Für J. die diese Geschichte wohl niemals lesen wird.
Wer war eigentlich Juliette G.?
Betrug ist ein Vergehen. Betrüger sind genau so schlimm wie Lügner. Sie berauben dich. Täuschen dich. Betrüger betrügen sich auch gerne untereinander, hörte ich. Wie sich das anhört: „Der Betrüger betrügt des Betrügers Sohn“
. Doch wer von allen ist der größte Betrüger? Der Ehemann oder die Ehefrau, die ihre Partner betrügen? Oder dein bester Kumpel, der dich um eine menge Geld prellt? Fällt es euch schwer, die richtige Antwort zu finden? Macht nichts! Ich verrate sie euch.
Es ist keiner von beiden. Ihr werdet vermutlich nicht drauf kommen, aber es sind eure Erinnerungen, die euch tagtäglich betrügen, ohne das ihr es bemerkt. Über Dekaden können sie euch einen Streich spielen. Tatsachen vertauschen. Euch etwas vorlügen. Oder sogar komplette Personen, die ihr einst gern hattet, in Vergessenheit geraten lassen. Denkt ihr einmal genau darüber nach, sinniert ein bisschen über die Vergangenheit mit alten Freunden, dann wird euch ein Schauder über den Rücken laufen, welch wichtige Dinge in Vergessenheit geraten sind.
So auch die Geschichte von Juliette G.
Mittlerweile weiß keiner mehr von uns, wie ihr Nachname lautete. Doch an das G können wir uns alle erinnern. Wer war eigentlich Juliette G.? Und was ist mir ihr passiert? Von mir selbst kann ich sagen, sie war anscheinend meine beste Freundin, die ich in der fünften und sechsten Klasse hatte. Ich glaube sogar zu wissen, dass ich total verknallt in sie war. Aber, seltsamerweise, knapp zwanzig Jahre später, da kann ich mich weder an ihr Gesicht, noch an die gemeinsame Zeit mit ihr erinnern. Sie war plötzlich fort. Wie Brecht einst sagte: „Wenn ein Freund weggeht, muss man die Türe schließen, sonst wird es kalt“
. Wohin ist Juliette denn gegangen? Habe ich sie jemals vermisst? Beim letzten Klassentreffen standen uns alle die Haare zu Berge, als sie zum Gesprächsthema wurde. Denn wie es ausschaut, existierte Juliette gar nicht. So wirklich erinnern, konnte sich nämlich keiner mehr an sie.
Das Klassentreffen ist nun einige Wochen bereits her. Es war eine Idee von Ansgar, ein Schulkamerad, den ich seit der Grundschule kenne. Auch Heute sind wir noch gut befreundet und sehen und häufig. Er hatte sich die Adressen von den Leuten herausgesucht, die noch aufzufinden waren. Die meisten schienen längst die Stadt verlassen zu haben und waren unauffindbar. Von den zehn Leuten, die Ansgar eingeladen hatte, kamen am besagtem Abend gerade mal vier. Wir waren also zu sechst. Es war ein gemütlicher Februarabend in Ansgars Apartment, und, entgegen meiner eher kritischen Erwartungen, hatten sich Jonas, Timo, Sarah und Cora kaum verändert. Mit der Ausnahme, Sarah und Cora sind nun wirklich zwei ansehnliche Frauen geworden. Nach der zehnten Klasse trennten sich unsere Wege und ich behielt lediglich den Kontakt zu Ansgar. Wir meisterten noch gemeinsam unser Abitur.
Nach mehreren Flaschen Wein und zwei Familienpizzen, am späten Abend also, hörte Jonas auf, seine üblichen Späße zu machen und wurde ernst. Die Stimmung war plötzlich von Schweigen umhüllt. Es schien, als würde ihm etwas wirklich gewichtiges auf der Seele liegen. Er strich seine Haare aus dem Gesicht, der Wind peitschte vor das Fenster und alle zuckten leicht zusammen, weil keiner ahnen konnte, wann er endlich loslegte mit seiner Rede. Die Atmosphäre war perfekt um Gruselgeschichten zu erzählen. Und letztendlich kam es eigentlich auch so. Denn Jonas erwähnte sie zum ersten mal an diesem Abend. Er entfachte die Diskussion um Juliette G.
„Sagt mal.....“ setzte er an und alle Augen waren auf ihn gerichtet.
„..... könnt ihr euch noch an Juliette erinnern?“
„Welche Juliette?“, fragte Ansgar dann ein wenig planlos.
Jonas grinste. „Gute Frage. Na Juliette G. Die aus unserer Klasse damals. Die war doch nach der Sechsten weg. Genau! Du warst doch gut mit ihr befreundet, Julian!“
Jonas Blick schwenkte zu mir und nun war ich es, der erneut zusammenzuckte. Juliette. Der Name brachte heftige Gefühle in mir hervor. Allerdings konnte ich ihn nicht zuordnen.
„Ich kann mich aber an sie erinnern. Was ist mit der?“, fragte Sarah anschließend etwas abwertender, als sie es vermutlich wollte. Jonas schaute nun noch trauriger drein.
„Weißt du es nicht mehr? Sie wurde damals als Vermisst gemeldet. Sie kam einfach nicht mehr zum Unterricht. Vom Winde verweht, könnte man sagen. Ihre Eltern haben Jahre nach ihr gesucht. Wir waren damals zu jung, diese Geschichte zu verstehen und keiner wollte uns so wirklich darüber aufklären. Aber nun, so viele Jahre später, finde ich die ganze Geschichte doch extrem seltsam. Wie es ihren Eltern wohl geht?“
Da lachte Timo laut auf und brach die frostige Stimmung.
„Aber Juliette ist doch mit ihren Eltern in eine andere Stadt gezogen. Wer hat dir denn dieses Märchen erzählt?“
Es begann eine lautstarke Diskussion zwischen den Fünf. Doch ich war ganz ruhig. In mich gekehrt. Je öfter der Name Juliette fiel, desto mehr Erinnerungen kamen zurück an sie. Die Erinnerungen kamen so heftig, dass ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen.
„Da habt ihr mich, Leute. Ich kann mich überhaupt nicht an sie erinnern. Daher werde ich nun mal austreten gehen“, sagte ich und verschwand mit dieser billigen Ausrede auf die Toilette. Die anderen waren aber doch zu sehr mit dieser Diskussion beschäftigt, als auf mich und meinen gespielten Toilettengang zu achten.
Ich wusch mir das Gesicht mit kaltem Wasser. Setzte mich anschließend auf die Toilette und dachte nach. Wer war Juliette? Wer war diese Juliette, an die sich keiner mehr erinnern konnte? Ein Flashback durchfuhr meine Gedankenwelt. Verschwommene Bilder eines hübschen Mädchens mit einem dicken Anorak und einer hellblauen Bommelmütze tauchten auf. Wir spielten im Schnee. Ja, viele andere Kinder waren auch noch anwesend. Sie vergnügten sich ausgelassen und rodelten mit ihren selbstgebauten Schlitten einen kleinen Berg hinunter. Aber all diese Bilder waren so verschwommen. All diese Erinnerungen, die mein Verstand in diesem Moment freigab, wirkten unscharf und verworren. Es war wie ein Puzzle, welches in tausende Stücke verstreut war. Wie konnte ich solche wichtigen Ereignisse vergessen?
Wie konnte ich nur eine Person vergessen, die mir so nahe stand zu dieser Zeit? Jonas verknüpfte ihre Person mit mir. Doch könnte er sich nur geirrt haben? Verdammt! Juliette? War das nicht dieses Mädchen, welches genau an diesem Wintertag auf dem gefrorenem Ententeich einbrach und ertrank? Mir standen die Haare zu Berge. Es tat bereits Weh auf meiner Haut.
Ich musste die Toilette verlassen. Noch weitere Momente in meiner Gedankenwelt und ich wäre verzweifelt. Als ich wieder im Wohnzimmer ankam, diskutierten die anderen weiter und schauten sich ein altes Klassenfoto an.
„Leute, ich kriege langsam echt Schiss. Könnten wir uns vielleicht wieder einem anderen Thema widmen?“, fragte Sarah.
„Was ist denn los?“ fragte ich in die Runde. Mit einem leichten schmunzeln verkündete Ansgar, in all den Dokumenten, die er von der fünften bis zur zehnten Klasse gesammelt hatte, wurde mit keinem Wort je eine Juliette erwähnt.
Wir nahmen alle wieder unsere Plätze ein. Ich trank noch zwei Gläser Wein um meine Gedankenwelt wieder einigermaßen zu ordnen. Die Stimmung änderte sich auch nach dem Themenwechsel nicht. Wir alle dachten in unserem Unterbewusstsein weiter über Juliette G. nach. Das Mädchen, welches wir, wie es aussah, alle gern hatten, aber niemand sich an sie erinnern konnte.
Einige Tage später traf ich Ansgar wieder. Wir resümierten noch einmal über den Abend. Und er offenbarte mir etwas schreckliches.
„Ich wollte den Abend nicht noch weiter ruinieren. Ich habe extra nichts zu dem Thema gesagt. Aber ich glaube, dir kann ich es sagen. Besonders, weil du sie so gern hattest. Ich wusste, dass meine Erinnerungen mich nicht betrügen würden. Und da ich nicht irgendwelche unbestätigten Fakten von mir geben wollte, hielt ich mich zurück. Ich habe meine Mutter nach unserem kleinen Klassentreffen auf Juliette angesprochen. Als ich ihr erzählte, dass wir uns darüber unterhielten, wer dieses Mädchen war, da wurde sie ganz bleich und musste sich setzen. Meine Mutter ist zwar auch älter geworden, aber ihre Erinnerungen sind immer noch Gold wert. Sie fing an zu weinen. Juliette G. wurde anscheinend ermordet. Und das unter ziemlich mysteriösen Umständen. In der Schule damals wurde das Thema gekonnt von unseren Lehrern und Eltern überspielt. Der Fall wurde nie aufgeklärt. Genau wie Juliettes Eltern, von denen man nie wieder etwas nach diesem Vorfall hörte. Allerdings, die Leiche des Mädchens, die man fand, war so verstümmelt und verwest, dass man nie konkret sagen konnte, dass es sich um Juliette handelte. Die Vermutungen lagen allerdings sehr nahe, da zu dieser Zeit kein anderes Kind als vermisst gemeldet wurde.
Weißt du, ich war damals immer neidisch auf dich. Ihr wart unzertrennlich. Ich weiß nicht mehr viel von damals, aber ich habe immer noch dieses eine Bild vor Augen. Ein Bild, wo ihr zwei gemeinsam einen Schneemann baut während all die anderen Kinder einen Berg herunter rodelten oder Schneeballschlachten veranstalteten.“
Und dann überkam es mich. Ich konnte gar nichts dagegen tun. Ich begann fürchterlich zu weinen. Ansgar schaute besorgt und kam zu mir und nahm mich in den Arm. Ich lies alles raus. Die Leute im kleinen Café drehten sich um und schauten uns an. Doch es war mir egal. Ich weinte bittere Tränen. Das war längst überfällig. Ich weinte über ein Mädchen, an das ich mich nicht mehr erinnern konnte und mich dennoch so sehr mit ihr verbunden fühlte.
Ja, irgendein kleines Puzzleteil in meinen Erinnerungen kann sich wohl doch noch an sie erinnern. An das Mädchen mit dem naiven Lächeln und dieser süßen Bommelmütze.
Die Geschichte gibt mir aber immer noch Rätsel auf. Wieso fing Jonas eigentlich mit diesem Thema an? Warum hatten wir alle unterschiedliche Erinnerungen an Juliette? Und warum sind die Erinnerungen so verdammt schwach? Sie kommen mir vor wie ein Sender auf Kurzwelle, der aus tausenden Kilometern Entfernung sendet, ich ihn aber nur ganz schwach empfange. Jeden Abend liege ich im Bett und denke an Juliette. Ich schlafe immer mit folgenden Gedanken ein, wobei, Gedanken ist das falsche Wort. Es sind meine Erinnerungen, die mir eine Szenerie vorgaukeln. Eine Situation, die nie stattfand. Da bin ich mir sehr sicher. Die gefälschte Erinnerung geht so: Es ist ein kalter Winterabend. Juliette ist bei mir zu Besuch und wir schauen gemeinsam Krieg der Sterne. Nach 22 Uhr klingelt es an der Haustür. Es ist der Vater von Juliette. Dann kommt meine Mutter in mein Zimmer und sagt, dass Juliette nun nach Hause müsse. Ich möchte nicht, dass sie geht. Und an ihrem Blick erkenne ich, sie will es auch nicht. Ich begleite sie wehmütig bis zu unserer Haustür. Langsam drückt sie die Klinke herunter und geht hinaus in die Dunkelheit. Noch einmal blickt sie zu mir zurück und winkt zum Abschied
. Dann endet die Erinnerung. Wohin geht sie bloß? Ich glaube, dass spielt letztendlich keine Rolle. Aber es ist wie Brecht einst sagte. Ein Freund geht fort, und die Türe wird geschlossen. Doch auch wenn die Tür geschlossen ist, will die Kälte einfach nicht fortgehen.
Ich kann ehrlich gesagt nicht sagen, ob Juliette G. wirklich existierte oder nicht. Ich denke, auch Ansgars Mutter wird wahrscheinlich von ihren eigenen Erinnerungen betrogen worden sein. Das Mädchen, welches jeden Abend in meinen eigenen Erinnerungen auftaucht, ist jedenfalls nicht echt. Es ist eine ziemlich traurige Geschichte. Ein guter Freund ist in Vergessenheit geraten. Und schuld daran sind nur meine Erinnerungen. In meinem Leben hat sich nach diesem Klassentreffen etwas verändert. Doch ich bin nicht einmal in der Lage dazu, zu sagen, was sich geändert hat.
Der letzte Tipp, den ich euch zum Ende meiner Geschichte noch geben kann: Passt gut auf eure Freunde auf. Eure Erinnerungen könnten sie euch stehlen. Ich muss auf einmal immer wieder an diesen Song, Tough Love
, von Sailor & I
denken. Wie ging der nochmal? Ach ja!
Day after day, we're wishing our lives would change;
As long as you say it's alright, it's alright with me.
If we promise too much; more than enough.
I never thought it'd be easy; not hard like this.
Ende
Texte: Songtext: Tough Love von Sailor & I
Bildmaterialien: Winter's Fairytale by Karinephoto (deviantART)
Tag der Veröffentlichung: 03.10.2012
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