Moby Dick zu Gast in Bad Tölz
Eine Walgeschichte
[South of the Border] Chatrooms:
Yoko Oh No! (18:40): Du bist soooo doof! Was du für verrückte Gedanken hast xD
Tony Macaroni (18:42): Aber es stimmt! Die kleine war nicht älter als 17 und hat sich einen Vibrator gekauft, so lang wie ein Regionalexpress. Klar, du als Mädchen willst das nun nicht gerne hören ;)
Yoko Oh No! (18:46): Es geht doch nicht ums gerne hören, dass sind einfach total ekelhafte Geschichten, die man einem Mädchen nicht erzählt. Schon gar nicht, wenn man dieses Mädchen daten will. Sag mir lieber, worüber du momentan schreibst. Ich meine, deine Hausarbeit für die Uni.
Tony Macaroni (18:49): Es tut mir leid^^ Der Vodka-Lemon hat mich leicht beschwipst. Die Mischungen in den Dosen sind gar nicht schlecht. Alsoooo. Ich schreibe über gescheiterte Autoren der letzten zwei Jahrhunderte. Autoren, die zwar mittlerweile in keinem Geschichtsbuch fehlen dürfen, aber zu Lebzeiten alles andere als erfolgreich waren.
Yoko Oh No! (18:51): Klingt cool. Ich bin zwar nicht so Literatur begeistert wie du, aber irgendwie klingt es traurig, wenn weltbekannte Autoren ihren eigenen Ruhm verpasst haben. Wie Stieg Larsson.
Tony Macaroni (18:53): Jedoch musst du davon ausgehen, Stieg Larsson hätte auch zu Lebzeiten mit seinen Romanen Erfolg gehabt. Es ist schwer zu sagen, ob er noch erfolgreicher gewesen wäre, wenn er seine Millennium-Serie fortgesetzt hätte, aber, ich denke, er wäre jetzt sogar noch viel berühmter. Doch nehmen wir mal Autoren wie Melville oder Wilde. Ausgerechnet Melvilles bekanntestes Werk (heutzutage), Moby Dick, hat dafür gesorgt, dass er, als aufstrebender amerikanischer Autor, nie wieder einen Bestseller schrieb. Das Buch wurde von der Kritik damals nahezu niedergemacht. Melville ist als unbedeutender Mann gestorben. Oder nehmen wir Wilde. Er starb verarmt in einer Bruchbude. Auch Philip K. Dick erlangte erst nach der Verfilmung von Blade Runner zu weltweitem Ruhm. Damals galt er als Science-Fiction Autor in billigen Pulp-Magazinen. Heute aber zählt er zu den herausragendsten Schriftsteller des letzten Jahrhunderts. Sogar als Prophet bezeichnen ihn seine Anhänger. Und unrecht haben sie da irgendwie nicht.
Yoko Oh No! (18:57): Ich liebe es wie emotional du alles erklären kannst =)
Was glaubst du, wird sich Moby Dick dafür noch rächen? Im Namen von Melville?
Tony Maccaroni (19:00): Ich glaube, Moby Dick hätte Melville nicht gemocht. Doch sollte Moby sich irgendwann aus dem Wolkenmeer erheben, würden wir vermutlich nichts zu lachen haben.
1.
You're just too good to be true, can't take my eyes off of you, you'd be like heaven to touch, I wanna hold you so much.
Es erinnert an ein Echo. Aber es ist unüberhörbar. Can't take my eyes off of you.
Zum Glück nicht die Version von Lauryn Hill. Es dröhnt so dermaßen, ich weiß nicht einmal wo die verdammte Musik herkommt. Doch sie ist so laut. Grässlich. Es schaudert mir, wenn ich zuhöre. Das einst fröhliche Lied wirkt plötzlich bedrückend. War ich am schlafen? Langsam öffne ich meine Augen. Doch es ist alles schwarz. Die Sicht ist etwas verschwommen, und ich kann diverse Silhouetten erkennen, was beweist, dass ich nicht blind bin. Ich weiß ja nicht einmal, wo ich mich gerade befinde. Dem Hall der Musik zu urteilen, nicht in meinem Zimmer. Mein Atem geht schneller. Angst macht sich allmählich in meinen Knochen breit. Ich schließe meine Augen wieder, und warte, was passiert. Irgendwas muss immerhin passieren, denn sonst hätte, wer auch immer dahinter steckt, keinen Spaß an dem, was er mir antut.
Als der Song endet, höre ich Publikum applaudieren. Es war wohl eine Live-Aufnahme.
Klack, Klack, Klack, Klack, Klack
. Irgendwas ist geschehen! Ich kenne das Geräusch. Versuche meine Augen zu öffnen, doch es ist zu grell. Jemand hat also das Licht eingeschaltet. Langsam öffne ich meine Augen. Vorsichtig, sonst ist es möglich, dass das Licht sie verbrennt. Es fühlt sich so an, als wäre ich im Weltraum, und würde direkt in unsere Sonne schauen. Es vergehen Minuten bis sich meine Augen an die neue Umgebung gewöhnen. Als ich den vollen Durchblick erhalte, weiß ich noch nicht genau, was ich von alldem halten soll. Ein Krankenhaus? Ja, möglich. Es wirkt steril und irgendwie riecht es auch nach Krankenhaus hier. Genau so gut könnte ich mich aber auch in einer riesigen Lagerhalle befinden. Ich liege auf einem Krankenbett. Und neben mir sind lauter seltsame Geräte aufgebaut. Neben mir befindet sich eine Trennwand. Das könnte tatsächlich die Notaufnahme eines Krankenhauses sein. Auf meinem Tisch, etwas von mir entfernt, steht ein Radio (vielleicht ist es auch ein kleiner Weltempfänger). Daher also die Musik. Mittlerweile läuft, ganz leise, der Kanon
von Pachelbel
(Gott weiß welche Version, Klassik ist mir fremd). Und, natürlich, das obligatorische Engelshemd als Bekleidung. Zumindest Unterwäsche trage ich noch. Mal schauen, vielleicht kann ich mich aufrichten..... GOTT VERDAMMTE SCHEIßE!
Ich schreie in diesem Menschenleerem Gebäude alles zusammen. Kreische wie ein kleiner Junge der zum ersten mal eine Spritze in die Arschbacken gehauen bekommt. Mein Bein! Mein verfluchtes rechtes Bein. Es schmerzt. So furchtbare Schmerzen. Was ist denn nur los? Ich umfasse mein Bein. Halte es. Doch ich spüre nur Kälte. Ich spüre..... Aluminium? Was ist das? Mein Bein ist weg! Ein Aluminium-Stab? In meinen Stumpf gerammt? Da wo einst mein Bein war? Wie verrückt stoße ich ein irres Lachen aus. Es ist ein robuster Aluminium-Stab, und, damit ich mich fortbewegen kann, ist eine kleinen Plattform am Ende befestigt, auf der ich mich abstützen kann. Ich muss die Situation realistisch betrachten. Darf nicht ausflippen. Was ist das letzte, woran ich mich erinnern kann? Eine Unterhaltung in einem Chat? Genau! Ich habe mit Lena geschrieben. Und danach? Woher soll ich das wissen!?
Momentan kann ich nur an Aluminium denken. Und, seltsamerweise, Yakisoba
. Aber ich habe gerade keine Nudeln parat. Und keine Soba-Soße. Somit kann ich diese Gedanken wohl über Bord werfen. Meine Aufmerksamkeit sollte sich nun auf das aufstehen beschränken.
2.
Vermutlich sind Äonen vergangen. Doch ich habe es geschafft mich aus diesem Bett aufzurichten. Gerade stehen ist nicht möglich, immerhin fehlt mir die untere Hälfte meines rechten Beines. Ich stütze mich an an den Eisenstangen, die an meinem Bett befestigt sind, ab. Ich schaue mich um. Rufe. Schreie. Doch hier ist keine Menschenseele. Auf dem kleinen Tisch, auf dem auch das Radio steht, liegt auch eine Zeitschrift. Mit Schmerzen schleppe ich mich zu dem Tisch, der nur wenige Meter von mir entfernt ist. Es ist eine Münchener Tageszeitung. Ich schaue skeptisch, als ich die Schlagzeile lese: „KILLERWAL NUN AUCH ÜBER DEN HIMMEL VON BAD TÖLZ ZU SEHEN. DAS ENDE DER WELT IST GEKOMMEN“
Obwohl mir ein Schauder über den Rücken läuft, muss ich schmunzeln. Der komplette Artikel ergibt für mich keinen Sinn:
Frank von Venlo, 23 August 2032: „Nun schwebt die Monstrosität auch über die kleine Gemeinde von Bad Tölz. Es ist bisher noch unbekannt wie viele Todesopfer der Angriff des Wals gefordert hat. Fest steht nur, er ist überall. Und alle Menschen scheinen wahnsinnig zu werden. Vielleicht ein guter Zeitpunkt, Ihnen, verehrte Leser, zu sagen, unser Chefredakteur ist nicht nur ein elender Antisemit, er ist auch zeugungsunfähig. Und jetzt legen sie sich am besten schlafen. Und wachen erst dann wieder auf, wenn dieser Horror ein Ende gefunden hat.“
Auf der Titelseite ist ein unscharfes Bild zu erkennen. Gezeigt wird die Altstadt von Bad Tölz. Im Himmel ist ein riesiger Schatten zu erkennen. Die Silhouette eines Wals..... vermutlich. Naja, mit Photoshop ist eine Tageszeitung leicht zu fälschen. Wäre die Welt untergegangen, würde ich nun nicht hier stehen und durch dieses Gebäude humpeln. Natürlich versuche ich meine Furcht und mein Unverständnis zu überspielen, aber all das hier ist so absurd, es übersteigt den Verstand eines Menschen. Was überhaupt soll mir diese kryptische Nachricht denn nun sagen? Verzweifelt schaue ich mich um. Kein einziges Fenster. Wenn ich etwas weiter durch den Gang schaue, wurden anscheinend manche Türen zugemauert. Es sind zumindest noch Umrisse davon zu erkennen.
Ich muss versuchen, mich fortzubewegen. Unter Schmerzen humple ich, mit voller Konzentration auf mein noch verbliebenes linkes Bein, durch die provisorische Notaufnahme davon. Als ich um die Ecke schaue, eröffnet sich mir zu meiner Linken eine riesige, leerstehende Halle mit unzähligen Türen. Rechts von mir noch einmal das gleiche Bild, allerdings scheint es ein schier unendlicher Gang zu sein der kein Ende nimmt. Dafür aber genau so viele Türen hat. Verängstigt und ratlos sinke ich zu Boden. Gehe sämtliche Szenarien noch einmal durch. Die Erkenntnis des Tages: Moby Dick wurde in Bad Tölz gesichtet. Wenn ich wenigstens wüsste, wo ich mich gerade befinde, was das hier ist und in welch verdammten Stadt ich bin. Ein Zeitungsartikel aus der Zukunft. Mit Photoshop überhaupt kein Problem.
Als ich mich wieder aufrichten will, beginnt plötzlich das verstummte Radio wieder Laute von sich zu geben. Erst ein statisches Rauschen. Dann ist eine Kinderstimme zu hören. Wobei es auch eine junge Frau sein könnte. Ich erschaudere als die Deutsche Nationalhymne ertönt und das Licht plötzlich gedimmt wird. Die Kinderstimme fängt an, Zahlen aufzusagen.
„Achtung! Eins, Tsvo, Dri, Fier, Funnef, Sechs, Seiben, Acht, Noi-Yin, Nall. I repeat: Zero, Four, One, Six, Eight, Nine, Three, Seven, Two, Five.“
Ich zähle mit. 5 Wiederholungen. Der Klang der Nationalhymne hört sich bedrohlich an. Was geht hier vor sich? Ich kauere mich zusammen. Gerate mit meiner Hand dabei an mein neues Bein aus feinstem Aluminium. Ich erschrecke. Erschrecke erneut als das Radio sich mit einem lauten Rauschen verabschiedet. Es bringt ja nichts. Wenn ich jetzt in Selbstmitleid versinke, werde ich hier noch Ewigkeiten verweilen.
3.
Gaiden [Gai-Den]
Schweiß tropft von meiner Stirn. Jeder weitere Schritt gleicht der Besteigung eines riesigen Berges. Doch ich habe es geschafft in der großen Halle beinahe alle Türen im Untergeschoss zu öffnen. Zumindest habe ich es versucht. Sie waren alle abgeschlossen. Also kämpfte ich mich zu der anderen Seite, der Gang, der sich so weit in die Länge erstreckt, dass ich kein Ende oder Ausgang entdecken kann. So gesehen erinnert das Gebäude an die Flosse eines Wales. Links eine riesige Halle aufgebaut auf zwei Stockwerken, in der Mitte und etwas weiter nach hinten Verlagert, die Notaufnahme, und rechts dieser Gang. Wäre ich nicht so verzweifelt, wäre ich glatt fasziniert.
Im Gang dann das gleiche Spielchen. Jede Tür war abgeschlossen, bis ich an eine Tür ankam, auf die, vermutlich mit einem Messer, etwas eingeritzt stand. Abre los ojos
. Öffne deine Augen
. Dabei handelt es sich um einen Mysteryfilm aus Spanien. Das Remake mit Tom Cruise, Vanilla Sky
, erlangte aber wesentlich mir Aufmerksamkeit. Ich wusste nicht, warum mir diese Gedanken kamen, aber ein wenig erinnert mich der Film an meine jetzige Lage. Ich drückte die Klinke der Tür hinunter, und es klackte. Sie öffnete sich. Ein modriger Geruch wehte mir entgegen. Es handelt sich hierbei um ein kleines Arbeitszimmer. Würde zu einen Mann passen, der sich ungefähr in seinen 50ern befindet und recht ordentlich verdient. Kleine Bücherregale, ein edler Schreibtisch und ein Sessel. Doch etwas war faul an diesem Raum, dass bemerkte ich sofort, als ich eintrat. Eine Trennwand. Und auch dahinter fand ich etwas vertrautes. Ein Krankenbett. Und auf diesem Krankenbett lag eine Leiche (nun, da liegt sie immer noch). Völlig verwest und unkenntlich. Ich stieß einen erschrockenen Laut aus und fiel zu Boden. Seitdem habe ich noch nicht die Motivation gefunden, wieder aufzustehen, noch diesen Raum zu verlassen. Ich weiß absolut nicht wer diese Person ist, aber, wäre es möglich das sie in diesem Zimmer arbeitete? Der Schreibtisch ist bis auf einen Füller und ein beschriebenes Blatt Papier komplett leer. Aus dem Hintergrund ist das Ticken einer Uhr zu hören..... die allerdings nirgendwo in diesem Zimmer zu sehen ist.
Ich robbe mich zum Schreibtisch und greife mit meinem rechten Arm auf den Schreibtisch zu und schnappe mir das Blatt Papier. Es ist eine halb vollgeschriebene Seite im A4 Format. Es trägt die Überschrift: Holloways Geschichte
.
Holloways Geschichte
Da war schon wieder dieser verfluchte Traum. In diesem Traum, da wache ich mit einem Schauder in meinem Bett auf. Ich selber weiß in diesem Moment noch nicht, dass ich in Wahrheit immer noch träume.
Aus dem Wohnzimmer höre ich meine Eltern. Der Fernseher ist laut. Sie lachen über irgendeine bescheuerte Fernsehsendung. Mein Zimmer ist stockfinster. Ich fühle mich seltsam einsam und von allen alleingelassen. Ich schalte meine kleine Leselampe an. Schlaftrunken verlasse ich mein Bett und voller Vorfreude öffne ich meine Tür und betrete den Korridor. Ich komme den lauten Stimmen näher. Ich denke mir in diesem Moment dann immer: „Endlich, alles ist wie früher. Mein Vater ist wieder da. Auch wenn ich die Zeiten mit ihm teilweise verabscheue, damals war dennoch alles schöner“. Ich durchstreife den Korridor und öffne die Tür zum Wohnzimmer. Die lauten und heiteren Stimmen sind verebbt. Das Wohnzimmer ist finster. Da ist kein Mensch drin. Nur eine einsame Kerze, die sanft leuchtet. Auf die Kerze zu starren macht mich traurig. In dieser Wohnung befindet sich in Wahrheit keine Menschenseele außer mir. Das macht diesen Traum so gruselig. Warum ist da niemand? Es fühlt sich so surreal an. Von Moment zu Moment realisiere ich es aber dann, diese Wohnung, in der ich mich da befinde, die kenne ich in Wirklichkeit gar nicht. Sie ist mir komplett fremd. Ich wache meistens auf und kann mich an kaum etwas erinnern. Aber diesmal, da fühlte es sich unglaublich real an. Auch jetzt, wenn ich darüber schreibe, sträuben sich mir die Haare. Was hat das eigentlich alles zu bedeuten? Ich glaube, da läuft etwas gewaltig schief.
4.
Und wer ist nun Holloway? Der verweste Körper, der hier in diesem Zimmer liegt etwa? Aber das ist letztendlich auch egal. Diese bedrückende Geschichte hat mir kein bisschen etwas gebracht. Nichts, was mich aus dieser Lage befreien könnte. Da ergab selbst dieser Zeitungsartikel mehr Sinn.
Unter Schmerzen richte ich mich auf, drücke die Klinke erneut herunter und verlasse diesen traurigen Raum.
Ich marschiere weiter durch den finsteren Gang. Sporadisch drücke ich die Klinken einiger Türen hinunter. Kein Glück. Bei keiner einzigen. Es ist seltsam, doch höre ich etwa aus der Ferne das Meer rauschen? Je weiter ich vorwärts gehe, umso mehr meine ich auch zu vernehmen, dass ein Wal Laute von sich gibt. Der Zeitungsartikel muss mich wohl ziemlich verwirrt haben. Zu hören ist doch eigentlich nur mein verkrüppeltes Bein wie es über den Boden schlendert.
Ein pessimistischer Mensch könnte schnell die Hoffnung verlieren, wenn er sich in einen Gang befindet, der einfach kein Ende zu haben scheint. Ich bin bestimmt schon seit einer Stunde unterwegs nach dem ich das Zimmer von Holloway verlassen habe, und nichts tut sich. Komischerweise, obwohl ich schwitze und auch Schmerzen habe, bin ich nicht erschöpft. Beinahe kommt es mir vor, als hätte ich mich längst an mein provisorisches Bein gewöhnt. Je weiter ich jedoch vorwärts marschiere, umso vielzähliger und unheimlicher werden die Geräusche des Wals. Es klingt eher, als wäre es eine ganze Armee an Walen, die draußen die Welt unterjocht. Ich werde automatisch schneller. Will wissen, was hinter diesen Geräuschen steckt.
Und, entweder spielt mir mein Verstand einen Streich, oder ich sehe tatsächlich aus der Ferne eine Person, die mit einer Kerze vor einer großen Doppeltür steht. Kein Zweifel. Da ist eine Person, die einen langen Kapuzenmantel trägt. Ich werde müde, wenn ich auf die Kerze schaue. Und je weiter ich mich der Tür nähere, desto mehr entfernt sich diese einsame Gestalt.
Als ich bei der riesigen Doppeltür ankomme (welche längst nicht das Ende des Ganges darstellt), betrachte ich die Feuerrote Stahltür ganz genau. Im Stahl befindet sich nämlich eine Gravur mit der Aufschrift: R&D Forschungen Bad Tölz. [Please turn left, because this is the end of the road].
Es gibt keinen Weg zurück. Mit voller Kraft öffne ich die schwere Tür und werde geblendet von einem Licht, so hell das es Beschreibungen des Jenseits gleich kommt. Ich trete ein in einen riesigen Ballsaal voller Prunk und verschiedener Kronleuchter. Die Decke besteht aus einem Fresko, auf dem sich ein riesiger Wal befindet der ein Schiff in der Größe der Titanic zerlegt. Ich bin überwältigt von diesem Anblick. Doch nichts scheint Real. Ein Trugbild. Ich schaue mich um und sehe eine vergoldete Treppe (wohin auch immer sie führen mag, es gibt keine weitere Etage). Unter dieser vergoldeten Treppe sitzt ein Mann der vor einem anscheinend leblosen Körper verweilt. Dieser leblose Körper befindet sich unter einer alten Bettdecke. Er trägt einen langen Mantel aus schwarzem Leder, seine dunklen Haare, so lang, dass sie ihm das Gesicht verdecken, sehen strapaziert und müde aus. Er atmet. Er lebt. Ich weiß nicht, ob ich beruhigt sein soll, oder mich vor ihm fürchten. Mein Alumnium-Bein gibt hallende Geräusche von sich. Er beachtet mich nicht. Oder realisiert gar nicht, dass ich mich hier befinde.
>>Entschuldigung<<, rufe ich leise.
Er streichelt die Person, die sich unter der Decke befindet. Immer noch schenkt er mir keine Beachtung.
>>Ich bitte sie, antworten sie mir doch<<, entgegne ich ihm nun schon etwas verzweifelter.
Dann dreht der Mann seinen Kopf. Noch immer kann ich nicht in seine Augen blicken.
>>Psssst, glaubst du, wenn du so laut redest, dass er dich nicht hört?<<
Ich verstehe kein Wort von dem Gefasel. Ich nähere mich ihm. Seine Stimme klingt tief und beruhigend. Ich setze mich hin, etwas von ihm entfernt, aber mit Blick in seine Sichtrichtung.
>>Wer ist denn, „Er“? Was geht hier vor sich, sie müssen es mir sagen.<<
Der Mann grinst.
>>Die Welt geht unter. Der Wal kommt. Erschreckend, wie zerbrechlich diese Welt ist, oder?<<
Skeptisch schaue ich ihn an. Versuche, Emotionen in seinem von Haaren bedeckten Gesicht zu entdecken. Ich könnte ihn so viel Fragen. Der Zeitungsartikel aus der Zukunft, Holloways Geschichte, Die Geräusche der Wale, dieses ganze Gebäude. Aber ich habe keine Interesse mehr daran. Seine Worte klingen so hoffnungslos und pessimistisch, von dem werde ich nichts erfahren.
>>Sigma<<, sagt er.
>>Bitte?<<, frage ich verdutzt.
>>Der Name lautet Sigma. Ich bin Sigma. Verrätst du mir deinen Namen?<<, sagt er und grinst.
Der Name. Mein Name. Vorname. Der Vorname, den meine Eltern mir gaben. Ich..... weiß ihn nicht mehr.
>>Verstehe. Du vergisst allmählich, wer du bist. Mach dir keine Sorgen. Denn irgendwann hast du vergessen das du dich über das Vergessen beklagt hast. Nimm es einfach hin.<<
Er macht mir Angst mit seinen Worten und seiner Art. Was will er mir damit sagen? Viel schlimmer ist aber, dass ich mich nicht mehr an meinen Namen erinnern kann.
Mein Blick schweift nun zu dieser verdreckten Decke. Was auch immer sich darunter befindet, es fängt an zu bluten. Es ist am ausbluten. Die Decke färbt sich rot.
>>Wer befindet sich da drunter?<<, frage ich Sigma ängstlich. Er grinst schon wieder.
>>Altlasten, mein Freund ohne Name. Nichts weiter als Erinnerungen. Hörst du ihn? Das Schloss im Himmel wird schon bald einstürzen. Schon bald ist er hier.<<
Ein genauerer Blick auf die Decke zeigt mir, dass unter ihr lange Haarsträhnen zu sehen sind. Eine Frau? Ich erschrecke mich. Ein Schauder überkommt mich. Will weg aus dieser Halle, wo ich meinte, sicher zu sein.
Sigma fängt an zu winseln, er weint. Es klingt verstörend. Und das weinen der Wale kommt ebenfalls immer näher. Ich richte mich mit all meiner Kraft auf und verlasse den Ballsaal. Ich befinde mich wieder im Gang und glaube, Sigma noch immer zu hören. Die Geräusche der Wale oder des Wals (was immer da draußen gerade passiert) überdeckt einfach alles. Mittlerweile kann ich so sicher marschieren, es ist, als hätte ich wieder zwei Beine. Oh, ja, es funktioniert! Ich kann nun sogar laufen. Ich renne! Ich renne den Lauten des Wals hinterher. Vor mir baut sich eine Lichtung auf. Hinter mir sind Schritte zu hören. Es sind mehrere. Sie werden schneller. Ich drehe mich nicht um. Ich weiß nicht, welches Grauen sich hinter mir befindet. Ich laufe einfach immer schneller und steuere auf die Lichtung zu. Als ich endlich da bin, kann ich kaum noch abbremsen. Da ist eine Klippe. Und vor mir..... das weite Meer. Es rauscht und die Möwen geben ihre üblichen Laute von sich. Ich kann meinen Augen nicht trauen. Warum ist es so dunkel draußen? Es wirkt unnatürlich. Bevor ich diese Gedanken beenden kann, spüre ich eine Hand an meiner Hüfte, die mich kurz berührt. Es ist Sigma.
Seine Haare wehen von der Brise die uns entgegen kommt. Endlich kann ich in sein Gesicht blicken. Es sieht mitgenommen aus. Seine Augen gleichen Kristallen. Ich schaue ihn wortlos an. Er macht mit seinem Kopf eine Geste, die mir deutet, in den Himmel zu schauen. Und das tue ich. Es überrascht mich kaum, dieser Anblick. Es ist ein gigantischer Wal. Er schwebt über uns und gibt ein Konzert von vielen exotischen Tönen von sich. Es beruhigt mich. Sein Anblick, seine Melodie, all das entspannt mich nach all diesen Strapazen.
>>Hab ich es dir nicht gesagt? Das Ende der Welt. Romantisch, oder? Wäre doch schön, wenn man sich so etwas mit seiner Partnerin anschauen könnte.<<
Ich lasse seine Worte auf mich wirken. Wortlos starren wir auf das Meer. Und, ganz plötzlich, verliere ich das Gleichgewicht. Aber so etwas würde mir nicht einfach so passieren. Es war ein Schubser. Das war Sigma!
Er hat mich die Klippe hinunter gestoßen. Eindeutig. Ich falle. Ich falle vor allem sehr tief. Macht nichts. Der Anblick war es wert. Ich schließe die Augen und warte, bis ich unten Aufschlage. Dann hat dieser Alptraum endlich ein Ende.
5.
Stairway [Stehr-Wey]
There's a feeling I get, when I look to the west, and my spirit is crying for leaving
Als ich aufwache, kommt mir die Melodie inklusive Gesang von Stairway to Heaven entgegen. Es ist so verdammt laut. Woher kommen diese Geräusche? Ich bin verwirrt und kann meine Situation nicht einschätzen. War ich am schlafen? Ich versuche, meine Augen zu öffnen, doch es ist unmöglich. Sie sind zu schwer. Es könnte schlimmer sein. Zum Glück wird nicht Last Christmas
gespielt. Das wäre eine Beleidigung Led Zeppelin gegenüber. Ich bin so müde. Könnte wieder einschlafen. Was auch immer hier vor sich geht, ich muss der Sache auf den Grund gehen. Aber vielleicht sollte ich erst einmal ein wenig schlafen. Ich glaube, nach einer guten Portion Schlaf kann man die Situation viel besser einschätzen.
6.
24 Dezember 2014
Das Gemurmel vieler Menschen in der Kantine der Universitätsklinik Bad Tölz ergibt ein multikulturelles Konzert. Auch am heiligen Abend herrscht Hochbetrieb im Krankenhaus. Die Jahreszeit macht halt keine Pause, nicht einmal für die Menschen.
Kommissar Engels sieht erschöpft aus. Müde von allem, was ihn in diesem Jahr widerfahren ist.
Er trinkt einen japanischen Grüntee und wartet geduldig auf seine Verabredung. Sein Blick erheitert sich, als die Person erscheint, die auf seinen Tisch zusteuert.
>>Bitte verzeihen sie meine Verspätung. Aber sie sehen ja selbst, was hier los ist.<<
Kommissar Engels erhebt sich und begrüßt den Doktor.
>>Glauben sie mir, ich weiß wie das ist, ich arbeite in einer ähnlichen Branche. Schön, dass sie da sind, ich habe nur noch ein paar fragen. Sie haben ja bereits mit dem Herrn Wilk gesprochen. Ich bin Sigmar Engels, ebenfalls von der Mordkommission.<<
Die beiden schütteln sich kollegial die Hände. Der Doktor schaut ein wenig verdutzt, weil der Name Sigmar zu solch einem jungen Ermittler nicht so ganz passt.
>>Bitte erzählen sie mir nur kurz etwas zur Lage ihres Patienten, dann bin ich auch schon wieder weg<<, weist Kommissar Engels den Doktor verständnisvoll in die aktuelle Lage ein. Der Doktor richtet seine Brille, und setzt an.
>>Er wird nicht mehr aufwachen. Er hat so viele Medikamente zu sich genommen, selbst Dornröschen würde aus diesem Schlaf nicht mehr erwachen. Der Junge wird ihnen nicht mehr zur Verfügung stehen, so leid es mir tut. Von jetzt an entscheiden seine Angehörigen, wie es mit ihm weitergehen wird.<<
Kommissar Engels räuspert sich. Es scheint, als hätte er bereits solch eine Antwort erwartet.
>>Ich danke ihnen, Doktor Martens. Scheint mir, als würde dieser Fall auch das nächste Jahr noch eine wichtige Rolle spielen. Die Leiche eines Mädchens, dessen rechtes Bein amputiert wurde in Kombination mit einem jungen Mann, der einen Medikamentencocktail zu sich genommen hat. Fröhliche Weihnachten. Das er seine Freundin ermordet hat, dürfte recht eindeutig sein. Aber was waren die Motive dafür? Falls es überhaupt ein solches gab. Alleine wenn man das Alter der beiden betrachtet macht diese Tat noch abscheulicher.<<
>>Noch immer muss geklärt werden, ob sie bereits tot war, als er ihr das Bein amputierte<<, gibt der Doktor traurig zurück.
>>So etwas wird wohl nicht sehr oft in Bad Tölz geschehen. Jedenfalls, falls ich mir diesen Spruch erlauben darf, Herr Holloway wäre vermutlich ein begnadeter Chirurg in diesem beachtlichen Krankenhaus geworden.<<
Engels muss grinsen. Doktor Martens konnte sich dem nicht so ganz anschließen.
Kommissar Engels richtet sich auf und verabschiedet sich. Etwas bedrückt schaut ihm Doktor Martens hinterher. Als der Kommissar außer Sichtweite ist, setzt sich Martens wieder.
Jetzt sitzt nur noch er alleine an diesem Tisch. Es fällt ihm schwer, die Geschehnisse realistisch zu betrachten. Er schaut raus aus dem großen Fenster der Kantine und blickt traurig drein als er die verschneite Landschaft erblickt. Doch von solchen Geschichten darf er sich nicht ablenken lassen. Er reibt sich die Augen, glaubt, übermüdet zu sein. Denn seit seiner heutigen Schicht vernimmt er immer wieder die Gesänge von Walen. Zumindest bildet er sich ein, dieses Gesänge zu hören.
>>Auch ihnen eine Frohe Weihnacht, Herr Kommissar<<, gibt Doktor Martens leise von sich und schaut weiter verträumt aus dem Fenster, mit der Hoffnung, dieser furchtbare Tag möge endlich ein Ende finden.
Ende
Anmerkungen:
Yakisoba: Japanisches Nudelgericht
Gaiden: Japanisch für Geschichte, Nebenhandlung
R&D: Research and Development
Texte: Songtext: Can't take my eyes off of you gesungen von Frankie Valli und geschrieben von Bob Crew und Bob Gaudio. Songtext: Stairway to Heaven gesungen von Led Zeppelin und geschrieben von Jimmy Page und Robert Plant
Tag der Veröffentlichung: 13.12.2012
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