"Kommst du Weihnachten nach Hause?", fragte meine Schwester Melanie mich am Telefon.
"Ich weiss noch nicht, Mel," sagte ich, "Es sind gut 8 Std Fahrt mit dem Auto."
"Ach komm, gib dir einen Ruck, fahr mit dem Zug. Dann sind es nur 6 Stunden. Ich habe dieses Jahr ein neues Soziales Projekt.", prallt sie.
Noch bevor ich etwas sagen konnte, redete sie schon wie ein Wasserfall los.
Sie erzählte mir von einen Verein der Rucksäcke mit Lebensnotwendigen Dingen an Obdachlose verschenkte. Sie ratterte eine ewig lange Liste an Dingen herunter, bei denen ich persönlich gesagt hätte, dass man alles andere als diese zum leben auf der Straße braucht. Das ganze nannte sich ein Rucksack voller Hoffnung.
Aber es waren auch Dinge dabei die wirklich wichtig waren. Handschuhe, dicke Socken, Mütze, Schal und bestimmte Hygieneartikel.
Zwei Stunden später hatte ich das Gespräch bereits verdrängt und beschlossen nicht nach Hause zu fahren.
Da traf ich Lisa.
Lisa war eine alte Dame die zwar nicht Obdachlos war, aber einen Teil ihres Einkommens damit bestritt Pfandflaschen zu sammeln.
Ich kannte Lisa, eigentlich kannte jeder hier Lisa. Sie war genauso oft hier vor dem Kaufland anzutreffen wie vor anderen Läden in der Stadt.
Sie hatte immer einen Einkaufwagen dabei in dem sie die Flaschen sammelte. Viel Leute, so wie ich auch oft, brachten ihren Flaschen nicht zur Rückgabe, sondern legten sie in Lisas Einkaufswagen. Ich überließ ihr immer die Pfandflaschen die sich in meinem privaten PKW oder dem dienstlich genutzten LKW angesammelt hatten.
Sie bedankte sich stets und manches mal blieben Leute stehen um mit ihr ein paar Worte zu Wechsel.
Auch dieses mal legte ich mehrere Flaschen und Dosen in ihren Wagen.
"Vielen Dank, sie sind ein guter Mensch.", sagte sie und lächelte.
Ich betrat den Kaufland um einige Dinge einzukaufe
An den Wühltischen der Sonderangebote kam mir Mels Projekt wieder in den Sinn.
Da lagen mittelgroße Rucksäcke die bereits zum zweiten mal reduziert worden waren.
"Also gut, Mel du hast gewonnen.", brummte ich und legte einen der Rucksäcke in den Einkaufswagen.
Es dauerte nicht lange da füllte ich ihn mit einigen der Dingen die Mel mir am Telefon genannt hatte.
Aber dann beschloss ich dass es wichtigeres gab als Einwegrasierer und derartiges Zeug.
Stattdessen kaufte ich Fertiggerichte wie Yamyam Nudeln, 5 Minuten Gerichte, Instant Kaffee mit integrierter Milch und Zucker Portion, in Portionstütchen, sowie einige weitere Produkte.
Zuhause packte ich ich noch einen Esbit Kocher, ein Campingbesteck, zwei Edelstahlbecher, sowie einige Päckchen Trockenbrennstoff, Feuerzeuge, Zigaretten und einen Dosenöffner, eine Edelstahl Thermosflasche und andere Dinge dazu.
Auch die obligatorischen Handschuhe, Mütze und Schal, wurden mit dazu gesteckt.
Handschuhe ein Paar mit Fell Gefütterte Fäustlinge, Schal aus Wolle und eine Pelzmütze mit Wangenklappen, waren aus meinem Bestand meiner ehemaligen Militärausstattung. Sie waren alt aber nie getragen und damit wie neu.
Nachdem alles verstaut war, buchte ich ein Zugticket für den 23.12., denn ich empfand sechs Stunden Zug fahren angenehmer als achte oder neun mit dem Auto.
So stieg ich am 23.12 in der großen Süddeutschen Autostadt, mit meinem alten Seesack und dem neuen mittelgroßen Rucksack in den Zug.
Etwa 150 km vor meinem Ziel endet die Reise abrupt.
Denn wann man sich auf die Deutsche Bahn verlässt, ist man verlassen und so wurde ich zu einem weiteren Zwischenstopp und Umstieg gezwungen.
Ich stieg also aus dem Zug, schleppte meinen Seesack und den Rucksack von einem Gleis zum nächsten.
Der Bahnsteig war Menschenleer, also setzte ich mich auf eine Bank, stellte den Seesack neben mich und den Rucksack zwischen meine Beine.
Es dämmerte schon, ich war müde und erschöpft, so legte ich den Kopf in den Nacken und schloss kurz die Augen.
"Gehören die dir oder kann ich die haben?", so riss mich eine dunkle Stimme mit Akzent aus meiner Traumwelt.
Ich schaute auf und sah in das dunkle Vollbärtige Gesicht eines Farbigen Mannes.
Auf dem Kopf trug er eine zerlumpte Mütze in den Farben Jamaikas. Seine Rastalocken standen wild ab und dennoch schienen sie so etwas wie eine Frisur zu bilden.
Er stand schräg vor mir und deutete auf etwas unter der Bank.
Als ich seinem Blick folgte sah ich zwei leere Bierdosen die unter der Bank lagen.
"Klar kannst du sie haben.", sagte ich und bückte mich nach ihnen um sie ihm zu geben.
"Danke, Mann!", grinste er und drehte sich um.
Ich atmete durch und versuchte erneut etwas Kraft durch Abschalten meiner Sinne zu gewinnen, denn es würde noch 30 Minuten dauern bis der Anschlusszug käme.
"Hast du vielleicht eine Zigarette?", erklang die Stimme erneut.
"Nein, ich rauche nicht.", kam es von mir zurück ohne die Augen zu öffnen.
Dann hörte ich es neben mir klappern, der Mann durchwühlte den Mülleimer.
Ich wollte die Augen nicht öffnen,ich wollte nicht mit ihm reden, ich wollte ihn nicht sehen, ich wollte nur meine Ruhe.
In diese Ruhe hinein hörte ich, tief in mir Mels Stimme.
"Ein Rucksack voller Hoffnung … HOFFNUNG .... !", schien sie mich förmlich Anzuschreien.
Ich zuckte zusammen.
Der Mann wandte sich gerade zum gehen.
Neben der Tüte mit den leeren Flaschen und Dosen hatte er noch eine weitere Umhängetasche. In denen war wohl seine Persönliche habe. Auf einer Art Rollwagen wie alte Menschen ihn nutzen um ihre Einkäufe darin zu verstauen, waren eine Isomatte, ein Schlafsack und andere Dinge befestigt.
"Hey!", rief ich ihm nach, "mir fällt gerade ein das ich doch Zigaretten habe."
Er dreht sich um und sah mich verwundert an.
"Komm her und setzt dich.", sagte ich und schob den Seesack von der Bank.
Der Mann kam näher und ließ sich neben mir auf die Bank fallen.
Ich fischte eine der Zigarettenschachteln sowie ein eines der Feuerzeuge aus dem Rucksack.
Öffnete die Packung, schlug einige der Zigaretten leicht heraus und bot sie ihm an.
"Hey Mann, genau meine Marke." grinste er und nahm sich eine der Zigaretten aus der Schachtel.
Dann reichte ich ihm das Feuerzeug.
Er entzündete es und führte es mit zitternden Händen an die Zigarette.
Als dieses brannte nahm er einen tiefen Zug und säufzte.
Wir saßen schweigend da und schauten auf das Gleis vor uns.
"Ist da Kaffee drin?", er deutete auf die Thermosflasche welche ich aussen an dem Rucksack befestigt hatte.
"Nein, leider ist sie leer.", sagte ich leise.
"Schade ich hätte gerne einen Kaffee getrunken.", meinte er verträumt, "Ist nämlich lange her das ich Kaffee getrunken habe.", fügte er hinzu.
Dieses mal benötigte ich keine imaginäre Mel die mir etwas zu geschrie.
Ich öffnete meinen Seesack und holte eine weitere Thermosflasche heraus.
In ihr war heisses Wasser. Dieses nahm ich oft mit auf Reisen um z.b mal einen frischen Tee aufgiessen zu können.
"Hier halt mal." sagte ich dem Alten und hielt ihm die Thermoskanne hin.
Dann kramte ich in dem Rucksack und holte eines der Instant Kaffee Päckchen heraus.
Schließlich nahm ich den Deckel der leeren Thermosflasche ab, schüttete das Kaffeepulver hinein und füllte einen Becher mit heißem Wasser dazu.
Jetzt schüttelte ich das ganze wie ein Barkeeper, gossen den Inhalt wieder in den Becher und reichte es dem Mann.
Verwundert schaute er mich an. Er hatte mein Handeln genau verfolgt und starrte jetzt auf den Edelstahl Becher mit heißem Kaffee.
"Bitte schön, hoffe mit Milch und Zucker ist ok.", fragt ich ihn und reichte ihm den Becher.
"Genau wie ich ihn immer trinke.", seine grauen Augen schienen zu leuchten als er den Becher entgegen nahm.
"Mann, du bist ein guter Mensch und machst Lawrence heute echt glücklich.", mit diesen Worten nippte er an dem Kaffee.
"Wo kommst du her?", fragte ich.
"Von da drüben.", er deutete auf die Seite des Bahnsteigs von der gekommen war.
"Ich meinte eher wo deine wurzeln liegen.", Ich musste lachen denn seine Antwort auf meine Frage hätte auch von mir sein können.
Genau mein Humor.
Während er immer wieder an dem Kaffee nippte begann er Gedankenverloren zu erzählen.
Von seiner Heimat dem Senegal, dem Bürgerkrieg, von Folter, Vertreibung und von seiner Flucht.
Ich hörte aufmerksam zu und Schwörte mir, dieses Geschichte unbedingt niederzuschreiben, um zu zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort weiter erzählen zu können.
Mit Lawrence letzten Worten fuhr auch mein Zug ein.
"Das ist mein Zug, ich muss los.", Lawrence der immer noch den Becher an den Lippen hatte nickte mir zu.
Ich schulterte meinen Seesack und stieg in den Zug.
Bevor ich aber einsteigen konnte rief Lawrence mir noch zu: "Hey Mann! Dein Becher und der Rucksack, hast du vergessen!"
"Nein Lawrence! Der gehört jetzt dir, so wie der Rucksack auch!", rief ich ihm zu und stieg in den Zug.
Ich musste einige Wagons gegen die Fahrtrichtung gehen um einen Platz zu finden. Als ich mein Gepäck verstaut hatte setzte sich der Zug langsam in Bewegung.
Langsam fuhr ich an Lawrence und der Bank noch einmal vorbei.
Er hatte bereits die alte Mütze gegen die aus dem Rucksack ausgetauscht, trug den Schal und Fäustlinge. Er schien vor Freunde zu tanzen.
"Fröhliche Weihnachten, Lawrence." sagte ich leise.
"Was hat der denn geraucht?", fragte einer der Fahrgäste der Lawrence da am Bahnsteig sah.
"Hoffnung!", sagte ich laut ohne meine Blick von Lawrence abzuwenden.
"Was bitte?", fragte der Fahrgast Verständnislos.
"Er hat Hoffnung geraucht und zwar einen ganzen Rucksack voll." erklärte ich und verlor Lawrence aus den Augen weil der Zug den Bahnhof verließ.
Als ich Anfang Januar zurück fuhr machte ich extra Station an diesem Bahnhof, aber von Lawrence war keine Spur zu finden. Ich weiss auch nicht was ich mir von einem Wiedersehen versprochen hätte, aber ich habe unsere kleine gemeinsame Geschichte ebenso aufgeschrieben wie seine, die er mir an jenem Tag erzählte damit diese nicht in Vergessenheit gerät. Denn sie ist wie viele andere Geschichten auch wert erzählt zu werden.
Tag der Veröffentlichung: 18.12.2021
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