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Gebannt starrte sie auf den Fernseher. Sie konnte sich so gut identifizieren. Sich einfühlen. Sie verstehen.
Sie schaute Springreiten. Wie jeden Abend, kurz bevor sie das Licht aus machte und versuchte einzuschlafen. Ihre Gedanken kreisten nur um die Pferde. Keinen einzigen verschwendete sie an die Reiter. Ihre Pferde waren gerade mal gut genug um ihnen den Sieg zu bringen. Doch wenn man mal ehrlich zu sich selbst ist, werden doch nur die Reiter berühmt und in den Seltensten Fällen die Pferde. Selbstverständlich legen diese keinen Wert darauf. Aber irgendwo in ihrem Herzen tat sie es. Alicia-Marie Schuster. Mutter. Geschieden. Auch wenn sie sich dies nicht eingestehen wollte.
Der Abend neigte sich dem Ende zu und sie beschloss sich hinzulegen. Doch einschlafen konnte sie nicht. Sie war viel zu verwirrt und aufgelöst, als dass sie es gekonnt hätte.
Wie viel sie doch mit diesen Tieren gemeinsam hatte. Beide mussten tragen, schleppen, hieven und wurden selten gelobt. Sie wurden ausgenutzt. Lebten nur für die anderen. Und das war mehr als unnatürlich. Gott hat Pferde nicht auf die Welt gesetzt, damit sie durch die Menschen gewaltsam gefügig gemacht wurden.
Sanft rollte eine Träne über ihre rosige Wange. Denn sie wusste, dass sie sich fügen musste. Bis zum Ende.
„Mama! Verdammt, steh auf. Was soll der Mist? Soll ich verhungern oder was?!“ Mit Mühe öffnete Alicia ihre Augen. Vor ihr stand ein junger Mann. Schwarze, verklebte Haare. Kantiges Gesicht, verschwitztes Muskelshirt und stinkende Boxershorts. Ihr Sohn. „Ach Schatz. Ich bin noch gar nicht richtig wach.“ hauchte sie schwach. Alicia gähnte. „Und ich bin hungrig.“ Antwortete er scharf. „Also mach das du auf stehst. Meine Güte, ey.“ Schweren Schrittes verließ er das Zimmer. Sie drehte sich um und setzte sich auf die Bettkante. Ihre Augen waren wieder zugefallen und sie befürchtete gleich umzukippen. Also stand sie auf. Schließlich wollte sie auch nicht, dass ihr Sohn sauer war oder hungerte. Als sie den Flur entlang lief hörte sie Schüsse und Gebrüll aus dem Zimmer ihres Sohnes. Er spielte Online-Games.
Sie erinnerte sich wie die Nachbarn vor einigen Tagen kamen und sich über den Lärm beschwerten. Alicia versprach Besserung, doch mit ihrem Sohn ließ ich schon seit Jahren nicht mehr anständig kommunizieren.
Die Küche war dreckig. Überall standen schmutziges Geschirr und unaufgeräumte Lappen, Tücher und Tüten. Sie stellte sich an den Herd und begann das Frühstück vorzubereiten.
Sie hatte ein wahres Festmahl zubereitet. Auf einem Tablett stapelten sich die verschiedensten Leckereien. Ein Spiegelei in Herzform. Selbstgepresster Orangensaft. Ein frischgebackenes Brot mit Erdbeermarmelade. Daneben gebratenen Speck, ebenso wie französische Croissants und Schokodonuts. Zur Dekoration stand auch noch eine blühende Rose auf dem Tablett. Sie lächelte. Das würde ihn freuen. Er würde stolz auf sie sein.
Sie nahm das Tablett und ging langsam in sein Zimmer. Alicia bat ihn die Tür auf zu machen. „Da ist ne Klinke an der Tür. Du kannst sie also auch gleich selber öffnen.“ Knurrte er schroff. Mit dem Ellenbogen drückte sie die Klinke nach unten und trat ein. Das Zimmer stank. Es war dunkel und stickig. Alicia stellte das Tablett neben seinem Computer ab. Ihre schweißnassen Hände trocknete sie an ihrer Schürze ab. „Und? Was sagst du?“ fragte sie stolz. „Ich rieche keinen Kaffee.“ Brummte ihr Sohn.
„Ja. Naja. Du hast doch so viel anderes. Schau mal da steht Orangensaft und…“ Er unterbrach sie. „Ich will keinen scheiß Orangensaft. Wenn ich dir sag‘ du sollst mir Kaffee bringen, dann tust du das, klar?!“ schrie er sie an. Ihr stieß ein unangenehmer Alkoholgeruch entgegen. „Ich…Ich will nicht, dass du so mit mir redest.“ Wisperte sie zaghaft. „Und ich will Kaffee. Krieg ich was ich will?“ brüllte er. Alicia senkte den Kopf. „Ich mach schnell welchen, Tom.“
„Nee, jetzt will ich nicht mehr. Lass mich in Ruhe.“ Sie wollte ihm etwas sagen, doch die Worte blieben in ihrem Hals stecken. „Hast du mich nicht gehört, verdammt?“ fuhr er sie an „RAUS HIER!“
Sie lief aus dem Zimmer und schloss die Tür. Was hatte sie falsch gemacht? Sie hatte sich so angestrengt. Liebevoll hatte sie ihm ein Frühstück gezaubert und er schrie sie an.
Ihr Blick fiel auf ein Holzpferd. Wieder kam das vertraute Gefühl von gestern Abend. Ausgenutzt, getreten, geschlagen, versklavt. Genau wie ein Pferd.
Gegen Mittag hatte sie sich einen schlichten Rock und eine hellblaue Bluse angezogen. Unter ihrem Arm klemmte die schwarze Aktentasche. Sie musste sich beeilen sonst kam sie womöglich noch zu spät. Und der Tag lief bereits schlecht, dass durfte nicht so weiter gehen.
Alicia ging durch die Gänge der Kanzlei. Neben ihr erhoben sich große Bücherregale. „Oh, Frau Schuster?“ Sie wirbelte herum. Eine schlanke Frau Ende zwanzig mit langen blonden Haaren winkte ihr zu. Sie lächelte und kam auf sie zu. „Was gibt es denn, Frau Forster?“
„Hör’n sie. Könnten sie vielleicht die Akten für mich überarbeiten und sortieren. Heute Abend geh ich mit meiner Freundin ins Kino und das ist schon echt lange geplant.“ bettelte sie. Ihre vollen Lippen verzogen sich zu einem Schmollmund. „Bitte.“
„Natürlich kann ich das machen.“ antwortete Alicia und lächelte. „Dankeschön“ trällerte Frau Forster und setzte sich wieder hinter die Rezeption. Sie hob ihren linken Fuß auf den Tresen und bemalte ihre Zehen mit rotem Nagellack. Zwischen ihrer Schulter und ihrem Ohr klemmte ein Telefon. „Ja klar hat sie. Nein, die würde sogar meinen Job übernehmen, wenn ich sie bitten würde“ sie kicherte. Anscheinend hatte sie nicht bemerkt, dass Alicia noch mitgehört hatte. Aber genau das tat sie. Und jedes einzelne Wort schmerzte.
Die Nacht war herein gebrochen und die Müdigkeit zerrte an ihren Augen. Ihre Konzentration hatte sich schon vor einer halben Stunde verabschiedet. Aber sie musste sich zusammenreißen. Sie musste funktionieren. Genau wie all die Pferde die sie jeden Abend sah. Schnaubend und prustend wurden sie durch die Parcours gehetzt. Und wozu? Damit die anderen den Erfolg bekamen.
Sie fühlte sich ausgelaugt und geschafft. Jeder zerrte an ihr, wollte etwas von ihr. Doch keiner interessierte sich wirklich für sie.
Auf dem Weg nach Hause kam sie an einem Elektrohandel vorbei. Durch die Scheiben flimmerten die Bildschirme. Die Spätnachrichten wurden verlesen. Eine Frau mit blonder Bobfrisur berichtete von einem Unfall bei den Springmeisterschaften in Spanien. Ein Pferd sei mitten im Parcours durchgedreht und habe den Reiter abgeschmissen, dieser sei aber unverletzt. Alicia sah einen Schimmel, der kurz vor dem nächsten Hindernis anhält und anfängt zu buckeln. Der Reiter fällt herunter. Immer wieder zeigt man den Fall in Slow-Motion.
Der Wind strich durch ihre Haare und kühlte ihr erhitztes Gesicht. Das Blut pumpte wie wild durch Alicias Adern und dann wusste sie es.
Wenn sich dieses Pferd befreien konnte, wenn es die Last abwerfen und frei sein konnte, dann konnte sie es auch.
Sie wandte sich vom Fernseher ab und ging weiter durch die dunklen Gassen. Sie konnte frei sein, sie will frei sein und sie wird frei sein.
Sie wusste, ihr Leben hatte sich soeben komplett verändert.


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Tag der Veröffentlichung: 14.04.2012

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