Müde lehnte mein Kopf auf meiner Hand. Mein Blick war nach draußen gerichtet. Blätter fielen, wie Schneeflocken vom grauen Himmel. Der Wind rauschte durch ein gekipptes Fenster hindurch in den stickigen Raum hinein. Regentropfen trommelten an die Glasscheiben.
Selbst das Knallgelb an den Wänden wirkte trist, irgendwie ungesund.
Ich schloss die Augen.
Angenehme Dunkelheit umfing mich. Für einen kurzen Moment verharrte ich so, ehe ich die Augen wieder aufschlug.
Langsam richtete ich mich wieder auf und zog die Ärmel meines grauen Pullis über die Hände, für ein bisschen mehr Wärme, verschränkte dann die Arme vor der Brust, rutschte tief auf dem harten Holzstuhl hinunter und streckte die Beine aus.
Die beiden Jungen links neben mir hatten den Kopf auf den Tisch gelegt und ebenfalls die Augen geschlossen, ihr Atem ging ruhig. Beide machten den Eindruck, als ob sie schlafen würden. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht. Man konnte es ihnen nicht übel nehmen.
Auch der Rest meiner Mitschüler wirkte gelangweilt, vielleicht sogar frustriert. Die meisten sahen nach draußen, einige kritzelten auf irgendwelchen Zetteln herum, doch ich konnte fast niemanden sehen, der wirklich aufpasste, niemandem der dem Mädchen, das gerade ihr Referat hielt, wirklich zuhörte.
Mein Blick wanderte zu ihr. Sie hatte eine Folie auf den Tageslichtprojektor gelegt. Aufbau des Hi-Virions, darunter war die Zeichnung einer Zelle zu sehen. Gerade las sie etwas vor. Das Papier in ihrer Hand zitterte bei jeder ihrer Bewegungen.
Mein Blick fiel auf unsere Biolehrerin. Sie schrieb Notizen auf einem Blatt Papier mit und blickte immer wieder das Mädchen an.
Ich nahm eine Bewegung im Augenwinkel wahr. Der Junge neben mir richtete sich auf und streckte sich ausgiebig, woraufhin die Lehrerin ihm einen bösen Blick zu warf. Wir mussten beide grinsen.
Doch plötzlich hielt er in der Bewegung inne, das Lächeln verschwand. Einen Moment saß er steif da und blickte mich an, doch seine Augen waren leer, Lediglich der Schein des Projektors schimmerte darin.
Er stöhnte auf.
Sein Nachbar blickte auf und sah ihn fragend an.
In dem Moment drehten sich seine Augen nach oben und er krampfte sich zusammen. Langsam, wie in Zeitlupe, kippte er nach vorne. Mit einem lauten Knall schlug sine Kopf auf den Boden.
Ich schrie auf. Der Schock saß tief, ich spürte ihn in meinen Knochen. Überall in meinem Körper, er hielt mich mit kalten Fingern gefangen und ließ mich nicht wieder los.
Ich blickte zu dem Jungen, der mir gerade noch zugegrinst hatte, hinunter. Er lag leblos auf dem grauen Boden, den Arm verdreht, sein Gesicht weiß.
Der andere Junge hatte sich neben ihn gekniet und schüttelte ihn an seinen Schultern, doch er reagierte nicht. Keine Reaktion.
Plötzlich wurde mir bewusst, was gerade passiert war. Panisch sah ich mich um. Suchte Hilfe, jemanden der mir sagen konnte, was zu tun war.
Doch ich blickte in fassungslose Gesichter. Die ganze Klasse glich einer aufgescheuchten und zu Tode verschreckten Herde. Ein paar Mädchen hatten sich zusammen gedrängt, einige hielten sich an den Händen und blickten mit großen Augen zu dem am Boden liegenden.
„Wir brauchen Hilfe!“, schrie ich und sah dabei zu unserer Biolehrerin. Einen Moment fixierten ihre Augen mich, dann begann sie zu nicken. Immer heftiger. „Holt Hilfe, schnell!“ sagte sie dann, eilte zwischen den anderen Schülern zu uns hindurch und zog einen Stuhl heran, auf dem sie die Beine des bewusstlosen Jungen legte.
„Geh mit ihr und beeilt euch!“ forderte sie einen Jungen, der vor meinen Tisch getreten war und mich auf. Das war das Signal, wir rannten los.
Schnell. Immer schneller.
Den menschenleeren Gang entlang. Die Treppen hinunter. Wir begegnetem niemanden, sprachen kein Wort.
Es wirkte alles unwirklich, nicht real und meine Beine waren weich, so als würde ich auf Wolken laufen. Ich hörte mein Blut im Ohr rauschen, meinen Atem, schnell und stoßweiße, und den Hall unserer Schritte.
Mit dem Bild des Bewusstlosen vor Augen stürmten wir in das Sekretariat. Die Frau hinter ihrem großen Schreibtisch, auf dem viele Zettel lagen, blickte erschrocken auf.
„Krankenwagen!“ stieß ich hervor.
„Was ist passiert?“ fragte sie, während sie begann, eilig eine Nummer in das Telefon zu tippen.
„Er ist einfach umgefallen…er ist bewusstlos…“ presste der Junge neben mir schwer atmend hervor.
Die Frau sprach bereits in den Hörer und als sie auflegte sah sie uns mit einem unergründlichen Blick an, ehe sie einen Schlüsselbund in die Hand nahm.
„Der Krankenwagen wird in Kürze eintreffen!“ meinte sie sachlich. „Wir gehen hoch und warten dort.“
Der Weg zurück in unser Klassenzimmer verlief ebenso schweigsam wie der Weg in das Sekretariat.
Als wir wieder in das Zimmer kamen, hatte sich nichts verändert. Meine Mitschüler standen immer noch aneinander gedrängt beisammen, warfen immer wieder ängstliche Blicke zu dem am Boden Liegenden und tuschelten leise miteinander.
Ich lief zu meinem Platz. Der Junge sah immer noch leblos und bleich aus. Als ich ganz genau hinsah, konnte ich seinen Brustkorb sich langsam heben und senken sehen. Das einzige Lebenszeichen.
Mir war ganz schlecht vor Aufregung. War er einfach nur umgekippt, hatte sein Kreislauf schlapp gemacht?
Inständig hoffte ich, dass es nichts Schlimmeres war, dass er aufwachen würde und alles wieder normal war.
Ich ließ mich auf meinen Stuhl sinken und hing meinen Gedanken nach, den Blick immer auf meinen bewusstlosen Mitschüler gerichtet.
Ich blickte auf. Leise fast nicht wahrnehmbar hörte ich ein Martinshorn. Der Krankenwagen! Erleichtert atmete ich aus.
Auch ein paar andere Schüler hatten den Rettungswagen gehört.
„Zwei sollten runter gehen und den Weg zeigen!“ Die Frau aus dem Sekretariat blickte wieder mich und den Jungen an, mit dem ich sie geholt hatte. „Macht ihr das bitte!“
Eilig liefen wir ins Erdgeschoss hinunter und warteten vor dem Haupteingang.
Leichter Nieselregen hing in der Luft, die starken Windböen spielte in meinen Haaren und lies mich frösteln.
„Oh Mann, ganz schön verrückt, was?“ Fragte mich mein Begleiter und lächelte mir immer noch etwas unsicher, von der Aufregung zu.
„Allerdings!“ Ich nickte. „Hoffentlich ist es nichts Schlimmes!“
Wir mussten nicht mehr lange warten, mit jeder Sekunde nahm die Lautstärke des Martinshorns zu und bald schon fuhr der Krankenwagen in den Schulhof.
Wir winkten ihn zu uns heran. Das Blaulicht leuchtete hell unter dem grauen Himmel und blendete mich.
Sanitäter und ein Arzt sprangen aus dem Wagen und holten eine Trage hinaus.
Wir führten sie zu unserem Klassenzimmer, währenddessen fragte uns der Arzt, was passiert war, was wir mitbekommen hatten.
Ehrfürchtig machten meine Mitschüler dem Rettungsteam den Weg frei.
Der Junge lag immer noch am Boden, doch seine Augen waren halb geöffnet. Sein Atem ging nun heftig und stoßweiße. Ein paar Tropfen Blut liefen aus seinem Mund.
Angstvoll beobachtete ich, wie der Arzt ihn untersuchte. Er kontrollierte Atmung und Puls. Mit einer kleinen Taschenlampe leuchtete er in die Augen des Jungen und sprach ihn immer wieder mit sanften Worten an. Doch er bekam keine Reaktion, nicht einmal eine Bewegung.
Unruhig spielte ich an den Armbändern, die an meinem Handgelenk hingen, herum. Was war nur los mit dem Jungen?
„Weiß einer von euch, ob er Epileptiker ist?“ Fragte in dem Moment der Arzt und sah in die Runde. Alle schwiegen, einige schüttelten den Kopf. Doch niemand wusste eine Antwort.
„Es sieht so aus, als ob er einen epileptischen Anfall hatte. Wir werden ihn in die Klinik mitnehmen, dort wird er sich in Ruhe erholen können. Er hatte Glück, dass er sich bei dem Sturz nicht schlimmer verletzt hat.
Er wird schon wieder auf die Beine kommen!“, versuchte er uns etwas die Angst zu nehmen. Doch er blickte in beunruhigte Gesichter. Niemand wusste was wirklich los war. Wenn er wirklich Epilepsie hatte, würde er wieder ganz gesund werden? Würde er öfter solche Anfälle bekommen?
Der Arzt packte seine Sachen wieder zusammen und stand auf. Die Sanitäter hoben den Jungen geübt auf die Trage, dann trugen sie ihn aus dem Zimmer.
Ich lief mit meiner Klasse nach unten, hinter den Rettungskräften her. Wir redeten aufgeregt miteinander. Eine Freundin hatte sich bei mir eingehängt.
Auf den Gängen waren nun auch andere Schüler. Es hatte zur Pause geklingelt, ich hatte es gar nicht mitbekommen.
Um den Krankenwagen herum hatte sich eine Traube Schüler gebildet, alle versuchten einen Blick auf den Kranken zu erhaschen, alle wollten wissen was passiert war. Einige Lehrer hielten die Schüler davon ab noch näher zu treten und schickten sie weg. Nur widerwillig löste sich die Ansammlung auf, doch ich war froh darüber.
Immer wieder huschte das Blaulicht über mich hinweg, während sich der Nieselregen in meinen Haaren verfing.
Schnell war die Trage eingeladen, schon schlugen die Türen zu. Einen letzten Blick konnte ich noch auf meinen Mitschüler werfen, dann sah ich nur noch schemenhaft, durch das milchige Glas hindurch, die Bewegungen des Arztes und der Sanitäter.
Was wohl jetzt passieren würde? Wie lange würde er in der Klinik bleiben müssen? Würde er überhaupt wieder kommen? In dem Moment als der Wagen anfuhr, stolperten viele schreckliche Fragen gleichzeitig durch meine Gedanken, doch auf keine wusste ich eine Antwort.
Ich musste abwarten und das Beste hoffen, mehr konnte ich nicht machen. Mehr konnten wir alle nicht machen.
Als der Krankenwagen schon nicht mehr zu sehen war, hörte ich wie das Martinshorn angestellt wurde und es sich langsam entfernte, bis es schließlich gar nicht mehr zu hören war.
Tag der Veröffentlichung: 06.12.2009
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