Über eine Kamerafrau
Teil 1
Eva Preston war definitiv eine Frau, die aus dem Bild eines normalen Menschen herausfiel, wenn es überhaupt so etwas wie einen Rahmen gab, in dem sich eine Gruppe von Leuten tummelte, die sich als normal bezeichnen durften. Sie kam aus Pine Bluff, Arkansas, war nach der High School nach New York gezogen, hatte dort an der NYU Film studiert und war dann in ihre Heimatstadt zurückgekehrt, um sich einen Job zu suchen. Den hatte sie auch nach kurzer Zeit gefunden, jedoch nicht in ihrer Heimatstadt, sondern bei einem Ausflug nach Little Rock, der Hauptstadt von Arkansas. Dort hatte der Leiter eines renommierten Fernsehsenders zufällig gerade Material für sein neues Filmprojekt, einen Lehrfilm über die Landschaften der USA abseits der bekannten Städte, gesucht. Eva hatte zugesagt, zum einen, weil sie das Herz Amerikas liebte und niemals woanders sein wollte, zum anderen, weil der Job gute Bezahlung und schnelle Aufstiegsmöglichkeiten versprach.
Was der tolle Leiter allerdings nicht gesagt hatte, war, dass sie gar nicht bei seinem Projekt mitarbeiten, sondern in Los Angeles bei einer Reportagenreihe über Magersüchtige, Selbstmordgefährdete, abartig großen Familien usw. an der Kamera mitwirken sollte. Es ging darum, Familien in besonderen Situationen über einige Tage in ihrem Alltag zu beobachten, ihnen Fragen zu stellen und sie durch den Weg zur Heilung oder zur inneren Ruhe zu begleiten. Es verkörperte geradezu das, was Eva nicht machen wollte. Aus ihrer Heimat ausziehen, in eine Großstadt ziehen (dass ihr die neue Unterkunft bezahlt wurde, machte es auch nicht besser) und dort hirnlose Reportagen über Menschen drehen, die sie nicht kannte und die sie auch nicht kennenlernen wollte.
Und das schlimmste war, dass sie bereits in seliger Ahnungslosigkeit einen Vertrag unterschrieben hatte, der sie verpflichtete, mindestens ein Jahr lang diesen Beruf auszuführen. Nein, noch schlimmer war, dass sie nach Abschluss eines Projekts in eine völlig neue Stadt ziehen musste, um die Kamera auf eine andere außergewöhnliche Familie zu richten. Sie konnte nicht im Geringsten mitbestimmen, wohin es als nächstes ging, es konnte überall in den USA sein.
Bereits Wochen vor der Abreise grauste es Eva richtig vor ihrem neuen Job. Ihre Familie sprach ihr Mut zu, doch sie ließ sich nicht so leicht aufmuntern, anders gesagt: sie ließ sich überhaupt nicht aufmuntern. Seit sie denken konnte, war sie ein Kleinstadtkind gewesen, selbst der Ausflug nach Little Rock war eine seltene Ausnahme gewesen. Sie konnte sich noch erinnern, dass sie im Alter von sechs Jahren einmal mit ihren Eltern und ihrer großen Schwester, die gerade eine Ausbildung zur Zahntechnikerin machte, nach Dallas geflogen war. Der Urlaub war die schlimmste Zeit ihres Lebens gewesen. Auf dem Hinflug hatte sie nur gekotzt und sich sogar in die Hose gepinkelt, und als sie dann angekommen waren, hatten sie einen Kinderfreizeitpark besucht. Eva hatte Eis, Zuckerwatte und Pommes gegessen und hatte sich danach ins Karussell gesetzt und wieder gekotzt und war dann auch noch runtergefallen. Dabei hatte sie sich das Bein gebrochen und auf dem Rückflug hatte sie sich wieder übergeben. Seitdem mied sie sowohl Freizeitparks als auch große Städte. Sie hatte nur zum Studieren wieder eine richtige Großstadt betreten. Und selbst da hatte sie sich eine Wohnung außerhalb von New York gesucht, um möglichst wenig Zeit dort verbringen zu müssen. Dass sie jeden Morgen erstmal zwei Stunden hatte Zug fahren müssen, um die Uni zu erreichen, war ihr egal gewesen, genau wie die Tatsache, dass sie nicht sehr viele Freunde gehabt hatte.
Und jetzt sollte sie schon wieder in eine Stadt ziehen, und diesmal richtig: ihr Chef, dieser miese Betrüger hatte ihr eine Adresse gegeben, an der ihr Apartment lag. Sie befand sich mitten im Zentrum von Los Angeles, in einem Viertel mit vielen Nachtclubs und Bars. Ein Stadtviertel, das voll war und laut und all das, was sie verdammt noch mal nicht haben wollte. Schon im Flieger wünschte sie sich, sie möge sterben, weil es so voll war und laut. Direkt neben ihr saß ein lauter fetter Börsenmakler, der zuerst geräuschvoll schmatzend seinen Hummer aß ( der Chef hatte 1. Klasse gebucht ) und dann per Webcam mit seiner Ehefrau stritt. Ohne Witz. Er saß da und brüllte den Monitor an und Eva wünschte sich, entweder sie oder er mochten doch bitte im Sitz versinken und nicht wieder auftauchen. Naja, dachte sie, wo man da ist, kann man die Zeit auch gewissenhaft nutzen. Sie holte aus ihrer Tasche eine Mini-Kamera, die auch oft bei Polizeieinsätzen oder Paparazziüberfällen zum Einsatz kamen, und filmte damit das Innere des Flugzeugs. Sie hatte keine Ahnung, ob das überhaupt erlaubt war, aber irgendwie störte sie das nicht. Sie war Vollblut-Kamerafrau. Für die richtigen Aufnahmen würde sie über Leichen gehen. So hatte sie es auch in ihrem Tagebuch geschrieben, obwohl es natürlich nur im übertragenen Sinn gemeint war.
Ein völlig anderer Mensch war Jared North Jackson. Er war in Los Angeles aufgewachsen (und wuchs dort immer noch auf, denn er war erst fünfzehn) und hatte in Pine Bluff seine Tante besucht. Er konnte nicht behaupten , dass ihm der Besuch gefallen hatte und das hatte er auch nicht zu verbergen versucht. Nun war er aus dem Testament gestrichen, was auch kein Wunder war, nachdem er ihren Rosengarten und und ihren Hund angezündet (von beidem war nicht mehr viel übrig) und mit der Tochter ihrer besten Freundin geschlafen hatte. Zufälligerweise war diese Tante auch noch die Bürgermeisterin von Pine Bluff, weswegen die Geschichte in allen örtlichen Zeitungen stand, vorzugsweise auch noch verändert und mit Übertreibungen und falschen Aussagen angereichert, wie die Zeitungen halt so waren, auf dem Land nicht anders als in der Stadt.
Das witzige kam aber noch: es gibt ja in jedem Flugzeug diese Boxen mit verschiedenen Zeitschriften, und in diesem Flugzeug gab es auch eine Ausgabe des beliebtesten Tagesblattes von Pine Bluff. Und genau die nahm sich Eva jetzt heraus, um auf ihrem Weg durch die Großstadt noch ein Souvenir vom Land zu haben, das sie an ihre Heimat erinnerte. Gerade als sie nach der Ausgabe griff, kam Jared North an ihr vorbei. Er sah relativ unauffällig aus in seinen schwarzen Jeans und dem schlichten schwarzen T-Shirt, weshalb Eva ihn nicht bemerkte. Sie ging in Ruhe zu ihrem Platz zurück, wo Jared North aber aus unerfindlichen Gründen ebenfalls zum Stehen kam. Da sie noch keinen Blick in die Zeitung geworfen hatte, wusste sie nicht, wen sie da vor sich hatte, dem Börsenmakler schien es da allerdings anders zu gehen, denn er nannte ihn beim Namen und unterhielt sich mit ihm. Die Mini-Kamera hatte Eva an ihrer Jacke befestigt, damit sie beim Gehen weiterfilmen konnte, was sie jetzt auch noch tat. Später beim Ansehen würde man auch hören können, was die beiden da von Schuld und Drogen und Erbschaften faselten. Also schob sie sich an Jared North vorbei zu ihrem Platz und schlug die Zeitung auf.
Geschätzte zwanzig Sekunden später schaute sie geschockt von der Illustrierten auf und schluckte. So viel sei gesagt: in der Zeitung war ein Bild von Jared North und dem Mädchen, mit dem er geschlafen hatte, abgedruckt. Oder anders gesagt: es war ein Foto von Jared North Jackson mit einem Mädchen namens Symphony Preston, der Schwester von Eva Preston, die gerade eine Ausbildung zur Zahntechnikerin machte. Und ganz nebenbei: Eva und Symphony hassten sich. Symphony hatte Eva früher ständig geschlagen und sie damals, als sie sich im Freizeitpark übergeben hatte, gefilmt und später das Video allen Freunden von ihr gezeigt. Ihr Ruf hatte darunter selbstverständlicherweise sehr gelitten. Symphony war zudem 26 Jahre alt, Jared North dagegen fünfzehn. Das war doch widerlich. Sie selber war 23 und würde nichts mit einem fünfzehnjährigen anfangen. Sie sah Jared North an, der sich in ihrer Sitzreihe auf die andere Seite gesetzt hatte, also praktisch direkt neben dem Börsenmakler saß. Sie begriff, dass er der Vater von Jared North sein musste.
Evas Gehirn ratterte. Sie überlegte fieberhaft, was sie als erstes tun sollte. Symphony anrufen? Nein, sie waren in der Luft, da war das ja verboten. Jared North mit der Tatsache konfrontieren, dass sie die Schwester von dem Mädchen war, mit dem er eine Affäre gehabt hatte? Nein, sie wollte ihn nicht gleich abschrecken, aber schon mehr über das Verhältnis zwischen den beiden herausfinden .Sie sah keine andere Möglichkeit, als ihn weiter aus der Ferne zu beobachten und weiterzufilmen.
Nur wenige Minuten später sprach der nach Evas Meinung eindeutig gestörte Börsenmakler sie an. „Könnten wir vielleicht Plätze tauschen ? Beim Fliegen wird mir immer so schnell schlecht, wenn ich nicht am Fenster sitze und wir wollen ja nicht, dass ich sie vollkotze, oder?“ Nein, das wollen wir in der Tat nicht, dachte Eva angeekelt, hielt sich aber zurück, grinste und sagte: „Kein Problem, Mister, aber ich hab da so eine Frage.“ Der Börsenmakler lächelte und sagte: „Nur zu, meine Liebe, fragen sie, was sie wollen.“
Auch jetzt wollte Eva ihm am liebsten eine reinhauen. Ich bin nicht deine Liebe, hätte sie ihm am liebsten an den Kopf gehauen, aber auch jetzt hielt sie sich zurück und fragte: „Der Junge da drüben, ist das ihr Sohn?“ Das Lächeln des Börsenmaklers verschwand augenblicklich. „Ja, diese Missgeburt, das ist mein Sohn.“ Er lächelte schwach, was aber eindeutig nur als Vertuschung eines Schamgefühls diente. Eva wollte nun mehr wissen. Sie rückte unauffällig ihre Mini-Kamera zurecht. „Wieso ist er denn in ihren Augen eine Missgeburt?“ , wollte sie nun wissen. Sie wusste es natürlich schon, aber sie wollte gerne den Standpunkt des Vaters hören. „Nun ja, wissen sie, er hat meiner lieben Schwester, die er in den Ferien besucht hat, das Leben relativ schnell und schmerzhaft das Leben zur Hölle gemacht. Ihren Hund getötet, mit der Tochter einer guten Freundin geschlafen, Joints auf ihrer Veranda geraucht und vertickt, ihren Rosengarten zerstört und -was am schlimmsten ist-er hat nach einer Party, auf der er anscheinend zu viel getrunken hat, meine Schwester doch tatsächlich zusammengeschlagen! Wenn eine aufmerksame Nachbarin nicht die Polizei gerufen hätte, dann wäre sie jetzt mit Sicherheit tot!“
Eva hörte geschockt zu. Von der Hälfte der Sachen stand in dem Zeitungsartikel nichts, und schon von dem war sie geschockt gewesen. Sie war jetzt daran interessiert, warum die Zeitung nicht über alles berichtet hatte und was die Folgen für Jared North waren. Trotz all der Dinge, die er getan hatte, tat sie ihm irgendwie leid, da ihr klar war, dass es für dieses Vergehen eine harte Strafe geben würde.Jetzt, wo sie genauer hinsah, bemerkte sie auch, dass eine gewisse Traurigkeit in seinen Augen lag.
Sie sprach also den Börsenmakler auf ihre beiden Fragen an. Dieser erklärte daraufhin: „Die Fragen lassen sich gut im Zusammenhang beantworten. Als der Artikel gerade erscheinen sollte, war ein Mann von einem namhaften Fernsehsender gerade in der Stadt. Der hat mir ein Geschäft angeboten: wenn ich zulasse, dass unsere Familie sich im Rahmen eine Reportage für einige Zeit bei ihrem Alltagsleben filmen lässt, würde er es einrichten, dass die pikanteren Details des Skandals nicht an die Öffentlichkeit gehen.“
Eva verstummte augenblicklich. Das klang verdammt noch mal so, als wüsste sie jetzt, welche Familie sie als erstes würde filmen müssen. Der Börsenmakler sah ihr Verstummen als Ende des Gesprächs an und packte seine Sachen zusammen, um mit ihr die Plätze zu tauschen. Eva lenkte ein. Was sollte sie denn schon sagen? 'Hey, ich bin diejenige, die ihr tolles Projekt filmen wird' ? Dann würde er doch nur denken, dass sie das geplant hatte und in ihrem Film alles verwenden wollte, und das wollte sie auf keinen Fall, schließlich ging es hier auch darum, dass sie herausfinden wollte, warum ihre Schwester was mit diesem Typen angefangen hatte. Eva mochte ihre Schwester zwar nicht besonders, aber sie war definitiv keine Schlampe, sondern eher das genaue Gegenteil. Sie hatte Partnerschaft und Geschlechtsverkehr immer sehr ernst genommen und hatte sich nicht vorstellen können, einfach mit irgendjemandem ins Bett zu gehen. So eine Aktion wie die mit Jared North sah ihr eigentlich ganz und gar nicht ähnlich.
Sie betrachtete (und filmte) Jared North ganz genau. Aus dem Zeitungsartikel ging hervor, dass er in Bel Air, Los Angeles, Kalifornien, wohnte. Also auch mitten in der Stadt. Eva musste sich zurückhalten, nicht aufzustehen und aus dem Flugzeug zu springen. Und genau in diesem Moment passierte es: Jared North Jackson sprach sie an. Und nicht nur irgendwie, er besaß sogar die Frechheit, sie anzumachen. „Ey Kleine, hast du Bock, am Wochenende mal zu mir auf mein Apartment nach Bel Air zu kommen? Falls es dir zu heiß da ist, können wir uns auch gerne ausziehen.“ Eva starrte Jared North für mindestens fünf Sekunden lang stumm und mit offenem Mund an. Sie war geschockt, wenn auch nicht ganz überrascht, da sie und ihre Schwester gewissermaßen ganz hübsche Erscheinungen waren, und da sie eine so schmale Figur hatten, passten sie auch in jedes Kleidungsstück hinein, was ihnen so manchen neidischen Blick eingehandelt hatte. Jedenfalls verstand Jared North ihr fassungsloses Schweigen als Ablehnung auf (was ja auch nicht ganz falsch war) und begann, in einem Automagazin zu blättern. Gefühle wie Scham oder Wut bemerkte Eva nicht, aber weil sein Gesicht so auffallend hübsch geschnitten war, filmte sie es noch eine Weile ganz genau.
Als der Flug nach drei weiteren lauten und vollen Stunden sein Ziel erreichte, war Eva noch keinen Schritt weiter gekommen. Sie überlegte, warum der Börsenmakler so offen über seinen Sohn gesprochen hatte, denn wenn sie so einen Sohn hätte, dann würde sie es nicht darauf anlegen, dass alle seine Geschichte erfuhren. Aber der Makler hatte ja auch gewirkt, als würde er ihn nicht mehr als seinen Sohn sehen. Jetzt fiel ihr auf, dass sie nichtmal seinen Namen kannte. Aber wenn sie diese Familie tatsächlich filmen musste, dann würde sie es ja noch früh genug herausfinden.
In ihrem Apartment angekommen, wollte Eva zuerst ein Fenster öffnen, aber weil die Straße so laut war, hielt sie das nicht lange aus. Es war ein Schock für sie, festzustellen, wie schlimm sie den Ablauf in der Großstadt empfand. Zu ihrem Erschrecken klingelte es jetzt auch noch an der Tür. Wer wusste, wo sie wohnte? War sie verfolgt worden? Mit einem Stock in der Hand machte sie sich auf den Weg zur Tür. Da diese keinen Spion hatte, machte sie sie vorsichtig auf und schaute direkt in das Gesicht von Jared North Jackson. Wie konnte das sein? Er hatte ihre Adresse nicht. Außer ihrem Arbeitgeber hatte niemand ihre Adresse. Pank stieg in ihr auf. War es so einfach, Adressen anderer Leute in Erfahrung zu bringen? „Ja, bitte?“ fragte sie und machte die Tür kein Stück weiter auf. Jared North las etwas von einem Papier ab. „Ich bin vom Stadtrat Los Angeles und möchte sie herzlich begrüßen in unserem schönen Rathaus eine Fotostrecke für den Anzeiger des Bezirks zu machen. Würden sie mich freundlicherweise hereinlassen?“ Eva staunte nicht schlecht. Ganz schön freundlich, dafür dass du meine Schwester gevögelt hast, du Möchtegern-Casanova.
Tag der Veröffentlichung: 05.05.2011
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