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Mein Drahtesel


"Mama, wie hast du eigentlich gelernt Rad zu fahren?" fragt mich meine fünfjährige Tochter Anna. "Oh, daran kann ich mich noch ganz gut erinnern. So eine Geschichte vergisst man nicht so schnell." gab ich zur Antwort. "Kann ich sie hören Mama?“ fragte sie und sah mich mit ihren grossen blauen Augen erwartungsvoll an. „Klar mein Schatz. Ich war in deinem Alter, also auch fünf…“ begann ich meine Geschichte.

Wir, das waren meine Mutter, mein älterer Bruder Tim und ich, wohnten in der Grossstadt. Das war 1979. Unsere Wohnung befand sich in einem Quartier, in welchem die Häuser in grossen zusammengeschlossenen Blöcken von quadratischer, ovaler oder runder Form gebaut wurden. So entstand in jedem Komplex ein Innenhof, der dann, falls Familien mit Kindern dort wohnten, ganz toll als Spielplätz genutzt wurde. Nicht jeder Innenhof hatte einen ausgebauten Spielplatz mit Schaukel, Rutsche, Sandkasten und Klettergerüst, aber die meisten davon schon. Wir gehörten zu den Glücklichen mit ausgebautem Spielplatz, welchen ich auch rege zu nutzen wusste. „Eigentlich dachte ich, dass ich mich nicht wirklich an diese Zeit erinnern kann, aber je länger ich dir davon erzähle, desto mehr Bilder erscheinen in meinem Kopf.“ erklärte ich und lächelte dabei. Mein hauseigenes, respektive gehirneigenes Kino lief sehr real vor meinen Augen ab und ich fühlte mich wirklich wieder wie eine Fünfjährige die soeben ihre Geschichte noch einmal durchlebt. „Mama, los erzähl weiter.“ drängte mich Anna. Also Filmrolle einlegen, abspulen, Licht an und los geht’s!

Ich kann mich sehr genau daran erinnern, wie unser Hauseingang ausgesehen hat, wo sich die ganze Geschichte abgespielt hat. Ein runder Durchgang, unser Hauseingang befand sich auf der Rückseite des Komplexes, also im Innenhof. Die Strasse um unser Komplex, immerhin hatte man gute fünf Minuten bis man einmal ganz herum gelaufen war, war mit Bäumen gesäumt und die Autos durften an den Gehsteigseiten parkiert werden. Obwohl 1979 noch nicht grosser Verkehr herrschte, waren unsere Strassen im Quartier immer voll mit geparkten Autos. Die verschiedenen Geschäfte, wie zum Beispiel ein Elektro-Warengeschäft, ein Tante Emma-Laden, ein Friseur, ein Biker-Laden und eine Gaststätte sind mir noch so allgegenwärtig, als ginge ich eben mal durch die Gegend. Meine Mutter hat zeitweise in der Gaststätte gearbeitet und wir kannten die Eigentümerin sehr gut. Sie hat gelegentlich auf mich aufgepasst, wenn Mama arbeiten war. Dann durfte ich immer im eingezäunten Garten des Gasthauses spielen. Klingt nach Gefängnis, war es aber nicht. Trinken und Essen wann immer ich wollte und vor allem was ich wollte. Das fand ich natürlich ganz toll. Ich mag mich auch daran erinnern, dass ich ein Fahrrad bekommen habe. Aber die Farbe und ob es ein Körbchen hatte oder nicht, dass weiss ich nicht mehr. Aber es hatte auf alle Fälle Stützhilfen. Stützräder haben wir diese genannt. Die gibt es ja heute immer noch, aber ich bin überhaupt nicht begeistert davon. „Mama, biiiitttttttttttttteeeeeeeeee weiter“ holt mich Anna ein bisschen zur Geschichte zurück. „Ja schon gut. Geht ja gleich weiter.“
Ich habe also dieses Rad zu Weihnachten geschenkt bekommen und war überglücklich, als der Winter endlich vorbei war und der Frühling mit all seiner Pracht und vor allem dem schönen und trockenen Wetter kam. „Ich will mit dem Fahrrad raus. Darf ich Mama.“ Stürmte ich bei meiner Mutter. Sie war zwar wenig begeistert, aber lies mich dann doch und so drehte ich, stolz wie eine Königin auf ihrem Pferd, meine Runden mit meinem Rad. Mein Drahtesel, wie wir die Fahrräder bei uns auch nennen. Ich fuhr viele Male um unseren Hauskomplex, immer auf dem Gehsteig natürlich. Das war zu dieser Zeit noch erlaubt, denn es waren nicht viele Fahrradfahrer unterwegs und Fussgänger auch nicht. Da kam man sich nicht in die Quere. Da die Stützräder angebracht waren, konnte ich ohne grosse Mühe das Gleichgewicht halten. Ohne dass meine Mutter mir je hätte helfen müssen, düste ich los und kurvte durch die Gegend. Ich musste mich lediglich an ein Verbot meiner Mutter halten. Nicht auf der Strasse zu fahren. Daran hielt ich mich gerne, denn es war super, alleine auf dem Gehsteig zu fahren. Der war breit genug. Ich konnte sogar Kreise darauf drehen, wenn ich den Lenker voll in den Anschlag hielt. Ein kleiner Wehmutstropfen gab es allerdings doch. Ich war meist alleine unterwegs, denn in den Kindergarten konnte ich noch nicht. Der würde erst nach den grossen Sommerferien beginnen, was noch gute vier Monate hin war und mein grosser Bruder war die meiste Zeit in der Schule. Da Tim acht Jahre älter war als ich, ging er bereits in die Oberstufe und sein Interesse mit der kleinen, nervigen Schwester zu spielen hielt sich sehr in Grenzen. Leider. Manchmal jedoch wurde er zum Babysitten verdonnert und dann war meist nicht gut Kirschen essen mit ihm. Seine schlechte Laune habe ich dann ab bekommen. „Pass heute auf deine kleine Schwester auf. Ich muss noch arbeiten und bis ich wieder zurück bin, spielst du ein bisschen mit ihr.“ Befahl meine Mutter Tim. „Muss das denn wirklich sein, Mama? Sie ist so eine Heulsuse und eine Nervensäge.“ „Ja, heute muss es sein. Zum Abendessen bin ich wieder zurück und bis dahin wirst du dich um deine Schwester kümmern. Hast du verstanden?“ Ihr Ton war mehr als bestimmend, weshalb Tim murrend einlenkte. „Los, lass uns Rad fahren oder draussen was spielen.“ sagte ich zu Tim und zappelte schon aufgeregt vor ihm auf und ab. Obwohl ich wusste, dass er seine Laune an mir auslassen würde, war ich trotzdem froh ihn als Spielkameraden zu haben. Endlich nicht mehr alleine. Seine Launen spiegelten sich darin, dass er beim Fangen spielen natürlich nicht der Fänger war und ich ihn auch nie erwischte, weil er viel zu schnell für mich war. Beim Verstecken spielen ich ihn immer suchen musste, ihn aber endlos lange nie gefunden habe und er sich dabei die ganze Zeit vor Lachen fast in die Hosen gemacht hat und beim Ball spielen, immer ich die blauen Flecken davon getragen habe. Aber manchmal hatte er auch gute Tage, dann konnten wir echt gut miteinander und es war richtig lustig mit ihm. „Nimm dein Fahrrad. Wir fahren um den Block. Wer zuerst ist hat gewonnen!“ rief er mir noch zu, war aber mit seinem Rad schon weit voraus, bevor ich überhaupt erst auf meins gestiegen war. Ich trat in die Pedalen so gut es ging, aber mein Bruder fuhr davon, als wäre er an der Tour de France und wollte eine Bergetappe gewinnen. Klar, es ging ja in der Stadt nicht den Berg hoch, aber super schnell war er. Zumindest hing ich gefühlte hundert Kilometer an seinem Hinterrad und fühlte mich wie eine lahme Ente. „Warte nicht so schnell. Ich kann nicht so doll treten.“ schrie ich Tim hinterher. Er konnte mich nicht mehr hören. Also blieb mir nichts Weiteres übrig als ihm nach zu fahren und zu hoffen, er würde sich meiner erbarmen und auf mich warten. Gelegentlich war dem auch so. Dann stand er da, mit einem breiten Grinsen im Gesicht und lies mich gerade so an sich herankommen, stieg dann mit einem noch breiterem Grinsen wieder auf sein Rad und lies mich abermals stehen. „Du bist so gemein.“ „Und du eine Heulsuse. Du kannst ja nicht einmal richtig Rad fahren, obwohl du die Stützräder hast.“ beleidigte er mich auch noch. Da war dann Schluss mit Lustig. „Klar kann ich auch ohne Stützhilfe fahren.“ frotzelte ich zurück. „Das will ich aber sehen.“ Er fuhr davon und ich hinterher. Mir war ja nicht bewusst, dass ich mit dieser Stützhilfe überhaupt kein Training des Gleichgewichtes hatte und wenn diese abgeschraubt sind, womöglich platt auf die Nase fallen würde, aber mein Bruder nervte mich auch so sehr, dass ich meine grosse Klappe einfach nicht halten konnte und ihn damit provoziert habe. Er wartete bereits an unserem Eingang und hatte auch schon das nötige Werkzeug besorgt. „Komm her und ich montier diese Stützräder ab. Dann wollen wir doch mal sehen, ob du immer noch eine so grosse Klappe hast und wirklich Fahrrad fahren kannst.“ „Und ob ich das kann.“
Zehn Minuten später waren die Räder ab und ich immer stiller. Mein Herz klopfte und mir wurde erst jetzt klar, dass ich aus dieser Situation nicht heraus komme, ohne entweder mit blutendem Knie am Boden zu liegen oder wie eine Heulsuse dazu stehen. Ich wollte keines von beiden, also schluckte ich kurzerhand die Angst runter. „Aber du musst das Rad halten, bis ich mich drauf gesetzt habe.“ gab ich kleinlaut von mir. Während ich so auf das Rad stieg, bemerkte ich zum ersten Mal, dass die Pedalen richtig hoch waren und ich gerade noch mit den Fussspitzen, mehr schlecht als Recht, den Boden berühren konnte. „Jetzt kannst du zeigen was du kannst. Ich zähle bis Drei und dann geht’s los. Eins, zwei…“ Die Drei liess Tim aus und gab meinem Rad einen richtigen Schubs und ich fuhr los. Also fahren wäre übertrieben gesagt. Das Rad bewegte sich und ich war starr vor Schock. „Du musst treten und lenken. Treten und lenken!“ hörte ich Tim schreien und die parkierten Autos an unserer Strasse kamen gefährlich näher. Ich sah alles in Zeitlupe. Die Autos kamen näher und näher. Ich sah mich auch schon über die Motorhaube fliegen und auf der anderen Seite auf der Strasse aufklatschen. Offene Knie und Hände, Schrammen im Gesicht und vielleicht einen gebrochenen Arm…“Hiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiillllllllllllllllllllllllfffffffffffffffffffffffffffeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeee!!!!!“ schrie eine Stimme, die sich anhörte wie meine und irgendwie, ich habe bis heute keine Ahnung wieso, begann ich in die Pedalen zu treten und das Lenkrad im letzten Moment nach links zu drehen. Haarscharf an einem schwarzen Auto vorbei. Ich trat und trat und trat in die Pedalen. Keine Gedanken, keine Reaktion, Nichts. „Ich muss treten und lenken. Treten und lenken.“ wiederholte ich immer und immer wieder. Bis ich vor mir, eine volle Hauskomplexrunde später, meinen Bruder sah. Er war bleich wie eine Maus. Als ich dann so angefahren kam, kehrte die Farbe in sein Gesicht zurück und er grinste mich schon von Weitem an. „Ich kann nicht bremsen! Wie hält man mit diesem verfluchten Teil an?“ schrie ich ihm panisch entgegen. Ich konnte ja nicht einfach meine Füsse auf den Boden stellen und so bremsen, oder ausfahren lassen, wie ich es mit den Stützräder immer gemacht habe. Und einen Rücktritt hatte dieses Rad auch nicht. „Die Bremsen am Lenker ziehen und nicht mehr treten.“ versuchte er mir zu erklären. „Du musst die Bremse ziehen.“ war mein letzter Gedanke, bevor ich in einem hohem Bogen durch die Luft wirbelte und ziemlich unsanft auf dem Boden landete. Ich flog also doch noch über den Lenker, knallte mit den Händen und den Knien auf den Asphalt, hatte Schrammen und blutete überall wo mein Fleisch den Grund berührte. „Ich kann Rad fahren.“ war meine erste Reaktion und ich war stolz und grinste wie ein Honigkuchenpferd. Aber das Gesicht meines Bruders werde ich nie mehr vergessen. Ein breites Grinsen, wie immer.

„Nun kennst du meine Geschichte wie ich Fahrrad fahren lernte.“ Ich schaute meine Tochter an und war überhaupt nicht verwundert, dass sie sofort auf’s Rad stieg und Papa bat es für sie festzuhalten, bis sie in die Pedalen treten konnte. „Aber nicht loslassen Papa!“ „Werd ich nicht.“ Zwinkerte er mir zu und bevor Anna etwas bemerkte, war sie schon alleine unterwegs. Der Papa sprang zur Sicherheit noch hinterher und tat so, als ob er das Rad halten würde. „Nicht loslassen Papa!“ Aber der Papa war nicht so schnell und Anna fuhr im um Längen davon. „Hoffentlich hat sie es mit dem Bremsen besser raus als ich.“ rief ich meinem Mann hinterher und konnte gar nicht erst hinsehen. Zum Glück hat ihr Rad einen Rücktritt 

Impressum

Texte: naelsteol
Tag der Veröffentlichung: 01.02.2013

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