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Kapitel 1

Das Kleid war hinreisend. Es war von einem zarten grün mit Strasssteinchen am Dekolleté verziert und so tief ausgeschnitten, dass es jeden Mann um den Verstand bringen würde. Ich konnte nicht aufhören mich in ihm vor dem Spiegel zu drehen, so sanft liebkostete es meine Beine bei jeder Berührung. Wie kleine Regenbögen glitzerten die Schmucksteine und warfen bunte Lichter an die Wände.

Ich war grenzenlos glücklich.

Es war ein wundervoller Tag. Die Sonne schien aus ihrem wolkenlosen, hellblauen Himmelbett auf die Erde hinab und die Vögel zwitscherten wild durcheinander, während sie um den besten Platz an einem kleinen Wasserbrunnen konkurrierten. Nichts schien diesen Tag verderben zu können. Ich lächelte.

„Du sieht großartig aus!“, sagte meine ältere Schwester und stellte sich neben mich. Ungewollt verglich ich unsere Frisuren, unsere Kleider und schmunzelte kopfschüttelnd.

„...sagte die schönste Braut der Welt!“, ergänzte ich und trat vom Spiegel zurück, um uns nicht länger vergleichen zu müssen.

„Ach, Quatsch!“,  winkte sie ab und raffte ihr schneeweißes Kleid, um mir zu dem Fenster zu folgen.

„Doch, doch, Marina!“, sagte ich und lächelte sie über die Schulter fröhlich an. „Eine schönere Braut habe ich noch nie gesehen. Zake kann sich glücklich schätzen. Außerdem ist es dein Tag und ...“

„...die Brautjunfer wird mir mit ihrer Schönheit jegliche Aufmerksamkeit stehlen!“, unterbrach Marina mich und zog mich in eine feste Umarmung. „Ich hoffe, es wird auch so sein! Ich habe so große Angst mich lächerlich zu machen, indem ich zum Beispiel stolpere oder so etwas... Wieso denkst du habe ich meiner Brautjungfer ein so tolles Kleid ausgesucht? Damit sie alle Blicke auf sich lenkt!“

Sie lachte nervös.

„Rede kein Blödsinn!“, wies ich sie zurecht. „Es wird alles glattgehen!“

„Ich werde mich vor dem Altar übergeben!“, hyperventilierte meine Schwester weiterhin. „Oh, mein Gott, Summer! Ich werde mich vor dem Altar bestimmt übergeben!“

„Niemand wird sich nirgendwo übergeben!“, sagte plötzlich eine Stimme hinter uns. „Höchstens auf der Afterparty!“

Grinsend und uns zuzwinkernd schloss Emily, meine beste Freundin, die Tür hinter sich und tänzelte fröhlich auf uns zu.

„Na, wie sehe ich aus?“, fragte sie und vollführte eine ballettreife Drehung. 

Ihr, ebenfalls zartgrünes, mit Strasssteinchen besetztes, Brautjungfernkleid fing die Sonnenstrahlen ab und warf mit Funken um sich herum. Ich gab es zwar ungern zu, dennoch gönnte ich es Emily, dass sie vielleicht sogar ein Stück besser darin aussah, als ich. Nun ja, es war ja nicht meine Schuld, dass Grün genau die Farbe ihrer Augen war und dass der großzügige Schnitt des Kleides ihre, dank brasilianischen Wurzeln, zimtfarbene Haut noch mehr zur Geltung brachte.

„Du siehst gut aus, aber ich bin hier eh der Ober-Burner!“, erwiderte ich sarkastisch grinsend und wurde mit einem herausfordernden Spruch belohnt.

„Du bist doch nur so arrogant, weil du einen Ausschnitt hast, so tief wie der Marianengraben!“

Ich öffnete im gespielten Entsetzen meinen Mund und legte scheinbar tief verletzt eine Hand auf den besagten Ausschnitt. Dann lachte ich und hob abschätzend die Augenbrauen.

„Marianengraben? Ist es dein Ernst?“, wollte ich in einem provozierenden Ton wissen. „Ich bitte dich, Emi, das konntest du früher auch besser!“

Sie hob eine Augenbraue und verschränkte ihre Arme vor der Brust.

„Ach, komm, gib zu: er war gut!“, verlangte sie, woraufhin ich nachdenklich nach oben blickte und geschäftig mein Kinn rieb.

„Hmmm...“, gab ich von mir.

„Summer, komm!“, sie grinste mich verschwörerisch an. Ich seufzte.

„Ja, okay, der war schon ganz gut“

„Nur ganz gut?“

„Ziemlich witzig, zufrieden?!“

Sie lachte und zwinkerte mir zu, dann knufte sie mich in die Seite.

„Noch nicht ganz. Das konntest du früher auch mal besser!“

Ein höfliches Husten unterbrach unsere darauffolgende Umarmung.

„Ihr haltet euch wahrscheinlich für ganz witzig hier, aber ich werde in weniger als einer Stunde heiraten und wie ich gerade sehe, sind schon die meisten Gäste eingetroffen! Und wisst ihr, wie es mir gerade geht?! Beschissen! Ich bin kurz davor einfach alles sausen zu lassen und einfach abzuhauen! Wo sind die verdammten Autoschlüssel, ich hab sie doch hierhin...“

Wahrscheinlich würde Marinas Tirade genau so weitergehen, wäre nicht plötzlich unsere Mutter hereinspaziert. Hoheitlich und ganz in ihrer Manier, musterte sie uns drei streng und verzog ihren Mund.

„Was höre ich da? Schlechte Stimmung ist hier ganz und gar deplatziert, meine Lieben!“

„Nicht meine Schuld, Mom, Marina hat hier gerade voll den Anfall!“, verteidigte ich mich. "Ich habe nichts getan!“

„Dass du nichts getan hast, weiß ich, Summer! Den ganzen Tag schon! Und bei den Vorbereitungen für die Hochzeit auch nicht!“, wies sie mich sogleich zurecht. „Ach ja, und unterlasse bitte diese unschickliche, gewöhnliche Ausdrucksweise!“

Ich wechselte einen schnellen, bedeutungsschweren Blick mit Emily.

„Ist gut, Mama!“, sagte ich beharrlich.

„Nichts ist gut, Kind! Der Himmel verdunkelt sich“ - sie trat an das Fenster und schob die Vorhänge beiseite - „Es sieht aus, als käme ein Gewitter auf uns zu. Wir müssen schleunigst die ganze Feier nach drinnen verlegen!“

„Wie bitte?!“, entsetzt schnappte Marina nach Luft. „Oh nein, oh nein, oh nein! Alles geht schief!“

„Beruhige dich sofort!“, fuhr meine Mom die aufgelöste Braut an. „Wozu denkst du hat dein Vater nicht nur den Garten und das aufgebaute Zelt reserviert, sondern auch die gesamte Kirche und den überdachten Innenhof? Summer, du gehst sofort runter und sagst dem Catering Bescheid, dass die Feier doch drinnen stattfinden wird!“

Ich nickte, strich im Vorbeigehen tröstend über Marinas Rücken und wollte das Zimmer zusammen mit Emily, deren Hand ich führend nahm, verlassen, als Mutter meine beste Freundin zurückrief.

„Emily, Liebes, könntest du so nett sein und meinen zukünftigen Schwiegersohn suchen? Richte ihm doch bitte aus, dass er noch einmal unbedingt die Ringe prüfen soll!“

Mit diesen Worten wandte sie sich noch einmal kurz an mich und hob fragend die Augenbrauen.

„Na, hopp, Summer! Wir haben nicht alle Zeit der Welt!“

Ich beeilte mich das Zimmer zu verlassen. Meinem Beispiel folgend schlüpfte auch Emily schnell raus.

„Deine Mom ist ja noch herrischer als sonst!“, zischte sie mir leise zu. Man weiß ja nie, wer einen hören kann!

„Ich weiß!“, stöhnte ich genervt auf. „Du solltest lieber schnell Zake suchen, glaub mir, sonst schickt sie innerhalb von fünf Minuten ein Suchtrupp nach euch aus!“

„Und du sollst auch lieber dem Catering Bescheid geben! Wir sehen uns später.“

Damit drehe sie sich weg und rannte den langen Flur entlang. Ich hörte ihre hastigen, wie immer ziemlich lauten 'Elefanten'-Schritte auf den Treppen und als sie das Erdgeschoss erreichte, wurde es still.

Seufzend drehte ich mich in die andere Richtung und lief auf die Glastür zu, die zum Balkon führte, der widerrum einen schnellen Treppengang direkt in den gemieteten Kirchen-Garten ermöglichte. Es war faszinierend, wie anders die Kirche, in der wir uns befanden, außerhalb des sonst betretbaren Innenraums, aussah. Der Boden war statt mit Fließen mit einem kuscheligen, weinroten Teppich ausgelegt und die Wände beigefarben gestrichen. Alles in einem könnte der erste Obergeschoss der Kirche als ein Einfamilienhaus durchgehen.

Ich trat aus der Glastür auf den Balkon und stieg vorsichtig die Eisentreppen herunter. Mittlerweile war schon lange ein Rosenbogen aufgebaut, worunter Zake und Marina ihr Gelübde hätten abgeben sollen. Alles sah so idyllisch und schön aus, dass es mir sogar ein wenig Leid tat, das wieder abzubauen. Aber nichts zu machen...

Aber wo waren denn die ganze Bedienung hin? Ich blickte mich im Garten um. Die Kellner? Die Band, die spielen sollte? Irgendjemand?!

Der Himmel würde immer dunkler, die Schatten, die die Bäume warfen immer gruseliger. Ein Wind stieg auf und schenkte mir Gänsehaut. Etwas Böses lag in der Luft. Es nähert sich mir, schleicht sich an mich heran...

„Summer?“

Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Ich zuckte erschrocken zurück und ein Schrei entfuhr mir.

„Was kreischt du hier rum?!“, hörte ich eine bekannte und sehr genervte Stimme hinter mir. Ich drehte mich abrupt um.

„Sam!“, rief ich empört aus und schubste den ältesten Sohn des Pfarrers von mir weg. „Was erschreckst du mich auch so?!“

Sam verdrehte die Augen und grinste mich an.

„Du machst es mir einfach zu leicht, Summer!“

Gespielt schlug ich nach ihm, doch er wich geschickt aus.

„War das alles?!“, wollte er spöttisch wissen.

„Nicht heute, Sam“, winkte ich ihn weg.

„Wann werde ich denn bitte wieder Gelegenheit dazu haben, dich zu ärgern? Wir sehen uns immer seltener, seitdem du zum Studieren weggezogen bist.“

Dabei kratze er sich verlegen an Kopf und gab seinem verwuschelten Haar eine weitere Reihe unordentlich abstehender Strähnen. Aber abgesehen von seiner Frisur wirkte er heute ziemlich erwachsen. Sein graues Sakko mit dem schneeweißen Hemd darunter stand ihm ausgezeichnet, wenn man bedenkt, was für breite Schultern und gebräunte Haut er hat.  Er hatte eine Hand in der Tasche seiner ebenfalls grauen Hose und die Andere streckte er in diesem Moment nach mir aus.

„Du siehst mal ausnahmsweise halbwegs passabel aus.“ meinte er, als ich ihm erlaubte meiner Hand zu nehmen und mich ihm meine eigene Achse drehen zu lassen, wie eine Ballerina.

„Vielen Dank!“ erwiderte ich ehrlich geschmeichelt, wohl wissend, dass das das größte Kompliment war, dass man dem 'leicht' eingebildeten Pfarrer-Sohn entlocken konnte. „Du siehst auch recht gut aus“

„Lust in den Ferien mal auszugehen?“ wollte er plötzlich wissen, während meine Hand noch in seiner lag.

„Lust – ja, Zeit – nicht wirklich.“ erwiderte ich nachdenklich.

„Wie wärs mit Donnerstag? Bist du da noch in der Stadt?“, beharrte er.

„Ich seh mal in meinem Terminkalender nach, ob ich dich zwischen all den Dates mit richtig heißen Typen irgendwo mal einige Stündchen für dich übrig hätte!“, antwortete ich frech grinsend und tänzelte zwinkernd einige Schritte von ihm weg.

Daraufhin lächelte er schief und war in einem Satz wieder bei mir.

„Also Donnerstag.“, beschloss er. „Ich bin um acht Uhr abends bei dir. Das heißt,du darfst dich schon um fünf anfangen fertigzumachen, um mich nicht warten zu lassen!“

Ich zog gespielt beleidigt einen Schmollmund

„Ich brauche doch nicht drei Stunden, um mich fertig zu machen! Höchstens zwei!“

Ein Anflug von einem Lächeln huschte über seine Züge, dann schien er etwas sagen zu wollen, als wir plötzlich jemanden seinen Namen rufen hörten.

„Mein Vater.“, erklärte er. „Scheinbar gibt’s Probleme, sonst würde er mich nicht rufen. Ich sollte hin.“

Er lief einige Schritte rückwärts und deutete mit dem Mittelfinger und dem Zeigefinger einen Abschied durchs Salutieren an, ganz wie ein cooler Pilot aus einem Film, bevor er sich wegdrehte und im Gebäude verschwand.

Irgendwie mochte ich diesen eingebildeten, arroganten Jungen.

Doch meine Freude über mein bevorstehendes Date mit Sam hielt nicht lange an.

Plötzlich spürte ich ein seltsames Kribbeln in meinem Nacken und drehte mich überrascht um. Hinter dem Zaun, der diesen traumhaften Garten von der Außenwelt abzuschirmen schien, stach mir nur eine einzige Person ins Auge.

Es war ein schwarzhaariger Junge, schmächtig gebaut, scheinbar nicht viel größer als ich selbst, aber dermaßen Aufsehen erregend, dass ich kaum wegsehen konnte. Einen kurzen Augenblick schaffte es die Sonne sich durch die immer dichter werdenden Wolken hindurch zu kämpfen und sein Haar fing einige Strahlen ab. Es funkelte in einem leicht grünlichen Ton, wie Gift, dann verschwand die Sonne und sein Haar nahm wieder die rabenschwarze Farbe an.

Nur für Sekunden begegneten sich unsere Blicke, doch mich packte die schiere Angst und ließ mich erzittern. Abermals stieg leichter Wind auf und strich sachte über mein Haar. In diesem Augenblick wandte der seltsame Junge sich ab und lief weiter. Ich folgte ihm mit meinen Augen, bis er aus meinem Blickwinkel verschwand. Erst dann wagte ich es zu wieder zu atmen, doch meine Finger waren immer noch in den grünen Stoff meines Kleides festgekrallt.

Ich schüttelte mich, wegen der Gänsehaut und um die Gedanken an seinen gruseligen Blick zu vertreiben. Sie waren so schwarz, seine Augen, schwarz wie die Nacht selbst und völlig gefühllos. Leer und tief, wie ein dunkler Abgrund.

Ein helles Lachen der Gäste drinnen in der Kirche riss mich aus meiner Starre und ich fröstelte.

Ich sollte doch der Bedienung Bescheid geben! Mom wird mich umbringen! Und Marina erst!

Also beschloss ich nicht mehr an diesen Typen zu denken, denn bei der bloßen Erinnerung an diese Augen schauderte es mich heftig. Und doch war ich neugierig genug um näher an den Zaun zu treten und die Straße zu inspizieren.

Verwirrt sah ich in beide Richtungen. Die Straße, wie eigentlich die meisten in meiner Heimatstadt Long Branch war recht lang und ohne jegliche Gabelungen, aber der Junge war nicht mehr zu sehen. Er hat sich wie in der Luft aufgelöst... Es sei denn, er ist in einem Hauseingang verschwunden.

Beruhigt atmete ich aus. Die Nerven gingen dank der Hochzeit mit mir durch – Marina hat mich angesteckt.

Apropos Marina und die Hochzeit! Wieso befindet sich hier nicht ein einziger Mensch, mit Ausnahme von mir. Sollten nicht eigentlich die letzten Vorbereitungen getroffen werden. Oder ist jemand anderes schon auf die Idee gekommen die Trauung dank dem nahenden Unwetter nach innen zu verlegen?

Genervt drehte ich mich wieder der Kirche zu und wollte wieder auf den Balkon zugehen, als mich plötzlich eine Stimme, scharf wie ein Messerstrich, zur Stein erstarren ließ.

„Bleib stehen!“

Eine heftige Gänsehaut brach über mich herein und zum wiederholten Male schnürte es mir schier die Luft weg. Das Kleid schien auf einmal zu eng zu sein.

Wie in einer Zeitlupe gefangen drehte ich mich wieder dem Zaun zu und meine Fingernägel bohrten sich schmerzhaft in meine Handfläche.

Noch bevor ich seine Gestalt lässig über den Zaun springen sah, wüsste ich, dass eine solche Stimme keinem anderen gehören kann, als ihm. Mein Herz schlug mir schmerzhaft gegen meine Brust und ich blickte mich unauffällig nach Fluchtmöglichkeiten um.

Und plötzlich wurde mir bewusst, wie lächerlich ich mich verhielt. Es ist doch bloß ein Typ, ein Typ wie jeder andere auch. Bestimmt sogar jünger als ich, zwar etwas... anders, aber meine Güte, die Mode kennt nun mal keine Grenzen!

Auf einmal fand ich mich selber dumm und peinlich. Ich habe wahrscheinlich zu viele Fantasy-Bücher gelesen. Mein Lächeln fand wieder seinen Weg auf meine Lippen und ich legte mir eine Hand auf Herzhöhe.

„Puh! Du hast mich aber erschreckt! Irgendwie tun das seit Neuestem alle!“, ich lachte und ging auf ihm zu. „Hier ist heute eigentlich der Zutritt für Besucher verboten, da hier eine Hochzeit stattfindet, aber du kannst gern-“

„Schweig!“, fiel er mir grob ins Wort und ließ mich unwillkürlich wieder einen Schritt zurücktaumeln.

Sofort schoss mir wieder Adrenalin durch die Adern und trieb mir Angst einjagende Gedanken in den Kopf. Ich drängte sie wieder zurück, obwohl die pechschwarzen Augen des Jungens mich immer beharrlicher in Panik zu versetzen drohten.

„Hast du dich verirrt, brauchst du eine Wegbeschreiben?“, versuchte ich es noch einmal. Falls was, die ganzen Gäste befinden sich drinnen und ich kann immer noch Schreien. Nicht, dass das nötig sein wird!, redete ich mir ein.

Wie um mich zu entmutigen, erklang plötzlich Musik von drinnen, was mich stark vermuten ließ, dass man mich soweiso nicht hören würde, da könnte ich noch so laut schreien.

„Du, hör mal, ich muss schnell rein, sonst fängt die Hochzeit ohne nicht an. Also, falls du nicht weißt wohin, frag einfach irgendwelche Passanten, ja? Tschüss!“

Mit diesem Worten drehte ich mich um.

Seine urböse Stimme, noch schärfer als zuvor, erreichte mich, bevor ich auch nur zwei Schritte gegangen bin und paralysierte mich abermals.

„Bleib stehen!“

Ich warf ihm einen verunsicherten Blick über die Schulter, bevor ich mich wieder gänzlich ihm zudrehte. Nichts Böses ahnend erwidere ich mit einem breiten Lächeln.

„Ich würde dir ja gerne helfen, aber jetzt muss ich wirklich-“

„Du kommst mit!“

Ich atmete tief durch und straffte die Schultern, krampfhaft um Ruhe bemüht.

„Ich sagte doch, dass ich nicht kann!“

Ich beschloss ihn ab jetzt nicht mehr zu beachten und schlenderte entspannt auf den Balkon zu und die Treppen hoch. Ich merkte nur am Rande, wie er mich schweigend und tatenlos beobachtet, bevor ich die letzte Stufe erreichte und... erstarrte!

'Was zum...!?', wollte ich fluchen, doch meine Lippen blieben verschlossen

Es war kein übliches literarisches „erstarren“ in dem Sinne, dass man selber unfähig war, sich zu bewegen. Nein, dies war ein Erstarren im wahrsten Sinne des Wortes. Egal, wie sehr ich mich auch anstrengte auch nur einen Finger zu rühren, nichts wollte mir gehorchen.

„Ich hab dir nicht erlaubt zu gehen!“, erklang seine Stimme. Aber nicht vom Garten, sondern irgendwo in der Nähe. Sehr nah. Fast so, als wäre seine Stimme in meinem Kopf. Wie aufs Stichwort erschütterten mich entsetzlich Kopfschmerzen. In Sekundenbruchteilen realisierte ich, dass ich mich wieder bewegen kann.

Und dann fiel ich...

Ich stürzte die Treppen, überrascht durch das plötzliche Wiedererlangen der Körperkontrolle. Doch dieses hielt nicht lange an. Ich blieb am Füße der Treppen reglos liegen, unfähig mich zu rühren. Diesmal vor Schmerzen.

Ich spürte Hitze in meinem Kopf, bis ich merkte, dass sie nicht in meinem Kopf war, sondern sich nass über mein Gesicht verteilte. Ich schmeckte Blut.

„Du hast mich wohl nicht verstanden.“, hörte ich dumpf seine Stimme über mir. „Das nächste Mal hörst du lieber besser zu! Ich sagte: du begleitest mich!“

Hilflos blieb ich liegen und musste mitansehen, wie sich eine immer größer werdende Blutlache unter mir ausbreitete.

„Wa- Warum...?“, konnte ich gerade noch hervor husten und spürte sofort metallische Substanz meine Lippen benetzen.

Er antwortete nicht, stattdessen fuhr seine Hand mit einer plötzlichen Bewegung sanft über meine nasse Wange und leckte dann seinen rot gefärbten Finger. Angewidert verzog er daraufhin das Gesicht.

„Widerwärtig!“

Er spuckte aus.

„Steh schon auf, ich werde deine schwächliche, blutverschmierte Gestalt ganz bestimmt nicht tragen!“

Ich bemühte mich wirklich nach all meinen Kräften aufzustehen, aber der Schmerz trieb mir lediglich Tränen in die Augen, noch mehr Blut und weitere Qualen.

„...Ka-kann n-nicht...“ hauchte ich kraftlos.

Ich roch förmlich seine steigende Wut.

„Jämmerliches Ungeziefer!“ stieß er hervor, bevor er sich zu mir herunterbeugte, meinen Oberarm packte und mich grob, mein Schmerzensschrei ignorierend, hochzog. Irgendetwas in meinem Körper knackte unüberhörbar und ich zuckte zusammen, doch ihn schien es nicht zu kümmern.

„Halt still!“ befahl er und drückte seine zweite Hand an meinen Kopf, wo sich, wie ich vermutete, die Platzwunde vom Sturz befand.

Ein unangenehmes Ziehen breitet sich an der Stelle aus, die er berührte. Doch je größer das Ziehen wurde, desto leiser wurde der Schmerz. Bis er schließlich gänzlich verschwand – und sobald der Junge die Hand von der Verletzung nahm, auch das Ziehen. Dasselbe wiederholte er mit meinem ganzen Körper, langsam die Hände an meinen Seiten entlangfahrend, während ich aus Angst vor neuen Schmerzen nicht wagte mich zu rühren.

„So!“, nickte er sichtlich mit sich zufrieden, nachdem er – alles andere als vorsichtig wohlgemerkt - meinen Kopf am Kinn gepackt hin und her drehte. „Jetzt bewege dich endlich!“

Damit drehte er sich um, ging voraus. Ich wischte mir mit dem Handrücken über die blutverschmierte Lippe.

Das konnte alles nicht wahr sein! Wieso nur half mir niemand? Warum gebot niemand diesem Irren Einhalt? War denn wirklich niemand in der Nähe des Gartens, der meine Schreie hören konnte? Und wieso hatte dieser Typ gerade mich ausgesucht? Mal ganz davon abgesehen, dass dies hier Gottes Erde war! Schließlich befanden wir uns auf einem Kirchengelände! Was soll ich jetzt tun?

Mit klopfendem Herzen wand ich mich wieder dem Typen zu und sah ihn bei dem Ausgangstor aus dem Garten missgelaunt auf mich warten. Hilflos warf ich noch einen Blick auf die Kirche und betete dafür, dass jemand rauskommt. Als hätte er meine Gedanken gelesen, meinte er gelassen:

„Wenn jemand jetzt rauskommt, stirbt er.“

Er wartete bis ich meinen Blick wieder auf ihn richtete und fuhr dann fort.

„Ein falsches Wort, ein Ungehorsam, ein Fehler und ich töte dich. Ich kann dich auch gleich jetzt töten und noch dazu dieses ganze Gebäude, ja sogar diese ganze Stadt dem Erdboden gleichmachen. Alle werden sterben, alle bis auf den Letzten. Also, ich sage es dir noch mal: Komm mit!“

Ich schluckte und schließlich befand ich es unter Tränen für besser ihm zu folgen. Was auch immer er getan hat, der Sturz war mehr als gefährlich. Ich sollte eigentlich nicht mehr leben, geschweige denn jetzt normal zu laufen...

Da fiel mir etwas ein. Abrupt blieb ich stehen, fasste mir an meinen Kopf und befühlte ihn.

Nichts.

Keine Wunde, nicht einmal die kleinste Beule! Nur die blutbesudelten Fließen und Treppen, sowie mein ruiniertes Kleid und meine rot gefärbten Hände wiesen darauf hin, dass ich mir den Unfall – falls es ein Unfall war, was ich sehr bezweifle; Unmöglichkeiten hin oder her – eingebildet habe.

Ich blickte ihn fragend an und er erwiderte unbeteiligt meinen Blick.

„Wie … hast du das gemacht?“, fragte ich mühsam, als ich ihn endlich eingeholt habe und er mir absurderweise, wie ein wahrer Gentleman die Pforte offenhielt. Ich blieb direkt zwischen Garten und Straße stehen und blickte ihn abwartend an. Im Übrigen: einen Plan, wie ich aus dieser Situation wieder herauskommen soll, hatte ich immer noch nicht.

„Ich habe die Macht der Kontrolle über Blut und Knochen. Und jetzt, schweig still!“
Fast hätte ich aufgelacht, aber stattdessen schluckte ich. Eins stand für mich fest: egal, ob ich ihm Glauben schenken sollte oder ob er einfach nur krank war – er war mordsgefährlich!

Um ihm nicht noch mehr Gründe zu geben mich zu verletzen, entschied ich mich etwas Unkompliziertes zu fragen.
„Wie heißt du?“
Einige Sekunde starrte er mich einfach nur an. Irgendwo in der Ferne zerteilte ein greller Blitz den Himmel und daraufhin erklang der erste Donner des nahenden Gewitters. Nicht einmal sein Augenlid zuckte dabei, sondern er blickte mir einfach stumm in die Augen. Dann legte er seltsamerweise sehr sanft seine Hand auf meinen Rücken und schob, ja beinahe schubste mich wiederum ziemlich grob auf die Straße.

„Gehen wir!“, meinte er ruhig. „Bevor der Sturm losbricht.“

Ich dachte schon, er würde meine Frage ignorieren, und beschloss nicht weiter nach zu bohren, sondern lief schweigend, über meine Flucht nachgrübelnd neben ihm her. Und plötzlich erhob er doch seine dunkle, verheißungsvolle Stimme mit all ihrer düsteren Ausstrahlung.
„Mein Name ist …Irial.“

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 12.09.2010

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