Der Einsame
Es war einmal vor langer, langer Zeit ein Zwerg. Er war nicht so wie seine Brüder, die böse und selbstsüchtig waren.
Nein, dieser Zwerg war lieb, niemals würde er auf die Idee kommen andere auszunutzen.
Doch deswegen, wegen seiner Liebe zu anderen, wurde der kleine Zwerg von seinen Brüdern ausgegrenzt und verstoßen. So kam es, dass er meist alleine in seiner kleinen Wurzelhöhle saß, sich einsam und missverstanden fühlte. Denn wenn er anderen Wesen begegnete, beachteten diese ihn nicht. Sie verglichen ihn mit seinen bösen, hinterhältigen Brüdern.
Eines Tages lief der Zwerg ziellos durch den Wald. Büsche mit prallen Beeren umringten ihn und spitze Dornen rissen an seiner Kleidung.
So kam es, dass er an eine Lichtung kam. Sie war nicht groß, nur eine Lücke, die sich zwischen Bäumen auftat. Ein Waldvogel schrie aufgeregt.
Der Zwerg wunderte sich und trat näher heran. Der arme Vogel wurde nur noch aufgeregter als er ihn sah, angstvoll flatterte er hin und her.
„Was hast du denn?“ Fragte der Zwerg.
Der Vogel betrachtete ihn misstrauisch. Da sah der Zwerg ein Nest auf dem Boden liegen. Es war von dem Ast herunter gefallen und lag nun ungeschützt dort unten.
Der Zwerg nahm ohne zu zögern seine dunkelgrüne Zipfelmütze von seinem Kopf und bettete das Nest mit den unbeschädigten Eiern darin ein. Dann kletterte er den alten Baum hinauf, seine Mütze mit dem Nest vorsichtig in der einen Hand.
Als die Vogelmutter sah, dass der Zwerg ihr Nest nahm und mit sich trug, schrie sie lauter und angstvoller als zuvor und attackierte den Zwerg immer wieder aus der Luft heraus.
Doch dieser kletterte tapfer weiter, obwohl er Angst vor der Höhe hatte. Sie war ihm nicht geheuer und wenn er hinuntersah schwindelte es ihn. Was auch kein Wunder war, schließlich war er ein Zwerg der dafür geschaffen war auf dem Waldboden zu leben.
Als er an einen dicken, stabilen Ast gelangte, legte er das Nest vorsichtig darauf und befestigte es so, dass es nicht mehr herunter fallen konnte und kletterte wieder herunter.
Der Vogel verstummte, als er das sah, er war verwundert darüber, dass ein Zwerg sein Nest gerettet hatte. Zu sehr war er von dem Vorurteil beherrscht gewesen.
„Danke!“ rief die Vogelmutter ihm hinter her.
So kam es, dass der kleine Zwerg weiter lief und ein wenig traurig darüber war, dass er ein Zwerg war. Das seine Geschwister so hinterhältig waren und er mit ihnen verglichen wurde.
Nach einiger Zeit kam er an einen Fluss. Schon von weitem hörte er das Wasser rauschen und bald tat sich ein Abgrund vor ihm auf. Da sah er weiter unten am Flussbett eine Rehmutter stehen. Ihr Junges stand auf der anderen Flussseite und traute sich nicht herüber.
Der Zwerg lief zu dem Rehkitz. Ängstlich wich es vor ihm zurück, seine Flanken zitterten ein wenig.
„Ich will dir helfen!“ Ruhig strecke der Zwerg seine kleine Hand aus. Es brauchte eine Weile bis das junge Wesen vertrauen zu ihm fasste und sich ihm näherte. Als die Mutter sah, dass der Zwerg ihr Kind berührte, fing sie an unruhig hin und her zu laufen. Doch der Zwerg freute sich über das Vertrauen zu ihm, dass von dem jungen Tier ausging.
Langsam führte er das Kitz in das Wasser hinein. Es war kalt und ließ ihn frösteln, doch er lief weiter. Und als die Strömung kräftiger wurde, stützte er das Reh so in der Seite, dass es nicht mitgerissen werden konnte.
Sie kamen sicher an dem anderen Ufer an, doch auch die Rehmutter beäugte den Zwerg argwöhnisch, dann als beide schon fast im Dickicht verschwunden waren drehte sie sich noch einmal um. „Danke!“ sagte sie zu dem Zwerg und verschwand.
Den Zwerg, nass wie er war, fror es, doch er setzte seinen Weg fort. Die Sonne wanderte langsam am Himmel entlang.
Schließlich kam er zu einem Teich. Dort herrschte unter den Teichbewohnern große Aufruhe. Die Frösche quakten verzweifelt und die Fische schwammen hilflos in dem trüben Wasser umher.
Schnell hatte der Zwerg entdeckt, was der Grund für die Aufruhe war. Ein Ast aus einem Damm hatte sich gelöst und nun lief das Wasser ungehindert aus dem Teich. Wenn nicht etwas geschehen würde, würde bald der Teich ausgelaufen sein und die Fische würden sterben. Eilig sammelte der Zwerg Stöcke auf und unter den Augen der Teichbewohner flickte er den Damm.
Als er mit seiner Arbeit fertig war und das Wasser sicher im Teich blieb, wand er sich zum gehen. Einige Frösche beäugten ihn mit großen Augen und ein paar quakten ein Dankeschön.
Irgendwann kam er an den Waldrand. Vor ihm erstreckte sich ein Maisfeld das in der Sonne golden leuchtete. Er hörte zwei dünne Stimmchen und da sah er zwei Feldmäuse die sich um einen Maiskolben stritten.
Eine Weile sah der Zwerg dem hin und her zu. „Teilt ihn euch doch!“ sagte er dann.
Die Mäuse hielten ehrfürchtig inne, erschrocken von dem Zwerg. In ihrem Streit hatten sie gar nicht bemerkt, dass sie jemand beobachtete.
Langsam beugte sich das Wesen mit der grünen Zipfelmütze nach vorne, nahm den Maiskolben und brach ihn in der Mitte durch. Dann gab er die eine Hälfte der einen Feldmaus und die andere Hälfte der anderen Maus. Beide schnappten sich ihre Hälfte und verschwanden zwischen den Maispflanzen.
Die Sonne ging schon unter und der Zwerg der sich plötzlich entsetzlich müde fühlte, blieb dort in dem Gras sitzen. Er sah der Sonne dabei zu, wie sie in dem Meer aus Mais versank. Als sich auch der letzte Sonnenstrahl zurückzog, stand das kleine Wesen auf und machte sich auf den Weg zurück zu seiner bescheidenen Wurzelhöhle.
Der Weg war lang, viel länger als er gedacht hatte und inzwischen waren die Schatten lang und dunkel geworden. Ab und zu blitzten Sterne durch das Blätterdach hindurch und der Zwerg blieb verzaubert stehen.
Er hörte es bevor er es sah.
Viele verschiedene Tierstimmen riefen durcheinander. Es wurde gelacht und gesungen. Neugierig trat der Zwerg zwischen den Bäumen hervor.
Es trat Ruhe in die lustige Runde ein, alle Augenpaare richteten sich auf das Wesen mit der grünen Zipfelmütze.
Dann riefen plötzlich alle wieder durcheinander, hießen den Zwerg willkommen. Die beiden Feldmäuse kletterten auf seine Schultern.
„Ein Glück, dass du ein guter Zwerg bist!“ Sagte die eine Maus.
„Ja.“ Sagte die andere Maus.
Ein kleines Feuer prasselte in der Mitte der Runde. Viele verschiedene Tiere saßen beieinander.
Verschiedene Vögel saßen in den Bäumen und sangen sowie ein Käuzchen. Mäuse und Eichhörnchen saßen um das Feuer herum. Frösche und eine Bieberfamilie saßen bei ihnen.
Die Vogelmutter, die Rehmutter mit ihrem Jungen, ja sogar die Frösche von dem Teich waren gekommen. Und alle hatten Freunde mitgebracht.
Dem Zwerg traten Tränen in die Augen, so gerührt war er. Alle feierten bis tief in die Nacht hinein.
So kam es, dass der einsame Zwerg nie mehr einsam war, sondern viele liebe Freunde fand.
Und die Waldbewohner lernten, dass es nicht nur böse Zwerge gab.
Ende
Tag der Veröffentlichung: 30.07.2009
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