Cover

1. Sie schäbiger Lump!


Roland Freisler bellt und brüllt den Angeklagten nieder. Er ist außer sich vor Wut. Der arme Tropf, der vor der Richterbank steht wird in Grund und Boden gedemütigt. Zu Zeiten, als die Nationalsozialisten das Land regierten, starb man als Angeklagter immer zweimal. Einmal vor Freisler, und anschließend am Galgen. Der Vollstrecker des dritten Reichs beförderte rund eintausend Menschen ins Jenseits. Darunter auch eines seiner prominentesten Opfer, Sophie Scholl. Sie konnte nichts gegen das Urteil ausrichten. Ihre toughen Reden würden sie vor dem Schlund der Hölle (in diesem Falle das Gericht) nicht bewahren. Kopf ab! Das antiquierte Fallbeil war bei den Nazis beliebt zur Vollstreckung der Todesstrafe.

Obwohl es bereits fast 10 Jahre her ist, kann ich mich noch genau an die Dokumentation erinnern, die ich im Bett liegend, damals auf dem Fernseher in meinem Hotelzimmer sah. Es war bereits nach 22 Uhr. Ich war sogar zu müde zum zappen. Ich kapitulierte letztendlich und verblieb auf einem Doku-Sender. Über eine Stunde ertrug ich die sinnlosen Prozesse und Urteilsverkündungen von Freisler, bis ich schließlich so genervt war, dass ich den Ton ausschaltete.
Was genau kann man noch von einer Nacht in einem Hotel erwarten, in der man sich im Halbschlaf eine Dokumentation anschaut, die sich mit Roland Freisler befasst? Vermutlich nicht viel. Was rede ich da nur, natürlich kann man von solch einer Nacht gar nichts mehr erwarten. Und dennoch sind es meistens jene Nächte die Schicksale entscheiden und einen Menschen prägen. Man erwartet nichts und bekommt dafür etwas so gewichtiges ausgehändigt, dass man auch Jahre später die Last noch nicht tragen kann. Ungefähr so war es in dieser Nacht damals.

Ich war gerade einmal vierundzwanzig Jahre alt, als einer meiner besten Freunde die Dreistigkeit besaß eines meiner Manuskripte (welches ich ihm im Vertrauen übergab) zu einem Verlag zu senden. Von da an verlief alles wie ein Dominoeffekt. Ein Erfolgserlebnis führte zum Nächsten. Mein Debüt war ein Erfolg und praktisch über Nacht wurde ich als ein anerkannter Jungschriftsteller gehandelt. Allerdings wurde mir der Trubel zu viel. Ich verließ Dortmund, meine Heimatstadt, und zog nach Frankfurt. Ganze drei Jahre ließ ich mir Zeit, bis ich meinen nächsten Roman veröffentlichte. Ich wollte mir selbst etwas beweisen. Mir beweisen, dass ich es immer noch kann. Ich konnte fortan nicht mehr entspannt schreiben und meine Geschichten unabhängig irgendwo im Internet veröffentlichen. Nun erwartete man etwas von mir. Man kannte mich. Die Feuilletons berichteten von mir. Das war praktisch unerklärlich für mich. Plötzlich las ich meinen Namen in Zeitschriften. Und der ganze Rummel um meine Person wurde mir schlussendlich zu viel. Eine ganz normale Reaktion. Ich studierte weder Literatur oder Journalismus, noch hatte ich jemals vor Schriftsteller zu werden. Mein Hobby wurde zum Beruf. Ein klassischer Fall. Ich hielt eine Zeit von drei Jahren zur Fertigstellung meines neuen Romans daher für berechtigt. Mein zweiter Roman war mein persönliches Final Fantasy

. Würde er ein ebenso großer Erfolg werden wie mein Debüt, würde ich weiterschreiben, falls nicht, nun ja, der Ausgang sollte bekannt sein.
Entgegen meiner Erwartungen jedoch war der Verlag begeistert von meinem neusten Werk. Es gab eine große Promotion und alles, was dazugehörte. In der Spiegel-Bestseller Liste für Hardcover Ausgaben führte ich fünf Wochen die Spitze an. Ich glaube dies war der Moment, wo ich sie realisierte, meine Zukunft. Ich fand mich mit dem Trubel um meine Person ab. Teilweise genoss ich ihn sogar. Damals fühlte ich mich jedoch auch wie ein heuchlerischer Lügner. Jemand der sich selbst belügt. Sich als jemand ausgibt, der er gar nicht ist. Die Protagonisten in meinen Geschichten waren einfach nicht Ich. Sie waren unpersönlich und hatten nichts mit meinem eigenem Leben zu tun. Absolut gar nichts von meinen persönlichen Erfahrungen floss in meine Charaktere mit ein. Vielleicht lag es auch daran, dass mir bis zu diesem Zeitpunkt auch nie etwas Außergewöhnliches widerfahren ist. Aber in dem Jahr, wo ich mein zweites Buch veröffentlichte, sollte sich so vieles ändern. Der Verlagsleiter fragte mich, ob ich Interesse an einer sogenannten Road Tour

hätte. Eine Reise durch die bekanntesten Städte Deutschlands. Dort würde ich in ausgewählten Räumlichkeiten Lesungen aus meinem Buch halten. Ich willigte ein. Natürlich mit der Bedingung auch in meiner Heimatstadt Halt zu machen.

Nach knapp neun Wochen kam die Tour zu einem Ende. Die Veranstaltungen waren zumeist ausverkauft und es herrschte stets eine entspannte Atmosphäre bei den Lesungen. Nach anfänglicher Nervosität fand ich auch an dieser Aufgabe gefallen. Als letztes stand eine Lesung in einer Dortmunder Buchhandlung auf dem Plan. Meine Rückkehr. Ich besuchte meine Familie und Freunde zur damaligen Zeit nur selten. Ich wollte mich von allen fernhalten solange ich meiner Selbst nicht im klaren war. Ich freute mich jedoch riesig auf die Lesung.
Aufgrund einiger Pannen auf der Hinreise erreichte ich die Dortmunder Innenstadt jedoch erst gegen 20 Uhr. Ich kündigte daheim bereits an, dass ich in einem Hotel schlafen möchte und ich mir anschließend zwei Wochen Zeit für meine Familie und Freunde nehmen werde. Mein Redakteur empfahl mir ein ein fünf Sterne Hotel in der Innenstadt. Das Oceana war ein absolut gut ausgestattetes und ordentliches Hotel. Das ist es auch Heute noch. Immer, wenn ich in Dortmund bin checke ich dort ein. Doch keine Nacht war so wie die jene Nacht, die ich damals erlebte. Nicht beruflich kehre ich immer wieder ins Oceana zurück. Nein. Ich kehre völlig freiwillig immer wieder dorthin zurück. Und immer habe ich die Hoffnung, dass ich sie noch einmal wiedersehen werde. Nein, es wäre falsch Sie alleine für meine Sehnsucht verantwortlich zu machen. Diese Nacht veränderte mein Leben, mein Denken und meinen Charakter. Dieses riesige, moderne Hotel wurde längst zu meiner zweiten Heimat. Alle drei Monate verbringe ich ein komplettes Wochenende dort. Aber ich weiß längst, dass diese einzigartige Nacht nicht zurückkehren wird. Es war der Zufall, der all diese Ereignisse in die Gänge setzte. Aber damit kann ich mich einfach nicht abfinden. So enden Geschichten doch nicht. Es fehlt der Höhepunkt. Der Twist.

Selbstverständlich war ich mir damals nicht bewusst, was mich noch erwarten würde. Ich erreichte das Hotel gegen 20:30 Uhr. Ich war erledigt von der langen Fahrt und obendrein genervt. Es bestand die Gefahr, dass die Lesung am nächsten Abend eine Katastrophe wird. Und das ausgerechnet bei meinem Heimspiel. Als ich aber die Eingangshalle des Oceana betrat, umspielte mich eine angenehme Atmosphäre. Draußen regnete es in strömen und ich war völlig durchnässt.
Ich hörte Schritte, die sich mir näherten, konnte aber nicht ausmachen, aus welcher Richtung sie kamen. Ehe ich mich versah, stand eine hübsche, charismatische Empfangsdame vor, mir die mich begrüßte. Sie ordnete sofort an, dass sich jemand um meine Taschen kümmern sollte. Alles war perfekt organisiert. Es lag nicht daran, wer ich war, man folgte dieser Ordnung bei jedem Gast, der eintraf. Es gehörte zum Service. Ein eingespieltes Team ist auch dem hartnäckigsten Gast gewachsen. Man bat mich noch eine Weile an der Bar Platz zu nehmen. Ich bestellte ein Dortmunder Kronen, um wieder etwas Heimat zu schmecken. Keine zwanzig Minuten später holte mich auch schon die sympathische Empfangsdame wieder ab. Sie geleitete mich in den fünften Stock und führte mich zu meinem Zimmer. Meine Taschen seien bereits in mein Zimmer gebracht worden, teilte sie mir auf dem Weg dorthin mit. Als der Aufzug uns in den fünften Stock brachte, und wir ausstiegen konnte ich meinen Augen kaum trauen. Ich habe auf der Road Tour in vielen Hotels geschlafen, doch keines konnte es mit dem Ambiente des Oceana aufnehmen. Überall hingen kunstvolle Gemälde. Die Gänge waren breit und geräumig.
Um die 20 Zimmer befanden sich auf dieser Etage. Ein entspannt wirkendes blaues Licht durchflutete den langen Gang. Hotelgänge können etwas Unheimliches an sich haben. Im Oceana jedoch fühlte ich mich geborgen und gut aufgehoben. Die Empfangsdame schloss die Tür zu meinem Zimmer auf und verabschiedete sich mit ihrem süßesten Lächeln. Ich trat ein und fand ein mittelgroßes Einbettzimmer vor. Es war ein gemütliches Zimmer. Der Fußboden war sorgfältig mit einem edlen Holz überzogen und beheizt. An der Wand, die zu meinem Bett zeigte, war ein großer Flachbildfernseher befestigt. Das Bett an sich war eigentlich für eine Person viel zu groß. Es machte schon beim ersten Anblick den Anschein, dass man darauf einen perfekten Schlaf genießen wird. Ein großes Fenster bot einen schönen Blick auf die Dortmunder Innenstadt. Ich hatte einen sehr guten Ausblick auf die Kampstraße. Sogar die ehemalige Union-Brauerei sah ich aus der Ferne.
Das Erste, was mich jedoch so wirklich interessierte, war das Bad. Das Bier trieb die Blase noch einmal so richtig an. Es tat gut mich endlich von diesem Druck zu befreien.

Als ich mich frisch machte und anschließend umzog, war es bereits kurz vor 22 Uhr. Der Abend war praktisch für mich gelaufen. Ich wollte nur noch in dieses weiche Bett und den Fernseher einschalten. Scheiß auf Pay-TV, ich würde sowieso schnell einschlafen. Bereits während ich ein Programm suchte, nickte ich mehrmals ein. Mit Spiegel-Geschichte konnte ich mich dann anfreunden. Und hiermit kehre ich wieder zum Anfang meines viel zu langen, unbedeutenden Prologs zurück. Leider war diese Erzählung aus meiner Vergangenheit unvermeidbar. Ich habe es jedoch so kurz wie möglich gehalten. Immerhin ist die Vorgeschichte sehr wichtig zum Verständnis des Hauptteils.

Ich hatte den Abend also bereits abgehakt. Freisler langweilte mich so sehr, dass ich den Ton des Fernsehers ausschaltete, das Licht dimmte und zu einem Buch griff. Ich las damals Und die Nilpferde kochten in ihren Becken

von Burroughs

und Kerouac

. Ich schaffte jedoch keine drei Seiten und schon nahm mich Morpheus

mit ins Land der Träume. Nicht einmal schaffte ich es mir ein paar Drinks aus der Minibar zu genehmigen.

Ich schlummerte friedlich vor mir hin. Die Lesung am nächsten Abend schien in sicheren Tüchern zu sein. Der Schlaf würde mir die Entspannung liefern, die ich brauchte. Aber alles sollte anders kommen. Alles änderte sich, als um Punkt 02:00 Uhr in der Nacht das Telefon klingelte und Herr Yamamoto aus Sendai anrief.

2. Herr Yamamoto aus Sendai


Gegen 01:45 wurde ich aus einem recht tiefen Schlaf wach. Vielleicht war eine Mücke dabei
mich auszusaugen, und gerade noch rechtzeitig kickte mich mein Unterbewusstsein aus meinen Träumen zurück in die Wirklichkeit. Etwas verdutzt schaute ich mit geöffneten Augen ziemlich planlos zur Decke. Von draußen war nur der Wind zu hören. Es war ein recht heftiger Sturm damals. Der Wind weinte bitterlich wie ein kleines Mädchen, das beim Fahrradfahren hingefallen ist. Ich verspürte Durst und ging, noch recht verschlafen, in völliger Dunkelheit zum Kühlschrank. Ich war wie in Trance. Ich schaute mir kurz die Getränke an, die Wahl fiel aber schnell auf den Eistee. Danach wanderte ich zurück ins Bett und schaltete die Leselampe ein. Mir war nicht danach wieder zu schlafen. Mir war viel mehr danach meine Lektüre zu lesen, die ich mir für diesen Abend bereithielt. Aber auch dazu konnte ich mich nicht aufraffen. Ich starrte einfach weiter planlos zur Decke. In meinem Kopf spielte sich die Melodie von How Deep is your Love

in einer Endlosschleife ab. Während die Gebrüder Gibb

in meinem Kopf ein privates Konzert hielten, musste ich überlegen, ob ich wohl ewig Junggeselle bleiben würde. Ich war ein hoffnungsloser Romantiker, so vergleichbar mit einem Ted Mosby

aus How I met your Mother

. Ich wollte mein weibliches Gegenstück finden. Mit siebenundzwanzig war ich noch so naiv und habe geglaubt, dass es tatsächlich solch ein Gegenstück gibt. Mit ende dreißig weiß ich Heute aber, dass es eine aussichtslose Suche war.

Aus meinen kleinen Gedankengängen riss mich das Klingeln des Telefons. Bis dahin hatte ich gar nicht bemerkt, dass sich überhaupt ein Telefon auf meinem Zimmer befand. Ich fand das kleine Funktelefon jedoch sehr schnell. Es stand auf einem kleinen Tisch, der sich in der Küche befand.
Nicht sicher, ob ich zu solch später Stunde noch abnehmen soll, entschied ich mich aber dennoch dafür. Zu solch einer Uhrzeit muss man meistens mit etwas Schlimmen rechnen. Nach dem fünften Klingeln nahm ich ab. Am Telefon war eine Rezeptionistin die Nachtschicht hatte.

>>Tut mir sehr leid, dass ich Sie mitten in der Nacht noch belästige. Ich habe hier einen Mann auf der anderen Leitung, der unbedingt mit Ihnen sprechen will. Ich wollte ihn mehrmals aus der Leitung werfen, aber beharrte förmlich darauf mit Ihnen verbunden zu werden. Also überlegte ich mir, Sie kurz anzurufen, und falls sie ran gehen, zu fragen, ob ich den Anrufer zu ihnen durchstellen soll.<<

Die junge Rezeptionistin klang unbeholfen. Vermutlich steckte sie mitten in ihrer Ausbildung und hatte noch nicht viel Erfahrungen sammeln können. Ich war ihr nicht böse.

>>Und wieso kann dieser Herr nicht zumindest bis zum Morgen warten? Sind sie sich sicher, dass er wirklich mich sprechen will? Außer meinen Kollegen vom Verlag und meiner Familie weiß niemand, dass ich mich hier aufhalte. Und die würden mich nicht um 02:00 Uhr in der Nacht anrufen<<, gab ich dann doch etwas misstrauisch zurück.

>>Oh nein. Das ist mir so peinlich. Nun, er spricht mit einem starken Akzent. Ich verstehe ihn nicht ganz genau. Er sagt er würde aus Japan kommen und und und...<<

Aus Japan? Hier musste etwas gewaltig schief laufen. Ich fand meine leicht schusselige Gesprächspartnerin jedoch so süß, dass ich etwas schmunzeln musste und nachgab. Ich würde es nur herausfinden, wenn sie den Anruf endlich durchstellte.

>>Okay, dann stellen sie den Anruf einfach mal durch.<<
>>Wird gemacht! Ich möchte mich noch einmal aufrichtig für den späten Anruf entschuldigen. Wiederhören.<<

Es war ein kurzes Klicken zu hören. Dann hörte ich auf der anderen Leitung einen noch viel heftigeren Sturm. Hier weinte gleich eine ganze Horde von kleinen Mädchen, die allesamt eine Bruchlandung mit ihren Fahrrad hinter sich hatten. Ich hörte eine Stimme im Hintergrund fluchen. Vermutlich auf japanisch, mir war die Sprache nicht vertraut. Plötzlich verstummte das Heulen des Windes jedoch.

>>Äh, Hallo?<<, sagte ich in einem leicht verwirrten Tonfall.
Es raschelte und knisterte. Ich konnte mir nicht im geringsten ausmalen, was im Hintergrund vor sich ging. Klar war mir nur, dass dieser Anruf von sehr weit her kam. Die Rezeptionistin lag mit Japan wohl richtig.
>>Konbanwa

. Hm. Sumimasen

. Ich bitte sie um Verzeihung.<<
Eine tiefe und markante Stimme meldete sich. Die ersten beiden Worte verstand ich nicht. Aber er war schon die zweite Person in dieser Nacht, die mich um Verzeihung bat. Ich wartete, bis er weiter sprach, und sagte nichts. Einen Akzent hörte ich jedoch nicht aus seiner Stimme heraus.
>>Ich heiße Yamamoto. Und es ist mir ein Bedürfnis mit ihnen zu sprechen. Geben sie mir zehn Minuten ihrer Zeit? Sie werden es nicht bereuen. Wenn sie alles richtig machen, dann wird es sich am Ende sogar für sie auszahlen.<<

Ein Bedürfnis mit mir zu sprechen? Dann kann dieser Anruf wohl kaum dringend gewesen sein. An diesem Punkt machte sich schon eine kleine Enttäuschung in mir breit, die schusselige Hotelmitarbeiterin schien mich angelogen zu haben. Oder der Kerl an der Leitung war einfach ein guter Schauspieler.

>>Nun, Sie wissen wohl nicht, wie spät es ist. Und kennen tue ich sie auch nicht. Ich habe am heutigen Abend einen wichtigen Termin einzuhalten. Ich brauche den Schlaf. Wenn sie sich also wirklich kurz fassen, versuche ich ihnen zu helfen, so gut ich kann.<<
>>Ich werde ihre Zeit nicht lange in Anspruch nehmen. Ich heiße, wie bereits erwähnt, Yamamoto und komme aus Japan. Um genau zu sein aus Sendai. Ihnen ist der Ort vermutlich ein Begriff?<<

Obwohl es spät war, ging mir bei dem Begriff Sendai sofort ein Licht auf. 2011 ereignete sich zu dieser Zeit in Japan ein schreckliches Erdbeben. Sendai war am schlimmsten betroffen und wurde beinahe komplett zerstört. Das Erdbeben löste eine Kettenreaktion aus und beschädigte auch das Kernkraftwerk in Fukushima. Es war eine unfassbare Tragödie. Zur damaligen Zeit lagen diese Ereignisse erst wenige Tage zurück.

>>Ja, der Ort ist mir sehr wohl ein Begriff. Tut mir wirklich sehr leid. Ich hoffe, ihren Angehörigen geht es allen gut.<<
>>Ich wusste es doch. Deutsch als Fremdsprache zu lernen, würde sich auszahlen. Wissen Sie, ich kann kein Englisch. Englisch ist solch eine grauenhafte Sprache. Meine Zunge würde, glaube ich, zerbrechen, wenn ich englische Silben aussprechen würde.<<
Er drückte sich sehr wortgewandt aus. Beinahe elegant. Der zu hörende Akzent war minimal. Wahrscheinlich hat er die deutsche Sprache von seiner Kindheit aufwärts an gelernt. Trotz allem war mir nun immer noch nicht der Grund seines Anrufes bewusst. Und was wollte er ausgerechnet von mir? Ständig schien er das Thema zu wechseln.
>>Oh, ich schweife ab.<< Konnte er Gedanken lesen? >>Vielen Dank für ihre Anteilnahme. Die Wahrheit ist, ich habe meine ganze Familie bei dem Unglück hier in Sendai verloren. Meine Frau, meinen Sohn und meine Mutter. Ich bin sogar im Augenblick obdachlos. Aber nicht mittellos. Ein Ferngespräch kann ich mir durchaus noch leisten. Und um ehrlich zu sein, auch ich bin bei dem Erdbeben ums Leben gekommen. Mein Körper liegt genau dort, wo auch die Körper meiner Liebsten liegen. Begraben unter unserem Haus. Es wird vermutlich noch Tage dauern, bis die Aufräumarbeiten beginnen. Aber ich habe nicht angerufen, um mit ihnen über ein Familiendrama zu sprechen. Sie haben bestimmt ihre eigenen Sorgen.<<

Ich musste schlucken. Sowohl von meiner Seite aus, als auch am Ende der anderen Leitung herrschte schweigen. Was meinte er bloß damit, dass auch er, wie seine Familie, begraben unter den Trümmern seines Hauses liegt? War er ein Geist? Ich war in diesem Augenblick völlig überfordert. Noch Heute kann ich mich gut an die Fragen erinnern, die ich mir selbst stellte.
>>Ich... mein Beileid. Ich sollte mich vorstellen...>>, stammelte ich vor mich hin. Ich weiß nicht mehr genau wieso ich mich plötzlich mit meinem Namen bei ihm vorstellen wollte. Mir fehlten einfach die Worte. Bevor ich ihm meinen Namen nennen konnte, warnte er mich jedoch vor den Folgen. Noch bevor ich ihm auch nur einen Buchstaben meines Vornamen nennen konnte.
>>Das würde ich nicht tun! Verraten sie einem Fremden niemals ihren Namen. Das könnte sich für Sie zu einem Nachteil erweisen.<<
>>Wieso denn das? Na... wenn sie das sagen<<, gab ich verdutzt wieder. Er verriet mir ja auch seinen Namen. War ich denn kein Fremder für ihn? >>Darf ich fragen wie sie an diese Nummer gekommen sind?<<
>>Das werden sie mir kaum glauben. Ich spürte das plötzliche Verlangen, mit einer Person zu sprechen, die nicht aus Japan kommt. Es war viel mehr ein Drang. Ich musste einfach mit jemandem reden. Und da ich neben meiner Muttersprache nur noch deutsch beherrsche, war schnell klar, wo ich den Zufall spielen lassen würde. Ich suchte mir aus dem Internet Nummern von Hotels. Ich liebe Hotels. Der Zufall arbeitete weiter. Ich will kein großes Drama machen, wie ich an diese Nummer gekommen bin. Das können sie sich selbst denken. Ich verlangte die Person in Zimmer 50 zu sprechen. Die 50 ist meine Lieblingszahl. Das Fräulein am Telefon hätte mir wahrscheinlich auch abgekauft, dass ich der Tenno

persönlich bin. Dass Sie nun mein Gesprächspartner sind und jetzt mit einem toten sprechen, hat also weniger etwas mit Schicksal, als viel mehr mit Zufall zu tun.<<
Das war ein Argument. Er war ein ausgezeichneter Redner. Ein leichter Sarkasmus schwang stets in Yamamots Stimme mit.
>>Können sie mir also nun einen kleinen Gefallen tun?<<, fragte er mich plötzlich.
>>Bitte, fahren sie fort. Ich bezweifle nur, dass ich ihnen eine große Hilfe sein werde.<<
>>Meine Bitte ist recht simpel. Hören sie einfach kurz zu was ich zu sagen habe und beantworten sie am Ende eine Frage. Es ist viel mehr eine Theorie. Stimmen Sie ihr zu oder nicht? Das ist ihre Aufgabe am Ende des Gesprächs. Es ist eine von mir selbst erstellte Theorie.<<
>>Ok. Dann legen sie mal los<<, gab ich ihm zu verstehen.
>>Da drüben in Tokio leben ein paar Freunde von mir. Es sind meine besten und einzigen Freunde, wenn ich mal genau überlege. Am Wochenende waren wir immer feiern gegangen. In Shibuya gibt es ein ausgezeichnetes Live-House. Dort spielten, als ich noch unter den Lebenden weilte, immer hervorragende Bands. Es waren unbekannte Bands. Sie hatten Spaß an dem, was sie machten, und alles klang so ungezwungen. Ohne das ein geldgieriger Produzent dahintersteckte. Ich bemerke, dass meine Erinnerungen allmählich verblassen. Der Name meiner Lieblingsband ist mir bereits entfallen. Aber immer wieder aufs Neue freute ich mich sie zu sehen. Und natürlich zu hören. Ihre Songs übten eine magische Wirkung auf mich aus. Ich konnte alles um mich herum vergessen. Den Alltag. Das Leben als Ehemann und Vater. Meinen Job. Zum Abschluss spielten sie immer wieder einen ganz speziellen Song. Er trug den schlichten Titel Kibo

. In eurer Sprache heißt das Wort so viel übersetzt wie Hoffnung

. Es war ein sanfter Rock Song. Tiefgründig. Es ist für mich unvorstellbar, dass zu dieser Zeit noch alles in bester Ordnung auf unserer einsamen Insel war. Bereits jetzt erscheint mir all das sehr unwirklich. Wird Japan untergehen? So viele Menschen sind nun tot oder obdachlos. Wie soll man da noch Hoffnung haben? Es ist ungerecht. Ich möchte noch ein letztes mal diesen Song von Judy & Mary

hören. Wie hieß er noch gleich? Sobakasu (Sommersprossen)

, genau, das war der Titel. Er würde mich nun unglaublich glücklich machen. Nun, sagen Sie, konnten sie mir folgen?<<
Ich war völlig von seinen Worten eingenommen. Es war als würde ich einem Hörbuch folgen. Ich stand wie angewurzelt in der Küche meines Hotelzimmers und lauschte ihm. Die Zeit verstrich.
>>Ja. Bitte, erzählen sie weiter<<, sagte ich knapp.
>>Sehr gut. Dann möchte ich nun zu meiner Theorie kommen. Vielleicht erscheint sie ihnen ein wenig unrealistisch, aber ich hätte gerne ihre ehrliche Meinung dazu. Ich vermute nämlich, dass die Erdbeben auf dem Mond erträglicher sind. Ich war nie gut in Physik, daher kann ich meine Theorie natürlich nicht genau beweisen. Aber ich denke, dass durch die nicht vorhandene Gravitation die Menschheit sich nicht mehr vor Erdbeben fürchten müsse. Denn sollte ein Erdbeben stattfinden, dann könnten wir ja einfach schweben und uns vom Boden lösen. Auch unsere Häuser würden schweben. Stellen sie sich das einmal vor! Das wäre doch der Wahnsinn, oder? Was halten sie davon? Ich erwarte eine ehrliche Antwort.<<

Was sollte man dazu noch sagen? Auch ich war eine Niete in Physik. Und obwohl die Nacht bald ihren Höhepunkt erreichte und ich völlig verwirrt und übermüdet war, war selbst mir bewusst wie absurd seine Theorie war. Wie sollte ich nun antworten? Sollte ich all seine Hoffnung nun zerstören? Oder ihm eine Lüge auftischen. Doch im Lügen war ich nie gut, also war die Wahrheit wohl die sinnvollste Option für mich.
>>Ihre Theorie hat durchaus ihre Vorzüge. Aber ich möchte ehrlich sein. Sie ergibt für mich nur wenig Sinn. Selbst wenn das Leben auf dem Mond bald möglich sein sollte, so einfach, wie sie sich das mit den Erdbeben vorstellen, ist das nicht. Ich weiß ja nicht einmal, ob es auf dem Mond Erdbeben gibt. Ich glaube, dass ich ihnen nicht weiterhelfen kann.<<
Einen Moment hörte ich nur ein Rauschen. Plötzlich begann Yamamoto zu lachen. Es war ein ehrliches, kindliches lachen. Er war sichtlich amüsiert.
>>Da haben sie wohl Recht! Verzeihen sie einem alten Schwätzer. Sie wissen ja gar nicht, wie sehr sie mir geholfen haben. Ich bin all das los geworden, was mir auf der Seele lag. Und obwohl ich Sie aus dem Schlaf gerissen habe, haben Sie mir aufrichtig zugehört. Ich danke ihnen vielmals. Ich habe Ihnen ja etwas versprochen. Und bitte erschrecken Sie sich nicht, aber in einigen Minuten wird es an Ihrer Tür klopfen. Bitte machen Sie dem Mann auf. Noch einmal werden Sie gebeten ihre Meinung zu etwas abzugeben. Was Sie für mich getan haben ist nicht in Worten auszudrücken. Das wird Ihnen vermutlich noch nicht bewusst sein. Entspannen Sie sich nun. Eine angenehme Nacht noch. Leben sie wohl. Sayonara.<<
Rums. Noch bevor ich irgendetwas sagen konnte, knallte Herr Yamamoto aus Sendai den Hörer auf. Was geschah da nur? Ich war völlig perplex. Wenn er tatsächlich recht behielt, würde es gleich an meiner Tür klopfen. Ich würde ganz sicher nicht Fit für die Lesung am Abend sein. Viel wahrscheinlicher war allerdings, dass ich mich mit einem Verrückten unterhielt. Und einen Beweis dafür, dass der Anruf aus Japan kam gab es ebenfalls nicht. Und die Rezeptionistin hätte mir darüber wohl kaum eine Auskunft geben können, so unerfahren wie sie war.
In Reichweite war der Kühlschrank. Ich spürte ein extremes Verlangen nach einem Glas Hennessy

. Im Kühlschrank befand sich jedoch lediglich eine kleine Flasche Jim Beam

. Welch ein Pech.

3. Kaiser Claudio Augustus und die Frau die nach Vanille duftete


Ich schnappte mir den kleinen Jim Beam

und legte mich zurück ins Bett. Ich schraubte die Flasche auf und zog sie in einem Zug runter. Wie absurd dieses Telefonat doch wahr

, sprach ich zu mir selbst. Sollte es sich hier um einen Scherz gehandelt haben (vielleicht sogar von ein paar Witzbolden aus dem Verlag), so hatte ich durchaus einen Grund sauer zu sein. Denn Herr Yamamoto raubte mir knapp 40 Minuten meiner Zeit. Erreicht hatte dieser Anruf lediglich, dass ich verwirrt in meinem Bett lag und nach dieser Aktion erst recht nicht mehr einschlafen konnte. Ich schaltete den Fernseher ein, um etwas Ablenkung zu finden. Beim zappen durch die Programme landete ich auf CNN

. Was für ein Timing

, sprach ich erneut zu mir selbst. Dort wurde natürlich über das Erdbeben in Sendai gesprochen. Nun aber übernahm das Thema des beschädigten Atomreaktors überhand. Ganz Japan stand vor einer fürchterlichen Katastrophe. Die Bilder, die von Chaos und Zerstörung regiert wurden, bedrückten mich. Anderson Cooper

selbst fand kaum noch Worte für dieses Brachland, welches in Trümmern lag.
Ich schaltete weiter und landete wieder auf Spiegel Geschichte. Allmählich konnte ich jedoch nur noch grinsen. Es lief die Wiederholung der Freisler Doku. Ich fühlte mich durch den Bourbon ein wenig schläfrig. Ich rechnete nicht mehr damit, dass Yamamotos Freund nun gleich vor meiner Tür stehen würde. Immerhin sind weitaus mehr als ein paar Minuten vergangen. Meine Augen wurden schwerer, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Das Bett schien wohl eine magische Wirkung zu besitzen. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich döste, aber ein leises Klopfen weckte mich. Ruhe war mir in dieser Nacht wohl nicht vergönnt. Konnte das der Kerl sein von dem Yamamoto sprach? Dass ich mir überhaupt Gedanken darüber machte, ärgert mich noch Heute. Wer hätte es sonst sein können, der Zimmerservice?

Nur mit Shirt und Unterhose bekleidet schritt ich zur Tür. Ich wusste nicht einmal mehr, wie spät es war. Ich öffnete bereitwillig die Tür. Wer so höflich klopfte, der konnte doch nicht Böses im Sinn haben, oder? Mir war kaum bewusst, in welche Gefahr ich mich begab. Und beinahe hätte es mich zu Boden geworfen. Als ich die Tür öffnete, stand eine Person vor mir, die sämtlicher Logik widersprach. Es war ein Mann um die fünfzig. Gekleidet in einer Tunika. Auf dem Kopf trug er einen Lorbeerkranz. Die Haare setzten bereits graue Ansätze an. Wer hätte er sein können? Julius Cäsar

? Vespasian

? Oder habe ich was verpasst und es war Rosenmontag? Unmöglich. Es war März. Die alberne Zeit des Verkleidens war vorüber.
>>Ave verehrter Herr, morituri te salutant

<<, sprach er förmlich zu mir. >>Darf ich eintreten? Sie waren doch sicher über mein Kommen informiert?<<
Ich musterte ihn genau. Es machte keinen Sinn. Seine ganze Person ergab keinen Sinn.
>>Der Freund von Yamamoto aus Sendai, habe ich recht?<<
>>Yamamoto aus Sendai? Ich wüsste nicht, von wem Sie sprechen. Aber es wird schon in Ordnung gehen. Ich werde Sie nicht lange aufhalten. Geben Sie mir ein paar wenige Momente Ihrer kostbaren Zeit ab. Ich werde mich auch erkenntlich zeigen.<<
>>Treten sie ein, Kaiser<<, sagte ich genervt und dabei entfuhr mir ein Seufzer.
Ich geleitete ihn in die Essecke. Dort stand immerhin ein Tisch, und dazu, passend zur Situation, zwei Stühle. In grazilen Bewegungen machte er es sich auf dem Stuhl bequem.
>>Verraten sie mir, woher wussten Sie, dass ich ein Kaiser bin? Gestatten: Kaiser Claudio Augustus. Herrscher des römischen Reiches und Nachfahre von Gaius Aurelius Valerius Diocletianus. Und ich rede hier nicht von dem elenden Usurpator Aurelius Valerius. Der war lediglich ein Schandfleck und wurde schnell den Löwen zum Fraße vorgeworfen.<<
>>Aha<<, gab ich verblüfft von mir. Und ohne Frage. Verblüfft sein war hier noch eine Untertreibung. >>Was möchten Sie denn nun von mir, Kaiser Augustus? Kann ich ihnen einen Kelch Wein oder ein paar Trauben anbieten?<<
>>Nein Danke. Ich möchte gerne direkt zu meinem Anliegen kommen.<<
Ironie und Sarkasmus waren ihm wohl ein Fremdwort.
>>Das römische Volk leidet. Mars war erzürnt darüber, in welcher Wollust die Menschen leben, und ließ einen Vulkan nach dem anderen ausbrechen. Hunderttausende von unschuldigen Bürgern, meinen Bürgern, mussten bereits ihr Leben lassen. Das Volk ist verängstigt und unsicher. Ein paar weise Männer aus dem Senat wiesen mich an, Sie aufzusuchen. Sie wüssten Rat. Ich flehe sie an, sagen Sie mir, was ich tun soll.<<
Es war ein pathetisches flehen. Es fehlte nur noch, dass er vor mir kniete. Ich konnte weder sagen, ob es Erdbeben auf dem Mond gibt, noch wusste ich, wie man eine wild gewordenen Gottheit beschwichtigt. Ich wollte eigentlich nur noch schnell ins Bett. Doch die Bitte eines römischen Kaisers kann man doch nicht so einfach abschlagen. Ich musste ihm irgendwas erzählen.
Also überlegte ich mir etwas. Auch wenn dabei nichts sinnvolles Sinnvolles heraus kommen sollte.
>>Sie haben recht. Ich bin genau Ihr Mann. Ich möchte, dass sie versuchen ihr Volk zu beschwichtigen. Suchen sie die Nähe zu ihnen. Sie müssen ihnen klar machen, dass sie alles unter Kontrolle haben und all das bald ein Ende haben wird. Bauen sie eine Statue, die Mars portraitiert. Sie muss so groß sein wie ihr bedrohlichster Vulkan hoch ist. Lehren sie ihrem Volk in Einklang miteinander zu leben. Sündigen Sie weniger. Danach werden die Götter sich rasch beruhigen.<<
Verdammt. Ich hatte gegen meine Prinzipien verstoßen. Ich belog ihn. Ich wusste überhaupt nicht, wovon ich sprach. Von Politik und Mythologie hatte ich genau so wenig Ahnung wie von Physik.
>>Famos! Wahrlich famos! Meine Verbündeten hatten nicht unrecht. Sie sind ein Meister ihres Fachs. Darauf müssen wir anstoßen! Ich wohne in Zimmer 54

. Gleich hier auf der Etage. Bitte kommen Sie mich gleich besuchen. Ziehen sie sich eine Hose an und kommen sie mich besuchen. Ich würde mich sehr freuen. Ich kann es kaum erwarten mit solch guten Neuigkeiten nach Rom zurückzukehren. Gesonnen sie sich wohl, verehrter Herr.<<
Er stand auf, verbeugte sich leicht und verließ die Tür. Schon wieder bliebt mir keine Gelegenheit nach dem Sinn dieser Unterhaltung zu fragen. Er zog die Tür sanft hinter sich zu. Ich war allein. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es nun 04:00 Uhr in der Nacht war. Sie war so gut wie gelaufen. Sollte ich dem römischen Kaiser einen Besuch abstatten? Wieso auch nicht! Verrückter konnte es wohl kaum werden. Hier roch es ziemlich stark nach Versteckter Kamera. War ich bereits so berühmt und abgehalftert, dass man mich nun in solch einer Show reinzulegen versuchte? Ein Japaner, der fließend deutsch sprach, mir erklären wollte, dass er ein Geist ist. Und dazu auch noch ein römischer Kaiser, ebenfalls in fließendem Deutsch, der mich um Rat fragte, wie er sein Volk retten konnte. In welche Richtung würde diese Geschichte wohl noch verlaufen?
'Cause we're living in a world of fools Breaking us down

.

Ich rieb mir die Augen und entschloss mich dazu eine Hose anzuziehen und dem Kaiser einen Besuch abzustatten. Vielleicht würde mich ein Schlaftrunk wieder ins Land der Träume bringen. Wenn das nicht alles bereits ein Traum war. Diese Möglichkeit zog ich noch gar nicht in Betracht zum damaligen Zeitpunkt.
Ich zog mir meine altmodischen Pantoffeln an, trat hinaus in den immer noch blau leuchtenden Flur und schloss meine Tür ab. Zimmer 56

war nur ein paar Schritte entfernt. Mehrmals überlegte ich mir, ob ich wirklich klopfen sollte. Eine Nacht voller Entscheidungen!
Ich klopfte. Zweimal. Aus dem Zimmer drang Rockmusik. Dann wurde aufgeschlossen und Kaiser Augustus öffnete die Tür. Aber er hatte sich ganz schön verändert, seit wir uns das letzte mal gesehen haben. Vor mir stand nicht der Kaiser. Es war eine Frau. Bekleidet in einem ärmellosen blauen Top und einer bequemen Turnhose. Vor mir stand tatsächlich eine hinreißende Frau. Bereits ihr Blick zog mich sofort in ihren Bann. Sie hatte ziemliche Ähnlichkeit mit der französischen Schauspielerin Mylene Jampanoi

. Sie hatte einen asiatischen Touch an sich. Ihre Augen waren nicht wirklich rund. Ihr Haar war schwarz und ragte ihr bis weit über die Schultern hinaus. Ihre Figur konnte man nur als perfekt bezeichnen. Sie schaute mich überrascht an. Aber in ihrem Blick lag keine Verachtung gegen mich. Es war viel mehr ein sehr sympathischer Blick. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie fand die Situation wohl gerade sehr witzig. Ich war in der Schule in den meisten Fächern schlecht. So erging es mir auch mit Frauen. Denn mein Verstand meldete sich ab und ich begann mein Anliegen vorzutragen.
>>Ich würde gerne zu Kaiser Augustus.<<
Sie brach in Gelächter aus. Ohne irgendwas vorher gesagt zu haben. Sie lachte mich nicht aus. Es war, als hätte ich ihr einen unheimlich komischen Witz erzählt.
>>Der ist leider nicht da. Scheint so, als müssten sie sich mit seinem Weib zufriedengeben.<<
Ihre Stimme zerschmetterte alles, was von meinem Verstand noch übrig geblieben war. Und das war nach dieser Nacht gewiss nicht mehr viel. Auch ich musste nun lachen.
>>Ha, das ist mir nun echt sehr peinlich. Ich kann das nicht erklären. Fuck

, was tue ich hier eigentlich? Ich wollte Sie nicht belästigen. Ich dachte nur, dass mein Besuch hier logiert. Aber ich muss mich wohl im Zimmer geirrt haben. Wir wollten uns einen trinken<<, plapperte ich unbeholfen und war der Meinung mich immer weiter in die Misere zu reiten.
>>Hm. Sieht ganz so aus. Aber mir ist gerade langweilig. Sie können ruhig mit mir einen trinken. Oder wäre ihnen die Gesellschaft einer scharfen Frau nicht willkommen? Außerdem sehen Sie so aus als könnten sie einen gebrauchen.<<
Wieder lachte sie. Und ich lies mir dieses Angebot wohl kein zweites mal sagen. Sorry

, Kaiser.
Ich trat vorsichtig in ihr Zimmer ein. Keine Ahnung, wieso ich mich wie ein Einbrecher fortbewegte.
Sie ging vor mir und ich konnte dabei ihr Hinterteil bewundern. Ich musste träumen.
Ihr Zimmer war identisch zu meinem. Hotelzimmer sind ja bekanntlich alles Klone. Das Einzige, was sich von meinem und ihrem Zimmer unterschied, war der Geruch. In ihrem Zimmer duftete es nach Vanille. Sie deutete nun in der Essecke, dort wo ich in meinem Zimmer schon mit Kaiser Augustus gesessen habe, auf einen Platz und ich setzte mich. Dies tat sie mir gleich. Ich war nicht betrunken genug, um das Eis zu brechen. Welchen Grund hatte sie mitten in der Nacht einen Fremden zu öffnen, der auch noch extrem fragwürdiges Zeug vor sich hin plapperte?
>>Ich habe ihr Buch gelesen! Das mit den sprechenden Hunden. Abgedreht. Aber ich fand es sehr cool.<<
Sie kannte mich also. Deswegen öffnete sie mir so bereitwillig die Tür und lud mich zu einem Drink ein. War ich wohl ein prominenter für sie?
>>Ich bitte Sie. Mein Erstling war eine Katastrophe. Aber es freut mich, dass Sie mich überhaupt kennen. Sie hätten mich auch ganz leicht für einen verrückten halten können und mich bei der Rezeption melden können. Sie werden mir nicht glauben, was ich für einen seltsame Nacht ich hinter mir habe. Und sie ist immer noch nicht vorbei.<<
Sie gab ein süßes Stöhnen von sich. Sollte es einen Seufzer darstellen? Sie stand auf und ging zum Kühlschrank und richtete schweigend zwei Getränke her.
>>Hier. Trinken<<, befahl sie mir. Das war mir recht.
Ich nahm einen großen Schluck. Ich konnte das Getränk nicht zuordnen.
>>Was ist das?<<, fragte ich sie.
>>Ein Geheimrezept<<, konterte sie stolz.
Der Drink hatte es in sich. Er flutete meinen aufgewühlten Magen und entspannte mich. Daraufhin war mir danach die Initiative zu ergreifen.
>>Ich mag es, wenn mich junge Frauen mit Du ansprechen. Dann habe ich zumindest nicht das Gefühl mich wie ein alter Mann zu fühlen.<<
>>Naja, so jung bin ich gar nicht. Aber gerne. Du. Ich heiße Yoko. Jaja, wie die von John Lennon, ich weiß. Und ich glaube nicht das deine Nacht verrückter war als all meine letzten Tage zusammengezählt. Nach dem Tohoku-Erdbeben

bin ich wie eine wild gewordene Hyäne in den nächsten Flieger gestiegen und habe meinen Vater in Tokio besucht. Ich erreichte ihn einfach nicht. Nun ja. Ihm geht es gut. Ich hing jedoch für einige Tage in Tokio fest. Es herrscht totales Chaos dort.<<
Ein Schauder machte sich breit. Sendai schien mich zu verfolgen. Ich nahm erneut einen großen Schluck aus meinem Glas.
>>Ich hoffe, all deinen Angehörigen geht es gut.<<
>>Ja. Niemanden ist etwas geschehen. Ich hätte sie am liebsten alle mitgenommen. Aber sie wollen nicht. Ich habe solch eine Angst um sie, dass sie vielleicht radioaktiv verseucht werden, wenn sie weiter in Tokio bleiben. Meine Mutter ist Deutsche. Sie ist mit meinem Vater schon vor knapp fünf Jahren nach Japan gezogen. Ich entschied mich hier zu bleiben. Ich glaube, das war ein Fehler. Erst jetzt bemerke ich, wie sehr ich sie vermisse.<<
Einige Drinks später redeten Yoko und ich bereits so, als würden wir uns Jahre kennen. Ich fühlte mich in der Gegenwart einer Frau noch nie so wohl. Wir müssen beide etwas angetrunken gewesen sein, denn sie machte mir ein Angebot, welches man einfach nicht abschlagen konnte.
>>Na los. Ab ins Bett mit uns. Also nicht jeder in sein eigenes, sondern du in meines<<, säuselte sie vor sich hin. Ich war nicht abgeneigt. Wir zogen von der Essecke in ihr Bett um. Dicht nebeneinander lagen wir dort. Ich konnte sogar ihren Atem spüren. Der Fernseher war aus. Das Bett war dafür genau so einladend wie das in meinem Zimmer. Der Duft von Vanille machte sich nun sehr intensiv in meiner Nase breit. Noch Heute steigt er mir manchmal in die Nase. Damals war es mir egal ob sie mich nur mochte, weil ich einen gewissen Bekanntheitsgrad besaß. Ihre Nähe machte mich einfach glücklich. Es war, wie Yamamoto sagte. Es war nicht das Schicksal. Uns brachte eine Anhäufung von Zufällen zusammen. Alles war ein großer Zufall.
Als wir gemeinsam im Bett lagen, sie sich dicht an mich kuschelte, achtete ich etwas genauer auf die Musik. Mir gefiel der Song, der da lief. Ich verstand jedoch kein Wort, es musste etwas japanisches gewesen sein.
>>Wie heißt der Song, der da gespielt wird? Ich mag ihn.<<
>>Das sind Mars

mit Kibo

. Eine japanische Indie Band

.Wenn du magst übersetze ich dir den Text.<<
Ich musste unweigerlich anfangen zu grinsen. Alles nur ein großer Zufall.
>>Das brauchst du nicht. Es hat etwas Aufregendes den Text nicht zu verstehen.<<
>>Du bist ein komischer Kerl, weißt du das? Ist auch egal. Ich hätte Lust auf ein bisschen Entspannungssex. Wie steht es mit dir? Oder kommt dir das gerade nicht so gelegen? Wenn du dafür bist, geh ins Bad, da sind Kondome. Aber echt nur, wenn du möchtest.<<
Mir fehlten die Worte. War das ein Angebot? Hatte ich mich auch nicht verhört? Das war zu schön, um wahr zu sein. Eine bezaubernde Frau, die mit mir schlafen wollte. Ich konnte mich schon gar nicht mehr daran erinnern, wann ich zuletzt mit einer Frau geschlafen hatte.
>>Ich glaube, ich habe Lust<<, gab ich lächelnd zurück und ging in ihr Badezimmer. Dabei wusste ich gar nicht, wo die Kondome versteckt waren. Ich öffnete den Spiegelschrank und wurde fündig. Durex Extra Tight

. Komischer Name für ein Kondom.
Ich kehrte ins Schlafzimmer zurück. Sie lag immer noch da. War keine Illusion. Ich legte mich zurück zu ihr ins Bett. Sie sah mitgenommen aus. Die Musik lief nur noch leise im Hintergrund.
>>Kann ich dich um einen Gefallen bitten?<<, sprach sie in flüsterndem Tonfall zu mir.
>>Sicher. Soll ich dir vielleicht erklären, ob die Erdbeben auf dem Mond erträglicher sind?<<
>>Bitte was? Red keinen Unsinn<<, fauchte sie. Das war wohl der falsche Moment für einen schlechten Scherz.
>>Du sollst mich einfach eine Weile halten. Ich möchte mich etwas an dir anlehnen. Du bist doch ein guter Erzähler. Erzähl mir eine Geschichte über sprechende Giraffen.<<
Sprechende Giraffen also. Ich kannte diese Frau seit nicht einmal 2 Stunden. Und schon wollte sie mit mir Sex und eine Geschichte über sprechende Giraffen hören.
>>Dein Wunsch ist mir Befehl<<, sagte ich überraschend cool.
Sie lächelte. Dieses lächeln war mehr wert, als nur miteinander Sex zu haben. Es war vollkommen ernst gemeint. Sie hatte anscheinend wirklich Interesse an mir. Also erzählte ich ihr eine kuriose Geschichte über ein Ehepaar sprechender Giraffen, die mit einem selbstgebauten Boot nach Hawaii segelten. Die Geschichte hatte jedoch kein Happy End

. Als die beiden Giraffen den Strand von Honolulu erreichten, war Frau Giraffe so genervt von ihrem Gatten, dass sie sich kurz darauf von ihm scheiden ließ. Yoko kicherte das ein oder andere mal. Irgendwann schlief sie ein. Ich erzählte die Geschichte dennoch bis zum Ende. Das machte mich selbst ziemlich müde. Goodbye, Sex

. Ich legte das noch eingeschweißte Kondom auf den Nachttisch. Wer brauchte schon Sex? Der machte höchstens ein paar einsame Giraffen glücklich. In Gedanken versunken schlief ich kurze Zeit später ebenfalls ein. Es war ein himmlischer Schlaf. In meinen armen eine hinreißende Frau. Ich durfte nicht vergessen mich noch bei Herr Yamamoto zu bedanken. Er hielt sich an sein Versprechen. Yoko war meine Belohnung.

Yoko weckte mich um 11 Uhr am nächsten Morgen. Wir küssten uns. Ich wusste nicht, wo ich bei ihr dran war. Beim Frühstück erzählte sie mir, dass sie in einer Wohngemeinschaft in Düsseldorf wohnt und Anglistik studiert. Ich fragte sie, ob sie bei der Lesung am Abend dabei sein würde. Sie bejahte. Sie wollte nur vorher ihr Gepäck zu ihrer WG bringen. Am Abend sei sie aber pünktlich wieder da. Ich freute mich sehr über ihre Zusage. Ich begleitete sie zum Dortmunder Hauptbahnhof. Zum Abschied reichte sie mir ein kleines Kärtchen auf der ihre Handynummer stand.
Ich schloss sie leidenschaftlich in meine Arme. Wie in einem kitschigen Liebesfilm. Wir küssten uns ein letztes Mal, bevor sie in ihren Zug einstieg. Nein, Yoko war kein Traum. Träume haben sich komplett aufgelöst wenn man am nächsten Morgen aufwacht. Yoko war ein Zufall. Der beste, der mir je passiert ist. Als sie den Zug betrat, winkte sie mir zum Abschied. Nie hätte ich gedacht, dass ich sie zu diesem Zeitpunkt bereits das letzte mal sah.

4. Raison d‘etre


Yoko erschien nicht zur Lesung. Ich lies mir die Enttäuschung aber nicht anmerken. Ich verspürte im Inneren immer noch eine extreme Zufriedenheit. Ich wollte nicht gierig wirken und war insgesamt überglücklich über das, was mir widerfahren ist. Unter ihrer Handynummer habe ich natürlich auch niemanden erreicht. Als ich aus dem Oceana auscheckte, fragte ich die nette Empfangsdame vom Abend zuvor nach der schusseligen Rezeptionisten, die mich in der Nacht anrief. Die Empfangsdame wusste mit der Beschreibung nichts anzufangen. Zudem erklärte sie mir, dass in der Nacht gar keine auszubildenden im Hotel anwesend seien. Das gleiche gilt auch für den Anruf an sich. Zu meinem Zimmer wurde kein Anruf durchgestellt. Schon gar nicht aus Japan.
Ein wenig rechnete ich sogar mit diesen Antworten. Ich verließ das Hotel Oceana mit einem gewissen Wehmut.

Volle fünf Jahre verbrachte ich damit ganz Düsseldorf nach einer Person namens Yoko abzusuchen. Es gab zahlreiche Yokos in Düsseldorf. Ich vernachlässigte sogar meine Arbeit für diese Suche. Die Nacht im Hotel wurde immer mehr zu meinem persönlichen Raison d‘etre

. Der Sinn meiner Existenz bestand darin Sie wiederzufinden. Natürlich fand ich mich irgendwann damit ab sie nie wiederzufinden. Höchstens der Zufall würde uns wieder zusammenbringen. Die ganze Nacht basierte auf Zufällen. Das ich jährlich ins Oceana zurückkehre, wurde viel mehr zu einer Tradition. Eine Tradition diese völlig verrückte Nacht zu ehren. Indirekt habe ich, wenn ich es mir nun recht überlege, meine eigene Frau betrogen. Obwohl wir verlobt waren, suchte ich immer noch wie besessen nach Yoko. Ich lernte meine jetzige Frau zwei Jahre nach dieser Nacht kennen. Nie erzählte ich ihr etwas von Yoko. Und ich muss es einfach zugeben. Würde ich Yoko wiedertreffen, würde ich diese Nacht wiederholen. Ich würde ihr erneut die Geschichte von den Giraffen erzählen. Und vielleicht würde ich dann auch mit ihr schlafen.
Auch wenn es nur ein großer Traum ist, so bewahrt er mich davor in meiner Monotonie unterzugehen. Ich schreibe immer noch recht erfolgreich Romane. Und meine Charaktere haben immer noch nichts mit mir gemein. Ich bin kein bisschen reifer geworden. Und doch meine ich nun das Leben besser zu verstehen. Vielleicht bilde ich mir das auch alles nur ein. Wenn mein Sohn alt genug ist, werde ich zumindest ihm von Yoko erzählen. Ich wünsche mir für meinen Sohn sehr, dass er einmal seine Seelenpartnerin finden wird. Natürlich muss er es vielleicht irgendwann akzeptieren, dass es so etwas wie eine Seelenpartnerin nicht gibt. Doch diese Erfahrung muss er selbst machen.
Ich überlege mir vielleicht mit meiner Familie nach Dortmund zu ziehen. Tief im Inneren weiß ich, dass auch dies nur ein Vorwand ist, um näher am Hotel Oceana zu sein.

Ich bin ein hoffnungsloser Romantiker. Das wird sich wohl nie ändern.
Aber ich bin auch ein Nostalgiker. In der aktuellen Fernsehzeitung steht, dass Heute auf dem History Channel eine Dokumentation über Roland Freisler gezeigt wird.

How Deep is your Love?


Auch hier müsste ich lügen, wenn man von mir eine ehrliche Antwort auf diese Frage verlangt.


Ende


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 15.07.2012

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