kannte sie schon eine Ewigkeit, als sie jünger war, war sie auch schrecklich in ihn verknallt. Wie ungefähr jedes Mädchen, das ihn kannte. Mit seinen blauen Augen und dem dunkelblonden Haar, oben länger, an den Seiten kürzer, dem Drei-Tage-Bart und diesen breiten Schultern… Charlie musste sich zwingen den Blick von seinen muskulösen Oberarmen loszureißen, die in dem Jeanshemd mit hochgekrempelten Ärmeln gut zur Geltung kamen. Mittlerweile ist der hübsche Junge, den sie durch ihre Zwillingsgeschwister kannte, zu einem attraktiven Mann herangewachsen. Sie haben als Kinder viel miteinander zu tun gehabt, heutzutage sah Charlie ihn ein oder zwei Mal im Jahr, wie zum Beispiel an Belle und Tims Geburtstag. Dennoch ging er immer recht vertraut mit ihr um, was Charlie immer wieder überraschte.

Sie räusperte sich.

„Was meinst du denn mit schwierig?“

Ben kam näher und senkte seine Stimme.

„Ich weiß nicht, ob ich es dir erzählen sollte, aber Isabelle lag wegen Magersucht im Krankenhaus…“

„Magersucht!?“, unterbrach ihn Charlotte etwas zu heftig und schlug sich die Hand auf den Mund.

„Ja…“, meinte Ben und ließ den Blick senken. „Alles, wie es scheint, wegen so einem Typen.“

„Oh mein Gott!“, stieß Charlotte aus. „Das wusste ich nicht!“

Sofort bekam sie ein schlechtes Gewissen, weil sie so schlecht über ihre Schwester gedacht hat. Sie hätte es eigentlich besser wissen müssen, dass Belle nicht grundlos von einem netten, familienbewussten Mädchen zu einer blöden Kuh mutiert. Dennoch war das, Charlies Meinung nach, kein Grund ihre schlechte Laune an ihr auszulassen.

„Jetzt weißt du es, Charlie. Sei nett zu ihr!“, schloss Ben das Thema ab.

Charlie wollte ihn eben nach mehr Details fragen, als Tim die Küche betrat.

„Oh, Lottie, du bist ja daheim!“, rief er überrascht aus, während er die Kaffeemaschine anlaufen ließ.

„Wo sollte ich denn sonst sein, Tim?“, erwiderte Charlotte und verschränkte unzufrieden die Arme „Nenn mich nicht so!“

„Du warst gestern Abend weg und ich hab nicht mitbekommen, dass du wieder zurück bist. Dachte du hast dir schon einen Stecher gefunden!“, lachte Tim.

„Stecher…“, Charlotte ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. „Keine schöne Bezeichnung!“

„Gefällt die Freier mehr?“

Tim war scheinbar gut gelaunt, aber Charlotte hatte nicht die geringste Lust mit ihm über den möglichen Fall des Auswärtsschlafens bei einem Typen zu reden. Bruder mag Bruder sein, aber er muss nicht alles wissen und das sollte er schon jetzt merken.

„Ich wünsche euch viel Spaß heute, ich muss jetzt leider los. Bis später, Tim, bis morgen in der Uni, Ben!“

„Moment, Charlie, Vater hat mich gebeten dir einen Schlüssel anzufertigen. Hier, bitte.“,

Tim überreichte ihr einen silbernen Schlüssel, sie nickte dankend und winkte dann den Jungs zu.

Sie verließ die Küche Richtung Wohnzimmer, dort nahm sie die Treppe in ihr Zimmer. Ein Blick auf die Uhr ließ sie wissen, dass es kurz vor drei war, also holte sie sich nur noch ihren Geldbeutel aus dem Zimmer, stopfte ihn in eine kleine Tasche zusammen mit ihrem neuen Schlüssel und ihrem Handy und machte sich auf den Weg zum Tor.

Cat wartete schon, als sie aus dem Tor hinaustrat. Sie saß auf dem Bordstein, in einer hochgekrempelten Taillenjeans-Jeans, roten Sandaletten und einem roten Kurzpulli, der eine schmale Spur von ihrem Bauch offenließ. Ihr schulterlanges weißblondes Haar war heute offen und umrahmte ihr Gesicht in leichten, unordentlichen Wellen.

Als sie sie erblickte, stand sie auf, klopfte sich ab und grinste.

„Na, betrunkenes Stück, geht’s dir gut?“

„Nenn mich nicht so!“, lachte Charlotte. „Entschuldige, dass ich mich gestern so peinlich benommen habe und danke fürs Heimbringen.“

Cat winkte bloß ab.

„Jeder hat mal einen schwierigen Tag. Jetzt lass uns erstmal ins Café unten gehen, oder?“

Charlotte nickte und die Mädels machten sich auf den Weg.

Es wurde viel gelacht, Cat stellte Charlotte Nick vor, den Chef von dem Café. Er war Mann Mitte dreißig, dessen Lebenstraum es immer war, eine Bar zu haben und er hat sich ihn endlich erfühlt. Cat erzählte ihr von der Uni, wie Isabelle die selbsternannte Königin sei und wie ihr Halbbruder nie genug angehimmelt werden kann. Nach dem dritten Glas Wein gestand Cat, dass sie selbst auch in Tim verknallt war, doch er bemerkt sie nicht einmal.

„Wieso das denn? Du bist doch so hübsch!“, rief Charlotte etwas zu laut aus und die Mädels lachten.

„Ja, aber Timothy umgibt sich gerne mit Leuten, die seinem Status entsprechen, verstehst du?“, erklärte Cat etwas leiser. „Ich bin ja ‚nur‘ eine Stipendiatin… Ich arbeite hier in diesem Café und helfe noch im Büro in der Uni aus, damit ich das Geld für die Uni auftreiben kann und ich muss immer gut Noten haben, sonst kriege ich mein Stipendium nicht und kann mir die Uni nicht mehr leisten…“

Charlotte sah sie mitleidig an.

„Weißt du, meine Mama ist keine reiche Frau, sie hat sich durch Zufall meinen Vater geangelt und war quasi eine Art Cinderella. Aber ich wurde nie so beschenkt und betätschelt wie die Zwillinge, das hat meine Mama nicht zugelassen“, erzählte Charlotte. Alkohol schien ihre Zunge zu lockern, denn normalerweise sprach sie nie so offen mit neuen Bekanntschaften.

„Das ist auch besser so!“, rief Cat. „Ein Stößchen auf gute Erziehung!“

Und sie stießen an. Und dann nochmal. Und nochmal.

Bis sie sich ihre ewige Freundschaft schworen und einen Plan schmiedeten, wie sie Tim auf Cat aufmerksam machen könnten. Es wurde immer später, die Zeit verging und irgendwann um kurz vor zwölf schmiss Nick sie raus mit der Begrünung, die Mädels müssen morgen für die Uni fit sein.

Überglücklich und wieder ein angetrunken verließ Charlotte das Café. Sie verabschiedete sich von Cat, die in die andere Richtung musste und verabredete sich für morgen mit ihr an der Uni. Alles schien wieder ins richtige Ruder zu geraten. Sie hatte ihre erste Freundin und morgen war der erste Unitag. Wie schlimm kann er denn schon werden, wenn man jemanden wie Cat an seiner Seite hat?

Mit einem Lächeln atmete sie die frische Luft ein, zog ihr Jäckchen enger um sich und machte sie sich auf den Heimweg, als plötzlich ein Motorrad an ihr vorbeizischte. Der Fahrer im Helm drehte sich nach ihr um, fuhr aber dann weiter. Charlotte runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Einige Sekunden später hatte sie den komischen Motorradfahrer schon vergessen, dachte über ihr Outfit für morgen nach, spürte die Aufregung in ihrem Bauch und redete sich selbst gut zu.

Doch als sie bereits vor dem Tor stand und nach ihrem Schlüssel in ihrer Tasche suchte, hörte sie das vertraute Geräusch von vorhin, drehte sich danach um und sah wie das Motorrad einige Meter hinter ihr zum Stehen kam.

Genau in diesem Moment entdeckte sie die Schlüssel, zog sie aus der Tasche und drehte sich wieder der Tür zu, um diese aufzusperren. Den Motorradfahrer ignorierte sie und deshalb war sie dann doch überrascht, als er sie ansprach:

„Wohnst du hier?“

Charlotte hielt kurz inne, dann steckte sie den Schlüssel doch ins Loch und wollte drehen, als der Mann sie wieder ansprach.

„Du bist also die jüngste Piper…“

Sein nachdenklicher Ton ließ sie abermals innehalten und schließlich drehte sie sich um. Er hatte seinen Helm ausgezogen, hielt ihn unter seinem Arm und grinste sie an. Ein paar dunkle, nasse Strähnen hingen ihm in die Stirn, die er mit einer lässigen Handbewegung nach hinten strich. Er kam ihr irgendwie bekannt vor…

Frech grinste er sie weiterhin an und hatte dabei so einen wissenden Ausdruck im Gesicht, dass Charlottes Neugier unwillkürlich geweckt wurde.

„Ja, und?“

Er grinste bloß weiter.

„Sehr interessant…“

Charlie hob fragend die Augenbrauen.

„Ich denke, wir zwei werden uns gut verstehen…“, meinte er dann nachdenklich.

„Wir haben uns eben erst getroffen“, erwiderte Charlotte und verdrehte die Augen. „Das kannst du gar nicht wissen!“

„Oh, ich habe dich auch schon zuvor gesehen…“, ließ er sie wissen, dann schob er sich mit dem Motorrad in ihre Richtung und streckte die freie Hand aus. „Ich heiße Colin.“

Charlotte nahm weder seine Hand noch verriet sie ihm ihren Namen.

„Wo hast du mich gesehen?“, fragte sie stattdessen. Sie wusste, sie hat ihn auch schon irgendwo gesehen, kam aber nicht dahinter.

Colin ließ seine Hand langsam sinken.

„Wenn ich dir das verrate, befürchte ich, du kommst da nicht wieder hin.“

„Gut erkannt!“, schmunzelte Charlotte, dann wandte sie sich wieder der Tür zu. Sie war zu müde um weiter mit diesem Typen zu reden.

„Kann ich deine Nummer haben?“, fragte er noch schnell.

Charlotte öffnete die Tür.

„Gute Nacht“, konterte sie und grinste ihn an.

„Kann ich deine Geschwister nach deiner Nummer fragen?“, versuchte er abermals.

Diesmal ignorierte Charlotte ihn komplett, auch wenn sie sich nun fragte, was er mit Belle und Tim zu schaffen hatte. Sie trat trotzdem hinter das Tor und schloss es ohne sich noch einmal nach dem stehen gelassenen Colin umzublicken.

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Tag der Veröffentlichung: 02.01.2017

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